Ihr Ein und Alles - Silje Ulstein - E-Book

Ihr Ein und Alles E-Book

Silje Ulstein

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Beschreibung

Der sensationelle, internationale Bestseller aus Norwegen - kaltblütige Spannung für Fans von Gillian Flynn, Jo Nesbø and Tana French.

Ein packender, sinnlich-atemloser Thriller über Einsamkeit und die vielen Facetten der menschlichen Kaltblütigkeit. Liv, Studentin mit einer schwierigen Kindheit, ertränkt ihr Unbehagen zusammen mit ihren beiden Mitbewohnern regelmäßig in Partys, Alkohol und Joints. Trost findet sie in der Gesellschaft von Nero, einer Baby-Schlange, die sie als Haustier hält und zu der sie sich auf fast symbiotische Weise hingezogen fühlt. In Anwesenheit der Schlange fühlt sich Liv zum ersten Mal in ihrem Leben sicher. Bis jemand aus ihrer Vergangenheit auftaucht und ihr Leben erneut ins Wanken gerät ...

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Seitenzahl: 549

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Zum Buch

Ein packender, sinnlich-atemloser Thriller über Einsamkeit und die vielen Facetten der menschlichen Kaltblütigkeit. Liv, Studentin mit einer schwierigen Kindheit, ertränkt ihr Unbehagen zusammen mit ihren beiden Mitbewohnern regelmäßig in Partys, Alkohol und Joints. Trost findet sie in der Gesellschaft von Nero, einer Baby-Schlange, die sie als Haustier hält und zu der sie sich auf fast symbiotische Weise hingezogen fühlt. In Anwesenheit der Schlange fühlt sich Liv zum ersten Mal in ihrem Leben sicher. Bis jemand aus ihrer Vergangenheit auftaucht und ihr Leben erneut ins Wanken gerät …

Zur Autorin

Silje O. Ulstein, geboren 1984, hat an der Universität Oslo Literatur studiert und danach einen Kurs für Kreatives Schreiben in Bergen belegt. Ihr Ein und Alles ist ihr erster Roman, der in Norwegen als »bestes Debüt dieses Jahrzehnts« gefeiert und in über zehn Ländern erscheinen wird.

Silje O. Ulstein

Ihr Ein und Alles

Psychothriller

Aus dem Norwegischen von Max Stadler

Die norwegische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel Krypdyrmemoarer im Verlag Aschehoug & Co. (W. Nygaard), Oslo

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe September 2024

Copyright der Originalausgabe © Silje O. Ulstein

First published by H. Aschehoug & Co. (W. Nygaard) AS, 2020

Published in agreement with Oslo Literary Agency

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024 btb Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: Semper Smile

Covermotiv: © Arcangel / Karoliina Norontaus; © Shutterstock / Here

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

MA · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-28864-8V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

»Ich ist ein anderer.«

Arthur Rimbaud

Erster Teil

Liv

Ålesund Mittwoch, 16. Juli 2003

Ihr Körper war beim ersten Mal ein Paradoxon. Wie lebendiger Granit oder weiches Sandpapier. Er war hart und weich zugleich. Grob und glatt. Schwer und leicht. Das Erste, was mir auffiel, war die Wärme. Als hätte ich geglaubt, dass ihr Körper innen und außen kalt wäre. Oder als hätte ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht glauben wollen, dass sie wirklich lebte. Erst später erfuhr ich, dass sie keine eigene Wärme abgab, sondern nur die Wärme ihrer Umgebung aufnahm.

Nun lag sie in meinen Armen, kaum einen Meter lang und immer noch ein kleines Baby. Sie hob den Kopf, stützte sich auf meinen Arm und blickte mich mit ihren glänzenden Augen an. Vielleicht versuchte sie zu begreifen, was ich war. Beute oder Feind. Die gespaltene Zunge vibrierte leicht in der Luft. Die Schlange bewegte sich langsam an meiner Brust entlang nach oben, in Richtung meiner Kehle. Dort hielt sie inne, in der Luft schwebend, die Augen steinern und tot auf mich gerichtet. Ich blickte geradewegs in die schmalen Pupillen, in einen Blick ohne jedes Blinzeln, ohne jeden flüchtigen Impuls. Sie schien eine Art Verbindung zu suchen, obwohl eine Kommunikation zwischen uns ja nicht möglich war.

Sie hatte etwas Ätherisches an sich. Diese Fähigkeit, einen so großen Teil ihres Körpers in der Luft zu halten, ohne dass es sie zu ermüden schien. Als bräuchte sie keinerlei Kontakt zu irgendetwas Irdischem und könnte einfach in permanenter Schwerelosigkeit verharren, wenn sie nur wollte. Allein eine solche Körperbeherrschung erschien mir unvorstellbar – wie im freien Fall. Ich hob den Arm, an dem die Schlange wie an einem Ast hing und sich suchend auf mein Gesicht zubewegte.

»Er mag dich. Es ist übrigens ein Männchen«, sagte die Frau mit amerikanischem »r« und holte mich zurück in die kalte Dachkammer, an deren Wände Käfige mit unterschiedlichsten Tierarten standen. Die Frau klang so, als würde sie gern lachen. »Magst du ihn? Sieht so aus.«

Mögen. Das Wort passte nicht. Das hätte ich vielleicht über eine coole Jacke gesagt. Doch das hier war etwas ganz anderes.

»Darf ich ihn halten?«

»Wann darf ich ihn halten?«

Rechts und links von mir standen Ingvar und Egil und sahen mich an. Ich hatte fast vergessen, dass sie auch noch da waren. Obwohl Ingvar ein paar Jahre älter war als Egil, einen Bart trug und wie ich lange dunkle Haare hatte, während Egil ein weißes Hemd angezogen und seine blonde Mähne nach hinten gekämmt hatte, wirkten sie in diesem Moment wie ein Zwillingspaar im frühen Teenageralter. Bei ihnen passte das Wort »mögen«. Sie »mochten« die Schlange, so wie sie Bands und Bier und alles andere mochten, was sie interessierte. Doch was empfand ich? Mütterliche Zuneigung? Verliebtheit? Eine Verbindung, die die Unterschiede zwischen den Arten überwand. Wenn ich in dieses winzige Gesicht blickte, das so weit von meinem eigenen entfernt war, kam es mir so vor, als würde es mich voller Vertrauen oder Verständnis ansehen.

Es war noch gar nicht so lange her, dass uns die Idee gekommen war. Das Wohnzimmer in der coolsten Kellerwohnung von Ålesund, wo die Lavalampe rund um die Uhr ihre roten Bälle ausspuckte, war von Rauch erfüllt gewesen. Um fünf Uhr morgens war nur noch eine kleine Gruppe übrig von dem, was einmal ein Wohnzimmer voller Menschen gewesen war. Wir standen kurz davor, die Nacht zu beenden, waren aber noch nicht ganz bereit dazu. Die Atmosphäre war gedämpft, der Raum von süßlichem Rauch erfüllt, und Ingvar saß in einem Sessel und spielte Rockklassiker auf seiner Gitarre. Inzwischen hatte sogar Egil, der das Zimmer den ganzen Abend mit 50 Cent und OutKast beschallt hatte, die Hemdsärmel heruntergekrempelt und sich auf den Teppich gesetzt, den Arm um ein Mädchen gelegt, mit dem er wahrscheinlich zusammen an der Wirtschaftshochschule studierte.

Ich war high von der Stimmung und von Ingvars starkem Joint und hatte mich in mein Inneres zurückgezogen. Während ich auf dem Sofa lag, konzentrierte ich mich auf das Gefühl, wie sich die Zimmerdecke bewegte, auf und ab, auf und ab, als würde sie atmen. Ich wollte dort liegen bleiben, bis ich einschlief, und hatte gerade den richtigen Rhythmus gefunden, als wie aus dem Nichts ein Mann auftauchte. Er war irgendwo unterwegs gewesen und kam zurück in die Wohnung, ein Bekannter von Ingvar oder Egil, das war mir egal. Später konnte ich mich nicht mehr an sein Gesicht erinnern, nur daran, dass er neben meinem Kopf auf dem Boden saß und mit mir reden wollte. Ich war jedoch zu sehr damit beschäftigt, die Zimmerdecke beim Atmen zu beobachten. Nach wiederholten Versuchen, meine Aufmerksamkeit zu erregen, setzte sich der Typ stattdessen zu den anderen.

Ich schlief ein, oder ich wurde eins mit der Decke und hörte auf zu existieren, und plötzlich war ich wieder da. Es war Ingvars Schrei, der mich weckte. Das Mädchen, das Egil vorhin angemacht hatte, saß halb versteckt hinter seinem Rücken und hielt sich die Hände vor die Augen. Egil selbst hockte mit starrem Blick vor dem Fernseher. Auf dem Bildschirm war ein Mann im Dschungel zu sehen, halb in einer schlammigen Pfütze, der etwas aus dem Wasser zog. Es war eine Schlange mit glitzernden braunen und schwarzen Schuppen, so dick wie ein Alligator, aber viel länger. Die Schlange wurde größer und größer, während der Mann sie aus dem Wasser zog. Ihre Haut war braun, schwarz und gelb. The Great Python. Der Mann rief etwas, während er das Wesen mit schnellen Bewegungen aus dem Wasser zog, das immer dicker und kräftiger wurde. »This is a big snake. Der Kopf, da ist der Kopf!«, rief er mit australischem Akzent. In diesem Moment öffnete die Schlange ihr Maul und stürzte sich wütend auf ihren Fänger. Der Mann wich zurück und gab einen unterdrückten Schrei von sich, während die Schlange ihn verfolgte.

Ich schluckte und hörte Egils nervöses Lachen und Fluchen, als käme es aus weiter Ferne. Mein Herzschlag schien alles zu übertönen und erfüllte den Raum mit dem Rauschen meines Blutes. Meine Wangen wurden heiß, meine Hände feucht. Normalerweise hatte ich keine so innige Verbindung zu meinem Körper – zumindest nicht so. Vielleicht hatte es mit den sanften Bewegungen der sich windenden Schlange zu tun, mit der Muskelkraft, die unter den glatten Schuppen verborgen sein musste. Ich fühlte mich zum Bildschirm hingezogen, wo der Mann eine Kamera aus dem Gebüsch geholt und sich in Position gebracht hatte, um das riesige Tier zu fotografieren. In diesem Moment rissen die Schlange und ich beinahe synchron den Mund auf. Wir reckten unsere Hälse und entblößten ein langes, weiches Maul mit winzigen Zähnen, die fast zu einem einzigen verschmolzen waren. Ein feuchter, weicher Gaumen, eine Zunge, die in der Luft wogte. Dann griffen wir an. Der Raum brach in einhelliges Entsetzen aus, als wir unsere Zähne in einen dicken, haarigen Arm schlugen.

»Ich dachte, ich sterbe«, sagte der Australier. »Ich dachte, sie hätte mich erwischt.« Er saß in einem Liegestuhl, im Hintergrund stand ein Zelt. »Sie hätte mich getötet, wenn sie nicht mit dem Unterkiefer an meiner Hose hängen geblieben wäre. Sonst hätte ich keine Chance gehabt.«

Der Clip, in dem die Schlange den Mann biss, wurde in schneller Folge immer wieder gezeigt. Das weiche, rosafarbene Maul schnellte vorwärts, mehrmals, erst in hohem Tempo, dann in Zeitlupe, sodass ich sehen konnte, wie die Schlange zubiss, wie sich ein blassrosa Zahn im Stoff der Hose verfing, bevor er sich schließlich löste. Der Gedanke an diesen Zahn, wie er sich anfühlen musste, wenn man ihn mit den Fingerspitzen berührte. Ich schloss den Mund. Schluckte.

»Ich weiß, wo du so eine kriegen kannst«, sagte der Typ, der aus dem Nichts aufgetaucht war. »Natürlich keine so große wie die da, aber ich weiß, wo man kleinere kaufen kann – Babys.«

Wenn ich zurückdenke und versuche, mich daran zu erinnern, wie er aussah, erscheint in meinem Gedächtnis nur ein Kopf ohne Gesichtszüge, ohne Augen, Nase oder Mund. Aber ich erinnere mich, dass es für einen Moment ganz still im Raum war. Egil drehte den Kopf und schenkte mir ein breites Lächeln. Ich versuchte, es zu erwidern, aber es fiel mir schwer, mit meinen intensiven Gefühlen umzugehen. Ich hatte Angst, dass sie merken würden, wie schnell ich atmete, wie ich schluckte und wie meine Wangen brannten. Ich nickte langsam. Egil drehte sich zu Ingvar um, der ein ähnliches Grinsen im Gesicht hatte. Auch er nickte. Und damit war es entschieden. Wir würden eine Schlange kaufen.

Der Abend erwachte wieder zum Leben, der Raum füllte sich mit Gelächter und Stimmen. Der neue Typ hielt eine silbern glänzende Digitalkamera hoch und machte Fotos von uns allen. Von mir, von Ingvar, Egil, dem Mädchen, sich selbst – alle vor dem Fernseher mit dem eingefrorenen Bild eines sechs Meter langen Pythons.

Das neue Familienmitglied war ein Tigerpython, nur einen Meter lang. Noch ein Baby. Und doch war ich schon in dieses winzige Wesen verliebt. Ich hatte das Gefühl, in der Luft über einem Abgrund zu schweben – ein unglaublich schönes Gefühl. Bevor ich ihn an die anderen weitergab, hob ich ihn an mein Gesicht und flüsterte: »Du kommst mit mir nach Hause.«

Wahrscheinlich bildete ich es mir nur ein, aber ich glaubte zu sehen, wie er nickte.

Mariam

Kristiansund Freitag, 18. August 2017

»Mama, kann ich das haben?«

Iben hält ein Comic-Heft in schillernden Pastellfarben hoch. Die Figur auf dem Cover ist ein sexy Zombie mit Glitzerlippenstift, der mit übergroßen Lippen einen Schmollmund macht. Normalerweise nimmt nur Tor Iben mit in den Supermarkt – ich erledige die Einkäufe lieber alleine. Aber heute ist unser »Mutter-Tochter-Tag«. Der Vorschlag war von mir gekommen. Am Montag beginnt die Schule, und ich wollte diejenige sein, die mit unserer Sechstklässlerin neue Kleidung und Schulsachen kauft. Ich wollte mir Zeit für uns beide nehmen, in der Hoffnung, dass wir uns wieder näherkamen. Je älter sie wurde, desto schwieriger wurde unsere Beziehung. Irgendwie distanziert.

Wir sind schon fast drei Stunden im Einkaufszentrum Storkaia. Iben durfte sich ein Outfit aussuchen, und sie hat sich für eine Skinny Jeans und ein Spitzentop mit einem Knopf im Nacken entschieden, das ihr gut steht, dazu rosa Schuhe und einen farblich passenden Kapuzenpulli, den sie sofort angezogen hat. Wir haben in den Bekleidungsläden herumgestöbert und vor den Spiegeln Fotos gemacht. Dabei haben wir sogar einen gelben Pulli in ihrer Größe gefunden, der aussah wie der Kaschmirpullover, den ich heute trage, und wir haben Tor ein Bild von uns beiden geschickt. Iben sieht aus wie ich, als ich in ihrem Alter war. Manchmal tut es weh zu sehen, wie ähnlich wir uns sind, aber heute war es irgendwie schön. Nach dem Shoppen haben wir uns in ein Café gesetzt und Eis gegessen. Ich habe ihr Fragen gestellt, und sie hat mir geantwortet. Wir haben uns eine Weile über Pferde unterhalten. Eine Freundin von ihr nimmt Reitstunden, und sie würde gern zusammen mit ihr Reiten lernen. Ich habe ihr versprochen, mit Tor darüber zu sprechen, aber sie hat gelächelt, als hätte ich ihr schon die Erlaubnis erteilt.

Iben ist hübsch, mit hellen Locken, die ihr in die Augen fallen, einer schmalen Nase und dünnen Lippen. Die absurde Comicfigur bildet einen scharfen Kontrast zu ihr. Iben schaut mich mit großen Augen an, um mich zu bezirzen. Das funktioniert vermutlich bei Tor, der sich viel zu sehr von seinem schlechten Gewissen leiten lässt, aber bei mir ist das keine gute Taktik. Ich fühle mich betrogen. Elf Jahre lang habe ich mich um sie gekümmert, habe aufgepasst, dass ihr nichts passiert – dass sie nicht vom Sofa fällt, dass ihr das Essen nicht im Hals stecken bleibt, dass sie keine Legosteine verschluckt. Ich habe sie getröstet, wenn sie geweint hat, wenn sie krank war. Das alles weiß sie nicht zu schätzen. Geschenke und die Erlaubnis für irgendwelche Vorhaben – nur das zählt für sie.

Ich nehme ihr den Comic aus der Hand. Für ein paar Sekunden schaut sie mich an, noch immer ist in ihren dunklen Augen ein Licht, und es vergehen Sekunden, in denen sie noch die Hoffnung hat, das Heft zu kriegen, zu kriegen, zu kriegen. Ich blättere im Comic herum. Noch mehr aufgetakelte Zombiemädchen, die mich mit großen, schwarz angemalten Augen anstarren. Sie tun alltägliche Dinge, gehen zur Schule, schminken sich. Die Produzenten dieser Zeitschrift nutzen schamlos aus, dass sich junge Mädchen mit glänzenden Augen solches Glitzerzeug ansehen.

»Was kannst du daraus lernen?«

Iben senkt den Blick. Scharrt mit ihren neuen Schuhen über den Boden.

»Iben. Was kannst du daraus lernen?«

»Ich weiß nicht«, flüstert sie.

»Für mich sieht es so aus, als gäbe es nichts zu lernen. Warum willst du so was haben?«

Sie schaut weiter auf den Boden, zuckt als Antwort mit der einen Schulter.

»Ihre Hüften sind schmaler als ihr Hals«, sage ich.

Dann drücke ich ihr das Comic-Heft wieder in die Hand. Ich stelle mich hinter sie und schlage die erste Seite auf. »Schau dir das an. Keine Geschichte. Fast kein Text, und der wenige Text besteht aus nichts als Geschwätz. Das Einzige, worum es in dieser Zeitschrift geht, sind hässliche Bilder von geschminkten Mädchen. Warum willst du so was haben, Iben?«

Sie schüttelt den Kopf. Versucht, sich loszumachen, aber ich halte sie fest. Ich schlage die nächste Seite auf.

»Schau dir das an.« Wieder blättere ich um. »Siehst du? Zehn Seiten und noch immer keine Geschichte. Es geht um nichts – um gar nichts.«

Ich höre die Strenge in meiner Stimme, aber ich kann nicht zulassen, dass meine Tochter weiter auf so etwas Geschmackloses hereinfällt. Nächstes Mal wird sie es besser wissen. Sie versucht, sich wegzudrehen, aber ich halte sie mit meinen Ellbogen fest. Sie schaut auf ihre neuen Schuhe hinunter, lässt die Zeitschrift los, sodass nur noch ich sie festhalte – das Heft und ihre nun schlaffe Hand. Sie wimmert, versucht, ihre Hand wegzuziehen. Ich bin zu weit gegangen.

»Es tut mir leid. Ich hab es nicht so gemeint. Ich finde nur, du solltest nichts lesen, was dich dümmer macht. Such dir was Besseres aus, dann kauf ich es dir.«

Iben reißt mir das Heft aus der Hand. Sie legt den Kopf schief, geht mit schnellen Schritten los und verschwindet hinter den Regalen. Da klingelt mein Handy. Ich wühle in meiner Handtasche und finde zuerst Ibens Handy – sie hat mich gebeten, darauf aufzupassen, weil ihre Hosentaschen nicht groß genug sind. Ich krame weiter und finde mein eigenes Gerät. Es ist einer der Buchhalter – wahrscheinlich plant er eine Besprechung, bei der es darum geht, weitere persönliche Assistenten einzustellen. VeryHealth hat im Juni eine Ausschreibung gewonnen – es gab ein Foto von uns in der Lokalzeitung Tidens Krav, auf dem wir mit Marzipantorte und Sekt abgebildet waren. Nachdem wir den Sommer mit der Planung verbracht haben, sind wir jetzt bereit, mit den Interviews zu beginnen. Aber heute ist meine Tochter wichtiger als meine Arbeit – das habe ich mir vorgenommen. Ich stelle das Telefon auf lautlos und lasse es weiterklingeln.

Iben ist nicht am Zeitschriftenregal, als ich dort hinkomme. Ich nehme ein anderes Comic-Heft mit, das mir besser gefällt, und ein Buch mit Kreuzworträtseln. Einen Moment bleibe ich stehen und betrachte das Heft mit den stark geschminkten Zombiemädchen. Darüber können wir heute Abend reden.

An der Kasse ist Iben auch nicht. Nicht bei den Süßigkeiten und auch nicht vor dem Supermarkt. Ich nehme die Waren aus meinem Einkaufswagen und lege sie aufs Band an der Kasse. Als ich mein Handy zücke, um sie anzurufen, fällt mir ein, dass ich ihr Handy habe. Ich denke, sie ist noch zu jung für eine Umhängetasche, aber ich werde ihr wohl bald eine kaufen müssen. Als ich bezahle, versuche ich, den jungen Mann, der an der Kasse sitzt, zu fragen, ob er ein elfjähriges Mädchen gesehen hat, aber da hätte ich auch die Kasse selbst fragen können. Ich packe meine Sachen in Tragetaschen, rolle meinen Einkaufswagen durch den Ausgang und bleibe zwischen zwei Läden stehen, schaue nach links und rechts. Als sie immer noch nicht zu sehen ist, schiebe ich den Einkaufswagen mit großen Schritten über den Bürgersteig und merke, dass meine Geduld langsam am Ende ist. Zähneknirschend zwinge ich den Einkaufswagen den Hang hinauf zum Parkplatz.

Sie steht nicht an der Parkuhr und wartet auch nicht am Auto. Ich drehe mich um und schaue in alle Richtungen, aber ich sehe nur ein paar Autos, kein Mädchen. Das ist wahrscheinlich der Punkt, an dem ich anfangen sollte, hysterisch herumzulaufen, den Sicherheitsdienst zu rufen und eine Durchsage über die Lautsprecheranlage machen zu lassen, weil ich befürchte, dass jemand sie entführt hat. Das ist es, was sie will. Aber sie wird mich nicht bestrafen – ich weigere mich, ihr Spiel mitzuspielen. Ich fange an, die Einkäufe ins Auto zu laden, und werfe die Tüten immer aggressiver in den Kofferraum. Die Eier werden dabei wahrscheinlich im Karton zerquetscht, und ich hoffe, dass sie auf Ibens Zeitschrift landen. Ich lasse den leeren Einkaufswagen gegen die Wand krachen, er kippt um und bleibt mit durchdrehenden Rädern liegen, als ich einsteige. Der Saum meines viertausend Kronen teuren Mantels verfängt sich in der Tür, der Stoff reißt, als ich ihn zu mir ziehe. Ich lasse den Wagen an. Iben läuft so schnell, dass sie in zehn Minuten zu Hause sein dürfte. Bald bin ich auf der Straße. Wenn ich will, kann ich einfach weiterfahren. Das Familienleben hinter mir lassen und nie wieder zurückkommen.

Liv

Ålesund Samstag, 23. August 2003

Er hatte sich die Kapuze über den Kopf gezogen und schlenderte mit seinem typischen Gang vornübergebeugt dahin. Schon von Weitem erkannte ich seinen grau-grün gestreiften Pullover, der durchs jahrelange Waschen und Tragen verschlissen war. Beim Näherkommen sah ich, dass der Pullover vom Nieselregen mit Flecken übersät war. Da hob er den Kopf, und ich blickte in seine eisblauen Augen, sah das fast ausdruckslose Lächeln auf seinem pickeligen Gesicht. Unter seiner Oberlippe steckte wie immer ein Päckchen Snus. Fast hätte man meinen können, er hätte schon immer so ausgesehen. Er musste jetzt achtundzwanzig sein.

Patrick winkte mir zu, und mir wurde übel. Ich drehte mich um, blickte nach unten und bog in den Eingangsbereich des erstbesten Geschäfts ein, des Schmuckladens, bereute es aber sofort, als ich durch die Tür trat. Das war kein Fluchtweg, sondern eine Sackgasse. Ich ging auf eine Wand mit Vitrinenschränken zu, in denen Goldschmuck aufbewahrt wurde, und hörte die Glocke läuten, als er nach mir hereinkam.

Zuerst kamen die schönen Erinnerungen. Unser Lachen, wenn er mich im Wohnzimmer hin und her schwang, bis wir beide auf dem Boden landeten. Wie er sich Schinken- und Käsescheiben aufs Gesicht legte, um mich zum Lachen zu bringen. Erinnerungen an die Zeit, bevor ich in die Schule kam und bevor die Frau, die sich meine Mutter nannte, immer wieder monatelang verschwand. Es war, als wären diese Erinnerungen in Watte gepackt, als würde sich mein Kopf in Watte verwandeln, wenn ich nur an sie dachte.

Nach den schönen Erinnerungen kamen die Alltagsbilder. Patrick, der nie rechtzeitig aufwachte. Der Radiowecker, der surrte und eine trockene Nachrichtensprecherstimme in die Dunkelheit des fensterlosen Zimmers entsandte. Er surrte, bis Patrick den Stecker aus der Steckdose zog. Ich stand da und zerrte an ihm, bis er aufstand oder mir sagte, ich solle zur Hölle fahren. Dann schmierte ich mir ein Butterbrot, trank ein Glas Schokomilch und ging zur Schule. Wenn ich am Nachmittag nach Hause kam, lag er manchmal auf dem Sofa, oder er war ausgegangen, oder er stand in der Küche und schmierte uns Käsebrote. Die Tage verschwammen ineinander, ein ganzes Leben, das aus Dingen bestand, die wir zusammen oder nicht zusammen taten. Der Atem, der aus seiner Nase kam, wenn er mich kitzelte, der Fernseher, der fast immer lief, die Gläser mit eingetrockneter Milch und die Schüsseln mit Resten von Haferbrei, die auf der Küchenarbeitsplatte standen. Die Zahnpasta, die er im Waschbecken zurückließ und die ich mit dem Finger vom Porzellan kratzte. Allmählich gehörte der Alltag nicht mehr uns dreien, sondern nur noch uns beiden.

Die dunkelsten Erinnerungen kamen zuletzt. Da war Patrick mir so nahe gekommen, dass ich ihn riechen konnte, während ich vor den Schränken mit dem Goldschmuck stand. Ich konnte diese Erinnerungen nicht ertragen. Ich wollte, dass er ging, damit ich nicht mehr daran denken musste. Ich starrte den Goldschmuck an – Schmuck, den ich mir nicht leisten konnte. Das einzige Schmuckstück, das ich trug, war ein vergoldeter Schlüssel an einer Halskette. Ich sah sein Spiegelbild in der Glasvitrine, und ich sah Patrick, der in diesem Moment eine Hand ausstreckte und den Schlüssel mit den Fingerspitzen berührte.

»Bist du ein Schlüsselkind geworden, Sara?«

Ein Schauer lief durch meinen Körper. Ich wich ihm aus.

»Ach, Sara«, sagte er.

Ich hielt die Luft an und versuchte, die Übelkeit in Schach zu halten.

»Ich heiße Liv«, sagte ich. »Und ich kenne dich nicht.«

Roe

Kristiansund Freitag, 18. August 2017

Die Uhr auf dem Computerbildschirm nähert sich der Mittagszeit. Ich schaue alle paar Minuten hin und werfe ab und zu einen Blick aus dem Fenster, wo die Fähre Sundbåten in den Hafen zurückkehrt. Der Wind bläst winzige Regentropfen an die Scheibe. Als ich zum ersten Mal hierherkam, dachte ich, das Fenster mit Meerblick würde mir Freude bereiten. Jetzt erinnert es mich nur daran, dass Kristiansund genauso deprimierend ist wie Ålesund, nur dass der Blick aus dem Bürofenster besser ist.

Die Vernehmung des jungen Mädchens, das behauptet, im Schlaf vergewaltigt worden zu sein, ist längst beendet – ich überarbeite gerade den Bericht. Natürlich hätte ich auch mit den anderen in die Kantine gehen und hinterher ein Stück von dem Kuchen essen können, den der Däne als Entschuldigung für irgendeinen Schnitzer mitgebracht hat, den er sich bei der Arbeit erlaubt hatte. Als ich neu bei der Polizei war, mochte ich diese Kuchenrunden. Ich tat sogar so, als würde ich sie immer noch toll finden, als ich zum Vorstellungsgespräch nach Kristiansund fuhr, dabei wollte ich nur weg von Ålesund. Aber diese Runden, bei denen jemand einen Entschuldigungskuchen ausgibt, sind nicht dasselbe, wenn man einen Schreibtischjob hat und nicht mehr im Außendienst ist. Man wird einfach zum Kollegen, der nur vom Kuchen isst und nie einen backt – der sich die Geschichten anhört und sie analysiert, aber keine eigenen mehr erlebt, bei denen er sich einen Fehler erlauben könnte. Einige von den alten Kollegen, die nicht mehr im Einsatz sind, backen immer noch Kuchen und bringen ihn mit, aber das ist irgendwie komisch.

Es geht nicht nur darum, dass ich nicht mehr im Außendienst bin. Nach allem, was passiert ist, kann ich es kaum ertragen, unter Menschen zu sein. Und wenn Polizisten zusammen Kuchen essen, stellen sie Fragen. Sie wollen alles wissen, was in deinem Kopf vorgeht. Ich habe nicht vor, auch nur ein Detail preiszugeben, das sie nicht wissen müssen. Sie finden es hart, einen Junkie von der Straße aufzusammeln, und halten es für eine Tragödie, wenn aus ihren Flirtversuchen nichts wird. Mit solchen Leuten kann ich nicht darüber reden, wie es ist, alles zu verlieren, was einem wirklich etwas bedeutet hat, ohne dass einem klar war, wie wichtig es einem war. Wie es sich anfühlt, wenn man sechzig ist und jedes Jahr, das vergeht, zugleich ein weiteres ist, das zwischen mich und mein Kind gelegt wird. Für mich ist es zu spät. In der Vergangenheit liegt eine immer fernere Erinnerung an Menschen, die ich nicht wertschätzte, als ich sie noch hatte, und in der Zukunft wartet nur der Tod. Aber das kann ich meinen Kollegen nicht sagen. Dann bin ich nur der mürrische alte Mann, der schweigend dasitzt und ihren Kuchen isst. Sie dürfen mich nicht zwingen, dieser Kerl zu sein.

Das Einzige, was mir aus der Zeit in Ålesund fehlt, ist, dass meine dortigen Kollegen genau wussten, wo meine Grenze verlief. Als ich ging, hatte ich keine Ahnung, dass ich das einmal vermissen würde. Sverre kennt mich so lange, dass wir wieder zueinander hätten finden können, wenn ich die Kraft dazu gehabt hätte, aber für ihn ist es auch völlig in Ordnung, mich einfach in Ruhe zu lassen. Dieses Verständnis fehlt mir hier.

Mein Magen knurrt, aber ich will warten, bis möglichst wenig Leute in der Kantine sind, bevor ich zum Mittagessen gehe. Um die Zeit totzuschlagen, schaue ich mir noch einmal das Video von der Vernehmung des jungen Mädchens an. Sie sitzt mit gesenktem Kopf da, die Hände im Schoß. Ihre Haare verdecken ihr Gesicht vor der Kamera. »Ich kannte ihn von früher«, sagt sie, »von der Schule und so. Er hat mich nie angemacht, da war nichts zwischen uns. An dem Abend, auf der Party bei ihm zu Hause, hat er es bei mir versucht, aber er war nicht aufdringlich oder so.« Meine eigene Stimme unterbricht sie mit einem Räuspern: »Also, du sagst, er hat es versucht – was hat er getan?« Stille. Dann: »Er wollte über Dinge reden. Private Dinge. Dann wollte er mich küssen, aber ich habe mich zurückgezogen. Ich habe gesagt, dass ich kein Interesse habe, und dann hat er aufgegeben. Danach schien alles in Ordnung zu sein. Er ist ein Typ, bei dem man sich sicher fühlt. Ich hatte keine Angst, mich neben ihn zu legen und einzuschlafen.« Das Mädchen fängt an zu weinen. Ich sehe zu, wie ich ihr die Schachtel mit den Taschentüchern reiche. »Erzähl mir bitte, was dann passiert ist«, sage ich. »Ich habe geschlafen«, sagt sie. »Ich bin erst aufgewacht, als er angefangen hat. Er … hat Sachen mit mir gemacht, während ich geschlafen habe.« Meine Stimme unterbricht sie erneut. »Ich weiß, dass es schwierig ist«, sage ich, »aber du musst versuchen, so genau und detailliert wie möglich zu sein. Wenn du sagst, dass er Sachen mit dir gemacht hat, kannst du mir sagen, was du damit meinst?«

Ich weiß noch, wie ich mich die ersten Male fühlte, als ein solches junges Mädchen weinend vor mir saß. Wie wütend ich auf den oder die Täter war. Manchmal hatte ich diesen Mädchen mehr zu geben als meiner eigenen Tochter. Ich hatte das Gefühl, dass sie mich eher brauchten, nach allem, was sie durchgemacht hatten. Inzwischen hört die Empathie auf halbem Weg auf. Ich ertrage dieses Gefühl nicht mehr und habe Angst, rotzusehen und durchzudrehen.

Ich halte das Video mitten in der Vernehmung an. Einen Moment betrachte ich den gesenkten Kopf des Mädchens. Ich erinnere mich, wie meine Lütte die Straße hinauf zu dem Haus lief, in dem wir als Familie lebten. Sie hat sich immer so gefreut, mich zu sehen. Plötzlich beginnt das Herz in meiner Brust schneller zu klopfen. Ich schüttle die Erinnerungen ab und schalte das Video aus.

Ich gehe gegen den Strom von Polizisten, die gerade zu ihren Schreibtischen zurückkehren. Bald werden viele von ihnen weg sein – die Einsatzzentrale wird in wenigen Wochen nach Ålesund verlegt. Alles verschwindet aus Kristiansund. Nur ich bin in die entgegengesetzte Richtung gereist.

Auf dem Weg nach oben bleibe ich stehen, um meine Schnürsenkel zu binden. Ich lausche dem Stimmengewirr in der Polizeistation, es erinnert an einen Bienenschwarm, der mich umgibt. Ich weiß, dass ich das nicht mehr lange aushalte, aber es gibt auch keine Alternative für mich. Ich richte mich auf und beschließe, den Rest der Treppe hinaufzujoggen, auch wenn mich niemand sehen kann, vorbei an den Wachspuppen in alten Polizeiuniformen.

Birte kommt aus der Kantine, in der Hand eine Flasche Sprudelwasser. Ihr Gesicht ist so dicht mit Sommersprossen bedeckt, dass sie an eine Landkarte erinnert, der übliche rote Zopf hängt über die Schulterklappe ihres Uniformhemdes. Birte hebt die Hand zum Gruß, als ich an ihr vorbeigehe. Man grüßt sich hier viel zu oft, das ist anstrengend. Kaum bin ich durch die Tür, höre ich hinter mir einen Schrei, gefolgt von schrillem Gelächter. Ich drehe mich um und sehe, dass sich der Däne als Schaufensterpuppe verkleidet hat, mit Perücke und alter Uniform. Der große Mann krümmt sich vor Lachen. Birte muss sich auf die Stufen setzen und sich die Augen reiben, so sehr lacht sie. Ich weiß, es ist blöd von mir, aber ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Däne schon dort gestanden hat, als ich vor ein paar Sekunden vorbeigegangen bin. Dass er gewartet hat, bis ich weg war, ganz still, damit er herausspringen und jemand anderen erschrecken konnte.

In der Kantine sitzen noch ein paar Grüppchen, die eine lange Mittagspause machen. Keines der Gerichte sieht besonders appetitlich aus, und ich entscheide mich für einen Hühnchensalat. Ich nehme mir eine Zeitung und gehe zu einem Fenstertisch. Der Fußballtrainer Magne Hoseth ist heute auf der Titelseite von Tidens Krav abgebildet – er will Kristiansund dabei helfen, in der ersten norwegischen Liga zu bleiben. Ich blättere in der Zeitung, bis ich das Interview gefunden habe. Eigentlich ist es mir egal, wie der Verein in der Fußballliga abschneidet, aber wenigstens geht es in dem Artikel um etwas anderes als Wirtschaft oder Krankenhäuser. Falsch. Auch Hoseth hat eine Meinung zum geplanten Regionalkrankenhaus, das den Steuerzahler bereits vierhundertfünfzig Millionen Kronen gekostet hat. Vor einer Woche hat Kristiansund die Berufung im Krankenhausprozess verloren. Die Klinik wird nun in Molde gebaut.

Ich fasse mir ein Herz und schiebe die Gabel in den Hühnchensalat. Kaum habe ich den Mund geöffnet, sehe ich aus dem Augenwinkel jemanden auf mich zukommen.

»Ja, wer sitzt denn da!«

Åsmund trägt einen grau-braunen Pullover, der viel zu klischeehaft zu seinen weißen Haaren passt. Er versteht nicht, dass ich lieber nicht mit ihm gesehen werden möchte. Dass seine Anwesenheit die Aufmerksamkeit auf meine silbergrauen Strähnen lenkt. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich auf Åsmunds unvermeidliche Geschichten über Schulbesuche und beunruhigende Gespräche mit Jugendlichen vorzubereiten.

»Wie geht es dir, Åsmund?«

Åsmund seufzt und stellt sein Tablett auf den Tisch.

»Weißt du, je länger ich hier arbeite, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass es einfach keine Hoffnung für die nächste Generation gibt.«

»Wenigstens musst du dich nicht um Sexualdelikte kümmern. Da nehme ich lieber eine Schlägerei unter Alkoholeinfluss oder einen Einbruch – Sexualdelikte machen einen wirklich fertig.«

Was ich an Åsmund am schwersten akzeptieren kann, ist die Tatsache, dass wir uns eigentlich ganz gut verstehen. Das ist deprimierend.

»Ich habe gehört, dass du sehr gut mit solchen Fällen umgehen kannst, Roe. Ich habe vorhin beim Kuchenessen mit ein paar von den Kollegen gesprochen. Sie sagen, du bist richtig gut im Vernehmen.«

Ich bin überrascht, dass sie über mich geredet haben, aber ich vermute, dass Åsmund nicht die ganze Geschichte erzählt – dass es irgendwo ein Aber gibt.

Åsmund beginnt eine Geschichte von einem Dreizehnjährigen zu erzählen, dem er helfen wollte. Ich schalte schnell ab, betrachte meinen Salat und überlege, ob ich noch einen Bissen nehmen soll. Ich fülle meine Gabel und betrachte das blasse Fleisch, die senfgelbe Soße.

»Roe!«, ruft Birte von der Tür. Ihr sommersprossiges Gesicht ist diesmal ernst. »Besprechung. Teamraum.«

Ich sehe an ihrer Haltung, wie sie plötzlich zehn Jahre reifer wirkt. Das klingt nach einem richtig großen Fall. Genau das brauche ich jetzt, dass etwas passiert. Besonders hungrig war ich sowieso nicht. Ich stehe auf, nehme meinen Salat und die Zeitung und gehe zum Mülleimer. Mit beiden Händen werfe ich die Sachen so heftig hinein, dass der Plastikdeckel scheppert.

Wir eilen die Treppe hinunter in den dritten Stock. Doch vor der Tür zum Teamraum bleibt Birte stehen. Sie streckt einen Arm aus und will, dass ich zuerst hineingehe. Ich drehe mich um und sehe, dass Åsmund uns gefolgt ist – er steht auf der Treppe und schaut in unsere Richtung. Als ich nach der Türklinke greife, wird mir plötzlich mulmig.

Der Raum ist halbdunkel und voller Menschen, die schweigend dasitzen und mich anstarren. Dann gibt es einen Knall, und die Luft ist erfüllt von Konfettiregen. An der Wand leuchtet ein Schild mit der Aufschrift: »Roe – 60 Jahre!« Und der Saal stimmt ein Geburtstagslied an. Sie singen, verbeugen sich, knicksen und drehen sich um, genau wie es der Text des Liedes vorschreibt. Ich hätte es wissen müssen. Die Bastarde wollen es mir natürlich unter die Nase reiben.

Liv

Ålesund Donnerstag, 28. August 2003

»Oh nein, nein, nein, nein, nein!«

Das Auto auf dem Fernsehbildschirm kam von der Straße ab, fuhr geradeaus gegen eine Betonmauer und landete auf dem Dach. Egil fluchte und schleuderte den Controller gegen den Sockel mit der Engelsfigur, der mitten in Ingvars Zimmer stand.

»Was zum Teufel machst du da?« Ingvar grinste und fuhr sich durch sein langes dunkles Haar, während er seinen Wagen sauber über die Ziellinie lenkte. »Du hast viel zu viel Temperament.«

»Aber Egils Vater kauft uns gern eine neue Xbox, wenn die hier kaputtgeht«, sagte ich. »Lass es nur raus, Egil.«

»Ach, halt die Klappe«, antwortete Egil.

Die Hänseleien, die Streitereien – unter all dem lagen nur gute Gefühle. Das war eines der Dinge, die ich an diesen Jungs am meisten mochte – dass wir uns anschreien konnten, ohne dass es falsch verstanden wurde. So redet man nicht mit jemandem, den man nicht mag, nicht in diesem Ton. Jeder von uns wusste, dass der andere es aushalten konnte und nicht zu weit gehen würde. Keiner von uns fasste es falsch auf, niemand war sauer, wir konnten ganz einfach Dampf ablassen.

Egil ließ sich neben mich aufs Bett fallen und zupfte das beigefarbene Lacoste-Hemd zurecht, das er trug. Es war natürlich slim fit – er hatte nicht umsonst so viele Stunden im Fitnessstudio verbracht. Egil war auf irritierende Weise wohlproportioniert, von den breiten Schultern über die Kinnpartie und die Wangenknochen bis hin zu seiner Nase, der Stirn und den Augenbrauen, die in der Mitte leicht zusammenliefen. Er war der Typ Mann, von dem viele Mädchen glaubten, ihn haben zu wollen, weil sie dachten, dass alle anderen ihn auch wollten. Mädchen, die aussahen wie aus einem Hochglanzmagazin, waren der Meinung, sie wollten auch jemanden aus einem Hochglanzmagazin – und Egil nutzte das nach Kräften aus. Nur ich wusste, dass in Egils Fall unter der Oberfläche ein guter Kerl steckte.

Ich hob meinen Arm, an dem Nero hing. Sein schuppiger Körper wollte zurück zur Heizung unter dem Fenster, und Egil nahm mir die Schlange ab. Ich setzte mich neben Ingvar auf den Boden und griff nach dem Controller. Ingvar startete das Spiel noch einmal, und die Autos stellten sich zum Rennen auf, mein weißer Jaguar und Ingvars schwarzer Lamborghini zusammen mit zwei anderen schicken Autos. Der dröhnende Klang von vier Motoren erfüllte den Raum. Einige Frauen in kurzen grauen Röcken kamen herbei und bereiteten uns auf den Startschuss vor. Dann ging es los. Mit Vollgas durch die dunklen Straßen der Stadt. Ich war so übereifrig, als ich in die Kurve fuhr, dass ich es mit vollem Körpereinsatz tat. Ich drehte das Auto zu stark und krachte mit dem Heck in die Leitplanke – keine Bonuspunkte für mich. Ingvar war bald an der Pole-Position, segelte elegant über den Asphalt, machte einen weiten Sprung von der Kuppe eines Hügels und landete kontrolliert in der nächsten Kurve. Ich war zu sehr damit beschäftigt, was er tat, und donnerte in einen Opel mit roten Streifen an den Seiten – woraufhin wir beide die Kontrolle verloren. Egil lachte laut in seiner üblichen spöttischen Art und schien zu vergessen, dass er noch vor wenigen Minuten in meiner Situation gewesen war. Ich bekam das Auto wieder unter Kontrolle und überholte den Opel, nahm eine Kurve mit perfektem Schwung, nur um festzustellen, dass ich in die falsche Richtung gefahren war. Bald war ich wieder Letzte. Ich seufzte, fuhr vorsichtig an den Straßenrand und stellte den Wagen ab.

»Ich denke, es ist offensichtlich, was du den ganzen Tag tust, Ingvar, wenn du eigentlich Musik machen solltest«, sagte ich.

Ingvar hob den Zeigefinger, während die Worte »Clean Section« auf dem Bildschirm erschienen.

»Du bist nur neidisch«, sagte Ingvar, »weil ich so gut bin.«

»Du bist nur gut darin, kein Leben zu haben«, antwortete Egil.

Ingvar fuhr weiter, ohne ein Wort zu sagen. Ich setzte mich neben Egil ins Bett, während Ingvar allein vorneweg fuhr und Punkte sammelte.

»Du kommst doch am Samstag, oder?«, sagte Egil.

Er versuchte, Nero dazu zu bringen, sich wie eine Katze in seine Armbeuge zu legen, aber die Schlange schien das nicht zu verstehen. Stattdessen ließ sie sich aufs Bett fallen und stützte ihren Kopf auf ihren zusammengerollten Körper. Nero war von Natur aus ruhig. Nur selten bewegte er sich – er konnte stundenlang in fast der gleichen Position liegen. Er sparte seine Energie für die nächste Gelegenheit, bei der er auf die Jagd gehen konnte.

»Ich habe kein Geld«, sagte ich. »Keine Kohle für Drinks.«

Egil schnaubte verärgert. »Du schnorrst deine Getränke doch sowieso immer bei mir.«

»Und außerdem habe ich keine Lust.«

Egil sah mich an.

»Ich will das Wochenende damit verbringen, für meinen Kurs zu lernen«, sagte ich zu Egil. »Im Ernst. Früh ins Bett gehen und so, den ganzen Sonntag mit Lesen verbringen, anstatt verkatert im Bett zu liegen und mich zu hassen.«

Egil zog eine Augenbraue hoch. »Eine Party wird dich nicht davon abhalten, Krankenschwester zu werden. Komm schon, es wird nicht wie letztes Mal, es wird cool.«

Egil erinnerte sich wahrscheinlich besser als ich an das, was ich in den frühen Morgenstunden des vergangenen Sonntags von mir gegeben hatte. Ich hatte mir geschworen, ihnen nie von Patrick zu erzählen. Aber dass ich ihm an diesem Tag in der Stadt begegnet war, hatte einen starken Eindruck auf mich gemacht.

»Sobald du anfängst zu trinken, hast du auch wieder Lust«, sagte Egil.

Das dachte ich auch, als ich am vergangenen Samstag hierher zurückkam, um mich für die Party vorzubereiten. Eigentlich wollte ich mich nur unter die Bettdecke verkriechen und die Angst vertreiben, die mich überkam. Stattdessen beschloss ich, diesen Abend zur besten Nacht aller Zeiten zu machen, und ich sagte mir, sobald ich anfangen würde zu trinken, würde es Spaß machen. Aber so war es nicht. Ich konnte mich nicht einmal erinnern, was ich gesagt hatte. Nur, dass es viel zu viel gewesen war. Ich wusste nicht einmal, dass Ingvar Patrick von früher kannte.

Egil warf mir einen niedergeschlagenen Blick zu. Er wartete auf eine Antwort und schien ein Nein nicht akzeptieren zu wollen. Ich seufzte.

»Das war nur ein Witz. Natürlich komme ich mit.«

Ich streckte meinen Zeigefinger aus und berührte den schmalen Streifen von blassen Schuppen auf Neros Kopf, ganz oben am Hals. Wenn man den Kopf von oben betrachtete, sah das Muster wie ein Pfeil aus, ein weißer Strich ganz hinten und eine dunkle Pfeilspitze, die auf Schnauze und Maul zeigte. Ich hatte in den letzten Monaten so viel Zeit damit verbracht, diesen Kopf anzustarren, diesen wundersamen Wegweiser.

»Er ist so schön«, sagte ich. »Ich fass es einfach nicht.«

»Mensch«, sagte Egil, »jetzt übertreib es mal nicht mit Komplimenten an mich.«

»Ich meine es ernst, schau dir diesen Körper an.«

Vor einer Woche hatte er sich gehäutet. Ich konnte den ganzen Prozess beobachten, von dem Moment an, als sein ganzer Körper einen gräulichen Schimmer angenommen hatte – sogar die schwarzen Augen –, bis zu dem Moment, als er sich um den Bettpfosten gewunden hatte, um die spröde, grau-weiße Haut abzuschaben. Die neuen Schuppen, die zum Vorschein kamen, leuchteten in klaren Farben, so glänzend, als wären sie frisch poliert. Früher glaubten die Menschen, Schlangen seien unsterblich. Sie sahen, wie sie aus ihrer eigenen Haut wiedergeboren wurden, immer und immer wieder. Neros Haut hing jetzt an der Deckenlampe in meinem Zimmer. Ich wollte jede Wiedergeburt festhalten, mich an all die Schlangen erinnern, die er gewesen war.

»Könnten wir die Schlange nicht auf der Party vorführen?«, fragte Egil und klimperte mit den Wimpern.

Ich sah ihn an.

»Oder nur auf der Afterparty?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Es wird ja keine Polizei da sein oder so – nur coole Leute. Wenn er Angst bekommt, bringen wir ihn einfach wieder weg. Alles wird gut.«

»Bis er ein Mädel beißt, das dann seine Mama anruft.«

»Ich werde ein Auge auf ihn haben und alle warnen, dass sie ihn nicht erschrecken.«

»Egil. Wir haben genug darüber geredet.«

»Es ist nicht nur deine Schlange. Ingvar – was denkst du?«

Ingvar hatte die Xbox ausgeschaltet und legte eine CD ein. Dopethrone von Electric Wizard – sein Lieblingsalbum. Langsame Gitarrenriffs erfüllten den Raum, als Ingvar sich auf das Bett mir gegenüber fallen ließ. Er trug ein T-Shirt der Band, das so verblichen war, dass man nicht mehr erkennen konnte, was darauf stand. In der Hand hielt er ein Buch.

»Soll ich dir sagen, woran ich heute Morgen gedacht habe?«, fragte Ingvar und hielt das Buch hoch.

»Alice im Wunderland?«, las ich vor. »Kinderbücher, Ingvar? Ich dachte, du liest nur russische Wälzer.«

»Es ist ein Klassiker«, sagte Ingvar. »Wenn wir Figuren aus Alice im Wunderland wären, welche davon wären wir?«

Egil lachte. »Ich weiß genau, wer du wärst, Ingvar. Du wärst die Raupe, die auf einem Pilz sitzt und die ganze Zeit vor sich hin pafft.«

Ingvar breitete die Arme aus.

»Die ganze Zeit? Das passiert doch höchstens einmal in der Woche!«

»Manche von uns finden das ziemlich oft«, antwortete Egil. »Und wer weiß, was du machst, wenn wir anderen in der Vorlesung sitzen.«

»Das ist eine Lüge«, sagte Ingvar. »Und außerdem ist Cannabis ein Medikament.«

Ingvar hatte Epilepsie. Er bekam nur selten Anfälle, aber er war immer auf der Hut und trank kaum Alkohol. Unsere Vereinbarung lautete: Wenn er einen von uns anrief, weil er allein zu Hause und nicht in der Lage war, irgendetwas zu sagen, sollten wir davon ausgehen, dass er einen Anfall hatte, und sofort zu ihm kommen. Zum Glück hatte er bisher nur Anfälle gehabt, wenn jemand bei ihm war.

Egil lächelte. »Es ist gar nicht bewiesen, dass Cannabis bei Epilepsie hilft, Ingvar, also versuch ja nicht, deinen Drogenkonsum zu entschuldigen.«

»Bei Egil ist es auch ganz einfach«, sagte ich. »Er ist der verrückte Hutmacher. Eine einzige, endlose, sinnlose Party – das ist dein Leben, Egil, oder?«

»Du bist verdammt frech«, meinte Egil. »Und außerdem bist du noch verrückter als ich, wenn du trinkst. Und was ist mit Liv, Ingvar? Ist sie die Katze?«

»Sie könnte die Grinsekatze sein.« Ingvar hob den Zeigefinger. »Oder Alice, das würde meiner Meinung nach auch passen. Aber es gibt eine noch bessere Möglichkeit. Liv ist die Herzkönigin.«

»Weil ich der Boss von euch beiden bin?«

»Das auch, und außerdem bist du die Partyqueen. Aber die Herzkönigin ist die wichtigste Figur im ganzen Buch. Sie macht die Geschichte gefährlich – ohne sie gäbe es keine Geschichte.«

»Das verstehe ich nicht. Hältst du mich für gefährlich?«

»Ich kapier es auch nicht, Ingvar.«

»Denkt doch mal nach. Wer hat uns im Februar zum Mitternachtsschwimmen mitgenommen? Wer ist im Dunkeln mit einem Haufen betrunkener Idioten auf den Sukkertoppen geklettert? Wer ist durchs Gebüsch in einen schicken Garten gekrabbelt, um das Teil da zu klauen?«

Ingvar deutete zur Engelsfigur auf dem Sockel. Es war eine dieser dicken, babyähnlichen Engelsfiguren, die man überall sah, aber mit den grünen Flecken und der Möwenscheiße sah sie alles andere als niedlich aus. Ich hatte das Teil »Beelzebub« getauft.

»Ich weiß noch, wie das Licht im ersten Stock anging«, sagte Egil. »Du bist mit dem Engel unterm Arm gerannt wie der Teufel.«

»Genau«, sagte Ingvar. »An wie viele Nächte würden wir uns noch erinnern, wenn Liv nicht da gewesen wäre, um sie aufzupeppen? Ohne sie hätten wir keine besonderen Erinnerungen. Nur ein ewiges absurdes Spiel mit Uhren und Teetassen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Für einen Kerl, der ständig raucht, Ingvar, bist du verdammt schlau.«

»Ich rauche gar nicht ständig!«

»Liv ist diejenige von uns, die im Gefängnis landen wird«, sagte Egil. »Wetten?«

Ich lachte. »Mal sehen, wie falsch du am Ende liegst.«

»Dann ist es also beschlossene Sache«, sagte Egil. »Ingvar hat dich überredet. Nero kann also zur Party mitkommen?«

»Eigentlich stimme ich Liv zu«, sagte Ingvar. »Die Schlange wird bestimmt jemanden beißen oder würgen. Damit will ich nichts zu tun haben.«

In diesem Moment klingelte mein Handy. Die Nummer auf dem Display war nicht in meinen Kontakten gespeichert.

»Hallo?« Die weibliche Stimme war heiser, wahrscheinlich eine Raucherin.

»Sie haben angerufen, nicht ich«, sagte ich und stand auf. Ich ging den Flur entlang, vorbei an den Wänden, die mit gestickten Ornamenten aus der Jugendzeit unserer Vermieterin bedeckt waren, in Richtung Badezimmer. Ich glaubte einen Duft zu riechen, eine Wolke von Parfüm.

»Sara? Bist du das?« Sie klang emotional. Ich klappte die Klobrille herunter und stellte mir vor, wie das Gesicht einer Frau mittleren Alters auf dem Boden der Schüssel schwamm. Ich zog meine Jeans und den Slip runter und setzte mich.

»Liv«, sagte ich und pinkelte.

Sie verstummte, während ich das Telefon fest an den Hals drückte und das Meer aus verschiedenen staubbedeckten Seifen, Aftershaves, Rasierern und anderen männlichen Schönheitsprodukten studierte, zusammen mit dem Waschpulver, den Haarbändern, einigen Nagelstücken und einer Tennissocke. Ich bewahrte meine Sachen in meinem Zimmer auf, außer wenn ich gerade duschte.

»Ich bin’s, Mama.«

Ich hörte das Geräusch ihres Atems, während sie den Rauch in ihre Lungen sog, eine Dunkelheit. Ich wischte mich ab und betätigte die Spülung. Die Toilette füllte sich halb und saugte das Papier in den Abfluss. Ich wusch mir die Hände mit heißem Wasser. Die Frau am anderen Ende der Leitung sagte: »Hallo?« Sie sagte: »Ich habe gehört, dass Patrick dich am Wochenende in der Stadt getroffen hat.« Ihre Stimme brach. Ich trocknete die Hände ab und stellte mir vor, wie sie sich anfühlen würden, wenn sie mit Schlangenhaut bedeckt wären, mit Schuppen. Die Haut war eine so dünne Schicht, so zart.

»Es tut mir so leid, Sara.«

Ihre Lügen bahnten sich mit Macht ihren Weg, als wollten sie etwas in mir lösen. Ich betrachtete mich im Spiegel, mein blasses Gesicht im grellen Licht. Ich zog an der goldenen Kette, die ich um den Hals trug, um den vergoldeten Schlüssel unter meinem Pullover hervorzuholen, und spielte daran herum. Ich strich mit den Fingerspitzen über die kleinen Zacken am Ende. Dann räusperte ich mich, und der Redeschwall verstummte, eine Erleichterung.

»Sie haben sich verwählt«, sagte ich. »Hier ist Liv. Nicht Sara.«

»Geht es dir gut, Schatz?«

»Sie haben es nicht begriffen«, sagte ich lauter. »Ich kenne Sie nicht.« Ich schloss meine Faust um den Schlüssel und versuchte, den Geruch und die Stimme auszublenden.

»Wir können doch wieder zusammenfinden, oder?«

Ich beendete das Gespräch. Ihre Stimme hinterließ ein Vibrieren im Raum. Ich ließ das Handy auf dem Waschbecken liegen und ging zurück ins Wohnzimmer. Egil und Ingvar schauten mich an.

»So viele Leute verwählen sich heutzutage«, sagte ich, griff nach Nero und hielt ihn vor mich hin. Ich studierte die tiefen Grubenorgane am Kiefer, mit denen er die Infrarotstrahlen im Raum wahrnahm. Er konnte unsere Körperwärme »sehen«. Ich fragte mich, wie die wohl aussah.

Nero öffnete sein kleines Maul und zischte. Egil und Ingvar schauderten, aber ich hatte keine Angst. Ich glaubte nicht, dass er mir etwas tun würde. Stattdessen versuchte ich zu lauschen, meinen Geist zu öffnen und seine Sprache zu verstehen. Würde ich ein Wort aufschnappen, tief im Innersten? Wenn ich einfach über alles hinwegsah, was wie ein »s« oder ein »h« klang, wenn ich das Alphabet hinter mir ließ, konnte ich vielleicht erkennen, was er sagen wollte. Er hatte keine Lippen – wenn er versuchte, ein »m« zu formen, wie würde das wohl klingen? Wenn er versuchte, mit seiner gespaltenen Zunge ein »t« zu bilden, ein »g« ohne Stimmbänder? Seine Worte konnten nie wie menschliche Worte klingen, also musste er seine eigenen benutzen. Feine Nuancen von »h« und »s«. Wenn ich ganz genau hinhörte, würde ich ihn verstehen.

Hatte ich in der letzten Nacht davon geträumt? Dass ich mich als brennende Flamme im Bett sah und meine eigene Stimme flüstern hörte? Oder war es seine gewesen? Ich wusste nicht mehr, was er gesagt hatte.

»Wir sollten versuchen, ihn mit lebenden Mäusen zu füttern«, sagte ich. »Meint ihr nicht, dass das besser für ihn wäre – irgendwie natürlicher?«

Mariam

Kristiansund Freitag, 18. August 2017

Die Windschutzscheibe ist voller kleiner toter Fliegen. Ich schalte die Scheibenwischer ein, die sie zerquetschen und in rotbraunen Schlieren auf der Scheibe verteilen. Ich fahre los. Die Straße liegt hinter mir, vor mir taucht immer mehr Asphalt auf, eine ewige Bewegung. Auf dem Armaturenbrett liegt ein Stapel Rechnungen, denn ich bin ein ewiger Widerspruch. In meinem Haus führe ich ein Ordnungsregime, das ich selbst nicht einhalten kann. Ich sprühe Wischwasser auf die Windschutzscheibe. Und fahre weiter. Ich könnte bis Trondheim fahren, dort übernachten und morgen weiterfahren. Könnte ein gutes Stück zurücklegen, bevor Tor so unruhig wird, dass er mich als vermisst meldet.

Wieder vibriert ein Handy, meins oder das von Iben. Er ruft ständig an. Wahrscheinlich denkt er, dass seine junge Frau mit irgendeinem Liebhaber durchgebrannt ist, und jetzt hat er Angst, dass unsere perfekte Fassade zusammenbricht. Dass der Politiker Tor Lind und seine Vorzeigefrau, von der alle einen so guten Eindruck haben, sich bald trennen werden.

Das Klingeln verstummt. Ich folge der Strecke, die sich durch die noch sommergrüne Landschaft schlängelt. Der Fjord verschwindet manchmal hinter Häusern oder Bäumen, aber er ist da und verfolgt mich. Das kühle Wasser ist auf der Jagd und wartet auf den richtigen Moment, um zuzuschlagen. Ich bin die Berge und Fjorde leid. Wahrscheinlich hätte ich auch die Nase voll vom Dschungel und von Savannen, wenn ich ständig von ihnen umgeben wäre. Ich weiß nicht viel über die Welt da draußen, aber ich spüre, dass mein Herz hier gefesselt ist. Dass es nicht reicht, ab und zu zum Horizont zu schauen und das Wasser in der Ferne verschwinden zu sehen. Ich möchte selbst verschwinden.

Auf der Fähre bleibe ich im Auto sitzen und schließe die Augen. Das eine Handy klingelt wieder, dann das andere. Die Vibration klingt gedämpfter, als wäre das Gerät fest in etwas eingewickelt. Ich weiß nicht, warum er immer wieder anruft, wenn niemand abnimmt. Ich esse ein bisschen von dem Baguette, das ich an einer Tankstelle gekauft habe. Es schmeckt nach Plastik und erinnert mich daran, dass alles verderblich ist. Ich lege das Sandwich auf den Sitz neben mir, sitze da und starre geradeaus in das geschlossene Maul der Fähre, während ich darauf warte, dass es sich öffnet. Um mir eine andere Welt zu zeigen.

Die Landschaft verändert sich, je weiter ich nach Sør-Trøndelag hineinfahre. Weniger Fjord, mehr Wald. Zu meiner Linken taucht eine senkrechte Felswand auf, die deutliche Spuren von Sprengungen aufweist, um den Weg für Menschen freizumachen. Wieder summt ein Handy in meiner Tasche. Ich beschleunige, spüre die Kraft in den Kurven, wie mich die Muskeln des Autos mitreißen.

Ich denke darüber nach, was es bedeuten würde, einfach wegzufahren, einfach zu verschwinden. Ich spüre, wie unmöglich es ist. Es würde nicht nur bedeuten, die Firma zu verlassen, die ich jahrelang aufgebaut habe, oder mein Haus, meinen Mann, mein Leben. Soll ich von ihr verlangen, dass sie zu mir kommt und bei mir lebt, soll ich eine alleinerziehende Mutter werden? In vielerlei Hinsicht ist sie mehr sein Kind als meins – ich könnte sie ihm nie wegnehmen. Es ist eher so, dass ich mich von ihnen entfernen möchte. Ich laste schwer auf ihnen und ziehe sie runter. Ohne mich wären sie besser dran.

Ein weiterer Fjord erscheint in der Landschaft. Ich bremse und halte auf einem Rastplatz. Schalte die Zündung aus und lege die Hände in den Schoß. Es gibt Frauen, die ihre Kinder zurücklassen. Niemand begreift, wie sie das übers Herz bringen. Aber obwohl da eine Sehnsucht ist, wie Staub im Wind zu verschwinden, kommt es mir auch jetzt noch unmöglich vor. Der Gedanke daran, wegzugehen und mein Kind nie wieder zu sehen, tut mir weh. Vor meinem inneren Auge sehe ich Iben, wie sie sich die Haare hinter ein Ohr schiebt, während sie dasitzt und liest, und das löst eine Wärme in mir aus, kleine Blasen in meinem Blut. Sie ist trotz allem mein Kind.

Ich steige aus dem Auto. Schließe es ab, obwohl keine Menschenseele zu sehen ist, und gehe über die Straße den Hang hinunter zum Fjord. Hier ist es still, nur ab und zu krächzt eine Krähe. Ich bücke mich und greife ins Wasser. Es ist kalt an den Fingern. Ich schaue mich um. Ein Auto fährt vorbei und ist blitzschnell wieder weg. Ich ziehe meine Pumps aus. Ich hebe meinen Rock hoch, greife nach meiner Strumpfhose, ziehe sie herunter. Lasse sie auf dem Boden liegen wie eine tote Haut. Ich trete ins Wasser. Es brennt an den Zehen, an den Knöcheln. So weit im Norden bin ich schon seit Jahren nicht mehr geschwommen. Nur Tor geht mit Iben schwimmen, wenn die Sonne scheint und der Wind so warm ist, dass er sich die Mühe macht, seine Badeshorts anzuziehen. Ich hatte vergessen, wie gut es sich anfühlt, wenn die Füße im kalten Wasser taub werden. Ich hebe meinen Rock an und gehe weiter, bis das Wasser fast bis an meine Unterwäsche reicht. Einen Moment bleibe ich so stehen und schaue auf die ruhige Wasseroberfläche.

Ich wünsche mir so sehr, zeitlos zu sein, ortlos, frei von den sinnlosen Gesetzen der Physik. Es ist nicht das Haus, die Stadt oder meine Familie, was mich gefangen hält – es ist mein Körper. Ich frage mich, wie lange es dauern würde, bis mich jemand finden würde, wenn ich vollständig in diesem dunklen Wasser untergehen würde. Aber ich bin nicht mutig genug, ich meine es nicht ernst genug. Etwas hält mich zurück, eine unerbittliche Kraft.

Ich drehe mich um und gehe zurück, die Unterwäsche und der Rock werden nass, weil ich mich zu schnell bewege, die Kälte sticht, und jetzt bekomme ich wahrscheinlich eine Blasenentzündung. An Land setze ich mich ins Gras und schaue aufs Wasser hinaus. Mein kürzlich erst gereinigter Rock wird schmutzig von der feuchten Erde, aber das macht nichts.

Es ist, als würde eine alte Erinnerung aufsteigen und auf der Wasseroberfläche treiben. Eine Seifenblase, die nicht platzen will. Ich kann nicht weglaufen. Es würde nichts nützen. Das, wovor ich weglaufen will, wird mich immer begleiten.

Ich stehe auf und gehe zurück zum Auto, Schuhe und Strumpfhose in der Hand. Meine Füße sind es nicht gewohnt, auf Asphalt zu laufen, und kleine Steinchen bohren sich in meine Fußsohlen. Ich wische sie ab und setze mich auf den Fahrersitz. Dann hole ich mein Handy aus der Tasche und warte, bis es wieder aufhört zu vibrieren. Ich bin nicht fair zu ihm. Ich weiß, dass ich für ihn viel mehr bin als nur eine Trophäenfrau. Ich habe keine Lust, die unzähligen Nachrichten auf der Mailbox abzuhören. Ich schalte einfach mein Handy aus und mache dasselbe mit Ibens Gerät. Dann fahre ich nach Hause.

Ich sitze eine Weile im Auto, der Motor ist aus, und schaue zu meinem Haus hinauf. Es steht da in seiner ganzen Alltäglichkeit. Die Vorhänge an den Fenstern habe ich so gewählt, dass sie möglichst wenig auffallen. Die Thujahecke ist so geschnitten, wie man Thujahecken schneiden sollte, das Tor ist frisch gestrichen, die Gartenmöbel neu und sauber. Niemand, der an diesem Haus vorbeikommt, wird auch nur die geringste Spur von Verfall sehen. Es ist das Innere, das verstaubt und verrottet.

Ich habe eine Fantasie, die mich beruhigt, wenn meine Gefühle die Oberhand gewinnen, und mir schon oft beim Einschlafen geholfen hat. Ich beginne damit, das ganze Haus von Möbeln, Kleidern, Spielzeug und all den unzähligen Dingen zu befreien, mit denen wir es im Laufe der Jahre vollgestellt haben. Ich sehe einen Lieferwagen, der das alles wegfährt. Dann nehme ich einen Eimer Wasser, einen Schrubber, einen Lappen und ein paar starke Reinigungsmittel. Ich fange ganz hinten in Ibens Zimmer an, arbeite mich bis zur Tür vor und mache dann in meinem und Tors Zimmer weiter. Viel Zeit verbringe ich mit Schrubben und Putzen im Badezimmer im ersten Stock, wo wir meistens duschen. Wenn ich dort fertig bin, gehe ich die Treppe hinunter und mache weiter mit dem Wohnzimmer, der Küche, dem Bad und der Toilette im Erdgeschoss und dem großen Raum, in dem wir nur alte Sachen aufbewahren. Zuletzt putze ich den Flur, bis er wieder so strahlt und glänzt wie bei unserem Einzug. Ein frisch polierter Kronleuchter, ein sauberer weißer Teppich auf jeder Stufe. Ich putze bis zur Vortreppe, wo ich stehen bleibe, allein vor der verschlossenen Haustür, die keine Spur mehr von uns trägt. Kein einziges Bakterium, keine einzige Haarsträhne. Es ist ein mühsames Ritual, das ich ins Unendliche ausdehnen kann. Es gibt mir ein Gefühl der Ruhe.

Langsam öffne ich die Autotür und bleibe dann mit offener Tür sitzen, den Blick geradeaus gerichtet, als würde ich auf etwas warten. Vielleicht auf etwas, das vom Himmel plumpst und mein Leben verändert. Der Regen fällt ins Auto, aber ich bin schon nass.

Als ich endlich aussteige, recke ich den Hals, um ins Wohnzimmerfenster zu schauen. Der Fernseher scheint nicht zu laufen. Außerdem ist es schon so spät, dass Iben sicher schon im Bett liegt, und Tor ist wahrscheinlich erleichtert, dass er den Fernseher für eine Weile nicht hören muss. Ihm wäre es lieber, wenn wir ihn nur einschalten, um die Nachrichten zu sehen. »Für dich, mein liebes Mädchen, tue ich alles«, sagt er oft zu Iben und streicht ihr über die blonden Haare, wenn sie vor dem Fernseher sitzt. Er ist ihr immer ein guter Vater gewesen. Konsequent, aber geduldig. Diese Geduld ist wie eine warme Umarmung seiner kleinen Herde.

Eigentlich ist es seltsam, dass er mich heute so oft angerufen hat. Das war noch nie so, nicht einmal, wenn ich allein einen kleinen Ausflug gemacht habe. Nicht einmal, als ich auf einem Campingplatz übernachtet habe, bevor ich morgens wieder nach Hause gefahren bin. Nach all seinen Erfahrungen würde ich wiederkommen. Er musste nur die übliche Geduld aufbringen und warten. Was ist diesmal anders?

An der Eingangstür hängt ein Schild, das Iben in der Schule gebastelt hat. Drei lächelnde Gesichter, zwei Erwachsene und ein Kind, darunter unsere Namen in kindlichen Großbuchstaben. Neben den Gesichtern steht ein großer Baum, den Iben wohl mithilfe der Lehrerin gezeichnet hat. Die Familie Lind. Ich fahre mit der Hand über das Schild. Ich möchte so gerne die Mütter verstehen, die sagen, dass sie alles für ihr Kind tun würden. Diese Worte sind auch aus meinem Mund gekommen, aber ich habe sie nicht so gemeint – nicht tief in meinem Inneren. Die kleinen Blasen sind da – der Stolz, den ich empfinde, wenn es ihr gut geht, der Trost, den ich ihr spende, wenn sie krank ist. Aber die tiefere Verbundenheit entgleitet mir. Würde ich mich für sie vor einen Zug werfen? Einen Bären abwehren? Ich bin mir nicht sicher.

Es ist wohl das erste Mal, dass Iben ihre Schuhe freiwillig aus dem Flur geräumt hat.