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Als Jacob eines Morgens von der Dusche aufgefordert wird, um Mitternacht in den Garten zu kommen, ahnt er, dass nichts mehr normal ist. Denn dort trifft er auf ein geheimnisvolles, tropfnasses Mädchen – und ehe er weiß, wie ihm geschieht, steigt er schon durch ein Mauseloch in die Tiefen der Erde hinab, um die Welt zu retten. Ein Glück, dass seine besten Freunde Taio und Lili ihm beistehen. Pech, dass auch seine nervige kleine Schwester Putte mitkommt. Leider wird es dann ziemlich gefährlich. Für die Welt, aber auch für die vier Kinder, denn die Elementarwesen haben es auf sie abgesehen. Echt unterirdisch! Der erste Band einer magischen Abenteuerreihe im Zeichen der vier Elemente für Kinder ab 9 Jahre - irre witzig erzählt von Anna Herzog, spektakulär illustriert von Mandy Schlundt.
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Seitenzahl: 195
Anna Herzog
Erdmittelpunkt, Betreten auf eigene Gefahr!
5 4 3 2 1
eISBN 978-3-649-64673-0
© 2023 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG,
Hafenweg 30, 48155 Münster
Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise
Text: © 2023 Anna Herzog
Illustrationen: Mandy Schlundt
Lektorat: Frauke Reitze
Satz: Helene Hillebrand
www.coppenrath.de
Die Print-Ausgabe erscheint unter der ISBN 978-3-649-64211-4
Die singende Dusche
Der Mitternachtsbrunnen
Das Erdmännchen
Gefrorene Zeit
Rattenpups und Krakenfurz
Das Café am Rande der Unterwelt
Das Tor
Das Rätsel
Der schwarze Schlund
Gedankenfalter
Der See der Traurigkeit
Das Ungeheuer
Der wispernde Wald
Vartor
Der heimliche Helfer
Fliegen
Die Falle
Das Auge der Unterwelt
Der Lichtvogel
Das Schloss aus Diamant
Der wandernde Tisch
Der Herrscher der Elemente
Ein großer Magier
Schneckenleber und Rattenbraten
Der lange Weg ans Licht
Der letzte Kampf
Das Wasser der Freiheit
Die Nachtigall
An meinem zehnten Geburtstag verstand ich plötzlich die singende Dusche.
Okay, das muss ich erklären, sonst kapiert es mal wieder niemand auf der ganzen Welt. Obwohl: Doch, es gibt bestimmt welche, die das verstehen, und vielleicht gehörst du ja auch dazu … aber das erkläre ich dann später, sonst ist die ganze Spannung weg.
Also: Meine Oma wohnt auf dem Land in einem alten Haus. Seit ich ein kleiner Furz war, bin ich da oft gewesen, am Wochenende, wenn Mama und Papa Dienst hatten, oder in den Ferien, wenn sie auf einem der vielen Ärztekongresse waren, wo man keine Kinder mitnehmen darf. In Rom oder Paris oder New York oder Buenos Aires, immer in so riesigen Städten, auf die ich überhaupt keine Lust hatte.
Vorteil bei meiner Oma: Man kann unheimlich viel machen, ohne dass jemand einem ständig was verbietet. Zweiter Vorteil: Taio wohnt nebenan, das ist mein bester Freund. Dritter Vorteil: Lili wohnt auch nebenan. Aber das ist nur ein zweieinhalbter Vorteil, weil Lili ein Mädchen ist. Obwohl: Inzwischen sehe ich das ein bisschen anders. Aber das wirst du dann verstehen, wenn du das hier zu Ende gelesen hast.
NACHTEIL: Immer, wenn ich bei meiner Oma bin, ist meine kleine Schwester auch da. Meine Schwester hat gleich mehrere Nachteile – sie ist klein, sie ist ein Mädchen, sie singt ständig nervige Lieder wie »Ich bin ein Einhorn« oder »Zu spät zum Gänseblümchenpflücken« und zieht sich immer, wirklich IMMER wie eine Prinzessin an.
Zurück zu dem alten Haus von meiner Oma: Das sieht ein bisschen aus wie ein Hexenhaus. Eigentlich sogar ziemlich. Ich meine, wenn du die kleine Hexe kennst, die mit dem Raben Abraxas und so. Meine Mutter hat meiner Schwester das Buch bestimmt schon zweihundertsiebenunddreißig Mal vorgelesen. So wie das Haus der kleinen Hexe sieht Omas jedenfalls aus.
Die Möbel sind alle mindestens so alt wie Oma selbst. Das Badezimmer auch. Mich stört das ja nicht, aber wenn Mama bei Oma ist, zieht sie Plastikhandschuhe und Badelatschen an und fuchtelt mit Desinfektionsmitteln herum. Mama ist ziemlich etepetete.
Weil das Badezimmer so alt ist, ist die Dusche natürlich auch alt, und deshalb singt sie eben. Dachte ich. DACHTE ich. Bis zu meinem zehnten Geburtstag, dem ersten mit einer Doppelzahl!
Das war auch der erste Geburtstag, an dem meine Eltern nicht dabei waren. Ich glaube, sie waren gerade im Flugzeug nach Abu Dhabi, als ich meine Geburtstagsgeschenke auspackte. Ich bekam ein paar coole Sachen – eine Mondrakete von Lego und einen perfekten, echten Lederfußball mit dem Logo vom FC Bayern München (was sonst!) und … ein Plüschtier. Hallo?
Ich meine, eigentlich hätte ich es da schon merken müssen. Oma und Putte – das ist meine Schwester – wunderten sich auch. Keine von ihnen hatte mir das Plüschtier geschenkt, Oma behauptete sogar, sie wüsste gar nicht, wo das Päckchen auf einmal hergekommen wäre. »Das ist ein Erdmännchen«, sagte sie. Hätte ich auch gewusst – jeder weiß doch wohl, wie ein Erdmännchen aussieht, oder?!
Aber wer hatte das Paket auf den Wohnzimmertisch gelegt, wo meine Geschenke auf mich warteten? Keine Ahnung! (Oma hatte übrigens die Tür abgeschlossen, dabei wäre das gar nicht nötig gewesen. Ich wäre doch nie hineingeschlichen und hätte mir meine Geschenke schon mal angeschaut, echt nicht. Nie!)
Da hätte ich eigentlich schon ahnen können, dass irgendetwas nicht stimmte. Was ich bloß wirklich nicht ahnen konnte, war, dass mit MIR etwas nicht stimmte. Also, bis die singende Dusche mit mir sprach, habe ich nämlich gedacht, ich bin total normal: zehn Jahre alt, das ist ja schon mal normal. Ein Junge – noch normaler (schließlich gibt es auch Leute, die als Tintenfische geboren werden, aber ich eben nicht). Und besser ein Junge als ein Mädchen, die sind nicht so normal, finde ich.
Noch was Normales: Ich spiele Fußball, meistens in der Abwehr. Links. Ich mag Lego und ich fahre gerne Traktor. Das durfte ich bisher aber nur einmal, nämlich bei Taios Vater. Leider hab ich die Bremse nicht sofort gefunden, und deshalb hat Taios Vater gesagt, dass wir das nächste Mal Traktorfahren auf irgendwann später verschieben. ABER es war megacool!
Und außerdem schnitze ich gerne mit meinem Taschenmesser rum. Da ich bei den Pfadfindern bin, ist das auch ziemlich normal. Man KANN sich natürlich aus Versehen dabei einen Finger abschneiden. Das meint Mama jedenfalls, aber die ist ja nicht bei den Pfadfindern, zum Glück.
Taio ist total anders als ich. Keine Ahnung, warum wir befreundet sind. Also, das weiß ich natürlich doch: Taio ist eben meganett und alles macht unheimlich viel Spaß mit ihm. OBWOHL er Bücher liest und Flöte spielt. Flöte, echt! Aber er kann nicht nur Flöte spielen, der kriegt überall Töne raus. Aus einer Colaflasche, aus einem Stück Bambus … Als der Klempner mal bei meiner Oma war, lag da so ein Stück Kupferrohr rum – sogar da konnte Taio drauf spielen.
Aaaaaaber er fährt auch gerne Skateboard. Und er kann unheimlich schnell rennen, Oma sagt immer, er ist »schnell wie der Wind«. Und Taio isst total viel Nutella. Manchmal mopst er sich nachts das Glas aus dem Schrank und isst das Nutella mit dem Löffel. Aber das ist ein Geheimnis, sag es bloß nicht weiter! Oma meint, wir wären so gut befreundet, weil wir so unterschiedlich sind. Gegensätze ziehen sich an. Ist so. (Obwohl: Ich esse auch gerne Nutella!)
Nur, was ist dann mit Lili? Lili klettert gern auf Bäume und auf Mauern, sie hat krasse Muckis in Armen und Beinen. Also einfach überall. Sie hat irre viel Mut. Und megalange Haare, die sind dunkelrot. Oma sagt immer, so eine Haarfarbe hätte sie noch nie gesehen. Lili ist wohl die Einzige auf der Welt, die solche Haare hat. Außerdem trägt sie sie in Dreadlocks, wie ihre Mutter und sogar ihr Vater. Das liegt daran, dass der aus Jamaika kommt, wo ganz viele Leute mit Dreadlocks herumlaufen.
Mit denen haut sie uns immer (also mit den Dreadlocks, nicht mit ihrer Mutter und ihrem Vater). Sie spielt wie ich gern Fußball. Weil sie immer so laut schreit, hat sie eine etwas heisere Stimme. Und sie hat sich schon drei Mal was gebrochen: ein Bein, einen Arm und eine Hand – immer abwechselnd, was die Seite betrifft. Sie weint aber auch gern. Das ist wirklich wie ein Hobby von ihr. Du kannst keinen Film mit Lili sehen, die weint jedes Mal! Und wenn Zombies darin vorkommen oder Dementoren wie bei Harry Potter, dann geht sie aus dem Zimmer. Vielleicht ziehen Lili und ich uns an, weil ich nicht so gerne weine. Das ist dann bei uns der Gegensatz.
Also: Du siehst, wie total normal ich bin. DACHTE ICH, wie ich schon gesagt habe. Aber dann passierte eben die Sache mit meinem Geburtstag, dem Plüsch-Erdmännchen und der Dusche. Und von da an ging es bergab. Wie auf einer Achterbahn.
Anfangs habe ich nicht verstanden, was die Dusche zu mir gesagt hat, ich hatte ja Shampoo in den Ohren. Außerdem rechnet doch wohl keiner damit, dass die auf einmal mit einem spricht, oder?
Ich muss noch erklären, was mit der Dusche normalerweise los ist, wenn sie nicht mit einem redet. Dann macht sie nämlich Geräusche, die klingen wie Musik, je nach dem, wie weit man das Wasser aufdreht. Wenn man den Hahn voll aufdreht, singt sie laut und ganz hell. Aber es ist egal, ob man heiß oder kalt duscht, sie singt immer gleich. Keiner weiß, warum. Papa hat mal was von »Pumpe« gemurmelt.
Als meine Ohren wieder frei waren, habe ich es dann verstanden: »Komm in den Garten um Mitternacht.«
Hat die Dusche gesagt.
Echt.
Sie hat es ständig wiederholt: »Kommindengartenummitternachtkommindengarten …«
Das war schon anstrengend. Schließlich habe ich gefragt: »Warum?«
»Wirst du dann sehen.«
Ich dachte natürlich, ich bilde mir das alles nur ein. Deshalb fand ich es ganz lustig. Erst als ich fertig geduscht hatte und die Dusche plötzlich flüsterte: »Bis heute Nacht dann«, war ich richtig erschrocken. DAS ist jedenfalls nicht normal, dass eine Dusche sich mit dir verabredet. Schon gar nicht, wenn du sie gerade ausgedreht hast!
Ich bin sofort zu Taio nach nebenan gelaufen. Einmal, um mein Geburtstagsgeschenk abzuholen, und dann, um ihm alles zu erzählen. Lili war auch da. Sie hatte auch ein Geburtstagsgeschenk für mich. Aber ich bin natürlich nicht wegen Lili rübergelaufen.
Von Taio habe ich ein Buch gekriegt. Das bekomme ich meistens. Die Bücher von Taio sind cool, nicht so wie die, die wir in der Schule lesen müssen. Das, was er mir zu meinem zehnten Geburtstag geschenkt hat, handelt von einem Zeitreisenden.
Von Lili habe ich ein Taschenmesser gekriegt. Mit einem Holzgriff. Da hat sie selbst »Jacob« reingebrannt, also meinen Namen. Sie hat auch Pralinen für mich gemacht. Aber zwei davon waren mit Mayonnaise und Ketchup gefüllt, das hast du denen von außen nicht angesehen. Das ist eben Lili. Sie hat sich totgelacht über mein Gesicht, als ich die Ketchup-Praline erwischt hab.
Dann habe ich ihnen von der Dusche erzählt. Lili wollte sofort mit in den Garten kommen. Sie ist eine richtige Nachteule, sagt Oma, am liebsten hüpft sie im Dunkeln durch die Gegend, und je gruseliger es ist, desto besser. Angst hat sie echt nur vor Zombies. Ach ja, und vor Spinnen.
Taio hat erst ein bisschen überlegt, aber dann wollte er auch mitkommen, um Mitternacht in den Garten. Das fand ich super. Also, ich habe natürlich immer noch gedacht, ich hätte das mit der Dusche nur geträumt. Hatte ich aber nicht, wie sich herausstellte.
Bloß: Weißt du, wie schwer es ist, nachts aus Omas Haus rauszukommen, wenn Oma doch immer nicht schlafen kann und hört wie ein Fuchs? Ich habe es drei Mal versucht.
Beim ersten Mal: »Jacob, kannst du auch nicht schlafen?«
»Dohoch, ich muss nur mal aufs Klo.«
Beim zweiten Mal: »Jacob, hast du dir eine Blasenentzündung geholt?«
»Neihein, ich hab bloß vergessen, mir die Zähne zu putzen.«
Beim dritten Mal … nee, da habe ich es nicht mehr versucht, da bin ich aus dem Fenster geklettert. Am Haus wächst nämlich ein Blauregen, da kann jeder ganz leicht dran rauf- und runterklettern, das weiß Oma bloß nicht.
Jeder kommt da rauf und runter.
JEDER.
Und das war das Problem. Also später.
Im Garten war es natürlich dunkel, aber das macht mir nichts aus. Vor dunklen Kellern habe ich zwar ein bisschen Angst und nachts auf dem Friedhof, aber draußen finde ich es nicht schlimm. Zum Glück hörte ich dann sofort ein Geräusch und ich bin auch fast gar nicht erschrocken.
Ehrlich.
Das Geräusch kam von Taio. Er und Lili warteten schon vor dem Brunnen. Omas Garten ist nämlich genauso alt wie ihr Haus und mittendrin steht ein Brunnen. So einer wie im Märchen mit glitzerndem, schwarzem Wasser ganz tief unten. Wenn du einen Stein hinunterfallen lässt, dauert es ewig, bis du es platschen hörst.
Oma hat auf den Brunnen aber eine Platte draufmachen lassen, weil Mama gesagt hat, sie fände die Vorstellung nicht so gut, dass ihre Kinder dort hineinfallen. Ich glaube, dann würde es bestimmt auch ewig dauern, bis man einen Platsch hören würde, aber dafür wäre es ein großer Platsch. Natürlich haben wir auch ohne Platte immer aufgepasst – als ob wir in den Brunnen fallen wollten!
Jedenfalls war es gut, dass Taio und Lili da schon warteten. »Und wann kommt deine Dusche jetzt?«, fragte Lili. »Wie kommt die überhaupt aus dem Haus raus, die ist da doch festgemacht, oder?«
ODER?
Einen Moment stellte ich mir vor, wie die Dusche die Treppe runterklapperte und in den Garten hüpfte auf ihrem einen Duschbein. Also dem Schlauch.
War schon gut, dass Lili und Taio da waren.
»Wie spät ist es denn?«, fragte Lili. Das wusste keiner, denn wir hatten alle keine Uhr dabei.
»Als ich losgegangen bin, war es zehn vor Mitternacht«, sagte Taio.
Dann schwiegen wir.
Das war auch ganz gut, denn sonst hätten wir das Klopfen nicht gehört. Es kam von der Holzplatte, also der auf dem Brunnen. Das Problem war: Es kam von unten drunter.
Taio machte einen Schritt rückwärts, aber Lili drehte sich zum Brunnen um. »Könnt ihr mir vielleicht mal helfen?«
»Bist du verrückt? Und wenn da ein Geist drunter ist?«, fragte Taio.
»Geister gibt es nicht«, sagte ich.
»Aber Duschen, die sprechen, oder was?«, fragte Taio. Er sah gechillt aus wie immer, nur an seinem linken Auge zuckte etwas. Und da musste ich zugeben, dass es auch keine Duschen gab, die sprechen, und dass wir bestimmt völlig umsonst im Garten rumstanden, weil ich mir bloß etwas eingebildet hatte.
Allerdings klopfte es im Brunnen. Doch das war das einzig Aufregende.
Jetzt hörten wir auch eine Stimme. »Verschlürfte Wassersuppe! Kann mal jemand die Tür aufmachen?«
So reden Geister nicht, das war uns klar. Trotzdem, Oma hatte uns streng verboten, die Platte herunterzuheben.
»Ja, damit niemand in den Brunnen REINfällt!«, sagte Lili. »Aber was ist, wenn jemand aus dem Brunnen RAUSfällt?«
Da musste ich wieder zugeben, dass Oma davon nichts gesagt hatte. Also hoben wir gemeinsam die Platte runter.
Hätten wir das mal besser bleiben lassen!
Das Mädchen, das jetzt aus dem Brunnen kletterte, sah nicht aus wie ein Geist, sondern ganz normal. Also bis auf die blauen Haare und die vielen kleinen silbernen Ringe in der Nase und den Ohren und sogar in den Augenbrauen und bis auf den grünen, nassen Harry-Potter-Umhang. Aber so ähnlich sieht eine Kusine von mir auch aus.
Bloß nicht so wütend.
»Wer hat denn diese Platte auf den Ausgang gelegt?«, schimpfte das Mädchen. »Was ist das denn für eine Art, Gäste zu empfangen?«
»Hat dich irgendwer eingeladen?«, fragte Taio.
Das Mädchen sah ihn komisch an. »Wer bist du denn?«
Taio wollte wohl doch höflich sein. »Taio«, sagte er und streckte ihr die Hand entgegen.
Das Mädchen schüttelte sich. Von oben bis unten. Dabei versprühte sie ganz viele feine Tröpfchen. Kein Wunder, sie kam ja gerade aus dem Brunnen. Taio wurde jedenfalls nass und zog die Hand beleidigt zurück.
»Bist du eine verwandelte Dusche?«, fragte Lili neugierig.
Jetzt sah das Mädchen noch viel wütender aus. Sie starrte auf Lilis Dreadlocks. »Und du? Ein verwandelter Wischmop?« Das fremde Mädchen kicherte. Dann starrte sie MICH an. »Man sieht es«, murmelte sie. »Jaja, der zehnte Geburtstag …«
»Was … was willst du denn eigentlich von mir?«, stammelte ich.
»Bist du bereit?«, fragte das Mädchen.
»Hä? Bereit? Wozu denn bereit?«
»Für deinen Einsatz natürlich. Für deine Aufgabe.« Sie verdrehte die Augen.
Taio und Lili starrten mich an. Ich starrte zurück. Woher sollte ich denn wissen, was ich für eine Aufgabe hatte? Wo ich schon die Hausaufgaben ständig vergesse! Außerdem wusste ich doch überhaupt nicht, wer die war. Ich war schließlich mit einer Dusche verabredet und nicht mit einem Mädchen. EINEM MÄDCHEN!
»Jacob. Heute ist dein zehnter Geburtstag. Dämmert es dir jetzt endlich?« Sie redete ganz, ganz langsam. Als ob das helfen würde. Und dass heute mein zehnter Geburtstag war und ich Jacob hieß, wusste ich auch schon vorher. »Deine Freunde können natürlich nicht mitkommen.«
»Wohin denn mitkommen? Ich verstehe null!«, schrie ich sie an. Nein, das tat ich natürlich nicht, weil: Oma schlief bestimmt immer noch nicht und hätte das fremde Mädchen sofort aus ihrem Garten geworfen. Oder sie hätte ihm Kakao angeboten, das wusste man bei Oma nie.
Also: Ich schrie nicht, sondern sagte das ganz normal. Da schaute die mit dem Umhang mich seltsam an. »Unter die Erde sollst du natürlich mitkommen. Ich hab dir doch extra ein Erdmännchen geschickt.«
»DU warst das?«
Jetzt warf sie die Arme hoch und schien irgendwie mit der Luft zu sprechen: »Warum hat dem eigentlich keiner Bescheid gesagt! Ausgerechnet jetzt, wo es so dringend ist!« Sie ließ die Hände sinken und sah wieder mich an. »Wo soll ich anfangen?«
»Äh. Am Anfang?«
»So viel Zeit haben wir nicht. Ach, verflixt …« Sie schüttelte den Kopf und murmelte so etwas wie: »Oh großer Oktopus, verwandele den Erdenmenschen …«
»Halt! Was machst du da?«, schrie ich. Also leise, wegen Oma.
»Dich verwandeln. Den Rest können wir danach besprechen.«
»Ich … hallo? Du hast mich gar nicht gefragt, ob ich verwandelt werden will. Und – äh – nein, das will ich NICHT! In was überhaupt?«
»Wenn du was machst, was Jacob nicht will, dann kriegst du es mit mir zu tun«, sagte Taio und fuchtelte dem Mädchen mit den Fäusten vor dem Gesicht herum. Sie wusste ja nicht, dass Taio DAS gar nicht kann: boxen. Lili ist da schon gefährlicher.
Es war dem fremden Mädchen aber sowieso egal. »Er ist zehn«, sagte sie und zuckte mit den Schultern. »Er ist ein Erdling. Und wir müssen los.«
Hallo? Ich meine, hallloooooo?!
»ALLE, die auf der Erde wohnen, sind doch Erdlinge«, stellte Taio ganz vernünftig fest.
»Oh Mann.« Sie verdrehte die Augen. »Nicht, was ihr Menschen so darunter versteht. Ein Erdling, der UNTER der Erde wohnt, natürlich.«
WAAS?! Das Mädchen sah mich an und legte mir die Hand auf die Schulter. Sie fühlte sich eiskalt an. »Vertrau mir mal, okay?« Also, sie guckte zwar nicht direkt so wie die Schlange Kaa im Dschungelbuch, wo ihre Augen zu bunten, sich drehenden Scheiben werden. Aber so ähnlich.
»Was ist denn ein … ein Erdling?«, fragte ich.
»Na, DU natürlich. Und wenn du das hier hinkriegst …«, jetzt schaute sie mich ziemlich streng an und erinnerte mich dabei total an Frau Boss, meine Lehrerin, »… dann wirst du vielleicht ›Kämpfer der Tiefe‹ oder so was. Denk mal, ist das nicht toll?« Sie wedelte mit der Hand. Aus ihren Haaren liefen Wassertropfen Richtung Nase und Ohren. »Na ja, und wenn du ein bisschen Pech hast, wirst du eben ein Erdgeist. Ist aber auch megacool, glaub mir.«
Ich starrte sie an. Erdgeist? Klang gar nicht gut. Schließlich sind Geister tot. War mir echt zu früh. Und was meinte sie mit »ein bisschen Pech«?
»Nee, danke«, sagte ich. Aber dann machte ich einen Fehler. »Höchstens, wenn meine Freunde mitkommen.«
»Das geht nicht.« Das Mädchen funkelte mit den Augen.
»Dann geh ich auch nicht.« Ich verschränkte die Arme vor der Brust.
Das Mädchen starrte mich wütend an. Schließlich seufzte sie. »Sie KÖNNTEN natürlich mitkommen, aber nicht als Erdlinge, sondern als … Besucher.«
»Oder als Bewacher«, sagte Taio und hob schon wieder die Fäuste.
Das Mädchen klickte irgendwie mit der Zunge und plötzlich stand Taio völlig steif da und bewegte sich nicht mehr.
»Was machst du da?«, zischte ich. »Bist du eigentlich irre?« Langsam wurde ich panisch.
»Ich knips ihn kurz aus. Damit er nicht merkt, wie ich ihn vorbereite. Willst du auch mit?«, wandte sie sich an Lili.
»Klar! Also, wenn es spannend wird. Sonst nicht.«
»Leider ja, ja, das wird es«, gab das Mädchen zurück. »Aber ich werde euch beschützen. Es sei denn …« Dann murmelte sie etwas, das wirklich niemand verstand. Ich auch nicht. »Also los«, endete sie und klickte noch mal mit der Zunge. Taio blinzelte und schüttelte sich.
»Oma wird mich überall suchen«, sagte ich als letzten Versuch. »Bestimmt schaltet sie sogar die Polizei ein, wenn ich verschwunden bin.«
»Daran habe ich gar nicht gedacht.« Das Mädchen tippte sich an die Lippe. »Kein Problem! Ich knips hier einfach alles aus. Der Zeit macht das nichts aus, mal ein bisschen auszuruhen. So lang, dass es gefährlich wird, wird es schon nicht dauern, denke ich. Oder … äh … hoffe ich.«
Sie blickte auf ein Wühlmausloch im Rasen (das Oma übersehen hatte) und murmelte etwas. Und weil wir sie anstarrten, begriffen wir erst gar nicht, was passierte. Nur etwas schwindlig war mir, und deshalb guckte ich zur Abwechslung mal zum Himmel hoch, von wo der Vollmond auf uns runterschien. Aber plötzlich stand ich im Schatten und Lili sagte: »Hä? Wo kommt denn der Berg her?«
Ich schaute mich um – und dann wurde mir noch viel schwindliger. Denn vor uns ragte auf einmal eine riesige Mauer auf, die mir irgendwie bekannt vorkam, und Taio sagte: »Interessant, wie schnell so ein Brunnen wachsen kann.«
Doch erst als ich das Mauseloch sah, das plötzlich so groß wie der Eingang von einem Hobbithaus war, habe ich drei Dinge begriffen:
Wir waren jetzt so groß wie Wühlmäuse.
Daran war dieses Mädchen schuld.
Dieses Mädchen war absolut nicht normal. Null!
»Los geht’s«, sagte das Mädchen und klopfte an. An welche Tür, fragt ihr euch … wusstet ihr, dass Wühlmauslöcher Türen haben? Etwas tiefer drin im Gang? Jetzt wisst ihr es!
Während das Mädchen an die Wühlmaustür klopfte, schaute ich mich noch mal um. Weil: Es war ja schön, dass Taio und Lili mitkommen wollten, nur … Ich dachte, vielleicht gibt es DOCH noch einen Fluchtweg.
Gab es nicht.
Aber genau jetzt passierte das mit dem Problem, von dem ich am Anfang erzählt habe. Hinter mir im Garten war alles gefroren, also zeitgefroren. Nix bewegte sich mehr. Außer … Putte. Meine pupskleine Schwester. Die stand da und grinste mich an. Wie kam die denn da hin?
Bis gerade war alles schon schwierig genug gewesen, aber in dem Moment wusste ich genau: Das war jetzt ’ne Nummer zu groß.
»He, he!« Ich stupste das völlig unnormale Mädchen mit dem Umhang an.
»Was willst du?« Sie starrte auf die Tür.
»Putte ist da.«
»Wer ist Putte?« Das Mädchen wirbelte herum. Sie sah schon wieder wütend aus.
Ich zeigte stumm auf … Putte eben. Die grinste immer noch. Sie hat gerade keine Vorderzähne und ihre Zunge kommt immer in der Mitte so ein bisschen heraus. Das sieht aus, als wollte sie einem die Zunge rausstrecken. Sie stand da in ihrem Prinzessinnen-Schlafanzug, ihren Prinzessinnen-Hausschuhen und mit mindestens tausend Spangen in den Haaren und glitzerte wie ein ganzer Sternenhimmel. Bloß in Pink.
»Wo kommst du denn her?«, fauchte das Mädchen Putte an.
»Von da drinnen.« Putte drehte sich um und zeigte auf Omas Haus.
»Hast du dich angeschlichen?«, fragte Lili erstaunt. Sie mag Putte gern, vielleicht, weil sie selber keine Geschwister hat.
Putte steckte den Finger in den Mund und nickte.
»Und warum bist du so klein wie wir?«, fragte das Mädchen stirnrunzelnd.
Putte zuckte mit den Schultern. »Das ist einfach so passiert«, sagte sie.
»Kannst du sie wieder groß machen?«, fragte ich das Umhang-Mädchen. »Damit sie ganz schnell zurück ins Bett gehen kann?« Ich funkelte Putte böse an. Immer taucht sie dann auf, wenn man sie am wenigsten gebrauchen kann!
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Wenn man die Zeit