Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
1606: Durch eine Seuche zur Waise geworden, gelangt die 17-jährige Emilia in die Dienste der Gräfin Elisabeth Bathory, der mächtigsten Frau Ungarns. Emilia ist glücklich über die Möglichkeit ihrer Berufung zur Gewandschneiderin folgen zu können, doch schon bald überschatten Todesfälle und Misshandlungen das Leben am Hof. Obwohl Emilia in der Gunst der Gräfin steht, die ihre Fähigkeiten schätzt und ihr vertraut, erkennt sie eine dunkle Seite an ihrer neuen Dienstherrin. Als sie sich in Istvan verliebt, der ebenfalls schicksalshaft mit Elisabeth verbunden ist, spitzen sich die Ereignisse dramatisch zu und Emilia gerät in einen lebensgefährlichen Strudel aus seelischen Abgründen und politischen Ränkespielen.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 662
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Kurzbeschreibung:
1606: Durch eine Seuche zur Waise geworden, gelangt die 17-jährige Emilia in die Dienste der Gräfin Elisabeth Bathory, der mächtigsten Frau Ungarns. Emilia ist glücklich über die Möglichkeit ihrer Berufung zur Gewandschneiderin folgen zu können, doch schon bald überschatten Todesfälle und Misshandlungen das Leben am Hof. Obwohl Emilia in der Gunst der Gräfin steht, die ihre Fähigkeiten schätzt und ihr vertraut, erkennt sie eine dunkle Seite an ihrer neuen Dienstherrin. Als sie sich in Istvan verliebt, der ebenfalls schicksalshaft mit Elisabeth verbunden ist, spitzen sich die Ereignisse dramatisch zu und Emilia gerät in einen lebensgefährlichen Strudel aus seelischen Abgründen und politischen Ränkespielen.
Tereza Vanek
Im Dienst der Gräfin
Historischer Roman
Edel Elements
Edel Elements
Ein Verlag der Edel Germany GmbH
© 2019 Edel Germany GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg
www.edel.com
Copyright © 2019 by Tereza Vanek
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Kossack
Covergestaltung: Anke Koopmann, Designomicon, München
Korrektorat: Judith Bingel
Konvertierung: Datagrafix
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.
ISBN: 978-3-96215-347-2
www.instagram.com
www.facebook.com
www.edelelements.de
Prolog
1. Buch
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
2. Buch
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
Epilog
Erzsébet Báthory: Mythos und Wahrheit
Personenliste
Wien 1604
„Vorgänge so ungeheuerlich, dass sie jeder Beschreibung entbehren!“, wetterte die Stimme des Mannes von der Kanzel herab. „Wider die Gesetze Gottes, die menschliche Natur, die Ordnung der Welt! Ein Weib so verderbt, dass es nur ein Geschöpf Satans sein kann, treibt ungehindert sein Unwesen, geschützt durch seine hohe Geburt und seine einflussreiche Verwandtschaft. Ich bitte euch, rechtschaffene Bürger dieser Stadt, betet für die armen Seelen eurer Schwestern, die den widerwärtigen Gelüsten dieser Frau ausgeliefert sind! Auf dass der Kaiser in seiner Macht und Weisheit, die Gott der Herr ihm geschenkt hat, diese Kreatur des Teufels in ihre Schranken weist!“
„In seiner Macht und Weisheit“, murmelte ein alter Mann ganz hinten in der kleinen Kapelle spöttisch, „hat der Kaiser in seinen Ländereien die lutherische Konfession verboten, sodass wir uns nun heimlich treffen müssen. Wer ist denn dieser Kerl, der uns da drängt, den Kaiser um irgendwas anzuflehen?“
„István Magyari, ein ungarischer Kirchengelehrter“, belehrte ihn seine Tochter. „Er ist nach Wien gekommen, um sein Anliegen dem Kaiser vorzutragen.“
„Als ob der Kaiser auf einen Protestanten hören würde!“, meldete sich nun ein weiterer Mann zu Wort, der, allmählich ermüdet von der langen Predigt, lieber dem Gespräch seiner Nachbarn gelauscht hatte. Um seine Aussage zu bekräftigen, spuckte er in hohem Bogen Kautabak aus. Ein weiterer Zuhörer, davon getroffen, drehte sich empört um, konnte den Übeltäter aber in der Menge nicht entdecken.
„Dieser Magy-Irgendwas wäre besser in seiner Heimat geblieben, wo unsereiner sich nicht verstecken muss“, sagte der Alte zu seiner Tochter. „Egal, wie viele Teufelsweiber sich da herumtreiben, schlimmer als die katholischen Pfaffen, die uns jagen, können sie nicht sein. Was soll diese Hexe eigentlich angestellt haben, dass er deshalb bis nach Wien fahren muss, anstatt den Fall der ungarischen Obrigkeit zu übergeben?“
„Also wenn du von Anfang an richtig zugehört hättest“, wurde er sogleich von dem streng dreinblickenden Mädchen ermahnt, „dann wüsstest du, dass diese Frau zum ungarischen Hochadel gehört.“
Der Tabakspucker hatte sich so unauffällig wie möglich dem Mädchen genähert, denn es gefiel ihm trotz seiner altklugen Art.
„Dann kann er sich die ganze Mühe sparen“, erzählte er Vater und Tochter, um endlich mit ihnen ins Gespräch zu kommen. „Die Mächtigen und Reichen stecken doch alle unter einer Decke, außer sie beschließen plötzlich, sich zu bekriegen. Ich finde, dieses Gezeter wird langsam ermüdend. Wollen wir in eine Weinschenke gehen?“
Das Angebot war recht dreist gewesen, doch der Vater des Mädchens nickte mit leuchtenden Augen.
„Lass uns gehen, Tochter. Der Prediger verrät ja nicht einmal, was dieses Teufelsweib angestellt hat, und wiederholt sich ständig!“
Das Mädchen zog eine enttäuschte Miene.
„Ich würde wenigstens gern ihren Namen wissen. Den hat er noch gar nicht genannt.“
„Das wird er auch nicht“, erklärte ihr der Tabakspucker. „Dazu ist er zu vorsichtig. Es gibt hier nichts Neues mehr zu erfahren, aber ich kenne eine Schenke, wo der Lammbraten es mit den Speisen an fürstlichen Tafeln aufnehmen kann. Und eine so schöne Maid bekommt dazu sicher einen Krug Wein umsonst.“
Er lächelte das Mädchen an und beobachtete zufrieden, wie die weichen Wangen sich rosig färbten. Die Kleine hatte in ihrem Leben wohl noch nicht allzu viele Komplimente bekommen.
„Nun gut, wenn es der Wunsch meines Vaters ist“, gab sie auch schon nach. Der Tabakspucker legte seine Hand auf ihren Ellbogen, um sie aus der Kapelle zu führen. Der Vater folgte ihnen auf dem Fuße.
István Magyari sah von seiner Kanzel aus, wie die ersten seiner Zuhörer sich entfernten, und für einen Augenblick versagte ihm die Stimme, da er von der langen Rede bereits heiser zu werden begann. Wie aussichtslos schien doch der Kampf, auf den er sich eingelassen hatte! Wie gering die Aussichten, eine Angehörige des mächtigsten ungarischen Adelsgeschlechts zu zwingen, sich an Gottes Gebote zu halten! Aber er hatte in die Abgründe der Seele dieses Weibes blicken können und würde nicht aufgeben, die Welt vor ihnen zu warnen, solange Gott der Herr ihm die Kraft dazu gab.
„Gib es mir, ich kann das flicken!“, rief Emilia hoffnungsvoll, als sie sah, wie Tante Irmgard eine schon mehrfach zerrissene Bluse den Flammen des Herdfeuers überlassen wollte. Als der verärgerte Blick ihrer Tante sie streifte, machte sie sich etwas kleiner, denn sobald die Hausherrin genug Gewürzwein getrunken hatte, warf sie gerne mal mit schwereren Gegenständen als Kleidungsstücken um sich.
„Na, meinetwegen kümmere dich drum. Vielleicht taugst du wenigstens dazu!“, knurrte Tante Irmgard nach einem kurzen Moment des Nachdenkens, und die zerstörte Bluse landete auf Emilias Kopf. Es war nur Stoff, der nicht wehtat. Emilia legte erfreut die Schüssel mit den Bohnen beiseite, die sie zu putzen und zu schälen hatte. Die Magd konnte das ebenso gut erledigen, wenn sie endlich vom Markt zurückkam, und ihre Tante hatte ihr diese Aufgabe nur zugeteilt, weil sie es stets hasste, wenn Emilia eine Weile untätig herumsaß. Gierig griff sie nach dem Stoff. Es war grobes, dickes, uneben gewebtes Tuch, aber geschickt verarbeitet. Tante Irmgard hatte das Kleidungsstück von einer der reichen Damen, deren Messer Onkel Hayo regelmäßig schliff, als milde Gabe erhalten, nachdem die letzte Arbeit nicht rechtzeitig bezahlt worden war. An vielen Stellen war der Stoff aufgerieben, da Tante Irmgard ständig irgendwo anstieß, doch ließ sich der Makel noch mit robustem Garn beheben. Ansonsten waren die weit ausladenden Ärmel geschickt an der Schulter gerafft, sodass sie weit fielen und an den Handgelenken wieder zusammenwuchsen. Hier wiesen die schmalen, akkuraten Stiche auf einen Meister seines Handwerks hin. Es wäre allzu schade gewesen, dieses Kleidungsstück vom Feuer auffressen zu lassen.
Emilia zog schnell die Nadel aus ihrem Beutel. Sie besaß nur noch braunes Garn, aber die sicher einst weiße Bluse hatte im Laufe der Zeit einen tiefen Gelbstich bekommen, sodass die Farbmischung weniger auffallen würde. Das Gefühl, endlich wieder die Nadel durch Stoff gleiten lassen zu können, war fast berauschend. In ein paar Stunden hätte sie aus der Bluse wieder ein vorzeigbares Kleidungsstück gemacht! Vielleicht würde die Familie ihres Onkels dann endlich erkennen, worin die wahre Begabung des widerwillig aufgenommenen Waisenkindes lag, und aufhören, sie Töpfe scheuern und Bohnen putzen zu lassen, bis ihre Hände rissig waren.
Das Licht der Talgkerze war schwach, sodass Emilia sich tief über ihre Arbeit beugen musste. Schmerzhafte Sehnsucht schnürte ihre Kehle zusammen, als sie an die Tage in der Werkstatt ihres Vaters dachte, wo weit geöffnete Fenster und zahlreiche Wachskerzen all seinen Lehrlingen und auch ihr die Arbeit erleichtert hatten. Damals hatte es Garn in fast allen Farben von Gottes Schöpfung gegeben, Nadeln verschiedener Größe, stets frisch gewetzte Scheren zum Zuschneiden der Stoffe, die so kostbar und fein gewesen waren, dass Emilia zunächst Angst gehabt hatte, sie könnten durch eine einzige, unvorsichtige Berührung Schaden nehmen.
Es war, wie es war, sagte sie sich. Sie lebte noch, als Einzige ihrer Familie, hatte ein Dach über dem Kopf und regelmäßiges Essen auf dem Tisch. Wenn sie ihre Verwandten nur von ihren Fähigkeiten überzeugen konnte und mehr Näharbeiten bekam, würde sich ihr Talent in Augsburg herumsprechen. Vielleicht bekäme sie sogar eine Anstellung bei einem Schneidermeister, konnte seinen Sohn heiraten und sich so ihren Traum von einer eigenen Werkstatt erfüllen. Einen Weg musste es geben, denn es schien ihr unglaubwürdig, dass Gott der Herr ihr die Liebe zum Umgang mit Stoffen geschenkt hatte, nur damit sie für den Rest ihres irdischen Lebens vor Sehnsucht danach verging.
Grete, die Dienstmagd, kam hereingetänzelt, als es bereits zu dämmern begann. Auf ihren Wangen lag ein sehr tiefer rötlicher Ton, ihre Augen glänzten, als litte sie an Fieber. Achtlos warf sie den halb vollen Korb in eine Zimmerecke und hockte sich auf einen Stuhl neben die bereits schnarchende Hausherrin.
„Bist du mit den Bohnen fertig?“, fragte sie Emilia, die nur kurz aufgeblickt hatte.
„Nein. Ich erledige eine Näharbeit. Du wirst dich um das Abendessen kümmern müssen.“
Emilia war stolz, wie entschieden sie geklungen hatte. Ihr Vater hätte es niemals geduldet, dass eine Magd sich den ganzen Nachmittag auf dem Markt herumtrieb und dann faul herumhockte.
„Das hat doch wirklich bis morgen Zeit“, erwiderte Grete, die mit einer gelassenen Handbewegung ihr Gähnen verbarg. „Hayo hat auf dem Markt einen Verwandten getroffen, diesen Hausierer, und ihn zum Essen eingeladen. Also sollte auch etwas auf dem Tisch stehen, wenn die zwei hier eintreffen.“
„Ja, das sollte es wohl“, sagte Emilia und nähte beharrlich weiter. Sie kam nicht gegen das Gefühl an, dass sie diesen Kampf unbedingt gewinnen musste.
„Na gut.“ Grete war mit einem weiteren Gähnen aufgestanden. „Du putzt die Bohnen, ich brate Würste, und die Dame des Hauses schläft weiter ihren Rausch aus.“
Gretes breites, schelmisches Grinsen versöhnte Emilia mit ihrer Trägheit, und sie legte die Näharbeit schweren Herzens beiseite. Ihr Magen knurrte bereits, und wenn sie sich auf Tante Irmgard verließ, würde sie hungrig zu Bett gehen müssen. Seufzend ging sie zu dem kleinen Tisch dicht neben dem Herd und machte sich wieder an den Bohnen zu schaffen. Grete holte bedächtig ein paar Würste aus der Vorratskammer und steckte sie auf einen Spieß, den sie über dem Herdfeuer zu drehen begann. Diese Art von Tätigkeit gefiel ihr, da sie einfach war, nicht sonderlich anstrengend, und ihr genug Gelegenheit zum Plaudern ließ.
„Dieser Kurt, der Hausierer, hat diesmal ein paar sehr schöne Kleider dabei“, erzählte sie, während Emilia die nun geputzten Bohnen in eine Tonschüssel mit Wasser füllte und eine Prise Salz hinzugab. Wenn sie sich schon die Mühe mit dem Kochen machte, sollte es auch einigermaßen schmecken! Gleichzeitig aber weckten Gretes Worte ihre Aufmerksamkeit.
„Was für Kleider? Und woher hat er sie?“
Bisher hatte Kurt nur Lumpen mitgebracht, deren unangenehmer Geruch in ihr Widerwillen geweckt hatte, sie überhaupt anzufassen. Ihre Gedanken wanderten zu ihrer letzten Näharbeit zurück. Vielleicht konnte sie mit dem braunen Garn ein Muster auf die Bluse sticken, in das die geflickten Stellen sich derart einfügten, dass sie kaum noch als solche zu erkennen wären. Leider wäre es nachts zu dunkel für diese Aufgabe. Sie würde sich bis zum nächsten Morgen gedulden müssen.
„Irgendwo muss er einer Edelfrau in Not ihre Roben abgekauft haben“, plauderte Grete weiter. Sie hatte sich auf den Tisch neben Emilias Schüssel gesetzt und ließ ihre Beine baumeln.
„Wahrscheinlich sind sie Diebesgut, was soll’s! Er meint, dass er nun endlich ein gutes Geschäft machen kann, aber so dumm, wie der sich immer anstellt, habe ich meine Zweifel. Vielleicht gibt er mir ja ein Gewand ab, wenn ich nett zu ihm bin …“
Sie lächelte verträumt. Emilias Bewegungen waren schneller und fahriger geworden. Als sie die Schüssel an einem Haken über dem Herd befestigte, um die Bohnen aufkochen zu lassen, verschüttete sie etwas Wasser, und ein beißendes Zischen erklang. Wie lange war es her, dass sie edle, kunstvoll verarbeitete Stoffe in den Händen gehalten hatte, die zähe, zarte Glätte von Seide spüren konnte, weichen Samt, gestärkte Spitze, harten, glänzenden Taft? Sie durfte nicht zu viel erwarten, mahnte sie sich, denn wirklich edle Gewänder gerieten selten in die Hände eines gewöhnlichen Hausierers, aber auf einmal sah sie Kurts Ankunft mit Ungeduld entgegen.
„Gibt es noch etwas Speck im Haus? Ich könnte damit die Bohnen anbraten“, schlug sie vor. Mit einer leckeren Mahlzeit im Magen wäre der Hausierer vielleicht auch ihr wohlgesonnen, denn auf Gretes Art wollte sie sich nicht gefällig zeigen müssen. Grete zuckte gelangweilt mit den Schultern.
„Speck haben wir keinen mehr. Aber ich habe einen Brotfladen vom Markt mitgebracht. Zusammen mit deinen Bohnen und den Würsten muss es reichen. Bier haben wir jedenfalls genug, damit die Herrschaften zufrieden sind.“
Sie kicherte, und Emilia glitt wieder in einen Sog von Erinnerungen. Ihre Mutter hatte es stets verstanden, aus einfachen Zutaten leckere Mahlzeiten zu zaubern, jeden Sonntag hatte es frisches Fleisch gegeben und wohlschmeckenden Wein statt des billigen Biers, das Onkel Hayo bevorzugte. Saubere, hübsch bestickte Decken, Teller aus Ton und blank poliertes Besteck hatten stets den Tisch geziert, an dem die Familie ihre Mahlzeiten einnahm. Tante Irmgard hatte zwar das meiste davon mitgenommen, doch war es inzwischen entweder zerbrochen oder zu schlechten Zeiten gegen Nahrungsmittel eingetauscht worden. Nur ihr Nähzeug hatte Emilia bewahren können, da sie es meist versteckt hielt und zudem niemand hier etwas damit hätte anfangen können. Tante Irmgard und Onkel Hayo störten sich nicht an Rissen, wenn es zu viele wurden, warfen sie das Kleidungsstück einfach fort.
Die Tür knarrte, und Tante Irmgard fuhr auf. Völlig gelassen erhob sie sich aus dem Sessel, in dem sie eingeschlafen war, rieb sich die Augen und ging den Gästen entgegen.
„Schau her, wer da ist, mein Schatz!“, rief Onkel Hayo und schloss seine Frau in die Arme. Emilia überkam ein kurzer, ungewohnter Moment der Rührung. Juliane Maibacher, die Nachbarin, wurde von ihrem Mann regelmäßig verprügelt, weil sie keinen ordentlichen Haushalt zu führen vermochte, doch Tante Irmgard konnte schlampig sein und sich schon tagsüber betrinken, wie sie wollte, für ihren Gemahl blieb sie ein anbetungswürdiges Geschöpf. Es mangelte in diesem Haus zwar an Ordnung und Wohlstand, doch nicht an Zuneigung. Nur beschränkten die Eheleute sich darin gänzlich aufeinander, alle anderen waren ausgeschlossen, wie Emilia jeden Tag deutlich zu spüren bekam.
„Der Kurt ist wieder da!“, verkündete Hayo und schob Irmgards Neffen durch die Tür. Der Hausierer war ein Mann von etwa dreißig Jahren, dunkelhaarig, hager und mit einem scharf geschnittenen Profil. Wäre er etwas sauberer gewesen, hätte Emilia ihn vielleicht als gut aussehend eingeschätzt, doch die abgewetzte Lederhose und sein mit Dreck verschmiertes Hemd missfielen ihr, ebenso wie das zu einem Pferdeschwanz gebundene, fettig glänzende Haar.
„Wie schön, dich wiederzusehen, Junge!“, rief Tante Irmgard und drückte den Neuankömmling an ihren weichen, ausladenden Busen. „Du bist sicher hungrig. Wir haben schon etwas zu essen gemacht.“
Stolz deutete sie auf das von Grete und Emilia zubereitete bescheidene Mahl. Der Sessel wurde dem Gast überlassen, Irmgard und Hayo beschieden sich mit den einzigen zwei Holzstühlen im Haus, und für Emilia blieb nur ein wackeliger Schemel. Grete trug das Essen auf, setzte sich dann unaufgefordert auf einen umgedrehten Eimer und griff eifrig zu, um nicht leer auszugehen.
„Na, erzähl schon, Junge, wo bist du überall herumgekommen?“, fragte die Tante, während sie an ihrer Wurst kaute.
„Ach, überall und nirgendwo“, begann der Hausierer und brachte mit einer ausladenden Handbewegung fast den Bierkrug zum Umfallen. „Ich war in Schweden bei den Lutheranern, dann geriet ich im Osten an die Grenzen, wo die Türken wüten. Einmal musste ich mich im Wald vor einer Horde Ungläubiger verstecken, die die Leute aus einem kleinen Dorf in die Sklaverei verschleppten! Zwei Tage irrte ich dann mit knurrendem Magen durchs Schneegestöber, bis endlich in der Ferne der Turm einer kleinen Kirche auftauchte, wo ich Unterschlupf fand, und ein hübsches Mädchen, das dort betete, rettete mich vor dem Verhungern.“
Er nahm einen tiefen Schluck Bier und lehnte sich in den Sessel, während er sich mit dem Handrücken den Mund abwischte.
„Du warst vor etwa zwei Monaten das letzte Mal hier“, mischte Emilia sich nun ins Gespräch. „Da war noch Frühling. Wie konntest du also ins Schneetreiben geraten, wenn doch noch gar kein Schnee gefallen ist?“
Sie bedachte Kurt mit einem harten, geraden Blick.
„Im Norden, da schneit es immer“, antwortete er völlig gelassen.
„Aber du hast vom Osten erzählt, dort, wo die Türken wüten.“
Emilia spürte, wie Tante Irmgards Blick sie wütend streifte, gab aber nicht nach, obwohl es vernünftiger gewesen wäre.
„Der Nordosten eben!“, sagte Karl lachend. „Ein Mädchen, das noch nie aus Augsburg herausgekommen ist, hat von der Welt doch keine Ahnung!“
Tante Irmgard brach in schallendes Lachen aus. In Emilias Ohren klang es boshaft, und sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen schossen.
„Ich habe gehört, der junge Herr hat unterwegs einer Edelfrau ihre Gewänder abgekauft“, mischte sich nun plötzlich Grete ins Gespräch, und Emilia war ihr dankbar dafür.
„Ja, so ist es“, sagte Kurt, und Gretes Lächeln streichelte ihn sanft, sodass er gleich fortfuhr: „Ich denke, mit diesen Sachen kann ich gutes Geld verdienen und mir einen neuen Karren leisten, denn der alte macht es nicht mehr lange.“
Die Frage, wie er denn seinen Karren vor den Türken gerettet hatte, lag Emilia auf der Zunge, aber sie zwang sich zu schweigen, denn im Augenblick gab es wichtigere Angelegenheiten.
„Würdest du uns diese Gewänder zeigen? Oder hast du sie irgendwo verborgen, wo sie erst einmal unauffindbar sind?“, forderte sie Kurt erneut heraus. Er zögerte keinen Augenblick, stand auf und schleppte einen großen Sack herein, den er mitten im Raum ausschüttete.
Emilia schnappte nach Luft. Da war es tatsächlich, wonach sie sich so lange gesehnt hatte: Spitze, Taft, Samt und Seide in schillernden Farben, doch ging ein modriger Geruch von diesem Stoffhaufen aus, und als Kurt eine Kerze darauf richtete, erkannte sie zahlreiche Flecken. Gretes Hände hatten sogleich zu wühlen begonnen, und mit einem Laut der Begeisterung zog die Magd ein hellgrünes Seidenkleid hervor.
„Das ist wunderschön, und es würde mir sicher passen!“, rief sie, während sie es an ihren Körper hielt. „Leider ist der Kragen zerrissen, ich bräuchte einen Ersatz.“
Sie warf Kurt einen schmachtenden Blick unter halb geschlossenen Lidern zu. Emilia, die ihr Verhalten peinlich fand, nahm das Kleid schnell an sich. Es war tatsächlich eine wunderschöne Arbeit mit geraden Nähten und einem ordentlichen Saum. Der Anblick des zerfetzten Kragens versetzte ihr einen Stich, doch sah sie mitten im Kleiderhaufen eine weiße, unversehrte Halskrause aufleuchten.
„Man sollte den Kragen durch die Krause ersetzen“, sagte sie sogleich und zog das Fundstück hoch. Dann wühlte sie aufgeregt weiter, fand ein Wams aus Samt, das ein paar Löcher aufwies, die sich aber mühelos flicken ließen, zwei Paar ausgetretener Samtschuhe, die dringend gebürstet werden mussten, und einen schlichten Rock aus braunem Tuch.
„Dieser Rock könnte zu deiner Bluse passen, die ich neu herrichten wollte“, teilte sie Tante Irmgard unaufgefordert mit. „Ich könnte ihn mit einem ähnlichen Muster besticken, damit er etwas hübscher aussieht.“
Die Ideen drehten sich in ihrem Kopf und nahmen all ihre Aufmerksamkeit in Anspruch, sodass ihr Kurts durchdringender Blick erst nach einer Weile auffiel, ebenso wie Tante Irmgards wütendes Schnauben.
„Es tut mir sehr leid, aber dieses Mädchen muss sich ständig wichtigmachen. Sie hält sich für etwas Besseres, seit sie hier hereinspaziert ist“, sagte die Tante an den Hausierer gewandt. Emilia schnappte nach Luft und wollte widersprechen, aber Selbsterkenntnis lähmte ihre Zunge. Ja, sie hielt sich für besser, weil sie von klein auf gelernt hatte, sorgfältig zu arbeiten und stets nach einer Verbesserung ihrer Leistung zu streben. Irmgard und Hayo lebten in den Tag hinein, genossen es, sich allabendlich gemeinsam zu betrinken, und waren zufrieden, wenn sie irgendwie ihren Magen füllen und das Haus behalten konnten. Vielleicht wäre es anders gewesen, wenn Gott der Herr ihnen Nachkommen geschenkt hätte. Emilia ahnte, dass sie den beiden wohlgesonnener wäre, hätten sie sie wie eine Tochter angenommen, doch war sie gerade für Irmgard stets nur ein widerwillig geduldeter Eindringling gewesen.
„Ich wollte lediglich ein paar Vorschläge machen, wie ich Kurt zu einem besseren Geschäft verhelfen könnte“, widersprach sie nun. Tante Irmgard sog zischend Luft ein, aber der Hausierer legte ihr eine Hand auf die Schulter, um sie zu beruhigen.
„Die Kleine hat völlig recht, Tantchen“, sagte er. „Die Sachen müssen geschrubbt und geflickt werden, bevor ich sie verkaufen kann.“
Sein Blick glitt an Emilias Körper entlang, als wolle er ihn ausmessen und sein Gewicht einschätzen.
„Wie alt ist das Mädel jetzt eigentlich? Sie sieht mir schon fast erwachsen aus“, fragte er seine Tante.
„Ich bin vor zwei Wochen siebzehn geworden“, erwiderte Emilia, um ihn daran zu erinnern, dass sie durchaus für sich selbst sprechen konnte. Kurt rieb sich seine Hände an der Lederhose und grinste breit, wodurch seine schief sitzenden Schneidezähne sichtbar wurden.
„Langsam wird es Zeit für einen Bräutigam.“
Etwas an dem neckischen, schmeichelnden Unterton trieb Emilia das Blut in die Wangen, und sie hatte Lust, Kurt allein deshalb die Augen auszukratzen.
„Ach was, wer wird die schon nehmen?“, seufzte Tante Irmgard. „Kein Gulden Mitgift, aber so hochnäsig wie eine Fürstentochter.“
Emilia fuhr herum. Die kostbaren, eben noch bewunderten Stoffe entglitten ihren Händen, und sie ließ sie achtlos zu Boden fallen.
„Wenn ihr nicht die Werkstatt meines Vaters gleich nach seinem Tod verkauft und das Geld versoffen hättet, dann hätte ich sehr wohl eine Mitgift, und zwar keine schlechte!“, schrie sie ihrer Tante ins Gesicht und spürte zu ihrem Entsetzen, wie ihr die Tränen über die Wangen rannen. Tante Irmgards Augen wurden so riesig, dass es schien, sie könnten jeden Augenblick ihr ganzes Gesicht verdrängen. Die sonst schlaffen Wangen bliesen sich auf. Sie sah fast so grotesk aus wie eine jener Karikaturen, die Zeichner auf den Straßen Augsburgs verkauften. Ein Fisch vielleicht, der am Ufer angespült worden war, und nun fassungslos nach Luft schnappte. Ihre Hand hob sich drohend.
„Seit fünf Jahren füttern wir dich durch, du undankbare Göre! Dafür haben wir das bisschen Geld gebraucht, das wir für das Haus deines Vaters bekamen. Wer will schon irgendwo einziehen, wo eine Seuche gewütet hat?“
Diese Worte trafen Emilia heftiger, als die angedrohte Ohrfeige es vermocht hätte. Sie sackte wieder auf den Schemel, verschränkte die Hände vor der Brust, um Erinnerungen abzuwehren, doch wurde sie trotzdem von ihnen überwältigt. Die sich krümmenden, fiebernden Körper, die Schmerzensschreie, der Gestank von Exkrementen, blutiger Kot auf den Laken, die ihre Mutter stets weiß und sauber hatte halten wollen. Den Vater hatte die Rote Krankheit als Ersten niedergestreckt, doch hatte er noch lange genug gelebt, um den Tod seiner zwei jüngeren Töchter mitzubekommen, die beide noch so klein und schwach gewesen waren, dass sie nur einen einzigen Tag standhielten. Die Mutter hatte bis zum letzten Augenblick ihre Familie gepflegt, sich dann hingelegt, um schnell und still zu sterben. Nur Augustus war noch eine Weile am Leben geblieben, der geschickteste Lehrling ihres Vaters, der Emilia eines Tages heiraten und mit ihr zusammen die Werkstatt übernehmen sollte. Als auch bei ihm die Krämpfe begonnen hatten, waren Emilias Schreie fast lauter gewesen als die seinen. Schließlich hatte sie allein zwischen fünf Leichnamen in einem leeren Haus gesessen, denn die Bediensteten hatten bereits die Flucht ergriffen. Völlig ruhig hatte sie auf die ersten Blutflecken im Nachttopf gewartet, auf jenen Schmerz, der sich wie ein Feuerbrand durch ihre Eingeweide fressen würde, doch nichts war geschehen. Lange hatte sie nicht gewusst, ob Gott besonders gütig oder unerklärlich grausam gewesen war, als er sie als Einzige am Leben ließ.
„Nun hört endlich auf, euch zu zanken“, hörte sie Onkel Hayo versöhnlich sagen. „Emmy, räum die Kleider wieder in den Sack. Morgen kannst du dich damit befassen, wenn du willst. Aber jetzt geh schlafen!“
Unter anderen Umständen hätte es Emilia vielleicht geärgert, einfach wie ein kleines Kind ins Bett geschickt zu werden, doch nun war sie erleichtert, sich in ihre kleine Kammer zurückziehen zu können.
„Hilf Grete noch, den Tisch abzuräumen und das Geschirr zu säubern!“, hielt Tante Irmgards Stimme sie zurück. Sie gehorchte mit zusammengebissenen Zähnen. Die Arbeit war schnell erledigt, denn Grete beschränkte sich darauf, mit einem feuchten, leider nicht ganz sauberen Lappen über das Geschirr zu wischen, bevor es wieder in ein Regal neben der Kochecke geschoben wurde.
„Jetzt bringe ich ihnen den nächsten Krug Bier und setze mich dazu“, flüsterte sie Emilia dann ins Ohr. „Und ich schwöre dir, bevor der Morgen graut, gehört dieses grüne Kleid mir, zusammen mit der Krause. Die machst du mir doch dran, nicht wahr?“
Sie stupste Emilia in die Seite. Ihr breites Grinsen war von so ansteckender Heiterkeit, dass Emilia spürte, wie die dunklen Wolken von ihrer Seele flogen.
„Natürlich tue ich das. Ich wünsche dir viel Erfolg heute Abend“, sagte sie zum Abschied, bevor sie die schmalen Stiegen in ihre Kammer hochkletterte. Dort schaffte sie es gerade noch, aus Rock, Bluse und Mieder zu schlüpfen und sich ihr Nachthemd überzustreifen, das sie aus dem Elternhaus mitgebracht hatte. Inzwischen reichte es ihr gerade mal bis zu den Knien, doch hingen zu viele glückliche Erinnerungen an dem inzwischen zerschlissenen Stoff, sodass sie sich nicht davon trennen konnte. Sie streckte sich auf der Matratze aus und löschte die Kerze. Es war eine Erleichterung, mit diesem Tag abschließen zu können. Sie musste den Blick vorwärtsrichten, auf den Moment warten, da ihr Leben wie ein Fluss wieder seinen vorbestimmten Lauf nehmen würde.
Sie war bereits in einen tiefen, traumlosen Schlaf gefallen, als Gretes Eindringen sie weckte.
„Rück ein Stück, ich bin hundemüde“, flüsterte die Magd. Emilia kam der Aufforderung wortlos nach, denn sie teilte sich ihr Lager mit Grete, seit sie hier eingezogen war. Die Nähe des vertrauten Körpers tat wohl, obwohl er nach Bier und nach Männerschweiß roch.
„Hast du das Kleid jetzt bekommen?“, fragte Emilia im Halbschlaf.
„Nein“, kam es sogleich zurück. „Und das ist deine Schuld. Du hast dem Kurt Flausen in den Kopf gesetzt mit deinem Gerede, was sich aus den Gewändern alles machen lässt, und jetzt hat er mir nur diesen lumpigen Wollrock gegeben.“
Emilia ergriff schuldbewusst Gretes Hand.
„Ich werde den Rock für dich aufhübschen. Du bekommst auch noch eine passende Bluse dazu, denn meine Tante hat nach mehreren Bierkrügen sicher schon vergessen, dass sie eigentlich ihr gehört.“
„Ach, was soll’s!“ Grete streckte sich gähnend. „Den Mannsbildern kommt es nicht auf unsere Kleider an. Die wollen sehen, was dadrin steckt.“
Sie kicherte und stützte ihr Kinn auf der Handfläche ab, während sie ihren Ellbogen in die Matte bohrte.
„Ich glaube, der Kurt ist gar nicht so blöd, wie er aussieht. Sonst hätte er nicht begriffen, wie gut deine Vorschläge sind.“
„Schon möglich“, erwiderte Emilia und schloss wieder die Augen, denn sie war zu müde für eine längere Unterhaltung. Das wahre Ausmaß von Kurts Verstand war ihr gleichgültig.
„Da unten haben sie übrigens noch lange über dich geredet.“
Gretes Worte drangen nur noch schwach in ihr Bewusstsein und schlugen dort keine Wurzeln.
„Nein!“, sagte Emilia. „Das tue ich nicht.“
Sie krallte ihre Finger um die Tischkante. Ihr war schwindelig, und sie nahm die vertrauten Gesichter wie durch einen Nebel wahr. Tante Irmgards Wangen blähten sich wieder auf. Vielleicht würden sie gleich mit einem lauten Knallen platzen. Grete sah enttäuscht aus, Onkel Hayo hatte den Blick gesenkt, doch Kurt starrte sie mit spöttisch glänzenden Augen an, als fände er ihren Protest belustigend.
„Niemand hat hier gefragt, was du tun willst oder nicht“, erklärte Tante Irmgard laut. „Dein Onkel ist dein Vormund und entscheidet über dein Leben.“
„Aber ich werde es nicht tun“, erwiderte Emilia. „Ich gehe nicht mit Kurt. Ihr habt das Vermögen meiner Eltern genommen und …“
„Und deshalb sind wir für dich verantwortlich“, fuhr die Tante ihr ins Wort. „Wir entscheiden, was am besten für dich ist. Hier fühlst du dich nicht wohl und kannst dich nicht einfügen. Vom Messerschleifen verstehst du nichts, vom Nähen aber schon. Der Kurt kann eine wie dich gebrauchen.“
Emilia schüttelte fassungslos den Kopf.
„Ich habe hier in eurem Haus wie eine Magd gearbeitet, obwohl ich die Tochter eines angesehenen Schneidermeisters bin.“
„Mein Bruder ist leider tot“, unterbrach nun Onkel Hayo sie leise. „Ich weiß, du hattest einst die Aussicht auf ein Leben als angesehene Bürgerin, aber das ist nun einmal vorbei. Was möchtest du denn, Emilia? Glaubst du wirklich, ein wohlhabender Mann wird dich heiraten, nur weil dein Vater einst selbst einer war? Ich weiß, wir konnten dir nicht bieten, wozu du erzogen wurdest. Ich stand mein Leben lang im Schatten meines Bruders. Aber ich glaube, diese Entscheidung ist das Beste für dich. Kurt kann deine Talente nutzen.“
Emilia senkte ihren Blick auf das zerkratzte Holz des Tisches. Pökelfleisch, Käse und Brot lagen zum Morgenmahl bereit, aber sie verspürte keinerlei Hungergefühl.
„Ich könnte versuchen, irgendwo eine Stelle als Näherin zu bekommen, damit ich euch nicht länger zur Last falle“, schlug sie vor und sah ihrem Onkel flehend ins Gesicht.
„Du kannst genauso gut für den Kurt nähen, und er wird dich dafür durchfüttern“, erwiderte Tante Irmgard gelassen. „So kommst du herum und siehst etwas von der Welt. Was ist so schlimm daran?“
„Mein Vater war ein angesehener Bürger, und ich soll mit einem Hausierer herumziehen“, murmelte Emilia, mehr zu sich selbst als zu ihrer Familie. Die Erkenntnis, dass sie keine andere Wahl hatte, als sich zu fügen, sank langsam auf sie herab wie eine schwere Decke, unter der sie zu ersticken drohte.
„Du wirst die Kleider ausbessern können, die er dir gezeigt hat“, hörte sie Onkel Hayos tröstende Stimme und staunte, dass er kurz ihre Hand drückte. „Das hast du dir doch gestern erst gewünscht.“
Emilia senkte den Kopf. Die Idee, einfach davonzulaufen, schoss ihr kurz durch den Kopf, aber sie wusste, dass sie dann vermutlich ein noch schlimmeres Schicksal erwarten würde als bei Kurt. Wenn sie mit ihm ging, würde sie tun können, was sie wirklich gut beherrschte. Vielleicht fand sich irgendwo unterwegs die Möglichkeit, eine Stellung als Näherin zu bekommen.
Sie blickte dem Hausierer gerade in die Augen und bemerkte triumphierend, wie das spöttische Grinsen von seinem Gesicht rutschte.
„Ich komme als Arbeitskraft mit, nichts weiter“, sagte sie. „Ich nähe für dich, und dafür wirst du mich ernähren. Andere Ansprüche hast du nicht auf mich.“
Tante Irmgard lachte höhnisch auf, doch Kurt nickte nach kurzem Zögern.
„Um etwas anderes ist es niemals gegangen“, erwiderte er.
„Der Kurt kann viel Bessere haben als dich“, fügte ihre Tante hinzu, bevor Onkel Hayo sie aufforderte zu schweigen. Emilia sah eine Mischung aus Mitgefühl und Bewunderung in Gretes Augen und begann in diesem Augenblick zu ahnen, dass sie von allen Bewohnern dieses Hauses die Magd am meisten vermissen würde.
„Wann brechen wir auf?“, fragte sie und hörte zu ihrem Bedauern, dass die Worte nicht so stolz und entschlossen aus ihrem Mund kamen, wie sie es sich gewünscht hatte. Die Aussicht, zum zweiten Mal in ihrem Leben ihr Zuhause zu verlieren, schnürte ihr die Kehle zusammen. Sie fürchtete, in Tränen auszubrechen, wenn sie nur noch ein einziges Wort sagte.
„Ich würde gern morgen aufbrechen“, erwiderte Kurt. „Aber wenn du noch länger brauchst, um von allen hier Abschied zu nehmen, dann warte ich natürlich.“
Er bemühte sich, Emilia freundlich anzulächeln, doch sie nahm nur seine schiefen Zähne wahr, die zudem von häufigem Tabakkauen braun wie Kuhdung waren.
„Es gibt gar keinen Grund, warum sie nicht morgen schon aufbrechen sollte“, meldete sich wieder Tante Irmgard zu Wort. „Ihr werdet ja immer wieder hierherkommen, wenn der Kurt gerade in der Gegend ist. Dann kann Emilia ihre alten Bekannten treffen.“
Ebendiese Worte brachten Emilias Augen zum Überlaufen. Sie wischte sich schnell mit dem Handrücken die Wangen trocken, sprang dann auf und lief hoch in ihre Kammer, wo sie sich auf die Matratze warf. Die Schluchzer schüttelten sie eine gefühlte Ewigkeit, und ihr war, als vergieße sie endlich all jene Tränen, die sie nach dem Tod ihrer Familie nicht hatte weinen können. Als die Tür hinter ihr sich knarrend öffnete, fuhr sie widerwillig herum. War es Grete? Sie ahnte, dass die Magd gern an ihrer Stelle mit Kurt aufgebrochen wäre, und die Erkenntnis, wie ungerecht das Leben war, trieb ihr neue Tränen in die Augen. Aber sie erblickte die schmächtige, leicht gebückte Gestalt ihres Onkels, der diese Kammer niemals betreten hatte, seitdem Emilia sie bewohnte.
„Ich würde gern mit dir reden, Emmy“, begann er so leise, wie er meist redete. Sie richtete sich auf und wischte nochmals ihre Augen trocken.
„Wozu? Es steht doch schon alles fest. Was hat der Kurt euch denn gegeben, damit er mich bekommt?“
Onkel Hayo seufzte und ging vor ihr in die Hocke.
„Er hat deiner Tante zwei Flaschen Schnaps versprochen, wenn er das nächste Mal wiederkommt. Aber ich hätte diesem Handel nicht zugestimmt, wenn ich nicht glauben würde, dass es das Beste für dich ist.“
Emilias Drang, ihm eine bissige Antwort ins Gesicht zu schleudern, wurde von seinem todernsten, ehrlichen Blick gezähmt.
„Ich weiß, dass du dir vom Leben einst mehr erhoffen konntest“, sagte er und legte seine Hand auf ihre Schulter. „Ich habe versucht, dir etwas von deinem Erbe zu erhalten, aber die Zeiten waren hart, und wir mussten dich durchfüttern. Nun scheint es mir die beste Lösung, dich mit Kurt in die Welt zu schicken. Hier würde es auf Dauer nicht gut gehen.“
Emilia streckte ihr Kinn hoch.
„Weil deine Frau mich nicht leiden kann“, fasste sie das bisher Unausgesprochene in Worte. Sie rechnete mit Widerspruch, den sie höhnisch zurückweisen könnte, doch kam nur ein stummes Nicken.
„Als Irmi jung war, da wünschte sie sich Kinder, wie es die meisten Frauen tun“, erzählte ihr Onkel. „Doch uns wurden keine geboren. Manchmal reichte der Anblick einer Nachbarin, die ihr Neugeborenes im Arm hielt, um sie in Tränen ausbrechen zu lassen. Dann hörte ich von dem Unglück, das meinen Bruder und seine Familie getroffen hatte. Ich brachte dich in unser Haus und hoffte, meiner Frau so das ersehnte Kind zu schenken. Und dir ein neues, nicht ganz so wohlhabendes Zuhause, wo du dich trotzdem eingewöhnen würdest.“
Die Worte rieselten sanft auf Emilia hinab, befreiten sie für einen Moment von aller Bitterkeit und Trauer.
„Wenn sie mich wie ihr Kind geliebt hätte, wäre ich hier glücklich geworden, auch wenn mein Elternhaus reicher war“, erkannte sie plötzlich. „Aber wenn sie eine Ersatztochter hat, dann ist es Grete.“
Onkel Hayo nickte nochmals.
„Ja, so ist es leider. Etwas stand von Anfang an zwischen dir und Irmi. Deshalb glaube ich, es wäre am besten, wenn du dieses Haus verlässt, denn euer Zwist wird nur wachsen, je älter du wirst. Der Kurt ist ein anständiger Kerl. Und du wirst immer wieder hierherkommen. Wenn er dich schlecht behandeln sollte, so sage es mir, und ich werde eine andere Lösung suchen.“
Emilia staunte, als ihre Finger sich plötzlich um Onkel Hayos Hand legten und sie kurz drückten. Es tat so wohl zu wissen, dass sie einem Menschen auf dieser Welt nicht ganz gleichgültig war.
„Gut, dann packe ich jetzt meine Sachen, und morgen früh brechen wir auf“, sagte sie nun völlig ruhig. Zwar saß der Schmerz weiter hartnäckig in ihrer Brust, doch war er auf ein erträgliches Maß geschrumpft.
Kurts Karren sah so klapprig aus, dass Emilia ernsthafte Zweifel hatte, ob sie darauf überhaupt bis zur Augsburger Stadtmauer kämen. Der davorgespannte Esel musste auch schon bessere Tage gesehen haben, denn die Knochen stachen wie Nägel aus seinem schmutzigen grauen Fell, und er bewegte sich so langsam, dass Emilia überzeugt war, zu Fuß flotter voranzukommen. Kurt weigerte sich, den Esel durch Hiebe voranzutreiben, was ihr wie ein Zeichen löblichen Mitgefühls schien, aber dazu führte, dass sie fast eine Stunde brauchten, um aus der Stadt zu kommen. Emilia konnte in Ruhe den Dom und das Rathaus betrachten, jene zwei Bauwerke, die sie von Kindheit an für die größten und prächtigsten der Welt gehalten hatte, bevor sie zum Fischertor hinausfuhren. Das dahinter liegende Viertel der Fischer bestand hauptsächlich aus ärmlichen und schmutzigen Hütten, die Emilia an Onkel Hayos schmales Holzhaus erinnerten. Wieder fühlte sie sich von Wehmut niedergedrückt, denn selbst ein solches Heim war einem schlichten Karren vorzuziehen. Sie hatte es seit der Abreise vermieden, Kurt anzusehen, und wollte ihm auch keine Fragen stellen, da die Tränen immer noch in den Tiefen ihrer Kehle lauerten. Daher hatte sie keine Ahnung, wohin es nun ging und wo sie die nächste Nacht verbringen würden.
Es schmerzte sie, wie wenig Menschen gekommen waren, um von ihr Abschied zu nehmen. Grete natürlich, die hatte sie umarmt, fest an sich gedrückt und alles Gute gewünscht.
„Ein kluges, fleißiges Mädchen wie du wird da draußen in der Welt schon zurechtkommen. Und der Kurt ist kein schlechter Kerl“, waren ihre Abschiedsworte gewesen, und Emilia wiederholte sie immer wieder in ihrem Kopf, um gegen Angst und Hoffnungslosigkeit anzukämpfen. Tante Irmgard hatte sie nur ermahnt, sich stets daran zu erinnern, wo ihr Platz in dieser Welt war, und die Nase nicht zu hoch zu tragen. Onkel Hayo hatte ihr schweigend die Hand gedrückt, denn alles, was es zwischen ihnen zu sagen gab, war schon gesagt worden. Dann war der Karren die schmale Gasse entlanggerollt, einige Nachbarn hatten neugierig gestarrt und getuschelt, doch mehr als ein knappes Kopfnicken hatte Emilia nicht zum Abschied erhalten. Dabei hatte sie die letzten fünf Jahre ihres Lebens in unmittelbarer Nähe dieser Menschen verbracht, mit ihnen am Brunnen Wasser geholt und schwere Körbe vom Markt heimwärts geschleppt. Trotzdem schien man sie nicht als einen Teil der Gemeinschaft zu betrachten, der nun herausgerissen wurde. Hatte Tante Irmgard am Ende recht gehabt, als sie ihr ständig Hochmut vorwarf? Die ganzen Jahre hatte Emilia darauf gewartet, ihr altes, so plötzlich ausgelöschtes Leben wieder aufnehmen zu können, und diese einfache Gegend nur als Übergangsort betrachtet, den sie irgendwann verlassen würde. Nun, da sie ihn tatsächlich verließ, war sie die Gefährtin eines Hausierers geworden! Wollte Gott sie verhöhnen oder Demut lehren? Sie zwang sich wieder einmal, ihren Blick in die Zukunft zu richten. Vielleicht würde sie auf diesem Umweg an ihr eigentliches Ziel gelangen und an irgendeinem unbekannten Ort, der noch vor ihr lag, Gewandschneiderin werden.
Die Türme Augsburgs waren noch als schwarze Spitzen am Horizont zu erkennen, doch vor ihnen lagen nur Felder und Bäume. Emilia wurde bewusst, dass sie die Mauern der Stadt bisher nur selten verlassen hatte, da es keine Veranlassung dafür gegeben hatte. Nun überkam sie ein Gefühl völliger Verlorenheit, und sie sehnte sich nach einer einzigen Hauswand oder Mauer, an der sie sich hätte abstützen können. Über ihr begann der Himmel sich bereits zu verdunkeln. Wo würden sie Schutz suchen können, wenn es völlig finster war?
Sie zwang sich, den Hausierer neben ihr auf dem Kutschbock endlich anzusehen. Sein Haar war immer noch von Fett verklebt, seine Kleidung schmutzig, aber niemand außer ihm konnte ihr hier draußen Schutz bieten, wenn ein Unglück geschah.
„Wo schlafen wir heute Nacht?“, fragte sie. Kurt wandte ihr den Kopf zu.
„Wenn es gut läuft, erreichen wir noch eine kleine Herberge, bevor es dunkel wird. Andernfalls“, er zuckte mit den Schultern, „übernachten wir irgendwo zwischen ein paar Bäumen, wo wir nicht gleich dem nächsten Straßenräuber ins Auge stechen.“
Es war zwar bereits Mai, doch die Nächte blieben frostig. Emilia straffte den Rücken, denn nun war es an der Zeit, sich durchzusetzen.
„Die Gewänder in deinem Besitz sind wertvoll. Draußen können sie jederzeit gestohlen werden, und das wäre ein erheblicher Verlust. Daher würde ich vorschlagen, dass wir uns beeilen, um die Herberge zu erreichen.“
Sie wandte sich um und zog eine alte Wolldecke, die Tante Irmgard ihr großzügigerweise mitgegeben hatte, aus ihrem Beutel. Sobald der raue Stoff auf ihren Schultern lag, fühlte sie sich etwas weniger schutzlos in dieser gottverlassenen Natur, deren Ausmaße ihr vorher nie bewusst gewesen waren.
„Na gut, dann beeilen wir uns“, hörte sie Kurt widerstandslos zustimmen und konnte nicht umhin, ihn nochmals anzusehen, denn mit einem so schnellen Erfolg hatte sie nicht gerechnet. Sein Blick war neckend, schelmisch, aber dennoch auf eine gewisse Art unangenehm, denn sie fühlte sich von ihm an Stellen berührt, die nur ihr allein gehörten.
„Ja“, erklärte sie überflüssigerweise. „Wir sollten uns beeilen.“ Dann sah sie nur noch geradeaus, musterte den mageren Rücken des Esels, um nicht die menschenleere Weite der Felder und die düsteren Schatten von Bäumen wahrnehmen zu müssen. Zum Glück vernahm sie nach einer Weile auch menschliche Stimmen, was ihr Gefühl völliger Verlorenheit etwas milderte. Bauern kamen von den Feldern zurück, einige von ihnen grüßten Kurt, ja fragten ihn gar, ob er etwas zu verkaufen hätte. Ein Hornkamm und eine Kette aus Holzperlen wurden gegen einen Laib Brot und drei Eier eingetauscht.
„Jetzt haben wir auch ein Abendbrot“, erklärte Kurt, als sie endlich weiterfuhren. Emilia fragte sich, wo sie die Eier kochen sollten, denn einen Herd gab es im Wald sicher nicht. Vielleicht ließ sich in der Herberge etwas machen, denn Kurt wollte ganz offensichtlich Geld sparen und sich daher keine Mahlzeit auftischen lassen. Ihr wurde unangenehm bewusst, dass sich bereits ein nagendes Hungergefühl in ihrem Magen breitmachte, doch war sie zu stolz, um ein Stück von dem Brot zu erflehen.
Es war bereits finstere Nacht, als sie die Herberge erreichten, ein schmales, wackeliges Holzhaus an einer Straßenkreuzung, dessen Fenster in der Dunkelheit leuchteten. Als sie eintraten, wehte ihnen der Geruch ranzigen Fetts entgegen. In einem kleinen Raum war eine alte Frau am Tisch eingeschlafen. Sie erhob sich bei Kurts Anblick, nahm zwei Münzen von ihm an und führte sie beide in ein Hinterzimmer.
„Der Raum ist noch frei“, knurrte sie und verschwand dann ohne weitere Kommentare. Emilia starrte stumm. Das Zimmer war bedrückend eng und schmutzig. In einer Ecke stand ein schmales Bett, daneben ein winziger Tisch. Das Fenster war mit einem Stück Leder abgedeckt, an dem der kühle Nachtwind vorbeiblies.
„Wo schlafe ich?“, fragte sie ratlos. Auf dem Boden kroch mit Sicherheit Ungeziefer herum, davon abgesehen würde sie dort erbärmlich frieren.
Kurt antwortete nicht gleich. Er setzte sich auf das Bett, brach den Laib Brot in zwei Teile, von denen Emilia einen erhielt. Sie biss gierig zu, denn auf einmal schien trockenes Brot ihr die köstlichste Mahlzeit der Welt. Kurt balancierte eines der Eier auf seiner Handfläche, dann stach er mit einem Messer ein Loch hinein und trank es roh.
„Anders geht es nicht. Wir haben kein Feuer“, erklärte er, während er sich mit dem Handrücken den Mund abwischte. Das zweite Ei wurde Emilia hingehalten, aber sie winkte ab.
„Morgen vielleicht. Für den Moment bin ich satt.“
Dann saß sie weiter stumm da, ein sicheres Stück von Kurt entfernt auf der Bettkante. In der Ecke des Zimmers stand ein Nachttopf, aber sie konnte sich nicht vorstellen, ihn in Kurts Gegenwart zu benutzen. Die einzige andere Möglichkeit wäre, nach draußen zu gehen, doch ihr graute vor der einsamen Finsternis.
„Zeit zu schlafen, würde ich sagen“, erklärte Kurt und zog mit leisem Stöhnen seine Stiefel aus. Emilia verharrte wie zur Salzsäule erstarrt, beobachtete aus den Augenwinkeln jede seiner Bewegungen. Er streckte sich auf dem Bett aus, zog die Decke bis zu seinem Kinn und musterte sie abwartend.
„Na, komm schon. Ich lösche gleich die Kerze. Willst du im Sitzen schlafen?“
Sein freundlich neckender Tonfall war Emilia vertraut, aber nicht die Lage, in der sie sich jetzt befand. Sie verknotete ihre Finger und spürte ein Stechen in ihrem Rücken, da ihre Knochen dort zusammenzuwachsen schienen. Er hatte recht. Sie würde nicht im Sitzen schlafen können, ebenso wenig wie auf dem Boden.
Rasch streifte sie ihre Holzschuhe ab und legte sich auf die Matratze. Obwohl sie gern darauf verzichtet hätte, unter die Decke zu kriechen, war es dafür im Zimmer zu kalt. Sie rutschte so nah an die Bettkante, wie es nur möglich war, ohne dass sie auf den Boden fiel. In ihrem Rücken vernahm sie das leise Zischen, als Kurt die Kerze löschte, und schloss die Augen, dankbar für die Finsternis, in die sie eintauchen und ihre Lage vergessen konnte. Sie brauchte jetzt nur schnell einzuschlafen, und wenn sie ihre Augen wieder öffnete, wäre es bereits heller Tag.
Kurts Atem knarzte in ihrem Rücken. Sie bewegte sich noch ein Stück Richtung Bettkante, staunte, dass sein Schweißgeruch nun stärker in ihre Nase kroch als bisher, obwohl sie sich den ganzen Tag in seiner Nähe befunden hatte.
Als sie die Wärme seiner Hand auf ihrer Hüfte spürte, war ihr dies im allerersten Augenblick sogar angenehm, eine tröstliche Berührung in dieser erbarmungslosen Welt. Dann wanderten die Finger aufwärts, berührten ihre Taille und versuchten, unter ihr Mieder zu gleiten.
Emilia fuhr auf.
„Du hast gesagt, dass ich nichts weiter als deine Hilfskraft sein werde!“, rief sie empört. Seine Antwort war ein leises Seufzen.
„Sonst wärest du doch nicht mitgekommen. Du bist immer so … verbissen. Versuche doch, das Leben etwas leichter zu nehmen.“
Die Hand strich nun wieder über ihren Rücken, berührte jene Stelle, wo eine schmerzhafte Verhärtung sich zu verbreiten begann, und Emilia spürte, wie ihr Körper kurz von Wohlbehagen überflutet wurde, bis sich ihr plötzlich die Nackenhaare aufstellten. Mit einer raschen, fast beiläufigen Bewegung hatte Kurt ihre linke Brust umfasst und hielt sie nun fest wie etwas, das ihm gehörte. Sie musste aufspringen, um sich seinem Zugriff zu entziehen.
„Ich will das nicht! Du bist nicht mein Gemahl. Ich werde auf dem Boden schlafen“, sagte sie und zwang sich, auf die harten Holzfliesen zu sinken. Ihr war kalt. Etwas krabbelte über ihre linke Hand, sie zuckte mit einem leisen Schrei zurück und spürte wieder Tränen in ihrer Kehle würgen. Würde der Rest ihres Lebens nun so verlaufen, dass sie nicht einmal mehr in Frieden schlafen konnte?
„Mein Gott, Emmy, ich bin kein Frauenschänder“, erklärte Kurt mit bemühter Nachsicht. „Komm wieder her. Du weißt einfach nicht, was du versäumst. Den meisten Frauen gefällt es am Anfang nicht, aber das ändert sich schnell.“
Emilia überkam der Wunsch, wild um sich zu schlagen, doch hätte sie in der Dunkelheit nichts und niemanden getroffen.
„Wenn ich sage, dass ich es nicht will, dann ist es auch so.“
Kurt schwieg eine Weile, dann vernahm sie einen leisen Gähnlaut.
„Meinetwegen, ich lasse dich in Frieden. Leg dich jetzt wieder hin, sonst bist du morgen wie gerädert, und du wolltest doch die Kleider herrichten.“
Sie tastete sich langsam zu dem Bett zurück, da sie ohnehin kaum eine andere Wahl hatte. Kurt war tatsächlich ein Stück zur Seite gerückt, sodass sie sich hinlegen konnte, ohne seinen Körper an dem ihren zu spüren. Nur ein Rascheln der Strohmatte verriet, dass er noch nicht zur Ruhe gekommen war.
„Unser nächstes größeres Ziel ist Wien“, erzählte er. „Eine große, prächtige Stadt, Sitz des Habsburger Kaisers. Es wird dir gefallen.“
Emilia verweigerte eisern eine Unterhaltung, doch spürte sie, wie Hoffnung in ihr aufkeimte.
„In Wien gibt es viele Kleinadelige und Theatertruppen, die einen guten Preis für ein gebrauchtes Fürstengewand zahlen“, hörte sie Kurt weiter sagen, und diese Worte entspannten endgültig ihren verkrampften Rücken. An einem solchen Ort würde sie ihr Können unter Beweis stellen und vielleicht eine Anstellung als Näherin finden. Bis dahin musste sie Kurt ertragen, doch mit der Aussicht, ihm bald schon zu entkommen, schien ihre Lage weniger verzweifelt. Sie fiel in den Schlaf wie ein Mensch, der plötzlich in eine Schlucht stolperte. Die dunkle Tiefe, von der sie empfangen wurde, war ihr angenehm, fast wie ein Ort der Erlösung.
Zehn Tage vergingen. Der Karren rollte Feldwege entlang, verirrte sich in dichte Wälder, von denen Emilia verschlungen zu werden glaubte, und machte manchmal in Dörfern und kleinen Ortschaften halt, wo sie Vorräte erwarben. Eine Nacht im Freien blieb Emilia erspart, da Kurt ihren Rat, keinen Diebstahl der Gewänder zu riskieren, wohl sehr ernst genommen hatte. Stattdessen suchten sie regelmäßig schäbige Herbergen auf, wo das Geld gerade mal für ein winziges Zimmer reichte. Dort versuchte sie, durch eine steife, unnahbare Haltung sämtliche Berührungen abzuwehren. Kurt war in der Tat nicht mehr so dreist wie in der ersten Nacht, doch rückte er manchmal näher an sie heran als notwendig, regte sich immer wieder, wenn sie endlich einzuschlafen hoffte, und ließ auch tagsüber keine Gelegenheit aus, ihr wie zufällig über den Arm zu streichen, sich gegen ihren Rücken zu pressen oder seine Finger in ihrem Haar zu vergraben. In Augsburg hätte sie sich kaum an diesen winzigen Augenblicken der körperlichen Nähe gestört, doch nach der ersten gemeinsamen Nacht war sie höchst empfindlich geworden. Ihr empörtes Zurückweichen, das zornige Funkeln ihrer Augen, mit dem sie ihn in Grenzen weisen wollte, lockten nur ein schiefes Grinsen auf sein Gesicht.
Emilia richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Aufgaben, die zu erfüllen sie sich vorgenommen hatte. Sie nutzte die kostbaren Augenblicke, in denen sie genug Licht und Raum hatte, um die Gewänder auszubreiten und zu überlegen, wie sie sich ausbessern und umarbeiten ließen. An einem Bach setzte sie sich neben die Frauen aus dem benachbarten Dorf und schrubbte emsig mit einer Lauge aus Buchenasche, die sie von ihnen erhielt. In ihrem Elternhaus war Seife verwendet worden, um kostbare Stoffe zu reinigen, doch die konnte Kurt sich nicht leisten. Danach saß sie in den winzigen Räumen der Herbergen, manchmal auch im Freien auf dem Karren, wenn dichte Bewaldung ihr nicht das Licht raubte, flickte und nähte. Der steife Kragen wurde an dem grünen Seidenkleid befestigt, ein Wams mit samtenen Vierecken, die sie aus einem hoffnungslos von Motten zerfressenen Umhang geschnitten hatte, verziert, um hartnäckige Flecken zu verdecken. Fünf Unterröcke schrubbte sie, bis sie so weiß wie frisch gefallener Schnee waren. Im Sack fand sich noch eine Robe aus Brokat, die vorne zerrissen war, als hätte ein scharfes Schwert sie durchtrennt. Emilia nähte den Stoff so akkurat zusammen wie möglich, doch blieb der Schaden sichtbar. Sie grübelte eine Nacht lang, während Kurt in ihrem Rücken schnarchte. Dann opferte sie einen der blütenreinen Unterröcke, trennte die Naht wieder auf und legte eine Bahn aus feinem weißem Leinen dazwischen, die zum Saum hin immer breiter wurde. Am Ausschnitt formte sie Rosen aus ebenjenem Stoff. Der Makel wurde dadurch nicht verborgen, doch konnte man meinen, er sei dem Gewand mit Absicht zugefügt worden, um es auszuschmücken. Schließlich ging ihr das Garn aus, aber sie war mit ihrer bereits vollbrachten Leistung zufrieden. Ihr Vater wäre stolz auf sie gewesen, Augustus, der einstige Verlobte, ebenso.
Als sie in Linz haltmachten, konnte Kurt sich nur noch einen großen Schlafsaal leisten, wo Männer und Frauen gemeinsam auf dem Boden lagen, durch einen Vorhang voneinander getrennt. Emilia ertrug die Nähe der stinkenden, furzenden und bis in die späte Nacht hinein miteinander flüsternden Gefährtinnen gut, denn wenigstens wurde sie von ihnen in Frieden gelassen. Am nächsten Morgen saßen sie vor der Herberge auf dem Boden und vertilgten einen Laib Brot, ein paar Äpfel und einen Humpen Bier. Es war ein angenehm warmer, sonniger Tag, und die Luft schmeckte draußen trotz allem besser als in der stickigen, überfüllten Herberge. Emilia war gespannt auf Wien, und je näher sie der Stadt kamen, desto mehr erhellte sich ihre Stimmung.
Kurt riss ein weiteres Stück von dem Laib Brot ab und kaute langsam.
„Wir können jetzt auf der Donau weiterfahren. Da sind wir schneller als auf dem Landweg“, sagte er dabei. Emilia bemerkte einen Brotkrümel zwischen seinen Vorderzähnen.
„Schön. Das ist gut. Können wir auch den Karren mitnehmen?“, fragte sie und überlegte gleichzeitig, wie sie ihre Habseligkeiten sonst transportieren könnten. Der Karren war ja schon alt, man konnte auf ihn verzichten, aber …
„Wir nehmen eine Fähre. Mit dem Karren“, erwiderte Kurt, und für einen Moment war sie ganz und gar zufrieden mit ihm. Dann rückte er ein Stück näher an sie heran.
„Siehst du den Kerl da vorn ganz rechts? Der ist ein Fährmann. Ich habe ihn gestern Abend im Schlafsaal kennengelernt.“
Emilia nickte. Der Fährmann hatte graues, schütteres Haar, trug ein völlig zerschlissenes Wams und schmutzige Kniebundhosen. Sie fand nichts Besonderes an ihm und fragte sich, warum Kurt weiterhin in seine Richtung starrte.
„Er nimmt uns natürlich nicht umsonst mit“, kam es nach einer Weile.
„Hast du noch genug Geld?“, fragte Emilia und nippte an dem Bierkrug. „Sonst könnten wir vielleicht schon hier etwas verkaufen.“
Kurt antwortete nicht gleich, sondern ergriff einen kleinen Stein, den er in seiner linken Hand zu drehen begann.
„Er hat dich bei unserer Ankunft kurz gesehen, und du gefällst ihm“, sagte er nachdenklich. „Ich glaube, wir könnten umsonst mitfahren, wenn du ein bisschen nett zu ihm bist.“
Er hob den Kopf und lächelte Emilia ins Gesicht. Wieder schien der Brotkrümel zwischen den Zähnen das Auffälligste an seinem Anblick. Emilia spürte den Zorn wie einen Ball in ihrer Kehle, an dem sie würgte, den sie aber nicht ausspucken konnte.
„Du hast kein Recht …“, flüsterte sie, denn die Lage war ihr so unangenehm, dass sie keine unerwünschten Zuhörer haben wollte. „Ich wurde dir als Hilfskraft mitgegeben. Onkel Hayo hat gesagt, dass …“
„Und wo ist er jetzt, dein Onkel Hayo? Willst du zu ihm laufen und dich beschweren? Ich bestimme unsere Route, und es kann sein, dass wir sehr lange nicht wieder nach Augsburg zurückkommen.“
Emilia spürte, wie ihr Tränen in die Augen schossen, und kämpfte sie tapfer nieder.
„Ich werde es nicht tun“, sagte sie. „Und das ist mein letztes Wort.“
Kurt ergriff ihr Handgelenk und drückte es so fest, dass es schmerzte.
„Und wenn ich dich einfach hier zurücklasse? Allein in Linz? Was machst du dann?“
Sie zerrte, bis sie ihren Arm freibekam. In Kurts Augen tanzte der Spott.
„Du weißt genau, dass ich dich zwingen könnte“, fuhr er genüsslich fort. „Denn falls du allein hierbleibst, hast du ohnehin keine andere Wahl, als dich an Männer zu verkaufen.“
Emilia schlang die Arme um ihre Knie. Es musste einen Weg geben, wie sie anderweitig zurechtkäme, dachte sie. Sie würde von Haus zu Haus gehen und um Arbeit bitten. Wenn sie genug Geld gespart hätte, könnte sie eine Möglichkeit suchen, wieder nach Augsburg zu kommen. Aber dann? Wie würde Tante Irmgard sie wohl empfangen?
„Ich werde dich nicht zwingen“, unterbrach Kurt plötzlich ihre Gedanken. Sein Grinsen wurde breiter, gleichzeitig gutmütiger. „Aber vergiss nicht. Ich hätte es tun können. Und nun müssen wir los.“
Die Erleichterung war wie ein kurzer, heftiger Regenguss, der kein echtes Wohlbehagen hinterließ. In Emilias Magen saß das Gefühl von Demütigung als schwerer, drückender Stein. Sie wechselte kein Wort mehr mit Kurt, während sie ihre Habseligkeiten wieder auf den Karren luden, der dann langsam zum Ufer der Donau rollte. Es war eng auf der Fähre, da sehr viele Menschen mitgenommen wurden, was sicher an dem günstigen Fahrpreis lag. Emilia saß neben zwei Frauen in Bauernkleidung, die einen großen Käfig mit Gänsen auf ihren Knien balancierten. Sie hatten Verwandtschaft in Wien, wie Emilia aus ihrem Gespräch aufschnappte, und bei der wollten sie nicht mit leeren Händen auftauchen.
Sie richtete ihren Blick auf die blauen Fluten der Donau. In Wien würde ihr Leben anders werden.
Emilia hatte niemals gedacht, dass es so große Städte gab, die sich bis zum Horizont erstreckten und mit ihm zu verschmelzen schienen. Wien war ein von den Fluten der Donau umschlossenes Reich aus Türmen und roten Ziegeldächern, das vor Menschen überquoll. Sie verspürte ein Gefühl von Vertrautheit und Erleichterung, als sie sich endlich wieder durch enge Gassen kämpfen musste, Bettler in sämtlichen Ecken hocken sah, den Kutschen vornehmer Herrschaften auswich und ständig das Schreien von Straßenhändlern im Ohr hatte. Hier musste es Abnehmer für ihre Gewänder geben, die einen halbwegs anständigen Preis zahlen würden, und vielleicht auch die Möglichkeit einer Anstellung. Sie vernahm eine neue Sprechweise des Deutschen, die ihr weich und melodisch schien. Immer wieder hörte sie auch unverständliche Sprachen, sah sich neugierig um, aus welchen Mündern sie kamen, doch war das Gedränge meist zu groß, um die Ausländer entdecken zu können. Feine Damen in seidenen Gewändern entstiegen Karossen, Männer trugen breite, mit Federn geschmückte Hüte, Baretts und ausladende, farbenfrohe Kniebundhosen. Vor einigen Häusern standen grell bemalte Mädchen, die ihre Hände nach Kundschaft ausstreckten. Manche von ihnen hatten die Körper von Kindern, auf die jemand bereits von zu viel Leben gezeichnete Gesichter geschraubt hatte. Emilia wandte entschlossen den Blick ab. Ein solches Leben kam für sie nicht infrage, und sie würde es schaffen, ihre Füße aus dem Morast zu befreien, in dem sie zu versinken drohte.
Kurt lenkte den Wagen zu einer heruntergekommenen Herberge in einer stark verschmutzten Straße, wo nur ärmliche Hütten standen. Der Anblick dämpfte Emilias Begeisterung, aber sie wusste, dass jeder Protest aussichtslos gewesen wäre.
„Hier muss ich nicht gleich zahlen, weil der Wirt mich kennt“, erklärte er seine Wahl. „Mein letztes Geld ging an den Fährmann – weil du die eiskalte, tugendhafte Jungfer spielen musstest.“
Sein Blick streifte Emilia mit einer Mischung aus Tadel und Spott. Sie starrte ihn kurz zornig an, senkte dann den Kopf und packte den Sack mit den Gewändern, um ihn selbst hineinzutragen. Ihr war, als höre sie Kurt in ihrem Rücken lachen, und kämpfte mit dem Drang, ihm das Gesicht zu zerkratzen. Was hatte Grete nur an dem Kerl gefunden? Seine Geschenke mussten es gewesen sein, aber Emilia verzichtete gern darauf.
Nach einer kurzen Unterhaltung mit einem dicken, rotwangigen Wirt erhielten sie wieder eine winzige Kammer. Emilia trauerte der Nacht in dem großen Schlafsaal hinterher, denn da hatte sie sich völlig sicher vor Kurts Zudringlichkeit gefühlt. Doch er leerte nur einen Krug Wein mit ihr, ließ sie großzügig bei dem bestellten Schweinebraten mitessen und schlief dann neben ihr ein, wobei er seinen Rücken an den ihren schmiegte. Emilia wäre ihm gern ausgewichen, doch war das Bett dafür zu eng. So ließ sie sich von seinen Schnarchern in den Schlaf begleiten, ein ihr bereits vertrautes Geräusch, und hoffte, dass bald schon ein besseres Leben anbrechen würde.
Der Hohe Markt befand sich nur ein Stück vom Stephansdom entfernt, war von ehrbaren Bürgerhäusern umgeben und dennoch eine unüberschaubare, völlig mit Menschen und Ständen zugedeckte Fläche. Emilia spürte, wie die Sorge in ihr zu nagen begann. Wie würde sie unter all diesen Händlern, die Stoffe in allen Farben des Regenbogens, leuchtenden Schmuck, Gewürze und Delikatessen feilboten, auf ihre paar Gewänder aufmerksam machen können? Und würden vornehme Herrschaften sich überhaupt hierher verirren, wäre es ihnen nicht zu schmutzig und zu eng? Aber sie hatte keine Wahl, sie kannte die Stadt zu wenig, um einen passenderen Ort für das Anbieten ihrer Waren zu suchen. Vielleicht wäre es später möglich, gezielt in Häusern nachzufragen, wo sich passende Kundschaft befinden konnte. Als Tochter eines Schneidermeisters hatte sie ein recht genaues Bild von den Leuten, die ihre Arbeit sicher zu schätzen wüssten: aufstrebende Bürger, die sich neue Kleidung dieser Art nicht leisten konnten und sie daher heimlich gebraucht kauften. Davon musste es in Wien sicher genug geben. Sie würde sich umhören, beschloss sie, und dieser Markt wäre sicher eine gute Gelegenheit dazu.
Kurt plauderte ausgelassen mit zwei zerlumpten Kerlen, die ihn an ihrer Schnapsflasche nippen ließen. Im Hintergrund führte ein Feuerschlucker seine Kunststücke vor, und zwei Marktweiber zankten sich lautstark um ein letztes bisschen Platz für ihre Körbe. Schnell, damit niemand ihr zuvorkommen konnte, breitete Emilia eine Decke auf dem Boden zu ihren Füßen aus, auf die sie ihre Gewänder legte. Leider hatte sie nicht genug Platz, um sie alle nebeneinander auszubreiten, und für einen überdachten Stand fehlten ihr die nötigen Utensilien. Sie würde aufpassen müssen, dass Leute nicht auf ihrer Ware herumtrampelten. Nach einer Weile gesellte auch Kurt sich hinzu.