Rerum - Königreich des Todes - Lara Kempa - E-Book

Rerum - Königreich des Todes E-Book

Lara Kempa

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Beschreibung

Ein Königreich der Träume, aufgebaut auf Lügen. Ein Königreich der Albträume, erwacht aus dem Schlaf. Ein Königreich des Todes, dem das Ende naht. Asra und Rowan sind wiedervereint, aber Illusion liegt in Scherben. Alles, woran sie geglaubt haben, ist eine einzige Lüge. Ihre Heimat zerfällt und es liegt an ihnen, die Welten zu retten und Traum und Albtraum zu vereinen. Doch das verlangt nach einem hohen Preis. Sind die Wanderer Illusions, bereit ihn zu zahlen?

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Seitenzahl: 304

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Copyright 2024 by

Dunkelstern Verlag GbR

Lindenhof 1

76698 Ubstadt-Weiher

http://www.dunkelstern-verlag.de

E-Mail: [email protected]

ISBN: 978-3-910615-97-7

Alle Rechte vorbehalten

Widmung

Inhalt

1

Zerbrochene Welt

Wenn es Zeit ist, aufzugeben

Das bizarre Schöne

Verzweifelte Pläne

Angepasste Realität

Schmelzendes Eis

Die Zeit rennt

Lawinengefahr

2

Veränderungen

Das Portal in die Träume

Kämpfer

Stadt des Lichts

Geflüsterte Dunkelheit

Der neue König der Unterwelt

Kleine Träume

Alba

3

Rettung der Welten

Erinnere dich!

Die Königin der Wolken

Weltraumabenteuer

Verlorene Menschlichkeit

Das zweite Gesicht

Tod eines Kriegers

Alte Freunde

Spiegelbild

Götterdämmerung

4

Ein letzter Tag

Akhir

Eine Welt aus Porzellan

Flammeninferno

Rerum

Sonnenuntergang

Epilog

Danksagung

Triggerwarnung

Triggerwarnung

Dieses Buch nutzt Inhalte, die bei einigen Leserinnen und Lesern Unwohlsein hervorrufen oder eventuelle persönliche Trigger darstellen können. Eine Auflistung der inbegriffenen Themen bzw. Szenen ist am Ende dieses Buches zu finden, da sie explizite Spoiler zur Geschichte enthält.

1

Das Feuer loderte in den Schatten. Erhitzte meinen schwächlichen Körper. Die Ketten rasselten an meinen Gelenken, als ich mich den Flammen entzog.

Ich sehnte mich nach einem eisigen Bad. Nach etwas, dass mich abkühlte und mir Erlösung bringen würde. Meine Arme schmerzten von der erhobenen Position.

Feuer und Eis spielten in meinem Kopf fangen. Und ein jedes Mal schmolz die Kälte unter den Fängen der Hitze. Ich konnte es gar nicht erwarten, meinem Gefängnis zu entfliehen.

Meine Rache würde gnadenlos sein.

Kapitel 1

Zerbrochene Welt

Rowan

Meine Welt bestand aus weißem Porzellan. Sie war zerbrechlich und umgeben von einem dichten Nebel, der die Risse zu verbergen versuchte. Dunkle Abgründe, die sich durch den Körper meiner Tante zogen. Lucys Lippen waren zu einem Schrei verzerrt. Tonlos und ewig. Stücke ihrer selbst waren auf dem trostlosen Boden verstreut und würden nie wieder zusammengefügt werden. Sie würden in der Endlosigkeit verschwinden.

Ein schriller Ton klingelte in meinen Ohren, und ich sah, wie Asra in Zeitlupe vor Lucy in die Knie ging. In ihren Augen standen die Tränen, auf ihrem Gesicht die Qualen. Stocksteif weilte ich daneben, war nicht in der Lage, mich zu bewegen. Ich fühlte mich leer, verloren. Als befände ich mich außerhalb meines Körpers. Außerhalb meiner Gefühlswelt.

Lýrr kniete neben ihr nieder, und Eira kam in mein Sichtfeld. Der Dämon sprach auf sie ein, während die Eiskönigin stumm neben ihnen stand. Unsere Blicke begegneten sich. Glasige Augen trafen auf unendliche Trauer. Ihre Lippen formten Worte, die erst nach einer ganzen Weile zu mir durchdrangen. »Rowan, was ist los?«

Mit einem Schlag prasselte alles auf mich ein. Die Geräusche. Asras Schluchzen, der Wind und Eiras raue Stimme. Die Gefühle. Wut, Schmerz, Trauer und Verzweiflung. Sie drückten mich nieder, erstickten mich und hüllten mich ein. Ich schnappte hektisch nach Luft, beugte mich nach vorn, versuchte mich zu konzentrieren. Irgendetwas, um dieses Leid nicht spüren zu müssen. Eine sanfte Berührung an meinem Arm, graue Augen, die in meine sahen. Eiras Finger legten sich an meine Wangen, kühlten meine erhitzte Haut.

»Du musst atmen«, sagte sie und holte tief Luft. »Tu es mir gleich.«

Luft ein ... Luft aus ... Luft ein ... Luft aus ...

Das Brennen in meinem Hals ließ nach, doch das erdrückende Gefühl bleib. Es ließ mich atmen, aber nur so viel, dass ich überlebte. Die Venen an meinen Armen stachen lila hervor, leuchteten wie Blitze am Nachthimmel und sprühten Funken gen Boden. Ich musste mich beruhigen. Musste klar denken.

Als ich meinen Blick hob, waren Asra und Lýrr verschwunden. Lucys Körper stand noch immer am selben Ort, hatte sich nicht bewegt. Es war kein Traum, es war die Realität. Und diese stach mir immer und immer wieder einen Dolch in den Rücken. Heimtückisch, böse, durchtrieben. Die Realität war ein Monster und der Traum sein Tod. Oder nicht?

»Geht es wieder?« Eiras Stimme holte mich aus meinen düsteren Gedanken. Besorgnis schimmerte in ihren Augen, und getrocknete Tränen klebten an ihren Wangen. Gedankenverloren hob ich meine Hand, spürte ihre zarte Haut unter meinen Fingerspitzen.

»Es tut mir leid«, hauchte ich, und ein betrübtes Lächeln legte sich auf ihre Lippen.

»Wie war das mit dem Entschuldigen? Nicht für etwas, für das wir nichts können«, erwiderte sie, und unter Tränen stieß ich ein Lachen aus. Ein Lachen, welches bei Lucys Anblick zu einem Schluchzen mutierte. War sie tot? Oder lebte sie unter der Schicht aus Porzellan? Gefangen in einem weißen Gefängnis, welchem sie nicht entfliehen konnte.

»Wo sind Asra und Lýrr?«, fragte ich und rieb mir die Tränen aus dem Gesicht.

»Sie sind ins Schattenhaus. Asra glaubt, dort einen Hinweis auf die Gefäße finden zu können.«

»Ich hoffe, dass sie recht hat«, sagte ich und fügte mit einem Blick auf Lucy hinzu: »Und am besten finden wir auch etwas, um sie zu befreien.« Obwohl ich die Hoffnung mit einem Blick zur zerstörten Seite meiner Tante längst wieder verlor.

»Möchtest du ihnen folgen?« Eira deutete in Richtung des Schattenhauses. In die Richtung meines Zuhauses. Ein Heim, welches mir stets Geborgenheit vermittelt hatte. Doch jetzt ragte es wie ein Monster vor mir auf.

Ich schüttelte den Kopf. »Lass uns in die Stadt gehen. Vielleicht ist noch jemand am Leben.« Die Worte auf meiner Zunge fühlten sich an wie Säure, die sich schleichend durch meinen Körper ätzte. Ich wollte sie nicht als tot bezeichnen, wusste allerdings auch nicht, wie ich es sonst nennen sollte. Lebendig ganz bestimmt nicht.

»Bist du dir sicher? Was, wenn wir weitere ... Statuen finden?« Ihre Stimme brach und mit ihr mein Herz. Ich schlang meine Arme um sie, drückte ihren Körper ganz nah an meinen. Der Eiskönigin entschlüpfte ein wohliger Seufzer, als sie sich an meine Brust schmiegte. Freya schaute mit schiefgelegtem Kopf zu uns hinauf, als ich mein Kinn auf ihrem Scheitel platzierte.

»Wir schaffen das«, wisperte ich in ihr Haar, und Eira sah zu mir auf. Unsere Gesichter bewegten sich aufeinander zu, und als ihre Lippen die meine berührten, entspannten sich meine Muskeln. Es war nur ein kurzer Kuss, und er war beinah schon vorbei, bevor er anfing, und doch bedeutete er mir alles. Er gab mir Hoffnung und Mut, Stärke und Vertrauen. Ich war bereit, dem Bösen entgegenzutreten, solange Eira und Asra an meiner Seite waren.

»Gehen wir, aber wenn es zu viel wird, suchen wir deine Schwester, in Ordnung?« Eira verflocht ihre Hand mit meiner, bevor sie mich mit einem letzten Blick zu Lucy nach vorne zog. Hinein in die Stadt, die einst so lebendig gewesen war und nun zerbrochen und rissig schien. Unser Vater hatte mit seinem Verschwinden alles mitgenommen, was uns lieb und teuer gewesen war. Er hatte nicht zurückgeblickt und stattdessen alles zerstört.

Die Häuser lagen zum Teil in Trümmern, waren Ruinen aus Porzellan. Die Sonnenstrahlen gaben keine Wärme mehr ab, und über allem lag ein dichter Nebel. Wir schritten im einvernehmlichen Schweigen durch die Straßen von Vanity. Wo einst die Gesänge von Vögeln oder das Lachen von Kindern zu hören gewesen war, herrschte nun eisige Stille. In den Gassen entdeckten wir weitere zu Porzellan erstarrte Menschen, die mir einen Schauer über den Rücken jagten. Manche der Bewohner waren für immer in einer alltäglichen Szene verewigt. Die einen beim Ballspielen, die anderen beim Eisessen. Nur wenige sahen mit vor Angst geweiteten Augen in den Himmel. Nur wenige hatten es kommen sehen, und ich wusste nicht, was gnädiger war. Zu wissen, dass etwas Schlimmes passieren würde, oder die letzten Momente in Frieden zu genießen.

Wir blieben vor Kalmers Restaurant stehen. Die Stühle und Tische vor dem Gebäude lagen teilweise zerstört am Boden. In der Mitte zerbrochen oder vom Wind verweht. Nur zögerlich traute ich mich, die Tür zu öffnen und das Innere zu betreten. Ein Keuchen entfuhr mir, als ich die Menschen sah, die wie eingefroren auf ihren Plätzen saßen. Es war eine Geisterstadt und wir die einzigen Überlebenden. Die kleinen Oktopusse waren in ihren Bewegungen erstarrt. Die Teller, die sie transportiert hatten, am Boden zerschellt. Mein Herz brach bei diesem Anblick, meine Muskeln versteiften, und es graute mir davor, die Küche zu betreten. Tief atmete ich ein und spürte Eiras Hand in der meinen.

»Wir machen das zusammen«, flüsterte sie in der Stille des Ladens, bevor wir Schritt für Schritt auf die Doppeltüren zugingen. Ein Fuß nach dem anderen, bis ich nur noch wenige Zentimeter entfernt war.

»Was, wenn er dort drin ist? Ich weiß nicht, ob ich das schaffe.« Meine Stimme war hauchdünn, beinahe nicht existent. Das Herz pochte mir lautstark in der Brust, und ich glaubte, jeden Moment in Ohnmacht fallen zu müssen. Ich wollte nicht noch eine geliebte Person verlieren. Kein weiteres Mal diesen Schmerz durchleben.

»Wir müssen nicht hineingehen.«

»Ich muss es wissen«, sagte ich, bevor ich mit einem letzten Atemzug die Türen öffnete. Dahinter erschien die weiße Küche, glänzend im Lichte der Sonne, die durch ein Fenster im hinteren Teil des Raumes hereinschien. Und dort, vor dem Herd und einem schimmernden Topf, stand Kalmer. Eingefroren in der Zeit, einer seiner Tentakel umfasste einen Löffel, welchen er zu seinem Mund hatte führen wollen.

Er hatte sein Ende nicht kommen sehen, dachte ich und musste mich an einem der Schränke festhalten, um nicht zu Boden zu stürzen. Vor meinen Augen tanzten schwarze Punkte und vereinzelte Tränen liefen mir über die Wangen.

»Es tut mir so leid«, hauchte ich, bevor meine Worte sich in ein Schluchzen verwandelten. Eira drückte meine Hand, schmiegte sich an meine Seite, und so verweilten wir hier. Bis keine Tränen mehr übrig waren.

Die Eiskönigin führte mich aus dem Restaurant und hin zu einer Bank. Dort ließ ich mich erschöpft nieder. Eira in meinen Armen und mein Kopf auf ihrem. Meine Gedanken spielten verrückt, flossen durch meinen Verstand wie heißer Sand. Lucy und Kalmer waren fort. Ich wollte gar nicht wissen, wie es um meine Mutter, Alba oder Luna stand. Die Gedanken schmerzten, doch hörten sie nicht auf. Mein Kopf gab keine Ruhe, und auch die sanften Striche von ihren Fingern auf meinem Arm konnten mich nicht beruhigen.

»In mir herrscht das reinste Chaos«, durchbrach ich die Stille. Eira bewegte sich unter mir, hob ihren Kopf und sah mich an.

»Vielleicht hilft es, wenn du deine Gedanken laut aussprichst«, meinte sie, und als hätte sie damit einen Knoten gelöst, flossen die Worte nur so aus mir heraus.

»Ich kann nicht glauben, dass mein Vater für all das hier verantwortlich sein soll. Wir hatten nicht immer das beste Verhältnis, aber dass er zu so etwas fähig ist? Das hätte ich in meinen schlimmsten Albträumen nicht gedacht.« Das Gefühl, betrogen worden zu sein, kam zurück. Es traf mich mit voller Wucht mitten ins Herz, zerquetschte es und ließ mich nicht mehr los. »Hayes ist der Hüter. Eine Legende. Derjenige, der uns und Illusion erschaffen hat. Ein Gott, der uns beschützen sollte. Stattdessen zerstört er alles, was uns lieb und teuer ist. Und wofür?« Es sollte befreiend sein, die Worte auszusprechen, doch führten sie mir nur vor Augen, was ich alles verloren hatte.

»Hayes hat jeden von uns getäuscht. Niemand hätte gedacht, dass er zu solchen Dingen fähig wäre.« Eiras Hand umschloss meine, während ihr Blick in die Ferne glitt. Tränen schimmerten in ihren Augen, und bei diesem Anblick konnte ich nicht anders, als sie in meine Arme zu schließen. Am liebsten würde ich sie nie wieder loslassen. Auf ewig hier mit ihr sitzen und die Probleme vergessen. Vergessen, dass uns möglicherweise das Ende von Illusion bevorstand.

»Was meinst du, hat Hayes vor?«, wisperte Eira.

»Ich weiß es nicht. Er möchte ein Illusion, das frei ist von den Albträumen, und dass er dafür alles tun würde, wissen wir ja.«

»Du meinst das Massaker in Kivessa?«, hakte sie nach, und ich nickte.

»Ich kann nicht fassen, wie naiv ich gewesen bin. Es war unfair gegenüber Asra, ihr zu verschweigen, dass sie adoptiert wurde. Vielleicht hätten wir die Wahrheit viel früher herausgefunden, wenn ich es ihr gesagt hätte.« Die Schuldgefühle meiner Schwester gegenüber saßen tief in mir fest. Ich hatte es ihr immer wieder sagen wollen, aber Hayes hatte mich davon abgehalten. Sie fühlte sich doch wohl bei uns, wieso sollten wir ihr das nehmen? Das war nur eines der Argumente gewesen, die mein Vater mir tagtäglich gepredigt hatte.

»Du konntest nicht wissen, dass Hayes ihre Eltern ermordet hat. Wieso hättest du etwas anderes annehmen sollen als das, was er dir erzählt hat?« Eira hatte sich wieder zu mir umgewandt. Ihr Mund stand einen Spaltbreit offen, und in ihren Augen schimmerte Wut. Aber nicht auf mich, sondern auf meinen Vater. »Er hat euch benutzt, um seine Vorstellungen einer perfekten Welt durchzusetzen.«

»Wir haben die Albträume verabscheut, sie umgebracht, obwohl sie die Opfer waren. Opfer in einem Krieg, den Hayes heraufbeschworen hat«, hauchte ich. Heißer Zorn brannte in mir. Wir mussten den Hüter finden und ihn aufhalten, bevor er etwas tat, was nicht rückgängig zu machen war. Irgendwo in ihm musste der Vater sein, der er all die Jahre für Asra und mich gewesen war. Irgendwo in ihm musste er verstehen, dass er das Falsche tat. Oder nicht?

»Wir werden Hayes aufhalten. Wir werden Illusion und die Albträume vor dem Untergang bewahren«, meinte Eira, und in ihrer Stimme klang Entschlossenheit mit. Sie war bereit, sich mit uns in den Kampf zu begeben. Einen Kampf, der möglicherweise nicht gewonnen werden konnte. Nicht, wenn wir es nicht schafften, Cassina aus ihrem Gefängnis zu befreien. Sie war unsere einzige reelle Chance, diesen Krieg zu gewinnen. Ohne sie hatten wir nichts. Nur eine kleine Gruppe aus Träumen und Albträumen, die gegen einen Gott nicht lange bestehen würden.

Ich wollte noch etwas sagen, irgendetwas, aber bevor ich meinen Mund hätte öffnen können, kamen Asra und Lýrr auf uns zugelaufen. Düstere Blicke, die nichts Gutes verhießen, zeichneten ihre Augen.

Kapitel 2

Wenn es Zeit ist, aufzugeben

Asra

Das Gesicht hinter einer Maske verborgen, seine Gestalt in den Schatten versunken. Gleißendes Licht erstrahlte aus seiner Mitte, und glühende Augen blickten in meine Seele. Das Bild des Hüters im Schattenhaus war die reinste Ironie. Düster und verstörend. Eine Legende, eine Lüge. Mein Innerstes war in Aufruhr, und am liebsten hätte ich das Gemälde von der Wand gerissen und zu Boden geschleudert. Ich sah schon die Abdrücke meiner Schuhsohlen auf seinem Abbild, wie sie schwarze Schlieren zogen und ihn verdreckten. Mehr hatte er nicht verdient. Lug, Trug und Scheinheiligkeit waren sein Beruf. Sein Anblick verursachte die Schreie in meinem Kopf, die nicht verstummten und mich in den Abgrund reißen wollten.

Gleißender Zorn und unendliche Trauer flossen wie ein eisiger Wirbel durch meinen Körper. Getrocknete Tränen klebten an meinen Wangen, während Frische über ihnen vorbeizogen. Würde ich irgendwann leer sein? Still? Ich hielt die Geräusche nicht mehr aus. Sie vergifteten meine Gedanken und ließen mich nicht eine Sekunde zur Ruhe kommen. Ich wollte nicht mehr, konnte nicht mehr. Meine Beine waren wie Wackelpudding und drohten jeden Moment unter mir zusammenzubrechen. Die Erschöpfung breitete sich in Wellen in mir aus, ließ mir die Lider zufallen. Das Weiß des Hauses schmerzte, und doch konnte ich nicht anders, als hier zu stehen. Vor dem Abbild des Hüters. Dem Bild meines Vaters.

Lügen! Alles Lügen! Mit einem verzweifelten Schrei riss ich das Bild von der Wand und fegte es durch den Raum. Mit einem lauten Scheppern kam es auf dem Boden zum Erliegen. Scherben verteilten sich drumherum, symbolisierten das zerbrochene Heim, das er zurückgelassen hatte. Ein Schluchzer entwich meiner trockenen Kehle.

Schritte hallten durch den Gang, und im nächsten Moment spürte ich zwei starke Arme, die sich um mich schlossen. Schluchzend sank ich an Lýrrs Brust, mein Körper bebte und erschütterte mein Inneres. Schmerz, Trauer und Wut. Es tat alles so furchtbar weh. Ein weiterer Schrei löste sich von meinen Lippen und hallte als Echo von den Wänden wider. Das Bild von Lucy schob sich vor mein geistiges Auge. Eine weiße Statue, die in Angst und Trauer erstarrt war. Hatte sie es gewusst? Hatte sie vom Hüter gewusst? Von seinen Taten? Ich wollte es nicht glauben. Aber wem konnte ich noch vertrauen?

»Geht es wieder?« Lýrrs Stimme strömte wie eine Melodie durch meine Ohren. Mein Blick wanderte an ihm empor, bis ich auf den seinen traf. Tiefe, unergründliche Augen starrten in die Meinen. Sorge und unterdrückter Zorn standen in ihnen geschrieben, und ich konnte auch mich selbst in ihnen spiegeln. Ein kleines Häufchen Elend, das zu ihm aufsah.

Mehr als ein Nicken brachte ich nicht zustande, und er ließ mich auch nicht los. Stattdessen wanderte seine Hand zu meiner und verschränkte sich mit ihr. »Ich bin hier und wohin auch immer du jetzt gehen magst, ich bleibe an deiner Seite.«

Die Tränen trockneten auf meinen Wangen, verklebten mir die Lider und liefen mir am Kinn hinunter. Ein salziger Geschmack legte sich auf meine Lippen, als ich den Schattenmann still zur Treppe auf der linken Seite führte. Im Inneren des Schattenhauses sah alles aus, wie wir es zurückgelassen hatten. Einzig das Äußere war zerstört, zerschmettert worden. Eine Stufe nach der anderen stiegen wir hinauf. Stille begleitete uns, während in meinem Kopf weiterhin das reinste Chaos regierte.

Weiß, weiß, weiß. Nicht ein Fünkchen Farbe begegnete uns auf dem Weg zu meinem Zimmer. Dem Ort, der mir Trost gespendet hatte. Mein Rückzugsort nach einer anstrengenden Reise. Eine Reise, auf die wir geschickt wurden, um das Böse zu bekämpfen. Doch was war das Böse? Waren es die Albträume, die sich gegen eine Macht verteidigten, die sie alle zerstören wollte? Die unschuldige Leben beendeten, um ihr Ziel zu erreichen? Oder waren es der Hüter und seine Träume, die von einem utopischen Reich träumten und dafür alles in Schutt und Asche legen würden? Ich wusste es nicht. Manchmal war eben nicht alles Schwarz und Weiß. In diesem Moment nahmen die verschiedensten Grautöne vor meinem inneren Auge Gestalt an. Nicht gänzlich gut, aber auch nicht gänzlich böse. Sie wurden alle von einem Traum geleitet und verstanden nicht, dass sie sich damit ihren eigenen Albtraum erschufen.

Wir hielten vor der Tür zu meinem Zimmer an. Hinter dieser lag mein ganzes Leben. Meine Vergangenheit in all ihren Facetten. So viele Emotionen und Momente. Erinnerungen, die mir heute nur noch Schmerz bringen würden.

Ich atmete tief durch, bevor ich meine Hand aus Lýrrs Umklammerung löste und auf den Knauf legte. Mit einer einzigen Drehung schwang die Tür nach innen auf und offenbarte ein furchtbares Durcheinander. Die Vorhänge hingen zerrissen vorm Fenster, durch welches das gedämpfte Licht der Sonne schien. Nebelschwaden leuchteten in ihren Strahlen und flirrten durch den Raum. Überall, wo ich hinsah, lag zersplittertes Holz von meinem einstigen Kleiderschrank. Ich wagte mich hinein in das Chaos und trat dabei immer wieder auf ein Kleidungsstück, das wahllos zu Boden geworfen worden war. Einzig mein Bett stand noch an seinem Platz und schien keinen Schaden genommen zu haben. Verlassen wartete es auf meine Rückkehr.

»Es ist alles zerstört«, wisperte ich, bevor ich mich auf der weichen Matratze niederließ. Lýrr blickte sich unterdessen im Zimmer um, ein Ausdruck des Entsetzens auf seinen Zügen. »Er hat alles zerstört.«

»Es tut mir so leid«, hauchte er und kniete sich vor mir auf den Boden. Er nahm meine Hände in die seinen und streichelte sanft über meine empfindliche Haut. Ein Kribbeln breitete sich in meinem Inneren aus, welches sogleich von den Geräuschen ausgelöscht wurde. Von dem Geschrei, dem Keuchen, dem Ächzen, dem Schluchzen. Der Angst.

»Was sollen wir noch tun, Lýrr? Hayes hat alles zerstört. Wir haben keinen Anhaltspunkt. Wir wissen nicht, wie wir Cassina befreien können, und auch wenn wir es versuchen sollten, wird der Hüter uns aufhalten. Es hat alles keinen Sinn. Wir werden nicht gegen ihn ankommen. Illusion wird untergehen, und wir können nichts dagegen tun.« Hoffnungslosigkeit übernahm die Führung. Hayes würde nichts zurückgelassen habe, was uns helfen könnte. Er war nicht so töricht. Wir konnten nicht siegen.

»Ich weiß, es sieht schlecht für uns aus, aber wir dürfen die Hoffnung nicht verlieren. Sie ist das Einzige, was uns noch geblieben ist, und wir müssen an ihr festhalten. Illusion wird nicht untergehen, nicht solange wir leben.« Lýrrs Worte sollten mich aufbauen, allerdings hatten sie den gegenteiligen Effekt.

»Und was, wenn er uns das auch noch nimmt?«, erwiderte ich. Meine Kräfte waren am Ende. Ich konnte nicht mehr kämpfen. Wollte nur noch schlafen und aus diesem Albtraum erwachen.

»Ich werde dich kein weiteres Mal verlieren, Asra. Ich habe zwölf Jahre lang nach dir gesucht, und jetzt, wo ich dich gefunden habe, lasse ich dich nicht mehr gehen.« Seine Aussage war wie ein Messerstich in meinem Herzen. In seinen Erinnerungen war ich mehr für ihn, als er jemals für mich sein konnte. Acht Jahre meines Lebens. Jahre, die ich ihn gekannt hatte, waren weg. Ich wusste nicht, wer er war, während er glaubte, mich zu kennen.

»Du kennst mich nicht. Du glaubst es, aber du tust es nicht.« Die Worte kamen nur krächzend aus meiner Kehle, und ich sah, wie Lýrr erblasste.

»Ich habe dich gekannt, und ich bin bereit, dich ein weiteres Mal kennenzulernen. Wenn du mich lässt«, sagte er mit einem flehenden Blick in den dunklen Augen.

»Ich erinnere mich nicht daran. Für mich ist dieser Ort hier meine Kindheit, mein Leben und selbst mit den Bildern im Kopf. Dem Bild von meinem Vater, von uns, wie wir vor den Toren des Palastes spielen, wie er meinen Namen ruft … Ich erinnere mich an keinen einzigen dieser Momente.« Gedankenverloren knibbelte ich an meinen Fingernägeln, und erst, als mich ein stechender Schmerz durchfuhr, hörte ich auf. »Ich fühle mich so schuldig.«

»Es ist nicht deine Schuld. Der Hüter hat dich entführt, dir deine Erinnerungen genommen, sie verfälscht und dich in dem Glauben gelassen, dies alles hier wäre echt.«

»Ich weiß. Und trotzdem ist da dieser Gedanke in meinem Kopf. Ein Wunsch, der mich nicht besser macht als er. Der Wunsch, nie von der Wahrheit erfahren zu haben. Die Lüge weiterzuleben, um den Schmerz nicht zu fühlen.« Ein Schluchzer durchbrach meine Worte, und die Tränen rannen nun ungehindert über meine Wangen. Lýrr sagte eine ganze Weile kein Wort, doch als er erneut sprach, versetzte es mir einen Stich.

»Du bist so viel besser als er. Wir alle wollen unserem Schmerz entfliehen, aber du warst stark genug, dich ihm zu widersetzen. Obwohl du die Möglichkeit gehabt hättest, alles zu vergessen, hast du dich für den härteren Weg entschieden, und das alleine macht dich zu der stärksten Person, die ich jemals kennenlernen durfte. Gib dir die Chance, herauszufinden, wer du bist, wer du sein willst, und wenn du mich lässt, werde ich dir dabei helfen.«

Unsere Blicke hielten sich gefangen, und nur eine Sekunde später schlang ich meine Arme um seinen Nacken und vergrub mein Gesicht an seiner Brust. Lýrr atmete zitternd ein, bevor er meine Umarmung erwiderte und mich fester an sich drückte. Sein Kinn ruhte auf meinem Scheitel, als ich meine letzten Worte sprach. »Ich möchte dich kennenlernen.«

***

Es verging eine ganze Weile, bevor wir uns voneinander lösten. Meine Tränen waren getrocknet und der Druck auf meiner Brust weniger geworden. Am liebsten würde ich noch Stunden so mit Lýrr hier liegen, doch wir waren aus einem Grund hier.

»Wir sollten uns die Büros im Erdgeschoss anschauen. Vielleicht hat Hayes irgendetwas übersehen, was uns behilflich sein könnte«, meinte ich, was ihm ein breites Grinsen ins Gesicht zauberte. Er versuchte, es zu verstecken, allerdings gelang ihm das recht schlecht. »Wieso lachst du?«

»Du überrascht mich jedes Mal aufs Neue«, erwiderte er und machte keine Anstalten, seine Worte weiter auszuführen. Stattdessen erhob er sich vom Boden und zog mich zugleich mit auf die Beine. Ich beschloss, ihm seine Erklärung durchgehen zu lassen, und verließ Hand in Hand mit ihm mein Zimmer. Es schmerzte, all die Dinge hinter mir zu lassen, und gleichzeitig fühlte es sich ein Stück weit befreiend an. Als würde ich ein Teil des Schmerzes an diesem Ort zurücklassen und nach vorne schauen.

»In diesem Haus ist es viel zu hell. Man wird von dem ganzen Weiß regelrecht erschlagen«, murmelte Lýrr, als wir die Treppe nach unten gingen. Seine Worte spiegelten meine tagtäglichen Gedanken über diesen Ort wider. Hayes und Alba behaupteten, dass sie durch die Helligkeit eine bessere Sicht auf Illusion hatten, doch wer wusste schon, wie viel Wahrheit in ihren Äußerungen steckte.

Wir passierten die letzte Ecke, die uns von den Büros der Schatten entfernte. Auf der rechten Seite befand sich die Tür zu Albas Gemächern, während links der Eingang zu Hayes auf uns wartete.

»Ich würde behaupten, dass wir bei Alba nichts finden werden«, vermutete ich, wobei auch die Angst vor einer weiteren Porzellan-Figur bei meiner Entscheidung eine Rolle spielte. Würde Hayes seinen langjährigen Partner gefangen nehmen? Wobei er auch Lucy versteinert hatte, also würde ich ihm alles zutrauen.

Ich legte meine Hand auf den Türknauf und drehte ihn herum. Mit einem Quietschen schwang die Tür nach innen auf. Ich betrat Hayes Büro und erstarrte. Hatte erwartet, dass auch hier niemand sein würde, weshalb mich die hochgewachsene Gestalt hinter dem Schreibtisch im ersten Moment perplex innehalten ließ. »Alba?«

Mit weit aufgerissenen Augen und wirren, weißen Haaren, die ihm ins Gesicht fielen, stand er da. In seinen Händen hielt er ein Bündel Dokumente, aus denen mehrere Seiten herauszufliegen drohten. In seinen Augen stand die Angst geschrieben, und seine Arme zitterten, als er meinem Blick folgte.

»Es tut mir so leid.« Die Atmosphäre um ihn herum flirrte, und bevor ich auch nur einen Schritt in seine Richtung tun konnte, war er verschwunden. Er hatte sich einfach in Luft aufgelöst, als wäre er nie hier gewesen.

»Die Dokumente in seinen Armen«, wisperte ich und wagte es nicht, meine Gedanken laut auszusprechen. Das durfte einfach nicht sein. Doch hatte Lýrr scheinbar dieselbe Vorahnung.

»Das waren die Standorte der Beschützer.«

Kapitel 3

Das bizarre Schöne

Rowan

Eira und ich sprangen auf die Beine, als Lýrr und Asra vor uns zum Halten kamen. Düstere Züge verfinsterten ihre Mienen, zogen Linien über ihre Gesichter, und die Angst schnürte mir bei ihrem Anblick die Kehle zu. Die Worte meiner Schwester mixte dieses Gefühl zusammen in einen Topf voller Verwirrung. Sie pflanzten Fragezeichen in meinen Kopf, die sich auch in meinem Gesicht widerspiegeln mussten. »Habt ihr Alba gesehen?«

»Alba?«, hakte ich nach, und sogleich erlosch die Hoffnung in Asras Augen. Das Funkeln verschwand und ermüdend sanken ihre Schultern herab. Es tat mir fast leid, dass ich ihr keine positiveren Nachrichten überbringen konnte.

»Wir haben ihn in Hayes Büro gesehen. Er hatte mehrere Dokumente und Mappen im Arm. Wir vermuten, dass es sich dabei um die Informationen zu den Beschützern handelt.«

»Die Information, die wir brauchen?«, fragte Eira, und Asra nickte. »Und wo ist er hin? Er kann sich ja nicht einfach in Luft aufgelöst haben.« Der Blick meiner Schwester wanderte kurz zu Lýrr, der sich aufmerksam umsah. Hatte er etwas gesehen?

»Na ja, doch. Die Luft um ihn herum hat geflimmert, und dann war er weg.«

»Weg wie verschwunden?« Ihre Worte wollten nicht ganz bei mir ankommen, dabei klangen sie nicht einmal so abwegig. Schließlich sprachen wir hier vom Schatten Illusions, der mit dem Hüter scheinbar gemeinsame Sache machte.

»Das bedeutet also, dass Alba noch immer für Hayes arbeitet.« Asra nickte zögerlich, als würde sie es nicht wahrhaben wollen, und ich konnte es ihr nicht einmal verübeln. Auch ich wollte nicht glauben, dass Alba meinen Vater unterstützte. Dass er eine Rolle in dem perfiden Plan des Hüters spielte. »Und was machen wir jetzt?«

»Ich würde vorschlagen, wir verschwinden von hier und schmieden in der Sicherheit Neroths einen Plan«, mischte sich der Dämon ein. Er wirkte angespannt, schaute immer wieder umher und wippte ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Bei seinem Anblick machte sich ein ungutes Gefühl in meiner Magengegend breit.

»Gute Idee«, meinte Eira und wollte nach Lýrr greifen, der uns bereits die Hände entgegenhielt. Aber bevor ich auch nur den Arm hätte heben können, brach ein gleißender Lichtstrahl durch die Wolkendecke und schlug mehrere Meter vor uns in den Boden ein. Der Nebel wirbelte Staubpartikel durch die Luft und umfasste das Licht, in dessen Mitte eine Person Gestalt annahm.

»Los, versteckt euch«, sagte der Dämon, als wir uns von unserem anfänglichen Schock erholt hatten, und das ließen wir uns nicht zweimal sagen. Wir verschwanden hinter den Trümmern eines einst wunderschönen Gebäudes, während Lýrr und Asra hinter einer Baumreihe Schutz suchten. Mein Blick kreuzte sich mit dem meiner Schwester, die ihre Lippen fest aufeinanderdrückte, um ja keinen Mucks von sich zu geben.

Das Licht verblasste, und dahinter kam eine Frau zum Vorschein. Sie alleine versprühte eine unendliche Helligkeit und Macht, die mich beinahe in die Knie zwang. Die Hälfte ihres Gesichts lag im Schatten, bedeckt von einem violetten Schleier, der mit schimmernden Kristallen versehen war. Auf ihren mit Glitzer bestäubten Lippen lag ein Schmunzeln, das sie in Richtung der Porzellan-Menschen richtete. Ein Lächeln, das mir eine Gänsehaut verlieh. Die Frau trug ein glänzendes lila Kleid aus Seide, das zu den Armen hin durchsichtig wurde. Darunter erschien ihre durchscheinende, violette Haut, die in den Strahlen der Sonne geisterhaft anmutete. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass sie geradewegs aus den Kristallen in Credance erschaffen worden war.

Mein fragender Blick glitt zu Asra, doch lag ihre Aufmerksamkeit auf dem leuchtenden prismenförmigen Kristall auf der Brust der Fremden. Mit anmutender Eleganz bewegte sich die Gestalt auf die gefangenen Menschen zu und blieb unmittelbar vor einer in einem Lachen erstarrten Frau stehen. Sie hob ihre Hand an deren Gesicht, und im nächsten Moment strömte eine funkelnde Energie von dem Kristall durch die Hände der Gestalt und verschwand im Inneren des Porzellan-Gefängnisses. Eine Zeit lang regte sich nichts, aber kurz darauf bröckelte ein Teil des Materials vom Gesicht der Frau und legte ihr linkes Auge frei. Hoffnung breitete sich in mir aus. Vielleicht wollte das Wesen helfen, den Menschen ihre Freiheit zu schenken. Doch schon eine Sekunde später wurde ich eines Besseren belehrt.

Das Auge der Frau öffnete sich und erstrahlte in einem hellen weißen Licht, das sich unter ihre Haut legte, und von dort aus eine Schneise durch ihren gesamten Körper zog. Das Porzellan blätterte von ihr ab, fiel zu Boden und bildete einen Haufen aus Scherben. Die Frau stand nun nackt vor dem violetten Wesen, weißer Glanz überzog ihre Haut und ließ sie von innen heraus erstrahlen. Ein Anblick, der mich das Fürchten lehrte. Die Frau kniete sich zu den Füßen der Gestalt nieder, die ihr die Hand an die Wangen legte. Sie sprach zu ihr, allerdings standen wir zu weit entfernt, um auch nur ein Wort hören zu können. Im nächsten Moment wandte sich die Fremde von der Porzellan-Figur ab und sah geradewegs in die Richtung, in der Eira und ichstanden.

Erschrocken stolperte ich einen Schritt zurück, und auch auf ihrem Gesicht stand der Schock geschrieben. Mein Herz pochte wie wild, und erst als sich die Kreatur von uns abwandte, wich die Anspannung langsam aus meinen Muskeln. Mit großen Schritten bewegte sie sich in Richtung des Schattenhauses und bedeutete der weißen Frau, ihr zu folgen. Ich beobachtete jede ihrer Handlungen mit wachsendem Unmut und wagte es erst, mein Versteck zu verlassen, als die beiden hinter der nächsten Ecke verschwanden.

»Was war das?«, fragte Asra entsetzt und musterte die Stelle, an der zuvor die Porzellan-Figur gestanden hatte. Nur einen Scherbenhaufen hatte sie zurückgelassen, gepaart mit feinem violetten Staub.

»Was es auch war, ich glaube nicht, dass es uns freundlich gesinnt ist«, meinte Eira, und wie in Trance nickte ich.

»Ich habe so etwas noch nie gesehen«, hauchte meine Schwester, und ich sah, wie sie ihre zitternden Hände ineinander verkeilte.

»Wir sollten verschwinden, bevor dieses Wesen zurückkommt«, meinte Lýrr, und dem hatte ich nun wirklich nichts entgegenzusetzen. Mit einem letzten Blick auf die gefangenen Bewohner griff ich nach Eiras Hand und spürte, wie wir durch die Welten teleportiert wurden.

Kapitel 4

Verzweifelte Pläne

Asra

Die Helligkeit kleidete sich in Dunkelheit. Obsidiane Oberflächen paarten sich mit der Farbe des Blutes. Ein roter, von Schatten umgebender Thron offenbarte sich vor unseren Augen, bewacht von etlichen Wachen und zwei schlangenähnlichen Trickstern. Sie zischten lautstark, als wir erschienen und wurden ruhiger, als sie Lýrr erblickten. Auch die Soldaten senkten ihre Waffen, nachdem sie erkannt hatten, wer vor ihnen in Erscheinung trat. Ein kalter Schauer überfiel meinen Körper, als meine Seele zurückkehrte und meine Knochen mit Leben füllte. Es war komisch, aber der Thronraum der Albtraumkönigin erfüllte mich mit Erleichterung, während ich in Vanity zuvor voller Anspannung gewesen war. Seltsam, wie schnell sich die Dinge ändern konnten. Beinahe beängstigend schnell.

Mein Blick wanderte zu meinem Bruder, dessen Augen Furcht versprühten, bevor er sich an die veränderte Umgebung gewöhnte. Ich fragte mich, welche Gedanken ihm durch den Kopf gingen, wenn er den Palast betrachtete. Was war ihm widerfahren in der Zeit, in der ich nicht für ihn da sein konnte? Diese Frage schwirrte mir durch den Kopf, seit ich das erste Mal in seine violetten Augen geblickt und die verfärbten Venen an seinen Armen gesehen hatte. Schon bald würde ich ihm diese Frage stellen, und dann würde ich ihm zuhören, seiner Geschichte lauschen. Ein einfacher Abend mit meinem Bruder. Ein Wunsch, der nur schwer erfüllt werden konnte.

»Kian. Auf ein Wort«, durchbrach Lýrrs Stimme die eingetretene Stille. Ein rothaariger Mann kam aus den Reihen der Wachen auf uns zu geschritten und blieb vor dem Schattenmann stehen. Bevor Lýrr sich an ihn wandte, wanderte sein Blick zu mir. »Ich bin so schnell, wie es mir möglich ist, wieder zurück. Besprecht ihr den Plan.«

»Wohin gehst du?«, hakte ich mit einem Seitenblick auf den Fremden nach.

»Ich werde den Palast nicht verlassen. Mach dir keine Sorgen«, meinte er, was keine Erklärung darstellte, und trotzdem nickte ich. Gemeinsam mit dem mir unbekannten Mann verschwand Lýrr aus dem Thronsaal und ließ mich mit Eira und meinem Bruder alleine.

»Wo geht er hin?« Rowan hatte sich mir von hinten genähert und sah dem Schattenmann skeptisch hinterher. Er vertraute ihm nicht, und ich konnte es ihm noch nicht einmal verübeln. Schließlich hatte er ihn nicht so kennengelernt wie ich.

»Ich weiß es nicht«, gab ich zu und wandte mich von der Tür ab. »Aber wir sollen schon einmal ohne ihn anfangen.«

»Gehen wir an einen privateren Ort. Hier fühle ich mich seltsam beobachtet.« Der Blick meines Bruders wanderte hinüber zu den Kova und Soldaten, die uns aus den Augenwinkeln anstarrten. Ich hatte nichts gegen seinen Vorschlag einzuwenden, und gemeinsam verließen wir den Thronsaal.

Die dunklen Gänge hüllten uns auf dem Weg zum Gemeinschaftsraum ein, wo sich zum Glück keiner befand. Meine Aufmerksamkeit wandte sich geradewegs zur hinteren Tür im Raum, der im Verstand der Königin zum Sternenhimmel geführt hatte. In der Realität befanden sich dort nur ein kleiner Saal und mehrere Balkone mit Aussicht auf den Palastgarten. Ein winziger Stich der Enttäuschung hatte mich erfasste, als ich vor zwei Tagen das erste Mal dort hinein gegangen war.

Unsere Gruppe ließ sich in einer der Sitznischen nieder. Der weiche Stoff des Sofas fiel unter meinem Gewicht zusammen, und meine schmerzenden Gelenke atmeten erleichtert auf. Eira und Rowan setzten sich auf das Sofa neben meinem, und dann kehrte Stille ein. Keiner von uns wagte es, das erste Worte zu sprechen, und nur unser Atem war in der Stille des Raumes zu hören. Eira sah mit starrem Blick auf ihre Hände hinunter, während die violetten Augen meines Bruders auf mir ruhten. Eine unausgesprochene Frage lag in ihnen, die auch in mir rumorte, seit wir Vanity verlassen hatten.

»Wie machen wir jetzt weiter?«, durchbrach schließlich Eira das Schweigen. Sie sah von Rowan zu mir und wieder zurück. Ihre Hände hatte sie in ihrem Schoß vergraben, und auch ich spürte die Unruhe in mir brodeln.

»Habt ihr eine Spur gefunden?« Die Frage war an mich gerichtete, und ich schüttelte den Kopf.

»Wir glauben, die einzige wirkliche Spur ist mit Alba verschwunden.«

»Also ist unser Plan Alba zu finden?«, hakte Rowan nach.

»Er ist der Einzige in Vanity, der nicht erstarrt war, also muss er irgendetwas wissen.« Das Bild von Lucy erschien vor meinem geistigen Auge und wurde sogleich von dem Wesen eingenommen, welches die Frau aus ihrem Gefängnis befreit hatte ... Nur um es in eine willenlose Marionette zu verwandeln.

»Was war das für ein Wesen vorhin?« Meine Frage brachte die beiden aus dem Konzept, und ich sah, wie Rowan mehrfach den Mund öffnete, nur um ihn gleich darauf erneut zu schließen.

»Ich weiß es nicht, aber ich habe die Befürchtung, dass es vom Hüter geschickt worden ist«, meinte Eira, der das Grauen ins Gesicht geschrieben stand. »Es hat die Frau befreit, allerdings sah sie nicht aus, als wäre sie ... sie.«

»Ich weiß, was du meinst. Als wäre sie noch immer in sich selbst gefangen«, ergänzte Rowan, und mich überkam bei dem Gedanken eine Gänsehaut.