Illusion -Königreich der Lügen - Lara Kempa - E-Book

Illusion -Königreich der Lügen E-Book

Lara Kempa

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Beschreibung

Band 1 der Illusion-Reihe. Bist du bereit durch Schatten und Albtäume zu wandeln, um die Wahrheit zu finden? Klappentext: Illusion. Geschaffen aus den Träumen der Menschen. Heimgesucht von Albträumen. Asra kämpft als Wanderin gemeinsam mit ihrem Bruder Rowan gegen die Albträume, die sogenannten Kova, welche in den Traumwelten für massive Unruhen sorgen. Doch als immer mehr Menschen in ihren Welten tot aufgefunden werden, wird den beiden klar, dass nicht nur die Kova eine Gefahr darstellen. Auf ihrer erbitterten Suche nach dem Mörder decken Asra und Rowan dunkle Geheimnisse auf, die düstere Schatten über Illusion und seine Bewohner werfen...

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Copyright 2022 by

Dunkelstern Verlag GbR

Lindenhof 1

76698 Ubstadt-Weiher

http://www.dunkelstern-verlag.de

E-Mail: [email protected]

ISBN: 978-3-910615-39-7

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

1 - Das Licht

Kapitel 1 - Erbarmungslose Wüste

Kapitel 2 - Regen aus Silber

Kapitel 3 - Zurück in der Realität

Kapitel 4 - Hexenjagd

Kapitel 5 - Rauch und Metall

Kapitel 6 - Schwarzes Blut

Kapitel 7 - Wolfsgeheul

Kapitel 8 - Erschöpfung

Kapitel 9 - Ein Thron aus Blut

Kapitel 10 - Waldgeflüster

2 - Die Dunkelheit

Kapitel 11 - Die Saat des Albtraums

Kapitel 12 - Die Existenz kleiner Superhelden

Kapitel 13 - Blutrot

Kapitel 14 - Maskenfest

Kapitel 15 - Der Bau des Hasenkönigs

Kapitel 16 - Winter Wunderland

Kapitel 17 - Die Höhle hinter dem Wasserfall

Kapitel 18 - Das Archiv des Sumandrialetph

3 - Die Albträume

Kapitel 19 - Tagträume

Kapitel 20 - Dunkles Gewässer

Kapitel 21 - Erbarmungslose Tiefen

Kapitel 22 - Ein Herz aus Stein

Kapitel 23 - Die Stimme des Albtraums

Kapitel 24 - Rowan

4 - Die Königin

ENDE

Danksagung

Triggerwarnung:

Triggerwarnung:

Dieses Buch nutzt Inhalte, die bei einigen Leserinnen und Lesern Unwohlsein hervorrufen oder eventuelle persönliche Trigger darstellen könnten. Eine Auflistung der inbegriffenen Themen bzw. Szenen ist am Ende dieses Buches zu finden, da sie explizite Spoiler zur Geschichte enthält.

1

Das Licht

Es gibt eine Geschichte, die ich euch erzählen möchte. Eine Geschichte, die mit dem Nichts beginnt und mit Allem aufhört. Das endlose, leere Nichts, in dem kein Leben existiert oder jemals existieren könnte. Doch blieb dieser Ort nicht lange leer.

Eines Tages erschien in ihm ein gleißendes Licht. Dieses Licht läutete den Untergang der Leere ein. Denn aus ihm entstand eine Person, die aus dem Nichts Etwas machen würde. Dort, wo zuvor nur trostlose Abgeschiedenheit herrschte, entstand eine Welt, gemacht aus den Träumen des Lichts.

Diese Traumwelt war wie ein Paradies. Es gab grüne Felder, wo auch immer man hinsah. Mit Blumen und Pflanzen, deren Aussehen und Geruch einzigartig waren. Am Horizont schossen kilometerhohe Berge in den hellblauen Himmel und dort, wo die Felder aufhörten, lag ein kristallenes Meer.

Die Welt wurde bevölkert von Tieren. Manche existieren noch heute, während andere nur noch eine ferne Erinnerung darstellen oder schon lange vergessen sind.

Über diese Welt herrschte das Licht, welches heutzutage unter vielen Namen bekannt ist. Der geläufigste ist Der Hüter.

Doch die Tiere allein reichten dem Hüter bald nicht mehr und so erschuf er uns Menschen. Erst nur ein paar wenige und schließlich immer mehr. Bis er bemerkte, dass in einer Welt für die Fülle an Leben, die er geschaffen hatte, nicht genügend Platz war. Und so schlich er sich abends in die Träume der Menschen, stahl, was ihm gefiel und erschuf aus ihnen weitere Traumwelten. Ähnlich Planeten, die parallel zueinander existierten. Manche ein Ebenbild des seinen, andere wiederum entpuppten sich als etwas gänzlich Neues.

Das Reich des Hüters wuchs und wuchs mit jedem Traum, den er stahl.

Und so gab er seiner Schöpfung den Namen Illusion.

Das Königreich der Träume.

Mit Voranschreiten der Jahre merkte der Hüter, dass er die Welten nicht mehr alleine überwachen und beschützen konnte. So beschloss er, eine Handvoll Menschen zu erwählen und ihnen von der Vielfalt seines Reiches zu erzählen.

Der Hüter stellte die Menschen auf die Probe, indem er ihnen, ohne ihr Wissen, drei Aufgaben stellte, die es zu bewältigen galt. Er prüfte ihr Vertrauen, ihren Glauben und ihre Sicht.

Nur wenige bestanden die Prüfung und die, die es taten, wurden zum Ursprung der Schatten und Wanderer Illusions. Sie bekamen die Aufgabe, Illusion zu beschützen und zu bewachen, wenn er selbst es nicht konnte. Und dafür bekamen sie das Geschenk des Wissens.

Doch der Hüter gab ihnen noch ein weiteres Geschenk.

Einen Ort zwischen den Traumwelten Illusions, in welchem sie leben sollten.

Er nannte diesen Ort Vanity.

Das Königreich der Realität.

Sobald der Hüter seine Welten in guten Händen wusste, zog er sich zurück und schuf im Verborgenen immer mehr von ihnen. Nach einiger Zeit machte er sich auch daran, Menschen zu erschaffen, welche besondere Fähigkeiten in sich trugen. So entstanden Personen, die sich in Tiere verwandeln konnten. Menschen, die Dinge aus dem Nichts entstehen ließen. Und Menschen, die an Orten lebten, die für andere unmöglich zu bereisen schienen. Diese Personen nannte der Hüter Traummenschen.

Bis heute wissen nur die Auserwählten von den verschiedenen Welten, während die anderen Bewohner der Reiche noch immer unwissend in ihren jeweiligen Traumwelten lebten.

Den Hüter hatte niemand jemals wieder zu sehen bekommen. Man glaubt aber, dass er noch immer in seinem ganz eigenen Reich nach Träumen suchte, um sie in etwas Neues zu verwandeln. Etwas, das noch nie jemand zuvor gesehen hatte.

Dass er noch immer alles und jeden im Blick hatte.

Sein Reich, der Ort, an welchem er lebte, nannte man Rerum.

Das Königreich der Wahrheit.

–1–

Der Ursprung unserer Welt

Autor unbekannt

Kapitel 1

Erbarmungslose Wüste

Ich bemerkte die Falle erst, als ich schon mittendrin stand. Ohne Vorwarnung schlich sie sich von hinten an mich heran und schlug ihre Fänge in meinen Knöchel.

Mir entfuhr ein Schrei, der in der gesamten Lagerhalle widerhallte, während die Schlange mich in die Knie zwang und ich auf dem Boden aufschlug. Ein stechender Schmerz durchzuckte meinen Körper, welcher mich geradezu lähmte und jegliche Luft aus meinen Lungen presste. Doch war all das vergessen, als ich der albtraumhaften Kreatur vor mir entgegensah. In ihr schuppiges, triefendes Gesicht blickte.

Ihre Krallen steckten tief in meinem Bein und beim Anblick des Blutes erbleichte ich. Schleichend kam sie auf mich zugekrochen. Jede ihrer Bewegungen war grauenerregender als die vorherige, als würde die Kreatur über menschliche Knochen wandern.

Ein Knacken in meinen Ohren, welches mich jedes Mal aufs Neue zusammenzucken ließ.

Hektisch atmend glitt ich mit meiner Hand hinab zu meinem Knöchel, um ohne Sinn und Verstand an der Kralle zu ziehen. Der Schweiß stand mir auf der Stirn und ich biss mir auf die Zunge, um nicht erneut zu schreien. Doch verliefen alle meine Bemühungen ins Nichts, als die Kreatur ihren Griff verfestigte und sich meine Sicht an den Rändern verdunkelte. Es raubte mir den Atem, derweil der Albtraum stetig näherkam. Sein Maul hatte er bis zum Anschlag geöffnet, sodass ich eine Reihe messerscharfer Zähne aufblitzen sah.

Meine Hoffnung auf Entkommen versank mit jeder Sekunde, die verging, mehr und mehr im Sande. Da half es auch nicht, dass hinter mir ein paar weitere seiner Art mit ohrenbetäubendem Zischen nach meiner Aufmerksamkeit verlangten. Mit denen würde ich mich befassen, sollte ich ihren Freund vor mir überleben. Wobei das sollte in diesem Satz mein Herz zum Hämmern brachte.

Ich sprach mir gedanklich Mut zu, um es zum Weiterschlagen zu animieren. Doch stellte sich das als ein hoffnungsloses Unterfangen heraus, denn das Monster umfing im nächsten Moment mein Schienbein mit seinem schuppigen Oberkörper. Und da war meine Ruhe wieder dahin, wenn sie denn je existiert hatte.

Dem Albtraum troff eine helle, dickflüssige Lauge aus dem Maul, von dem mir der Gestank verwesender Leichen in die Nase stieg. Das Frühstück in meinem Magen rumorte und am liebsten hätte ich mir meine Nase mit einer Hand bedeckt.

Im letzten verzweifelten Versuch, mich zu befreien, trat ich das Monster mit meinem freien Fuß in die Seite. Doch ließ es sich davon nicht stören. Stattdessen wurde es wütender. Und schneller. Mit raschen Bewegungen von links nach rechts versuchte ich, es von mir herunterzuschleudern. Aber die Kreatur ließ nicht locker.

»Lass mich los, du widerliches Vieh!«, schrie ich dem Monster entgegen und trat ihm ein letztes Mal mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte, in die Seite. Doch ich hatte keine Chance. Das Ding war zu schwer.

Kurz bevor es auf mein Gesicht zuhielt, schloss ich die Augen, denn niemand schaute gerne in das furchteinflößende Maul eines Albtraums, bevor er starb. Doch passierte nichts dergleichen, stattdessen nahm eine unerwartete Leichtigkeit den Platz des Monsters ein und süßer Sauerstoff strömte in meine Lungen. Die Hoffnung, dem Ding glimpflich entkommen zu sein, gab mir genug Mut, um meine Augen einen Spaltbreit zu öffnen. Fast erwartete ich, trotz allem in das Gesicht der Kreatur zu schauen. Vielleicht verschlang es seine Opfer nur, wenn sie dabei zusahen? Stattdessen lag sie leblos neben mir auf dem Boden, einen Dolch, meinen Dolch, in ihrem Herzen. Und über sie gebeugt saß mein Bruder mit einem schelmischen Lächeln auf den Lippen.

»Du scheinst ein wenig aus der Übung zu sein«, neckte er mich und zog die Waffe aus dem Albtraum. Dabei spritzte gelbliches Blut aus der Wunde und fiel nur Millimeter neben mir auf den Boden.

Ich schnaubte auf. »Das wärst du auch, wenn du wochenlang ans Bett gefesselt gewesen wärst.«

Meine Stimme zitterte aufgrund des Adrenalins, welches durch meine Adern floss und mich daran erinnerte, dass ich gerade haarscharf mit dem Leben davongekommen war. Ächzend setzte ich mich auf, und Rowan hielt mir seine Hand entgegen, um mich hochzuziehen. Ich ignorierte ihn und sprang von allein wieder auf die Beine. Was ich sogleich bereute, als ein stechender Schmerz durch mein Bein schoss und mich fast erneut in die Knie zwang.

»Die Kova hat dich ziemlich erwischt«, meinte Rowan, während er mit einem forschenden Blick meinen Knöchel musterte. »Aber es könnte schlimmer sein.«

Ich sah hinunter zu der Stelle, an der drei unsaubere Löcher in meiner Haut klafften. Nicht so tief, dass es gefährlich für mich werden könnte, aber dennoch unangenehm schmerzhaft.

Rowan musste den Schmerz in meinem Blick gesehen haben, denn schon war er an meiner Seite. Die Wärme seines Körpers umfing mich, als er seinen Arm um meine Schultern legte. Zwar war das Ziehen in meinem Bein damit nicht verschwunden, doch es war um einiges erträglicher Jetzt musste sich nur noch mein Herz beruhigen, von dem ich annahm, dass es jeden Moment aus meiner Brust springen würde.

Durch den nachlassenden Schmerz verflüchtigte sich die Schwärze vor meinen Augen gerade so weit, dass ich mich das erste Mal in der heruntergekommenen Lagerhalle umsehen konnte. Eine Halle, die so gar nicht zu dem passte, was vor seiner Tür lauerte. Doch gab es hier auch nicht viel zu bestaunen, mit Ausnahme der toten Albträume, die überall verstreut lagen.

»Die hast du alle allein erledigt?«, fragte ich mit leichtem Unglauben in der Stimme, was Rowan ein Schnauben entlockte.

»Noch so ein Spruch und du kannst sehen, wie du nach Hause kommst«, erwiderte er und deutete an, mich fallen lassen zu wollen. Mir entschlüpfte ein Kichern, bevor ich mich erneut den Kova zuwandte.

»Ist ja gut, du Monsterschlächter, aber wo kommen die ganzen Albträume her?«

Wenn ich mich nicht verzählt hatte, lagen hier insgesamt sechs Kova der Stufe zwei, was ungewöhnlich für sie war. In den meisten Fällen traf man diese Art ausschließlich in Gruppen von höchstens drei an. Was hatte diese also dazu veranlasst, sich in solch einer großen Ansammlung zu vereinen?

Kova waren Albträume, die einen Weg in die Traumwelten Illusions gefunden hatten und hier seitdem Angst und Schrecken verbreiteten. Es gab insgesamt fünf verschiedene Arten von ihnen, welche wir in Stufen aufgeteilt hatten. Zum einen gab es die Gesichtslosen, die, wie der Name schon vorwegnahm, ohne Gesicht durch die Gegend irrten. Dadurch stellten sie keine große Bedrohung dar, denn die damit einhergehende Blindheit hinderte sie daran, sich schnell zu bewegen.

Etwas gefährlicher waren da die Trickster, denn diese hatten unheimlichen Spaß daran, den Menschen Fallen zu stellen, um uns dann mit ihren scharfen Krallen umzubringen. Außerdem hatten sie aufgrund ihrer langen Arme eine erhebliche Reichweite. Eine Schwäche dieser Albträume waren dagegen ihre nicht existenten Beine, wodurch für sie das Kriechen die einzige Möglichkeit war, um sich fortzubewegen. Solch eine Kreatur lag in diesem Moment leblos vor meinen Füßen. Sie erinnerte an eine Kreuzung aus Wurm und Schlange mit einer Vielzahl spitzer Zähne. Und zusätzlich stank sie noch immer tierisch nach Tod.

Normalerweise stellten Trickster für mich kein Problem dar, doch hatte ich seit knapp einem Monat nicht mehr an einer Jagd teilgenommen. Der Grund dafür war ein Zusammenstoß mit einer Kova der Stufe drei, der mich ans Bett gefesselt hatte.

Diese, auch Spinnen genannt, waren zombieähnliche Kreaturen, die auf acht menschlichen Armen liefen und mit ihren Zähnen und Krallen ein Gift versprühten, welches zum Tod führen konnte. Mit diesem war ich bedauerlicherweise in Berührung gekommen, aber zu meinem Glück existierte dafür ein Gegenmittel. Doch das hatte keine angenehmen Nebenwirkungen. Ich hatte mich ganze drei Wochen nach Einnahme des Tranks gefühlt, als wäre ich von den Toten auferstanden. Ganz zu schweigen von der Menge an Flüssigkeit, die ich innerhalb dieser Tage erbrochen und ausgeschwitzt hatte. Und noch immer hatte ich das Gefühl, dass das Gegengift nicht gänzlich aus meinem Körper verschwunden war. Doch ich konnte und wollte nicht mehr länger nutzlos im Bett liegen.

»Wir sollten dich zurück nach Hause bringen, damit ich mir deine Wunden ansehen kann.« Rowans besorgter Blick fand meinen Knöchel. Wahrscheinlich sollte mich dieser nicht sonderlich beunruhigen. Nichtsdestotrotz fragte ich mich, was er sah. Ob die Verletzung doch schlimmer war, als er behauptet hatte?

»Und danach machen wir uns Gedanken über das hier.«

Er deutete auf die uns umgebenden Kova, die sich in schleimige, gelbe Suppen verwandelten. Gut für uns, denn so mussten wir die Albträume nicht noch entsorgen, nachdem wir sie getötet hatten. Länger als nötig wollte ich mit den Leichen nämlich nicht in einem Raum eingesperrt sein.

»Lass uns nach Hause gehen.« Und mit zuhause meinte ich nicht unser geliebtes Vanity, wo es einen Kühlschrank mit leckerem Essen und fließendes Wasser gab. Nein, unser derzeitiges Zuhause befand sich im Wohnviertel der Hauptstadt von Alcone. Das Viertel mit der höchsten Kriminalitätsrate, was ganz gut zu uns passte. Konnten wir doch nicht von uns behaupten, die größten Engel auf Erden zu sein. Trotzdem stände ich jetzt lieber unter einer heißen Dusche oder läge in einem angenehmen Schaumbad. Schon allein der Gedanke daran ließ mich innerlich aufstöhnen.

Rowan und ich stiegen über die übelriechenden Pfützen hinweg zum Ausgang und traten ins Freie. Nur um im nächsten Moment gegen eine Hitzewand zu laufen, die mir schlagartig den Schweiß von der Stirn perlen ließ. Wie hatte es in der Lagerhalle nur so kühl sein können, wenn wir hier draußen gefühlt direkt unter der Sonne liefen? Zwar roch es hier einladender als drinnen, doch würde ich es den Kova jeden Moment gleichtun und in einer Pfütze eingehen.

Alcone war eine einzige Wüste. Wir waren umgeben von Milliarden Tonnen von Sand, welche nur vereinzelt durch Felsbrocken unterbrochen wurden. Der Weg, auf dem wir standen, würde erst in einigen Kilometern an eine Stadt grenzen und diese würden wir zu Fuß zurücklegen müssen. Schon allein bei dem Gedanken daran pendelte sich meine Motivation bei null ein.

»Na komm, wir haben noch einen weiten Weg vor uns«, rief Rowan mir zu, als wüsste ich das nicht längst, und doch weigerten sich meine Beine, sich in Bewegung zu setzen. Mein Bruder zog ungeduldig an meinem Arm und schlussendlich marschierten wir in einem einigermaßen annehmbaren Tempo nebeneinander die Straße entlang.

Wir legten etliche Meter unter den Strahlen der Mittagssonne zurück, ohne einer einzigen anderen Seele zu begegnen. Die Bewohner Alcones hatten sich der Hitze der Wüste angepasst, sodass sie ihren normalen Tätigkeiten von abends bis mittags nachgingen, um dann bei Ankunft der Mittagshitze in ihren Häusern zu schlafen. Deswegen begegneten wir keinen anderen Menschen, denn unglücklicherweise erreichten die Temperaturen gerade ihren höchsten Punkt. Die Sonnenstrahlen prallten gnadenlos auf uns nieder und bei meinem Glück würde ich morgen mit einem Sonnenbrand aufwachen, wenn nicht sogar mit einem Sonnenstich.

Nach einigen weiteren Metern verschwamm die Gegend vor meinen Augen und meine Beine drohten unter mir nachzugeben. Hätte Rowan mich nicht am Arm gehalten, wäre ich auf der Stelle zu Boden gegangen. Die Sonne brannte sich in meine Haut und das Gefühl der Benommenheit nahm stark zu, als ich mich am Rande des Weges niederließ, um nicht vollkommen durchzudrehen. Das Stechen in meinem Knöchel war erneut schlimmer geworden und machte es mir unmöglich, auch nur einen Schritt weiterzugehen.

»Ich brauche eine Pause. Mein Bein bringt mich sonst um«, stöhnte ich und zog behutsam meine Jeans über meinen Knöchel. Ein Blick auf die Wunde genügte, um mir zu sagen, dass sie sich entzündet hatte. Denn nicht nur, dass die Löcher von einem roten Schimmer umgeben waren, nein, es quoll auch noch eine gelbliche Flüssigkeit daraus hervor, die stark an Eiter erinnerte.

Der Trickster musste mir durch seine Krallen ein Gift verabreicht haben, welches den Grad von Verletzungen schneller vorantreiben ließ. Und natürlich erwischte das Gift mich, schließlich hatte ich nicht gerade erst eine Vergiftung hinter mir.

»Das muss behandelt werden«, sprach mein Bruder das Offensichtliche aus, bevor er seinen Rucksack von der Schulter nahm und ihn neben mir aufzog. Heraus holte er eine Flasche Wasser, welche er öffnete und ohne Vorwarnung über meine Wunde goss. Mir entfuhr ein leises Zischen, welches in einem Laut der Erleichterung gipfelte, als das Stechen etwas nachließ.

»Zu Hause müssen wir die Wunde richtig säubern, aber das sollte fürs Erste genügen. Bist du sicher, dass du nicht mehr laufen kannst?« Rowans Blick fiel in die Ferne, wo noch immer keine Spur der Stadt zu sehen war.

Ich startete einen Versuch, mich vom Boden zu erheben, doch sobald ich mein linkes Bein auch nur minimal belastete, schoss ein stechender Schmerz hindurch und die Welt drehte sich um mich herum.

»Keine Chance«, presste ich mit schmerzverzerrtem Gesicht hervor und stürzte erneut in den heißen Sand. Das Atmen fiel mir schwer und mein Kopf schmerzte von der stickigen Luft, die uns umgab.

Rowan lief mit geschlossenen Augen und der Hand am Kinn im Sand vor mir hin und her. Ein Vorgang, den ich nicht lange verfolgen konnte, ohne dass mir furchtbar schwindelig wurde. Meine Augenlider wurden unterdessen immer schwerer und der Gedanke an ein wenig Schlaf immer verlockender.

»Dann muss ich allein zurückgehen und etwas finden, womit ich dich zurück in die Stadt transportieren kann.« Rowans Worte drangen nur gedämpft zu mir durch, als würde ich mich in einer Blase befinden und er würde von außen zu mir sprechen. Die Taubheit meiner Gedanken wurde immer dicker, bis ein leises Pfeifen die Blase zerplatzen ließ. Überrascht darüber, in dieser Wüste etwas anderes zu hören als Stille, wandte ich meinen Blick der neuen Geräuschkulisse zu. Verschwommen konnte ich die Formen einer schwarz-weißen Kutsche erkennen, die sich uns aus Richtung Magon näherte.

»Soldaten«, wisperte Rowan, als immer mehr Details der Kutsche sichtbar wurden. Denn diese war keine wirkliche Kutsche, wie ich nun bemerkte. Sie war ein Tier, die Einer ähnelte. Der Kopf, welcher Ähnlichkeiten mit einem Stier hatte, und die Vorderbeine sahen normal aus, doch der hintere Körper glich einer länglichen Schüssel, in welcher die Menschen Platz fanden. Außerdem waren die Hinterbeine zwei mit Fell besetzte Räder, die über den dreckigen Boden rollten. Die beiden Männer, die im Inneren des Tieres saßen, hielten zwei Seile in den Händen, welche mit seinem Nacken verschmolzen. Mit diesen konnten sie es in die Richtung lenken, in die sie wollten. Ähnlich wie die Zügel bei einem Pferd, nur schmerzhafter für das Tier, welches sie Chora nannten.

Einzig und allein die Soldaten des Präsidenten nutzen diese Art der Fortbewegung und jedes Mal, wenn ich sie damit sah, wurde mir mulmig zumute. Für mich war das Nutzen dieser Lebewesen reinste Tierquälerei, denn die Chora erlitten durch das zusätzliche Gewicht furchtbare Schmerzen.

Die Soldaten, die uns entgegenfuhren, trugen blaue Westen, die mit einer Anzahl kleinerer Taschen versehen waren, in die nicht mehr passte als eine mickrige Kupfermünze. Ihre braunen Lederhandschuhe waren mit dem Symbol des Präsidenten verziert: eine rote Kralle auf schwarzem Grund. Über ihren Schultern hatten sie Bolzen für die Armbrüste geschnallt, die sie vor sich hielten. Die Beine des Tieres hinterließen sichtbare Spuren in der vom Blut befleckten Erde. Wir liefen anscheinend auf einem Weg, welchen die Gefangenen des Präsidenten nur allzu gut kannten. Ein Grund, weshalb man sich diesen nicht zum Feind machen sollte. Sonst endete man ebenfalls als Blutfleck auf dem Boden.

Der Präsident von Alcone hatte keinen Namen und kein Gesicht. Er war erbarmungslos, denn wenn man als sein Gefangener endete, konnte man sicher sein, dass man den nächsten Morgen nicht mehr erleben würde.

Ich war schon seit unserem ersten Besuch in Alcone versessen darauf gewesen, zu erfahren, wer oder was der Präsident war. Doch hing ich zu sehr an meinem Leben, als dass ich es riskieren würde, einen Blick auf ihn zu erhaschen.

Die Soldaten waren uns schon so nah, dass ich einzig meinen Arm hätte ausstrecken müssen, um eines der Beine des Tieres zu berühren. Stattdessen sah ich stur geradeaus und versuchte, so unschuldig wie möglich auszusehen.

Ich war angespannt, obwohl ich theoretisch gesehen rein gar nichts falsch gemacht hatte. Gleichwohl war dies die Wirkung, welche die Männer des Präsidenten auf einen hatten. Aufgrund dessen setzte mein Herz einen Schlag aus, als die Soldaten das Tier neben uns zum Stehen brachten.

»Miss? Ist mit Ihnen alles in Ordnung?«

Rowan neben mir versteifte sich, als ich mich mit meinem schönsten Lächeln an die Soldaten wandte.

»Aber sicher doch. Wieso denn auch nicht?«

Bei meinen Worten brach mir erneut der Schweiß aus, doch dieses Mal war nicht die Hitze der Grund dafür.

»Ihr Bein«, erwiderte er und deutete auf meine aufgerissene Jeans, »Sie bluten.«

»Ach, das«, ich lachte gespielt beschämt auf, wobei ich angestrengt versuchte, nicht in Ohnmacht zu fallen, »Wissen Sie, da passt man einmal nicht auf ...« Ich ließ den Satz unbeendet und hoffte darauf, dass keiner von beiden nachhaken würde.

Einige nervenaufreibende Sekunden vergingen, in denen mich einer der Soldaten, der um einiges rundlicher war als der andere, misstrauisch musterte, während der zweite Rowan kurz in Augenschein nahm. Schließlich nickte der Größere der beiden mir freundlich zu und sagte: »Wohin sind Sie denn unterwegs?«

Mit einem flehenden Blick zu Rowan wandte dieser sich an den Soldaten und sagte in seinem herzlichsten Tonfall: »Wir möchten ins Wohnviertel von Magon. Sie sind zwar auf dem Weg in die andere Richtung, doch es wäre sehr freundlich, wenn Sie uns mitnehmen könnten. Meine Schwester hat doch sichtlich Probleme beim Laufen.«

Ungläubig sah ich meinen Bruder an. Ich konnte nicht fassen, was ich da hörte. Meinte Rowan wirklich, ich würde nur einen Meter weit mit diesem Tier fahren, Mitschuld an der Quälerei dieses Wesens tragen?

»Das sollte kein Problem sein. Steigen Sie ein.« Der dicklichere Soldat hielt uns eine Trittleiter entgegen, welche Rowan dankend annahm. Er stellte sie neben dem Tier auf und kam dann zu mir zurück, um mir aufzuhelfen. Doch ich weigerte mich, auch nur einen Schritt in die Nähe dieser Soldaten zu machen. Weigerte mich, diesem Lebewesen zu schaden.

»Ich werde nicht mitfahren«, flüsterte ich mit vor der Brust verschränkten Armen und dieses Mal war es an Rowan, mich mit Argwohn in den Augen anzublicken.

»Asra, wir bekommen gerade eine Möglichkeit dich zurückzubringen, also hör auf, so stur zu sein«, flehte er mich an und ich sah, wie seine freundliche Fassade bröckelte. Doch war mir das reichlich egal. Sollte er allein mitfahren, ich würde es nicht tun.

»Ich werde das Tier nicht leiden lassen, nur damit ich zurück in die Stadt komme«, beharrte ich und im nächsten Moment spürte ich Rowans Arme an meinem Rücken.

»Wenn du nicht freiwillig mitkommen willst ...«

Und schon mit meinem nächsten Atemzug lag ich über der Schulter meines Bruders. Wäre ich nicht so angeschlagen wegen meines Beines und der brütenden Hitze, hätte ich mich freigewunden. Doch so musste ich wohl oder übel mitansehen, wie Rowan mich gegen meinen Willen zur Chora schleppte.

»Lass mich sofort runter!«, versuchte ich zu schreien, doch kam nur ein erschöpftes Ächzen aus meinem Mund. Und so legte er mich schlussendlich in die Kutsche, wo ich denn misstrauischen Blicken der Soldaten ausgeliefert war. Was die sich bei dieser Aktion dachten, wollte ich gar nicht wissen.

»Entschuldigen Sie meine Schwester. Sie ist nicht sehr erfreut über die Art Ihrer Fortbewegung«, entschuldigte sich mein Bruder, bevor er sich neben mir niederließ. Das ließ einen der Soldaten in lautes Gelächter ausbrechen, während der andere das Tier in Richtung Stadt lenkte. Mir hingegen ließ die ganze Situation das Essen vom Vormittag wieder hochkommen.

»Keine Sorge. Nicht viele Menschen akzeptieren diese Art der Reise.«

Erschöpft und besiegt sank ich gegen das Fell des Tieres und blendete das Gespräch zwischen den Soldaten und meinem Bruder aus. Ich hatte nicht die Kraft, mich noch länger auf irgendetwas zu konzentrieren, denn der Schmerz, der durch meinen Körper fuhr, nahm mir die letzte Energie, die ich noch hatte. Ich fühlte mich unendlich müde und bevor ich mich versah, schlossen sich meine Augen wie von allein und ich sank hinab in eine Welt voller Dunkelheit.

***

Die Sonne war schon seit geraumer Zeit vom Himmel verschwunden, als ich meine Augen langsam wieder öffnete. Der Schmerz in meinem Bein hatte noch immer nicht nachgelassen, doch klang er nicht mehr in meinem ganzen Körper nach. Meine Sicht hatte sich wieder etwas geklärt, auch wenn ich mich noch immer furchtbar müde fühlte.

»Du bist wach.« Rowan hatte sich neben mir niedergelassen und sah mir mit tiefen Sorgenfalten auf der Stirn entgegen. »Wie geht es dir?«

»Nicht gut«, brachte ich heraus, woraufhin er mir eine Flasche Wasser hinhielt, welche ich dankend annahm. Mit dem ersten Schluck merkte ich, wie trocken mein Hals war und wie wohltuend die Kühle des Wassers sich in meinem Mund anfühlte. Denn auch wenn die Temperaturen durch das Einbrechen des Abends gesunken waren, so blieb es doch erdrückend schwül.

»Wir sind gleich da. Halt noch ein wenig durch«, sagte mein Bruder und mein Blick glitt nach vorne, wo bereits die Kuppel von Magon aufleuchtete.

Magon war die Hauptstadt von Alcone. Hier befand sich auch der Sitz des Präsidenten und seiner Soldaten. Umgeben war die Stadt von einer gigantischen Kuppel, welche die Bewohner vor der brühenden Hitze der Welt schützte. So konnten diese, anders als die Menschen, welche außerhalb der Stadt wohnten, auch tagsüber aus ihren Häusern gehen. Der Nachteil daran war, dass sich die Bewohner Magons nicht an die hohen Temperaturen der restlichen Welt angepasst hatten und es ihnen somit meist unmöglich war, die Kuppel zu verlassen. Die Menschen, die außerhalb der Schutzvorrichtung lebten, wohnten zumeist in kleineren Dörfern in der Nähe von Oasen oder den beiden größten Flüssen der Welt – dem Teufelsgraben und dem Garem.

An der Grenze zur Stadt hielten wir an, konnten aber direkt weiterfahren, als die Wachposten erkannten, wer da auf die Kuppel zuhielt. Sie öffneten den Zugang zur Stadt mit zwei Hebeln, welche von zwei Personen gleichzeitig betätigt werden mussten. Daraufhin öffnete sich ein Durchgang in der Kuppel, durch welchen wir ins Innere gelangten.

Als die Passage sich hinter uns wieder schloss, strömte frische, kühle Luft über meinen Körper hinweg, die es mir erlaubte, freier zu atmen. Die Kälte war wohltuend für meine erhitzte Haut, nahm mir aber nicht die Schmerzen und Erschöpfung, die in meinem Körper herrschten.

Die Häuser und Menschen vor meinen Augen vermischten sich zu einem großen Haufen, und erneut drehte sich die Welt um mich herum im Kreis.

»Wir haben es gleich geschafft«, hörte ich Rowan sagen, bevor mein Kopf sich erneut abschaltete.

Im Verlauf der nächsten Stunden wanderte ich zwischen meinen Träumen und dem echten Leben hin und her. Ich wurde auf eine weiche Unterlage gebettet und der reibende Stoff meiner Hose von meiner Haut gelöst. Als Druck auf die Verletzung ausgeübt wurde, schoss ein höllischer Schmerz durch meinen Körper, der mir die Tränen in die Augen trieb. Wäre ich nicht so erschöpft gewesen, hätte ich geschrien, stattdessen tauchte ich wieder ab in die Bewusstlosigkeit. Ab und an hörte ich Rowan leise zu mir sprechen ... oder sprach er gar nicht mit mir? Ich konnte ihm nicht antworten, mich nicht einmal bewegen.

Die Dunkelheit kroch immer wieder in meine Gedanken zurück, und meine Träume handelten von Schmerz und Leid. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit stieg eine Leichtigkeit in mir auf, die mich einhüllte und es mir erlaubte, mich endlich auszuruhen.

Kapitel 2

Regen aus Silber

Die Strahlen der aufgehenden Sonne weckten mich am nächsten Morgen aus einem teils unruhigen Schlaf. Im ersten Moment glitt mein Blick orientierungslos im Raum umher, bis ich den schwarzen Rucksack meines Bruders auf dem Boden entdeckte. Er lag neben einem weißen Handtuch. Zumindest nahm ich an, dass es einmal weiß gewesen war. Jetzt wies es an mehreren Stellen rote Flecken auf. Blut.

Mit einem Knall überfielen mich die Erinnerungen an den gestrigen Kampf mit dem Trickster und mit ihnen das leichte Pochen in meinem Knöchel. Ich sah hinunter zu meinem Bein, welches bis zum Knie unter der Decke hervorlugte. Blaue Stofffetzen waren in einem interessanten Muster über die Verletzung gebunden worden. Ich wollte gar nicht wissen, wie es unter den Fetzen aussah. Oder wollte ich es doch? Neugierig hob ich eine Seite des Stoffes an, ließ es aber sofort wieder bleiben, als sich meine Wunde mit einem höllischen Brennen bemerkbar machte.

Keine gute Idee. Wirklich keine gute Idee.

Auf dem Laken unter meinem Bein entdeckte ich ebenfalls ein paar Flecken meines Blutes. Die Verletzung war wohl doch ernster gewesen, als wir im ersten Moment gedacht hatten, oder sie war mit der Zeit schlimmer geworden. Bei dem Gedanken daran, wie es Rowan bei dem Anblick ergangen sein musste, rumorte es verdächtig in meinem Magen. Schließlich hatte er die Wunde versorgt.

Die Gedanken wirbelten nur so in meinen Kopf umher, bevor ich beschloss, die Schleusen für heute zu schließen. Es wurde Zeit, das Bett zu verlassen und den Tag im Empfang zu nehmen.

Mit einem Ächzen setzte ich mich auf, doch sogleich kehrte der Schwindel zurück und ich sank zurück auf die Matratze. Erst als sich das schwummrige Gefühl in mir wieder gelegt hatte, fiel mein Blick auf eine Flasche mit Wasser. Rowan musste sie mir dorthin gestellt haben, während ich geschlafen hatte. Flink schnappte ich sie mir und nahm gierig mehrere Schlucke von dem kühlen Getränk. Die Flüssigkeit half sowohl meinem trockenen Hals als auch meinem schmerzenden Kopf und ermöglichte es mir, wieder klare Gedanken zu fassen.

»Rowan?« Was ein Schrei hatte werden sollen, kam als ein Krächzen aus meinem Hals. Meine Stimme hatte sich noch nicht wieder an das Sprechen gewöhnt.

Ich räusperte mich lautstark und startete einen erneuten Versuch. »Rowan?!«

Aus der Wohnung erscholl keine Antwort. Entweder war er gar nicht da oder er hörte mich nicht. Egal welche Option es auch war, es bedeutete, dass ich mich selbst auf die Suche nach ihm machen musste.

Behutsam bewegte ich meinen verletzten Fuß vom Bett und ließ meinen gesunden folgen. Der Boden unter mir beruhigte mich, als mir der schwierigste Teil meines Vorhabens in den Kopf kam: das Laufen. Schon alleine bei dem Gedanken daran, meinen Fuß erneut zu belasten, wurde mir ganz schwummrig, und doch trat ich nach einem kurzen Durchatmen mit dem rechten Fuß auf. Eins nach dem anderen, dachte ich, während ich mich langsam in eine stehende Position hievte und mein Gewicht auf beide Beine verlagerte.

Im ersten Moment nahm ich an, dass der Schmerz nicht eintreten würde, doch schon wenige Sekunden später wurde ich eines Besseren belehrt. Ein höllisches Stechen schoss in meinen linken Knöchel, das mir den Atem raubte. Nur ein Zischen gelangte über meine Lippen, als ich versuchte normal weiter zu atmen.

»Verdammter Mist«, ächzte ich durch zusammengebissene Zähne und humpelte Schritt für Schritt nach vorne, wobei ich nur mein rechtes Bein belastete, um die Schmerzen in Grenzen zu halten. Mit dieser Methode kam ich tatsächlich bis in den nächsten Raum, dem Wohnzimmer, wo ich mich erst einmal schwer atmend gegen die Wand fallen ließ. Von hier hatte man einen wundervollen Blick auf den Balkon, von dem aus eine Feuertreppe hinunter auf die Straße führte. Doch von Rowan war auch im Wohnzimmer keine Spur.

Mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte, durchschritt ich den Raum. Als ich an der Tür zum Balkon ankam, stand mir der Schweiß auf der Stirn. Die Kraft wich schleichend aus meinem Körper und ich schaffte es gerade noch so hinaus ins Freie, bevor ich mich dort auf einem Holzstuhl niederließ. Ich hätte nicht gedacht, dass mich diese Verletzung so viel Kraft kosten würde. Verdammter Trickster mit seinen giftigen Krallen!

Für einen kurzen Moment schloss ich meine Augen und lauschte einfach nur der Welt um mich herum. Über mir hörte ich die Vögel, die auf der Suche nach ihrer Familie waren, zwitschern, und unter mir vernahm ich die lallenden Stimmen einiger Kneipenbesucher, die erst morgen früh bemerken würden, dass ihre Wertsachen es nicht mit ihnen nach Hause geschafft hatten. Für mich waren das die friedlichsten Geräusche an diesem Ort und sie entspannten mich, bis sie durch Rowans besorgte Worte unterbrochen wurden.

»Du solltest das Bett nicht verlassen«, ertönte seine Stimme und riss mich aus meiner Erholung. Als ich meine Augen einen Spaltbreit öffnete, erkannte ich seine schwankende Gestalt und seine Hände, die sich gewaltsam am Geländer des Balkons festhielten. »Wie geht es dir?«

»Noch nicht gut, aber die Schmerzen ebben langsam ab. Wo hast du gesteckt?«, fragte ich ihn, während er sich langsam neben mir auf den Stuhl gleiten ließ. Seine Beine zitterten dabei wie Espenlaub; ich verstand nicht, wieso er hier war. Bei seiner enormen Angst vor Höhen musste ihm diese Plattform wie die Hölle höchstpersönlich vorkommen.

»Ich habe ein paar Besorgungen gemacht«, sagte er und deutete auf einen kleinen Korb, den er vor die Balkontür gestellt hatte. »Ich wollte mich entschuldigen.«

Überrascht sah ich zu ihm auf, denn mit einer Entschuldigung hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Doch sein Blick war nachdenklich in den Himmel gerichtet. »Ich hätte dich nicht zwingen sollen, mit den Soldaten mitzufahren. Das war falsch.«

Endlich wandte er sich mir zu und ich konnte die Reue in seinem Blick erkennen. Er meinte es vollkommen ernst. Da solch ein Verhalten von meinem Bruder recht rar war, hatte ich keine andere Wahl als ihm zu vergeben. Was hätte ich auch anderes tun sollen? Ich konnte ja nicht ewig die beleidigte Leberwurst spielen. Auch wenn er es verdient hätte ...

»Schon gut, schließlich musstest du mich ja irgendwie zurück nach Hause bekommen.«

Ein leichtes Lächeln schlich sich auf die Lippen meines Bruders und entspannt ließ ich meinen Kopf auf seine Schulter sinken. Frieden war einfach immer besser als Krieg.

Einige Zeit saßen wir still da. Das Stechen in meinem Knöchel war erneut abgeflaut und ich schaffte es tatsächlich, wieder freier zu atmen, bis Rowan sich aufsetzte und mein Kopf unsanft zur Seite rutschte.

»Ich werde mal einen neuen Verband holen gehen. Deine Wunde muss versorgt werden.«

Mit einem Satz sprang er auf die Füße und wandte sich zur Tür, die ins Innere unserer Wohnung führte. Mir graute es davor, die Stofffetzen von meinem Knöchel zu entfernen und zu sehen, wie es wirklich darunter aussah. Allein bei dem Gedanken daran schüttelte es mich. Meine Vorstellungen reichten mir vollkommen.

»Bin gleich wieder da«, meinte Rowan, bevor er im Inneren der Wohnung verschwand. Einige Minuten später kam er mit einem Stück Stoff und einer Flasche zurück, die mit einer bräunlichen Flüssigkeit gefüllt war. Er ließ sich vor meinem verletzten Fuß auf dem Boden nieder und zog mein Bein auf sein Knie.

»Was ist das?«, fragte ich und deutete auf die unbekannte Flüssigkeit in der Flasche. Er hatte sie neben sich abgestellt und das Stück Stoff auf sein Bein gelegt, wo es nicht dreckig werden würde.

»Alkohol. Zum Desinfizieren deiner Wunde«, erklärte er, ohne dabei zu mir aufzusehen. Stattdessen wand er die alten Stofffetzen von meinem Bein und entblößte dabei die drei kleinen Löcher, welche die rote Umrandung verloren hatten und nicht mehr so schmerzhaft aussahen, wie sie sich anfühlten. Anscheinend war wirklich das Gegengift schuld an meinen Schmerzen und weniger die Verletzung selbst. Was für eine Ironie.

Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete ich, wie Rowan die Flasche mit dem Alkohol öffnete. Bevor ich protestieren konnte, goss er etwas davon auf meine Wunden. Ich biss mir in den Handballen, um einen Schrei zu vermeiden, als ein bestialisches Ziehen durch mein Bein zuckte, und zog es reflexartig von ihm weg. Dadurch verschlimmerte ich meine Schmerzen allerdings mehr, als dass ich sie linderte, weshalb eine weitere Welle des Schmerzes durch mein Bein fuhr. Mein Gesicht verkrampfte sich und einzelne Tränen flossen aus meinen Augen, hinunter auf meine Oberschenkel.

»Du hättest mich ja wenigstens vorwarnen können«, brachte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Das hätte keinen großen Unterschied gemacht, außer dass du angespannter gewesen wärst«, sagte er entschuldigend und obwohl ich ihn am liebsten anschreien würde, konnte ich nicht abstreiten, dass er vielleicht recht hatte.

Rowan band das Stück Stoff gerade um mein Bein, als er aufsah und fragte: »Wie viel Zeit haben wir eigentlich noch in Alcone?«

Mit einem einzigen Griff zog ich meine Taschenuhr aus meinem Ausschnitt und warf einen Blick auf die Ziffer, welche mir in dessen Mitte angezeigt wurde. Dort, wo der Stunden-, Minuten- und Sekundenzeiger sich trafen, erschien eine bläulich leuchtende zehn, die mir alles sagte, was ich wissen wollte. Außerdem teilte sie mir mit, dass ich etwa einen Tag in meinem Delirium verbracht hatte. So viel verschwendete Zeit, dachte ich und seufzte melancholisch auf.

»Wir haben noch exakt zehn Stunden bis wir wieder zurückkehren müssen. Das wäre also morgen Nacht um ein Uhr, aber von mir aus können wir auch jetzt schon gehen. Alcone hat uns schließlich nichts mehr zu bieten.«

Ich steckte meine Uhr nach einem kurzen Blick auf deren Rückseite zurück unter mein Hemd. Es war ein kleiner Tick von mir, jedes Mal zu schauen, ob das in rot geschriebene Wort auf der Rückseite meiner weißen Uhr noch immer da war. Natürlich wusste ich, dass es nicht einfach so verschwinden würde, und doch musste ich es ständig überprüfen.

Denn das Wort Lügen war meine Anspielung auf Illusion – das Königreich der Lügen. Den Namen hatte ich ihm gegeben, da eigentlich nichts in Illusion real war. Denn wir alle waren nur der Traum eines einzelnen Menschen. Wir waren die Kinder, Neffen und Enkel von wahrgewordenen Träumen. Wir waren lebende, atmende Menschen, die in einer Lüge existierten. Doch nur wir Auserwählten lebten mit der Frage, was passieren würde, wenn der Hüter aufhörte zu träumen. Oder vielleicht war ich auch die Einzige, die so dachte.

Die Taschenuhren ermöglichten es uns, zwischen den verschiedenen Welten Illusions zu reisen. Meine Uhr schenkten mir meine Eltern zu meinem fünfzehnten Geburtstag, nachdem ich alles über die drei Reiche, den Hüter, sowie die Kova gelernt hatte. Meine erste Wanderung durfte ich ein Jahr später bestreiten, als ich die Prüfung der drei bestanden hatte und offiziell zur neuen Wanderin von Illusion ernannt worden war. Mein Bruder hatte seine Taschenuhr zwei Jahre vor mir erhalten und durfte zu jenem Zeitpunkt bereits in den Traumwelten Illusions reisen.

Die Taschenuhren zeigten uns die Zeit an, die wir in den Welten zur Verfügung hatten. Allerdings erforschten die Auserwählten über die Jahre hinweg, wie man sie so manipulieren könnte, dass man die Zeit selbst bestimmen konnte. Jedoch hatte es bisher keine großen Durchbrüche in dieser Forschung gegeben. Sollten wir es also innerhalb der Zeit, die uns die Welt gab, nicht schaffen, zurückzukommen, würden uns die Uhren in eine andere Traumwelt wandern lassen. Und dann konnten wir sowohl an einem sonnigen Strand als auch inmitten eines ausbrechenden Vulkanes landen. Keine besonders schönen Aussichten.

Rowan murmelte undeutlich vor sich hin, was mich aus meinen Gedanken riss. Fragend sah ich ihm entgegen. »Siehst du das etwa anders als ich?«

»Nein, du hast recht. Wir sollten nach Hause, damit du deinen Knöchel richtig untersuchen lassen kannst«, sagte er und machte Anstalten, sich von mir abzuwenden.

»Warte.« Ich hievte mich vom Stuhl hoch und stellte mich vor meinem Bruder auf. Ich spürte bereits, wie die Schmerzen mit jeder Minute abklangen. »Was verschweigst du mir?«

Ich konnte in seinem Gesicht lesen, dass er etwas vor mir verbarg. Anhand seines angedeuteten Lächelns schloss ich aus, dass es etwas Schlechtes war, was mich aufatmen ließ.

»Du hast mich erwischt. Heute Nacht findet in den Hephas-Oasen von Alcone das sogenannte Silberfest statt und eigentlich hatte ich vor, mir das anzusehen«, rückte er endlich mit der Sprache heraus und fügte schnell hinzu: »Aber wir müssen da nicht hin, wenn es dir nicht gut geht.«

»Was ist das Silberfest?«, fragte ich und ignorierte dabei bewusst den letzten Teil seines Satzes. Meine Neugier war geweckt und gespannt wartete ich auf die Antwort meines Bruders, die auch prompt erfolgte.

»Das Silberfest wird hier in Alcone einmal alle fünf Jahre gefeiert. Die Leute sagen, dass sich an diesem Tag der Himmel öffnet und die Sterne in kleinen Flocken zur Erde fallen. Das Fest findet in den Hephas-Oasen statt, weil man es von dort aus am besten sehen können soll.«

»Vom Himmel fallende Sterne?« Irgendwie konnte ich mir nicht vorstellen, dass die Sterne wirklich vom Himmelszelt stürzen würden, doch mein Interesse war geweckt. »Lass uns hingehen. Das klingt spaßig.«

Rowan schien nicht überzeugt und zog skeptisch die Augenbrauen nach oben. »Bist du dir sicher, dass du das mit deinem Bein durchhältst?«

»Na klar, bis heute Abend sollte das Gegengift meinen Körper verlassen haben. Falls ich schlapp mache, kann ich mich immer noch irgendwo hinsetzen. Es ist doch nur ein Kratzer«, erwiderte ich und verlagerte mein Gewicht auf meinen verletzten Knöchel, um es ihm zu beweisen. Dabei schoss allerdings erneut ein stechender Schmerz durch mein Bein und ich verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Natürlich entging Rowan das nicht; doch er ließ es mir durchgehen, obwohl er sich eine Bemerkung dazu nicht verkneifen konnte.

»Nur ein Kratzer, ja?«

Kopfschüttelnd verschwand er ins Innere der Wohnung und ich folgte ihm, als die Schmerzen allmählich nachließen. Manchmal konnte ich echt dämlich sein, dachte ich, während bei jedem Schritt ein dumpfer Schmerz durch mein Bein fuhr.

***

Mehrere Stunden später waren wir auf den Weg zum Silberfest in einer der Hephas-Oasen.

Das Gegengift schien zum größten Teil aus meinem Körper verschwunden zu sein, denn ich spürte nur noch einen dumpfen Schmerz an der Stelle, wo der Stoff um mein Bein gewickelt war. Außerdem hatte ich meine zerrissene Hose gegen eine den Temperaturen gerechtere weiße Shorts eingetauscht und meinen Oberkörper zierte nun ein ärmelloses Top.

Von weitem konnte ich bereits mehrere Palmen sehen, welche einen großen Teich umgaben. An diesem saßen oder standen vereinzelt ein paar Personen in Grüppchen zusammen und leise Musik drang an meine Ohren.

Angestrengt versuchte ich, zu erkennen, woher diese kam, doch konnte ich ihren Ursprung nirgends ausmachen. Komisch.

Als wir näherkamen, wurden wir von kleinen Lampen empfangen, welche überall in der Oase verteilt waren und die Umgebung beleuchteten. Sie ließen eine idyllische Atmosphäre entstehen, die mich augenblicklich entspannte. Am Rande des Teiches standen mehrere Tischchen mit kleinen Snacks darauf, sowie Kannen mit verschiedenen Getränken und Bechern zum Befüllen. Ein Ort, der mich heute wohl als seinen Stammgast ansehen durfte.

»Willkommen beim Silberfest, Asra.« Die tiefe Stimme meines Bruders holte mich aus meinem Erstaunen und als ich mich zu ihm umdrehte, lächelte er mich freudig an, bevor er sich auf der Lichtung vor uns umsah. »Habe ich zu viel versprochen?«

»Es ist wirklich schön«, erwiderte ich mit Blick auf den funkelnden Teich in der Mitte, in welchem sich der Mond mit seinen Sternen spiegelte. Ich war bereit, den Abend zu genießen und keinen Gedanken mehr an die Kova zu verschwenden. Stattdessen würde ich tanzen, etwas trinken und vielleicht mit dem ein oder anderen Menschen ins Gespräch kommen. Mal sehen, was die Nacht für mich bereithielt.

»Ich werde mir mal was zu trinken holen«, sagte ich zu Rowan, doch er hörte mir schon gar nicht mehr zu. Kopfschüttelnd zwängte ich mich durch die Menschenmenge hindurch, die sich vor mir gebildet hatte, zu einem Tisch, auf dem eine große Auswahl an Getränken und Essen stand. Anscheinend hat der Präsident zur Feier des Tages den Wohltäter rausgelassen, dachte ich mir, als ich das Symbol auf den Flaschen erkannte. Eine rote Kralle auf schwarzem Grund.

Während ich die Auswahl begutachtete, erklang hinter mir eine schrille Stimme, die mich kurz zusammenzucken ließ. »Ich würde dir den Mangosaft empfehlen. Alles andere ist meiner Meinung nach ungenießbar.«

In meinem Blickfeld erschien eine ältere Frau, die auf einen Stock gestützt die Getränkeauswahl begutachtete. Ihre Haare waren leicht gräulich und in ihrem Gesicht zeigte sich die ein oder andere Falte. Insbesondere, als sie mir mit einem strahlenden Lächeln und ihren grünen Augen entgegenblickte.

»Entschuldige, falls ich dich erschreckt haben sollte. Ich wollte dich nur vor einer Katastrophe bewahren, denn leider hat unser lieber Präsident, wie großzügig er auch sein mag, keinen sehr guten Geschmack, was Erfrischungen angeht.«

Es erschreckte mich, wie einfach sie über den Präsidenten sprach, ohne Angst oder Ehrfurcht in der Stimme. Als wären sie und er die besten Freunde. Anscheinend bemerkte sie meine Verwunderung, denn wie aus heiterem Himmel lachte sie herzhaft auf.

»Tut mir leid, aber du hättest dein Gesicht sehen sollen! Als hätte ich dir erzählt, deine Tage wären gezählt«, meinte sie, lachte unbeirrt weiter und steckte mich beinahe damit an. Zumindest entspannte ich mich wieder etwas; auch wenn mir diese Frau noch immer sehr suspekt erschien.

»Mein Name ist Liz. Die Kurzform von Elizabeth Oak. Ich bin die Veranstalterin dieses Festes.«

»Sie haben das alles hier geplant?«, fragte ich neugierig, wobei ich die Getränke vollkommen aus meinen Gedanken verbannt hatte.

»Aber ja, geplant, umgesetzt und jetzt prüfe ich, dass auch alles mit rechten Dingen zugeht«, antwortet Liz mit einem Blick über ihre Schulter. »Ich habe euch beobachtet. Dich und deinen Bruder. Ihr seid nicht die ersten Weltenwanderer, die mein Fest besuchen.«

Bei ihren Worten wich mir das Lächeln aus dem Gesicht. Meine Augen mussten auf die Größe einer Tomate angewachsen sein und für einen kurzen Moment glaubte ich, mich verhört zu haben. Doch Liz‘ wissendes Lächeln belehrte mich eines Besseren.

»Woher?«, fragte ich nur, doch sie wusste, was ich meinte.

»Woher ich weiß, wer ihr seid? Das wird fürs Erste mein kleines Geheimnis bleiben, aber ich muss euch warnen: Die Dunkelheit ist zurück und sie will wiederhaben, was ihr einst gestohlen wurde.«

Der Ausdruck auf dem Gesicht der alten Frau wollte nicht ganz zu ihren Worten passen, denn dieses zierte ein freudiges Lächeln, während meines sich mit jedem ihrer Worte mehr verfinsterte.

»Die Dunkelheit? Was meinen Sie?«, hakte ich nach und beugte mich näher zu Liz heran, aus Angst, jemand könnte unser Gespräch belauschen. Obwohl ich bezweifelte, dass irgendjemand mit unseren Worten etwas hätte anfangen können.

»Mehr kann ich dir nicht verraten, aber bald wirst du es erfahren. Doch denke immer daran: Es ist nicht immer alles, wie es auf den ersten Blick scheint.« Mit diesen Worten drehte sie sich auf den Absatz um und ließ mich mit offenem Munde stehen.

Die Dunkelheit kommt? Was sollte das bedeuten? Hatte das möglicherweise etwas mit dem komischen Verhalten der Kova zu tun? Wusste sie etwas darüber? Oder war sie einfach nur eine verwirrte, alte Dame? Liebend gerne würde ich Letzteres glauben.

Am liebsten wäre ich ihr hinterhergegangen und hätte sie all das gefragt, doch als ich wieder nach vorne sah, war von Elizabeth keine Spur mehr zu sehen. Es war, als hätte sie sich in Luft aufgelöst. Stattdessen suchte ich die Silhouette meines Bruders und fand ihn nur wenige Meter von dem Ort entfernt, an dem ich ihn zurückgelassen hatte.

Er war in ein Gespräch mit zwei anderen Gästen des Festes vertieft, einer Frau und einem Mann, die, nach dem Aussehen zu urteilen, einer Familie entstammen mussten. Zumindest wiesen die krumme Nase, das fuchsiarote Haar und die grün-braunen Augen, welche beide besaßen, stark darauf hin. Sie sahen älter aus als mein Bruder und ich. Die drei schienen sich hitzig über ein Thema zu unterhalten, denn während die Frau beim Sprechen wild mit den Händen gestikulierte, errötete Rowans Gesicht immer mehr. Möglicherweise war dies ein guter Zeitpunkt, um dazwischen zu grätschen.

»Rowan?«, sprach ich meinen Bruder an, welcher sich sogleich in meine Richtung umwandte und die beiden Personen neben sich links liegen ließ. Ich konnte die Feindseligkeit zwischen ihnen regelrecht greifen. Die Erleichterung über meine Unterbrechung stand Rowan ganz groß ins Gesicht geschrieben. »Wäre es möglich, dich für einen Moment zu entführen?«

»Von mir aus kann dieser Moment auch etwas länger sein«, erwiderte er mit einem Seitenblick zu seinen ehemaligen Gesprächspartnern, bevor er an sie gewandt hinzufügte: »Wenn ihr mich entschuldigen würdet. Ich habe wichtigere Dinge zu tun.«

Die Frau schnaubte empört auf, bevor sie sich umdrehte und ging. Ihr Begleiter tat es ihr gleich, nachdem er noch einen letzten verächtlichen Blick auf mich geworfen hatte.

»Wer waren die denn?«, fragte ich und verfolgte die beiden Unbekannten mit den Augen, bis sie in der Menge verschwanden. Erst dann wandte ich mich vollends an meinen Bruder, dessen Wangen noch immer gerötet waren.

»Nicht so wichtig. Je eher ich die beiden vergesse, umso besser. Also, du wolltest was von mir?«, erkundigte er sich und erinnerte mich wieder daran, weshalb ich mit ihm hatte reden wollen.

»Ja, es geht um die Veranstalterin des Festes«, sagte ich und fügte auf den fragenden Blick meines Bruders hinzu: »Sie ist eine Auserwählte. Sie weiß über uns Bescheid und hat ein paar Dinge gesagt, die ich nicht ganz verstanden habe.«

»Was für Dinge?«, hakte Rowan nach und an seinem Gesichtsausdruck konnte ich erkennen, dass ich seine volle Aufmerksamkeit gewonnen hatte. Auf seiner Stirn standen Sorgenfalten und seine Augen leuchteten vor Argwohn hell auf.

»Sie hat gesagt, dass die Dunkelheit zurückkommt und sich holen wird, was ihr gestohlen wurde. Auf meine Frage, was das bedeuten soll, hat sie nur gesagt, dass sie mir darüber nicht mehr verraten kann«, wiederholte ich das, was mir Elizabeth erst vor wenigen Minuten erzählt hatte, und ließ dabei den letzten Part unseres Gespräches aus.

Rowan sah nachdenklich zu Boden und schien selbst über die Bedeutung von Liz‘ Worten nachzudenken.

»Scheint so, als hätten wir erneut etwas, das wir Dad zu erzählen haben. Vielleicht wird er dadurch schlauer«, meinte er.

Doch bevor ich etwas erwidern konnte, wurde die gesamte Lichtung mit einem Mal gleißend hell. Als ich aufsah, erkannte ich auch den Grund dafür, denn der Himmel über uns hatte sich in ein Meer aus silbernen Sternen verwandelt, welche fast unsere gesamte Umgebung beleuchteten.

Neben mir starrten ein paar Personen erstaunt in den Himmel, während die anderen weiterhin ihren Gesprächen und Aktivitäten nachgingen. Doch die vollkommene Aufmerksamkeit bekam das Geschehen am Himmel, als kleine, silberne Partikel, die an Schnee erinnerten, zu uns auf die Erde herabrieselten. Es war wunderschön und ich sah den einzelnen Flocken hinterher, als sie ihren Weg zum Boden antraten. Einige der silbernen Partikel blieben auf meiner Haut oder in meinen Haaren kleben, lösten sich nach einiger Zeit aber einfach in Luft auf. Als hätten sie nie existiert.

Lachend bewegte ich mich unter den fallenden Sternen umher, tanzte mit den anderen zu einem unsichtbaren Beat. Rowan sah mir von der Seite aus zu, ein kleines, aber feines Lächeln auf seinen Lippen. Erst als ich seine Hände in meine nahm und ihn nach vorne zog, bewegte auch er sich unter dem Regen.

Ich vergaß die Kova und das Gespräch mit Liz, während ich die silbernen Flocken auf meiner Hand fing und beobachtete, wie sie nacheinander verschwanden.

Erst als mein Knöchel sich unangenehm stark zu Wort meldete, machten Rowan und ich eine Pause. Wir aßen etwas, tranken köstlichen Mangosaft und brachten uns in das ein oder andere Gespräch ein.

Mehrere Stunden später war es dann so weit, und wir mussten den Weg nach Hause antreten. Mit einem letzten Blick in den Himmel verließen wir gemeinsam das Silberfest und machten uns auf den Weg zurück in die Realität.

Kapitel 3

Zurück in der Realität

Haselnussbraune Augen starrten mir aus dem vom Dunst befleckten Spiegel entgegen. Blaue Augenringe hatten sich darunter einen Platz gesucht, an denen man den Grad meiner Müdigkeit ablesen konnte. Es heißt ja nicht umsonst Schönheitsschlaf, dachte ich mir und schüttete mir eine Salve Wasser ins Gesicht.

Nach unserer Rückkehr nach Vanity hatte ich sofort in mein weiches Bett springen wollen. In meinem Kopf hatten sich bereits wundervolle Träume geformt und ich wäre bei dem Gedanken daran fast im Stehen eingeschlafen, doch waren Rowans Pläne andere gewesen. Statt in mein Bett eskortierte er mich geradewegs zur Krankenstation, wo man mir eine entzündungshemmende Salbe gegeben und meinen Knöchel mit einem richtigen Verband verbunden hatte. Zwar konnte ich die Sorgen meines Bruders verstehen, doch hätte dieser Besuch gut und gerne auch eine Nacht länger warten können. Vorzugsweise nach einer ausgiebigen Portion Schlaf.

Meine Haare waren noch warm vom Föhnen, als ich mit meiner Bürste durch sie hindurch glitt. Die größten Knoten hatte ich bereits beseitigt, sodass sie mir wie Federn über den Rücken fielen. Ich liebte es, mir nach der Pflege durch die Haare zu fahren, sie auf meiner Haut zu spüren. Doch strich ich sie nun aus meinem Gesicht, um mir etwas Creme auf die Wangen, die Stirn und das Kinn zu tupfen und sie anschließend zu verteilen. An meinem Kinn und meiner linken Wange zeichneten sich kleine Schrammen von meinem gestrigen Kampf mit der Kova ab. Ansonsten war ich einigermaßen unversehrt geblieben. Zum Glück, denn das Gefecht hätte auch anders ausgehen können. Noch immer schlug mir das Herz bis zum Hals, wenn ich daran dachte, was passiert wäre, wenn Rowan nicht rechtzeitig dagewesen wäre. Dann wäre ich wohl oder übel zu Kova-Futter verarbeitet worden.

Ich schüttelte den Kopf bei diesem Gedanken und verdrängte ihn in den hintersten Teil meines Verstandes. Es brachte schließlich nichts, über Dinge nachzudenken, die hätten passieren können. Ich lebte und das war das Einzige, was zählte.

Und doch stützte ich mich mit beiden Händen am Waschbecken ab, als die Erinnerungen zurückkehrten und mein Körper erbebte. Die Angst war da, tief in mir drin, und trotzdem präsent wie nie zuvor. Sie ließ meine Atmung stocken, schnürte mir die Luft ab, wenn ich nicht schnell genug reagierte. War es die Angst vor dem Tod? Die Angst zu versagen? Alle zu enttäuschen, selbst wenn ich es nicht mehr mitbekam? Ich wusste es nicht, konnte es nicht benennen.

Meine Arme zitterten am Waschbeckenrand, selbst als ich die Finger mit aller Kraft gegen das Keramik drückte.

Reiß dich zusammen, du machst das nicht erst seit heute.

Mit einem stechenden Blick sah ich mir selbst in die Augen, atmete tief ein und wieder aus, beruhigte mein wie wild pochendes Herz.

Vergiss, was gestern war, heute ist ein neuer Tag.

Meine Atmung stabilisierte sich und mit einem Ruck wandte ich mich von dem Spiegel ab. Nur mit einem Handtuch bekleidet, stolzierte ich in mein angrenzendes Zimmer. Ich hatte eine Verabredung in der Praxis und keine Zeit, mich in Gedanken zu verrennen, mich meinen Ängsten zu stellen. Mit einem letzten, tiefen Atemzug verbannte ich alle negativen Gedanken hinter einer gigantischen Mauer.

Jetzt nicht!

Wenn es doch nur so einfach wäre ...

Ich hoffte, dass Lucy mir gleich ein paar gute Nachrichten mitzuteilen hatte, denn von schlechten hatte ich in den letzten Tagen mehr als genug gehabt.

Mit einem Ächzen sank ich hinab auf die weiche Matratze meines Bettes. Neben mir hatte ich frische Kleidung bereitgelegt, die ich kurzerhand gegen das Handtuch eintauschte. Die schwarze Hose drückte etwas auf meine Wunde, weshalb ich sie bis über den Verband hochkrempelte.

Bevor ich mein Zimmer verließ, schnappte ich mir meine Taschenuhr vom Tischchen neben meinem Bett und hängte sie mir um den Hals. Ihre kalte Rückseite wurde dabei von meinem Pullover gegen meine nackte Haut gedrückt, was mir im ersten Moment eine Gänsehaut bescherte, bevor sie sich meiner Körperwärme anpasste. Meine Füße versanken im Flausch meines blauen Teppichs, als ich mich zur Tür bewegte. Vor dieser bückte ich mich hinunter, um die danebenstehenden Schuhe über meine Füße zu ziehen. Erst dann trat ich aus meinem Zimmer und in den Gang davor.