Chinatown - Tereza Vanek - E-Book

Chinatown E-Book

Tereza Vanek

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ende der Zwanziger Jahre begegnen sich in Hamburgs Chinesenviertel fremde Welten: Zwei schrille junge Frauen schlendern Arm in Arm durch St. Pauli. Die eine trägt kurzes, kupferrotes Haar und einen kurzen Rock, die andere gar Männerkleider. Staunend schaut ihnen die Prostituierte Mai Ling nach – diese Frauen benehmen sich wie ein Liebespaar! Besonders die aufgeweckte Rothaarige hat es Mai Ling angetan. Eigentlich kann Mai Ling kaum noch etwas zum Staunen bringen. Elend kennt sie schon aus Shanghai gut genug. Ihre Familie verarmte, weil der Vater wegen politischer Aktivitäten verfolgt wurde. So war das Leben als wohlbehütete Tochter aus gutem Hause schon vorbei, ehe der Zuhälter Deng Wu sie nach Deutschland schmuggelte. Der geldgierige Chinese betreibt von Hamburg aus nicht nur Frauenhandel, er schreckt auch vor Kokaingeschäften mit Rechtsradikalen nicht zurück. Seine Dealerei hat schlimme Folgen – für Mai Ling, die von den Männern brutal misshandelt wird. Als Retterin in der Not erweist sich ausgerechnet Deng Wus Schwägerin, eine 'Langnase'. Die Deutsche versteckt Mai Ling bei einer Freundin, die die Schwerverletzte eher ungern aufnimmt: Die hübsche Alexandra mit dem kupferroten Haar zöge lieber weiterhin mit ihrer Anzüge tragenden Freundin Sarah durch die Bars. Sie liebt das Leben, hasst ihren Sekretärinnenjob und träumt von Erfolgen als Jazzsängerin. Doch mehr und mehr schließt sie ihren Schützling ins Herz. Die Ereignisse spitzen sich zu. Sarah, eine Jüdin, wird von Rechtsradikalen zusammengeschlagen, und Mai Lings Versteck fliegt auf – erst als sie verschwunden ist, merkt Alexandra, dass sie sich längst in die Chinesin verliebt hat. Sie macht sich auf die Suche und kämpft für einen Ausweg für sich und Mai Ling… Von einer zauberhaften Liebesbeziehung zwischen zwei Frauen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten, erzählt Tereza Vanek vor dem Hintergrund von Geschehnissen, die bereits das Jahr 1933 ankündigen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 495

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Tereza Vanek

CHINATOWN

Roman

ISBN eBook 978-3-89741-967-4

ISBN Print 978-3-89741-286-6

© 2017 eBook nach der Originalausgabe© 2009 Copyright Ulrike Helmer Verlag, Sulzbach/TaunusAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: Atelier KatarinaS, NLCoverfoto oben: »Asian woman portrait« © trialartinf | Fotolia #13267828Coverfoto unten: »Nähe« © bernd walter | Fotolia #9725622

Ulrike Helmer VerlagNeugartenstraße 36c, D-65843 Sulzbach/TaunusE-Mail: [email protected]

www.ulrike-helmer-verlag.de

Inhalt

1. KAPITEL

2. KAPITEL

3. KAPITEL

4. KAPITEL

5. KAPITEL

6. KAPITEL

7. KAPITEL

8. KAPITEL

9. KAPITEL

10. KAPITEL

11. KAPITEL

12. KAPITEL

13. KAPITEL

14. KAPITEL

15. KAPITEL

16. KAPITEL

17. KAPITEL

18. KAPITEL

19. KAPITEL

Nachwort

1. KAPITEL

Mai Ling warf einen letzten Blick auf die riesigen Dampfer, denen die Gerüche fremder Länder und die duftende Weite des Ozeans anzuhaften schienen, und überquerte dann ohne Eile den Fischmarkt. Menschengetümmel hüllte sie ein, umschloss sie wie eine sichere Mauer, so dass sie sich in ihrer Fremdheit geborgen fühlte. Langsam drängte sie sich an den Ständen vorbei, musterte die glitzernden Leiber toter Fische, den bunten Teppich aus Obst und Gemüse, um schließlich vor einem Tisch mit springenden Holzfröschen stehen zu bleiben. Forschend betrachtete sie einen gelbgrünen Frosch und nahm ihn vorsichtig auf. Als Kind hatte sie ein ähnliches Spielzeug besessen. Miss Johnson, ihre Lehrerin, hatte ihr eine Ente zum Geburtstag geschenkt, die sich selbst bewegen konnte, wenn man sie auf den Boden setzte und anschubste. Vielleicht hatte diese Ente ihretwegen damals den weiten Weg von Europa nach China gemacht? Mai Ling starrte eine Weile versonnen auf das kleine Wunder der Mechanik in ihrer Hand und grübelte, welche Federn und Schrauben ihm wohl die Illusion von Leben einhauchten.

»Tsching, tschang, tschong«, erklang es an ihrer Seite. Kurz wandte sie den Kopf, um in zwei helle, weiche Kindergesichter zu schauen. Ein vielleicht sechsjähriger Knabe mit strohigem Haar kicherte kurz. Er musste der Sprecher gewesen sein, denn sein weniger frecher Freund hatte sich bereits verlegen abgewandt. Mai Ling richtete die Augen ruhig und eindringlich auf das spöttische Gesicht des Jungen, hielt seinen Blick fest und sah, wie die bleiche Haut von einer Flut von Röte überschwemmt wurde.

»Tut mir leid, Fräulein. Tschuldigung«, murmelte der Junge, plötzlich kleinlaut geworden. Mai Ling machte durch ein Lächeln klar, dass sie ihm bereits verziehen hatte. Sie wollte nach seinem Namen fragen, vielleicht eine kurze Unterhaltung beginnen, denn es gab nur wenige Menschen hier, mit denen sie zu reden wagte. Ein Kind schien ihr unschuldig, selbst in seiner gelegentlichen Bosheit. Doch bevor sie ein Wort über die Lippen bringen konnte, legte sich eine breite, zupackende Hand auf die Schulter des Jungen, um ihn fortzuziehen. Mai Ling spürte, wie ein abfälliger Blick sie streifte, dann wurden beide Kinder von der Menschenmenge verschluckt. Der Verkäufer springender Holzfrösche sah die Fremde, die ihm soeben ein Geschäft verdorben hatte, vorwurfsvoll an. Sie entfernte sich schweigend, versank wieder in der Welt des Hafens.

Tagtäglich spieen Schiffe Menschen aus, die in diesem Land der Langnasen fremdartig wirkten und gleich hinter den Kais von Sankt Pauli ihr neues Zuhause fanden, wo sie ihre Fremdheit mit der Fremdheit anderer teilen konnten. Nussbraune und schokoladenfarbene Gesichter zogen an Mai Ling vorbei, vermischten sich mit der Menge bleicher Gestalten, deren Haut in der Sommersonne mitunter zu einem hellen Rot verbrannte.

Wortfetzen drangen an ihr Ohr. Mai Ling sprach Mandarin, Englisch und mittlerweile auch fließend Deutsch. Doch hier am Hafen verstand sie längst nicht alle Sätze, die dicht neben ihr in die Welt hinausgesprochen wurden. In solchen Momenten erinnerte Hamburg sie an Shanghai, auch wenn sie kaum je Gelegenheit gehabt hatte, die Alsterstadt genauer in Augenschein zu nehmen. Die Sommerhitze war jedenfalls weit milder und trockener, selbst die einfachsten Gebäude schienen groß und robust wie ihre Erbauer, und insgesamt machte das Leben der Einheimischen einen geordneteren Eindruck. Nur das bunte Gemisch der Nationalitäten war ähnlich wie an Shanghais Uferpromenade, dem prächtigen Bund mit seinen Banken, Handelshäusern, Konsulaten und Hotels. Mai Ling wanderte vom Hafen weg, jenem anderen Meer aus Steinhäusern entgegen. Mit einem Mal fühlte sie sich nackt in ihrem abgewetzten, ärmellosen Kleid, das aus einer Sammlung für Bedürftige stammte. Seine ursprüngliche Farbe war schwarz gewesen, vielleicht hatte seine erste Besitzerin es für eine Beerdigung gebraucht, doch der Zahn der Zeit hatte den Stoff allmählich ergrauen lassen. Es reichte ihr bis zu den Knöcheln und war tailliert geschnitten, während moderne deutsche Frauen nun locker sitzende, kurze Kleider bevorzugten. Die Frau, für die es geschneidert worden war, hatte sich vielleicht noch einschnüren müssen, um hineinzupassen.

Mai Ling wagte es nicht, die Hafengegend zu verlassen, drehte ihre Runden um die Schmuckstraße herum, wo die meisten Chinesen wohnten. So auch die Familie Wu, deren jüngerer Sohn Liang sie aus Shanghai nach Hamburg hatte bringen lassen. Sie warf einen Blick auf die Armbanduhr, die sie bekommen hatte, um rechtzeitig von ihren Ausflügen zurück sein zu können. Bevor Kundschaft für sie eintraf. Es war kurz nach fünf, so dass ihr etwa noch eine Stunde Zeit blieb. Gemächlich schlenderte sie durch die enge, dunkle Schmuckstraße. Schilder an den Hauseingängen wiesen auf chinesische Geschäfte und Kellerlokale hin. Sie wurden hauptsächlich von Seeleuten aufgesucht, die sich nach Speisen aus der Heimat sehnten oder die nötige Ausstattung für eine neue Schiffsreise brauchten. Sogar ein Heuerbüro stand ihnen zur Verfügung, wenn sie Arbeit suchten. In vielen der kleinen, billigen Kellerwohnungen waren solche Seeleute untergebracht. Auch Liangs Eltern hatten zwei davon angemietet und stellten sie gegen Bezahlung Landsmännern zur Verfügung, die in der Stadt eine vorübergehende Bleibe brauchten. Ein Stück weiter, am Ende der kleinen Straße, befand sich die Wäscherei von Liangs Vater.

Feng Xiao, selbst ein ehemaliger Seemann, betrieb davor eine Garküche, wo er aus asiatischen und europäischen Zutaten Gerichte zauberte, die als chinesisch verkauft wurden, auch wenn niemand in China je von ihnen gehört hatte. Eine Schlange hungriger Langnasen, die regelmäßig vor seinem Verkaufsstand anzutreffen war, zeugte von dem Erfolg dieser Idee. Fengs Frau, von hohem Wuchs und hellgelbem Haar, füllte mit kräftigen Armen die Teller. Es war allgemein bekannt, dass sie noch vor einem Jahr für die Seeleute an der Reeperbahn getanzt und ihren drallen weißen Leib dabei entkleidet hatte – eine öffentliche Entblößung dieser Art hatte Mai Ling bislang vermeiden können. Die meisten der hier ansässigen Chinesen suchten sich ihre Frauen unter den Arbeiterinnen und Prostituierten von Sankt Pauli. Frauen aus ihrer Heimat hatte es selten hierher verschlagen.

Der von Fengs dampfenden Kesseln ausgehende Duft löste ein Knurren in ihrem Magen aus. Mai Ling zählte die Münzen in ihrer Rocktasche, die Liang ihr gegeben hatte. Sie musste den kurzen Anfall von Hunger nutzen, denn die Aussicht auf baldige Kundschaft wirkte sich meist verheerend auf ihren Appetit aus. Unauffällig reihte sie sich am Ende der Schlange ein.

»Ich finde es jedes Mal wunderschön und aufregend hier. Fast als wäre man in China!«, erklang in diesem Moment eine helle Frauenstimme dicht neben Mai Lings Ohr, und die Unsinnigkeit dieser Aussage ließ sie herumfahren. Dann musste sie sich zusammennehmen, um die Besitzerin der Stimme nicht anzustarren. Es war das auffällig gekleidete Mädchen, dessen Haar in der Sonne wie poliertes Kupfer glänzte. Sie holte sich sehr oft Suppe bei den Fengs und war Mai Ling bereits aufgefallen, auch wenn sie noch nie so dicht neben ihr gestanden hatte. Es schien dieser herausgeputzten jungen Frau vollkommen egal, wie sehr sie mit ihren bunten Kleidern, die ihr gerade einmal bis zum Knie reichten, und den zahlreichen Ketten um ihren Hals die Blicke auf sich zog. Sie bewegte sich mit sorgloser Leichtigkeit. Trotz der dunkelrot bemalten Lippen und mit Khol umrandeten Augen verdiente sie ihr Geld vermutlich nicht als Straßenmädchen, denn dazu schien ihr Benehmen zu unbeschwert, ihre ganze Erscheinung zu fern dem Schmutz, den ein solches Leben an einer Frau hinterließ. Mai Ling wusste, dass er bald schon zu tief in den Poren saß, um je wieder abgewaschen zu werden.

In den letzten Wochen war das kupferhaarige Mädchen in Begleitung einer anderen Person gekommen, die Mai Ling zunächst Rätsel aufgegeben hatte. Die hochgewachsene, schmale Gestalt trug stets Hosen und klassisch geschnittene Jacketts, wie es nach der westlichen Mode bei jungen Männern üblich war. Das schwarze Haar war kurzgeschnitten, mit Pomade elegant in Form gebracht. Doch die Züge des schmalen Gesichts wirkten zu zart, die Wangen zu weich für einen jungen Mann.

»Ich habe dir doch mal von meiner Freundin Greta erzählt, weißt du«, plapperte die Kupferhaarige weiter. »Also die diesen Chinesen heiraten will. Sie ist bei ihrer Tante aufgewachsen und war als Kind mal mit ihr in Indien. Aber weil die Tante Kommunistin ist, fuhren sie die ganze Strecke in der dritten Klasse. Um sich nicht von den Arbeitern abzugrenzen.«

»Das ist doch völliger Unsinn!«, meinte die Gestalt in Männerkleidern unwirsch. Ihre Stimme nahm Mai Ling endgültig jeden Zweifel, dass es sich um eine Frau handelte. »Ein normaler Arbeiter könnte sich niemals eine Fahrkarte nach Indien leisten, ganz gleich welcher Klasse. Außerdem käme er gar nicht auf so eine Idee. Was soll er denn dort?«

Sie schien gelangweilt von dem Gespräch, rauchte ihre Zigarette auf und warf sie nachlässig auf den Boden. Ihre Begleiterin redete unbeirrt weiter: »Aber wir beide sind keine Arbeiterinnen. Ich meine, wir könnten uns morgen einfach eine Fahrkarte nach China kaufen, denn dort wollte ich schon immer mal hin. Bei Dr. Katzenberg kündigen und uns zusammen auf die Reise machen. Was meinst du, Sarah?«

Das herzförmige Gesicht der Kupferhaarigen wandte sich offen der Begleiterin zu. Mai Ling staunte über die unverhüllte Sehnsucht nach Zuneigung in den haselnussbraunen Augen. Wie jung und unschuldig das Mädchen wirkte! Es hatte zwar großzügig Schminke aufgetragen, aber offensichtlich noch nicht gelernt, sich mit jenem Schutzpanzer zu umgeben, der persönliche Gefühle verbirgt.

»Alexandra, wir können nicht von heute auf morgen kündigen. Sei nicht albern«, kam es schnell und hart zurück.

Mai Ling musterte kurz die edlen, etwas arroganten Gesichtszüge der Sprecherin. Sie schien ein Mensch, der es für sein selbstverständliches Recht hielt, auf andere herabzusehen.

»Aber Schatz, ich meinte es doch nicht ernst. Es war nur so eine dumme Idee. Ich weiß, wie wichtig dir deine Arbeit ist«, kam es sofort versöhnlich von dem kunterbunten Mädchen. Die kurze Unterhaltung beseitigte alle Zweifel, die Mai Ling über die Art von Beziehung zwischen den beiden Frauen noch gehabt haben mochte.

Die Erinnerung an ein feines, zur Maske geschminktes Gesicht, überragt von kunstvoll ineinander verschlungenem Haar, stieg in ihr hoch. An einen Körper, der so zerbrechlich war, dass man ihn sanft umarmen und vor allem Übel dieser Welt in Schutz nehmen wollte. Winzige Füße steckten in bestickten Stoffschuhen. Sie waren ein hübscher Anblick, solange man sie nicht entblößte. Dann kamen zu Bögen verkrümmte Knochen zum Vorschein und von Fäulnis zerfressene Zehenreste, die mit den Fußsohlen verwachsen waren. Nur die zwei großen hatten ihre natürliche Form bewahren dürfen, wirkten wie der letzte gesunde Ast an einem kranken, verkrüppelten Baum.

Sie verjagte die Frau aus ihrem Bewusstsein. In den letzten Jahren hatte sie gelernt, ihr Gedächtnis durch Willenskraft zu bändigen. Nun, da es wieder angenehme Momente in ihrem Leben gab, sollten sie nicht von der Vergangenheit getrübt werden.

Trotzdem trat sie aus der Schlange der Wartenden, denn die Erinnerung hatte ihren Hunger verjagt. Es war ohnedies Zeit zu gehen. Liang wartete auf sie. Er hatte in sicherer Entfernung, am Pinnasberg, die übliche Kellerwohnung gemietet, denn seine Eltern sollten nicht wissen, welche Karriere er einschlagen wollte.

Mai Ling stieg die Stufen hinab und ihre Beine fühlten sich mit jedem Schritt schwerer an. Einen Augenblick lang überlegte sie, dass sie noch die Möglichkeit hatte umzukehren. Sie konnte sich auf eines der riesigen Schiffe am Hafen schmuggeln und in ferne Länder aufbrechen. Sie konnte weiter in die unbekannte Stadt hinein laufen, die Welt der Langnasen entdecken. Niemand war hier, um sie erst zu Liang und später zu einem ihrer Kunden zu zwingen.

Liang war noch sehr jung, unerfahren in dem Gewerbe. Anfangs hatte er es manchmal für nötig befunden, sie anzuschreien und mit Schlägen zu drohen, auch wenn er niemals seine Hand gegen sie erhob. Die Unsicherheit in seiner Stimme war dabei deutlich zu hören gewesen. Nun, da sie sein Vertrauen genoss, durfte sie sich tagsüber frei bewegen, und es wäre ein Kinderspiel, ihm zu entkommen. Doch wo in dieser Stadt war ein Platz für fremd aussehende Frauen ohne Verwandte und einen Fetzen Papier, der ihr eine Identität hätte verleihen können? Eben weil Liang zu den sanftmütigeren Männern seiner Art gehörte, wollte Mai Ling ihm keinen Anlass geben, sich in Grausamkeit zu üben.

Er wartete bereits. Auf einem Stück Pappe lagen deutsche Würste, daneben eine Scheibe dunkles Brot. Liang mochte das Essen der Langnasen.

»Da bist du ja! Du hast noch viel Zeit, dich schön zu machen. Der Professor erwartet dich, aber erst um neun.«

Seine Stimme klang heiter, als spräche er mit einem Freund. Selbst ihr Gatte damals in Beijing hatte nicht so vertraut mit ihr geplaudert, wie der junge Zuhälter es manchmal tat.

Sie ließ sich ihm gegenüber in dem kleinen, dunklen Raum nieder, wo ein paar abgenutzte, wackelige Möbel standen. Die Wände waren kahl, nur von Schmutzflecken verziert.

»Der Professor hat schon die nächsten Wochen gebucht. Der Kerl ist ganz verrückt nach dir. Es ist, wie ich mir dachte. Ihre eigenen Frauen sind in den letzten Jahren zu aufmüpfig geworden, deshalb träumen die Männer hier von der perfekten Konkubine, die ihnen sogar die Schuhe auszieht.«

Mai Ling fragte sich, ob Liang bereits getrunken hatte, denn er lallte leicht. Der junge Chinese versuchte zu saufen wie deutsche Zuhälter, aber er vertrug den Alkohol nicht. Kurz schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, er könne selbst ihre Dienste beanspruchen wollen, bevor er sie zu dem Professor schickte. Zeit wäre dafür genug. Sie spürte ein schmerzhaftes Ziehen im Magen. Doch Liang schob ihr nur seinen Teller zu.

»Iss! Du bist immer noch viel zu dünn.«

Als sie vor ungefähr zwei Jahren von dem Schiff in diese Wohnung gekommen war, hatte Mai Ling vor Schwäche kaum mehr gehen können. Liang ließ sie mehrere Wochen in Ruhe. Sie schlief und gewann allmählich etwas an Appetit, denn nach dem elenden Leben in Shanghai und der winzigen, dunklen Kammer auf dem Dampfer schien diese kahle Wohnung paradiesisch. Erst als sie wieder bei Kräften war, legte der junge Mann sich zu ihr. Das überraschte sie nicht, denn ihr war klar gewesen, dass er sie nicht aus Mitleid über den Ozean hatte schleppen lassen. Liang war hastig und ungeschickt, was wohl an seiner mangelnden Erfahrung in diesen Dingen lag. Wenigstens verzichtete er auf Grobheiten, versuchte nicht sie zu demütigen. Als er schließlich aufstöhnte, klang es nahezu dankbar. Einen Augenblick lang hatte sie in Erwägung gezogen, diesen kleinen, unscheinbaren Mann vielleicht sogar mögen zu können. Damals wusste sie noch nicht, dass er sie auch an andere verkaufen wollte.

Sie griff nach einer Scheibe Brot und zwang sich hineinzubeißen, kaute langsam, bevor sie widerwillig schluckte. Anfangs hatte ihr Magen gegen das Essen der Langnasen rebelliert, aber mit der Zeit passte alles an ihr sich der neuen Umgebung an. Anders gab es kein Überleben.

»Mein Bruder will tatsächlich heiraten«, unterbrach Liang das Schweigen. »Diese … diese Deutsche. Wir kennen sie, seit wir hier angekommen sind. Sie lebte damals in der Nachbarschaft. Wenn die anderen Kinder uns Ärger machten, weil wir ihrer Meinung nach komisch aussahen, schimpfte sie herum und dann war tatsächlich Ruhe. Deshalb ist sie jetzt wahrscheinlich Lehrerin geworden. Weil sie so gut mit Kindern schimpfen kann.«

Er kicherte. »Die Frau sieht ja nicht übel aus. Rosig und rund, so wie die Weiber der Langnasen eben sind. Aber mir wäre sie zu herrisch.«

Mai Ling nickte, auch wenn der Neid in Liangs Stimme nicht zu überhören gewesen war. Sie hatte seine zukünftige Schwägerin bereits manchmal in der Schmuckstraße gesehen. Die junge Frau hielt sich aufrecht, glaubte an das Prinzip des festen Rückgrats. Mai Ling hatte in den letzten Jahren gelernt, den Rücken zu krümmen, um überleben zu können.

»Meine Mutter«, fuhr Liang fort, »macht natürlich Szenen. Weint und klagt über Ungehorsam und Undankbarkeit. Diese Schwiegertochter wird niemals nach ihrer Pfeife tanzen, das ist allen klar.«

Die Erinnerung an ihre stets klagende, unzufriedene Großmutter stieg in Mai Ling hoch. Frau Wu schien ihr aus demselben Holz geschnitzt. Obwohl sie zu Hause ein gebrochenes Herz zur Schau trug, klang Liangs Mutter anders, wenn sie mit den Nachbarn redete; mit Männern notgedrungen, weil es hier fast keine Chinesinnen zum Tratschen gab. Ihr Sohn würde eine Deutsche heiraten, und zwar kein ungebildetes Arbeitermädchen oder gar eine aus dem Freudenhaus, nein, ein richtiges studiertes Fräulein, erklärte sie dann mit unverhohlenem Stolz.

Ob das studierte, verrückte Fräulein wohl ahnte, was es sich mit einer chinesischen Schwiegermutter antat, die zudem auch noch im Land lebte? Wenn sie unbedingt einen chinesischen Mann wollte, dann hätte es hier genug Kandidaten gegeben, an denen nicht gleich die ganze Familie klebte. Aber Liangs Bruder Dehong hatte bereits die Absicht geäußert, nach der Heirat eine eigene Wohnung zu nehmen. Er machte dadurch unmissverständlich klar, welche Frau fortan die wichtigste Rolle in seinem Leben spielen sollte.

Was mochte es für ein Gefühl sein, derart geliebt zu werden?

Plötzliche Sehnsucht nach ihrem Vater trieb Mai Ling Tränen in die Augen. Sie hörte auf zu kauen und atmete tief durch, um die Fassung zu wahren.

Sie musste sich zwingen, an etwas Angenehmes zu denken. Liang eine Weile nicht beachten. Die Existenz des Professors aus ihrem Gedächtnis verdrängen. Nur dann würde es ihr gelingen, sich den Rest des Abends zu beherrschen.

In ihrer Erinnerung erschien das herzförmige Gesicht der Kupferhaarigen. Sie konnte nicht sagen, warum diese bunte, sorglose Erscheinung der angenehmste Anblick des Tages gewesen war.

I ain’t much to look at,

nothing to see,

just glad I’m living and lucky to be.

I’ve got a woman crazy for me.

She’s funny that way.

Alexandra drehte die Musik leiser. Noch vor einigen Tagen war dies ihr Lieblingssong gewesen, den sie im Bad und manchmal auch in der Arbeit vor sich hin trällerte. Die weiche, schmeichelnde Melodie gefiel ihr, obwohl sie sonst schnellere Tanzmusik bevorzugte.

Doch nun machte das Lied sie wütend.

Sie griff nach ihrer Zigarette und sog den Rauch tief in die Lunge, obwohl ihr bereits der Hals davon kratzte. Wenn sie so weitermachte, hätte sie bald gelbe Finger wie Michelle.

Oder auch wie Sarah.

Ihr Blick streifte über das Telefon im Gang. Welch ein Luxus es einst für sie gewesen war, Wohnungsgenossin von Michelle zu werden, ein winziges Zimmer, durch das nachts Ungeziefer huschte, gegen diese schönen, weiten Räumlichkeiten einzutauschen! Eine Toilette in der Wohnung anstatt auf dem Flur des Hauses, wo alle Nachbarn sie benutzten und beschmutzten. Ein eigenes Telefon, das, wie sie damals geglaubt hatte, besonders nützlich wäre, wenn die ersten Aufträge kamen.

Doch die Aufträge kamen nicht. Das Telefon schwieg. In den letzten Tagen war sein Schweigen besonders laut geworden.

Vergeblich auf Post zu warten war erträglicher, denn der Briefträger kam nur einmal am Tag. Danach brauchte man sich nicht mehr mit vergeblicher Hoffnung zu quälen. Ob der Erfinder des Telefons je einen Gedanken daran verschwendet hatte, wie verheerend dieser unscheinbare Apparat sich auf menschliches Wohlbefinden auswirken konnte?

»Alex, komm raus auf den Balkon! Du hörst es dort auch, wenn’s klingelt. Und ist noch etwas von dem Wodka übrig, den dir dein Vater geschenkt hat?«

Alexandra war Michelle dankbar für die Unterbrechung ihrer unerfreulichen Gedankengänge. Besser nach Wodka suchen als vergeblich auf einen Anruf warten, befand sie und begann zu grübeln. Sie konnte sich dunkel erinnern, gestern Nacht eine Flasche mit zwei irischen Matrosen geleert zu haben. Aber etwas musste noch übrig sein, wenn ihr nur endlich einfiele, wo sie den Vorrat verstaut hatte.

Nachdem sie Küche und Vorratskammer einer ergebnislosen Inspektion unterzogen hatte, kam schließlich wider Erwarten eine noch gänzlich ungeöffnete Flasche im Kleiderschrank zum Vorschein. Alexandra schraubte den Verschluss ab und nahm einen tiefen Schluck, bevor sie einen Kübel mit Eisstücken füllte, die Wodkaflasche hineinsteckte und zu Michelle hinaustrug.

Vor ihren Augen tauchte die Abendsonne Hamburg in rotgoldenes Licht. In der Ferne hoben sich die Umrisse der Dampfer wie Schatten riesiger Ungeheuer von dem Grau des Wassers ab. Möwen kreisten am Horizont. Alexandra atmete tief ein und fühlte sich einen Augenblick lang ruhig, fast entspannt. Sie liebte diese Stadt.

»Wir müssen ein wenig warten, bis der Wodka kalt ist. Zum Glück habe ich heute Nachmittag Eis besorgt«, erklärte sie. Michelle verzog das Gesicht.

»Wir sollten diese Abende besser planen. Wahrscheinlich gehen uns bald noch die Zigaretten aus.«

»Da habe ich vorgesorgt.« Alexandra legte eine geöffnete Schachtel auf den Tisch. Erst am Morgen hatte sie bereits eine aufgemacht, die mittlerweile leer war.

»Du bist ein Engel.« Michelle zog eine Zigarette heraus und zündete sie an. Alexandra ließ sich neben ihr auf dem Klappstuhl nieder. Seit sie zusammen lebten, waren diese sommerlichen Abende auf dem Balkon zu einem Ritual geworden. Sie leerten gemeinsam eine Flasche desjenigen alkoholischen Getränks, das gerade zur Verfügung stand, rauchten und warteten auf die Kühle der anbrechenden Nacht. Danach zogen sie los, um einen Film zu sehen oder suchten eines der zahlreichen Tanzlokale Hamburgs auf.

War es möglich, dass ein schweigendes Telefon einem die Freude an alldem verdarb, was gewöhnlich Freude machte? So als leide man plötzlich an einer unheilbaren Krankheit?

»Gehst du heute noch mit mir aus?«, fragte Alexandra, trotzig gegen ihre Schwermut ankämpfend.

»Tut mir leid, Schätzchen, aber ich bin verabredet.«

Angesichts der Vorstellung, den Rest des Abends in der stummen Gesellschaft des Telefons verbringen zu müssen, war Alexandra plötzlich zum Heulen zumute. Vielleicht konnte sie herausfinden, was Django und die anderen Leute aus seiner Band noch vorhatten. Seit ihrer Beziehung mit Sarah hatte sie alle ihre Freunde vernachlässigt. Doch nur die wenigsten besaßen ein Telefon, so dass kurzfristige Verabredungen schwierig waren. Ob Django heute Nacht irgendwo auftrat? Plötzlich vermisste sie es, bei seiner Band mitzusingen, auch wenn Sarah in Übereinstimmung mit Michelle die Meinung vertrat, auf diese Weise käme ihre Karriere niemals in Gang. Djangos Mischung aus Jazz und Zigeunermelodien wäre zu wild, zu unkonventionell für ein größeres Publikum.

»Mit wem triffst du dich?«, fragte sie Michelle, um sich abzulenken. »Dieser Kunststudent, der schon einmal hier gewesen ist?«

Michelle schüttelte den Kopf. »Nein, diesmal der Sohn eines Bankdirektors. Ich bin gerade pleite, Schätzchen. Da kann ich keinen brotlosen Künstler brauchen.«

Alexandra kicherte. »Du bist ein unverbesserliches, berechnendes Miststück. Wie schaffst du es eigentlich immer, das viele Geld, das dein Vater dir jeden Monat schickt, so schnell auszugeben?«

Eigentlich kannte sie die Antwort auf diese Frage. Neben glamourösen Partys, teuren Lokalen und edler Kleidung liebte Michelle noch das kristalline Pulver. »Teekse« hießen die Tüten, in denen es verkauft wurde. Eingeweihte nannten es auch Grammophonplatte, um jene Unschuldslämmer, die sich dann tatsächlich runde Musikscheiben vorstellten, milde belächeln zu können. Michelle war in dieser Hinsicht sachlich, sie redete stets von Koks und schnupfte es regelmäßig in ihre Nasenlöcher, vor allem, wenn sie sich mit einem ihrer Liebhaber traf. Ein unvergleichliches Erlebnis, wie sie immer wieder versicherte. Als schwebe man stundenlang durch die Luft. Aufregende Nächte ohne irgendein Anzeichen von Erschöpfung. Doch das Wissen um ihre beschränkten Finanzen hatte Alexandra bisher davon abgehalten, sich dieses Laster ebenfalls zuzulegen.

Michelles Verständnis von Sparsamkeit war es allerdings zu verdanken, dass Alexandra hier wohnen konnte. Die Tochter eines Großindustriellen hatte notgedrungen ihre Putzfrau abgeschafft und sich stattdessen eine Untermieterin zugelegt, die zahlte, auch wenn sie nicht für Ordnung sorgte.

»Ich bin ein Miststück, Schätzchen, und deshalb laufen mir die Kerle nach«, meinte Michelle, ohne auf Alexandras Frage einzugehen. »Du dagegen verschenkst dein Herz, als wäre es nur eine Tüte Bonbons, und deshalb schleichst du seit Tagen um das Telefon herum wie ein Geist.«

Alexandra fuhr zusammen.

»Ich verstehe nicht, was du meinst.«

»Das ist nicht wichtig«, erwiderte Michelle achselzuckend.

»Nun sag schon, was das sollte!«

Alexandra erschrak selbst über die Schärfe ihrer Stimme. Michelle seufzte.

»Ich meinte nur, dass du es deiner Sarah zu leicht gemacht hast. Ihr gleich um den Hals gefallen bist, anstatt ein paar Spielchen zu spielen. Darauf stehen Männer nämlich.«

»Sarah ist doch kein Mann!«

»Jetzt schrei nicht herum, sonst beschweren sich wieder die Nachbarn! Deine Sarah kam nicht als Mann zur Welt. Das ist ihr Pech, streng genommen. Sie ist erfolgreich, ehrgeizig, hat eine erstklassige Wohnung und sogar ein eigenes Auto. Eigentlich sieht sie sogar gut aus, eben androgyn. Da könnte ich schon auch schwach werden. Jedenfalls kenne ich eine Menge hübscher Mädchen, die sich nach Sarah Weinberg die Finger abschlecken würden, wenn sie ein Mann wäre. Das ist sie aber nicht. Deshalb würden die meisten dieser Mädchen sich nie mit ihr in der Öffentlichkeit blicken lassen, auch wenn sie ihnen vielleicht gefällt. Sie hatte Glück, dich zu kriegen, verstanden? Du hättest es nur geschickter anstellen müssen, das ist alles.«

Alexandra zog die Flasche aus dem Kübel und nahm einen weiteren Schluck, um sich zu beruhigen. Dann reichte sie den Wodka an Michelle weiter.

»Hör auf mit dem Schwachsinn! Was weißt du schon über Frauen wie Sarah?«

Michelle trank und gab die Flasche zurück. »Ich halte immer meine Augen offen. Deine Sarah sieht aus wie ein Kerl und denkt wie ein Kerl. Was sie sich wünscht, ist eine Frau, die sich wie eine Frau und nicht wie ein Kerl benimmt. Wie in der Bar, wo die Sarahs von Hamburg sich treffen: Da gab es tatsächlich nur Frauen, aber drei Viertel von ihnen hatte sich als Mann verkleidet. So etwas wie wir, das war dort eine Seltenheit. Jedenfalls gafften sie mich alle an.«

»Du wirst überall angestarrt, Michelle«, stellte Alexandra fest. Michelle, die als Michaela Kellermann zur Welt gekommen war, entsprach nicht dem modernen Schönheitsideal, wie es in Filmen zu sehen war. Ihre Figur hatte zu üppige Kurven. Reizvoll waren die dunklen, schattigen Augen, doch davon abgesehen, gab es nichts an ihr, das sie äußerlich bemerkenswert gemacht hätte. Ihre Gesichtszüge wirkten eher herb. Trotzdem schien in ihrem Fall ein bisher unerforschtes Naturgesetz zu wirken. Jeder Mensch, der dem weiblichen Geschlecht zugetan war, wurde von Michelle angezogen, als triebe die Schwerkraft ihn zu ihr hin.

»Ich wollte dir nur einen guten Rat geben, nichts weiter«, knurrte Michelle. »Vergiss deine Sarah, denn offenbar hat sie dich auch schon vergessen.«

Alexandra schluckte den Schmerz, den die Worte ihr zufügten. Michelle war nicht mit sehr viel Feingefühl gesegnet, doch trafen ihre Bemerkungen leider oft die Wahrheit.

»Ich habe Fehler gemacht, da hast du Recht. Letzte Woche zum Beispiel, da haben wir uns im Chinesenviertel eine Suppe geholt. Und … da hatte ich plötzlich eine verrückte Idee. Ich schlug Sarah vor, dass wir zusammen nach China fahren könnten. Ich meinte es natürlich nicht ernst. Aber mein Verhalten gefiel ihr wieder einmal nicht.«

Michelle war in lautes Gelächter ausgebrochen.

»Was in Gottes Namen wolltest du denn dort? ›Immer nur lächeln, wenn das Herz auch bricht‹«, trällerte sie die Melodie aus einer gerade sehr beliebten Operette. Alexandra fühlte sich unwohl, was eher weniger daran lag, dass Michelle nicht besonders gut singen konnte.

»Na ja, ich weiß auch nicht, wie ich auf diese Idee kam. Vielleicht liegt es an Greta und ihrem Verlobten.«

Der Chinese gefiel ihr. Sie mochte den feinen, schlanken Körper des Mannes, die Eleganz seiner Bewegungen.

Und dann war da noch dieses Mädchen gewesen.

»Außerdem habe ich eine junge Chinesin gesehen, als ich mit Sarah in der Schlange stand. Sie war genau hinter uns«, fügte sie hinzu. »Das hat mich überrascht, denn hier gibt es ja kaum chinesische Frauen. Die war jedenfalls wunderschön, fast so wie diese amerikanische Schauspielerin, Anna May Wong, die wir letzte Woche im Kino gesehen haben. Weißt du noch? Ich habe ein Bild von ihr aus der Zeitung geschnitten. Das Mädchen in der Schmuckstraße war nur magerer.«

»Diese Asiatinnen sehen alle winzig und halb verhungert aus. Deshalb gefallen sie Männern, die heimlich von kleinen Mädchen träumen.« Unwirsch ließ Michelle die Hand kreisen, ein Kreis aus Zigarettenrauch schwebte in der Luft.

Alexandra rutschte auf ihrem Liegestuhl umher. Manchmal mochte sie Michelles spöttische Bemerkungen nicht besonders.

»Ich muss mich langsam fertig machen, Schätzchen. Das Bankerbubi wartet«, unterbrach die Freundin nun und sprang auf.

»Du lässt deine Kerle doch gern warten«, rief Alexandra mit künstlicher Heiterkeit. Sie fürchtete sich vor dem Moment, da die Tür hinter Michelle zufallen würde, um die Wohnung in einen Ort der Einsamkeit zu verwandeln.

»Man muss es aber nicht gleich übertreiben. Bankerbubi hat Stoff für mich.«

»Ganz schön unartig für einen Bankerbubi!«

»Ich treffe eben eine gute Wahl bei meinen Männern.«

Alexandra nippte weiter an der Wodkaflasche und rauchte, während Michelle in ihrem Zimmer verschwand. Als sie eine Stunde später wieder auftauchte, schien eine heidnische Göttin im Raum zu stehen. Ihr schwarzes Seidenkleid musste einiges gekostet haben, obwohl der Schneider an Stoff gespart hatte, denn ein tiefer Ausschnitt wurde nur von zwei schmalen Trägern an den Schultern gehalten. Zwei lange Reihen echter Perlen baumelten um Michelles gepuderten Hals. Mit jedem ihrer Schritte verbreitete sie den satten, schweren Duft französischen Parfüms.

Sie ist keine Schönheit, aber sie hat Glamour, dachte Alexandra anerkennend.

»Also Schätzchen, ich muss jetzt wirklich los. Amüsier dich gut und komm bitte nicht auf die Idee, das Telefon aus der Wand zu reißen, nur weil es nicht klingelt. Der Apparat kann nichts dafür.«

Alexandra schwieg. Sie fühlte Tränen in ihrer Kehle aufsteigen. Der gottverdammte Wodka machte sie nur noch schwermütiger.

Plötzlich blieb Michelle stehen und blickte sich um. Zwar kreisten ihre Gedanken mit froher Beständigkeit stets um die Bedürfnisse ihrer eigenen Person, doch es gab Momente, da sie das Unglück anderer tatsächlich erkannte.

»Pass auf, Alex. Wenn du die Frauen jetzt satt hast und reumütig in männliche Arme zurückkehren willst, dann werde ich meinen Bankerbubi fragen, ob er nicht einen netten, schicken Freund für dich hat. Und falls du weiter nach Weibern in Männerkleidern schmachtest, dann gehe doch einfach in die Bar, wo wir mit Sarah waren. Ich könnte wetten, dass diese Amazonen gleich einen Schwertkampf um dich beginnen.«

Sie legte ihre Hände auf Alexandras Schultern. »Kopf hoch, Schätzchen! Auch andere Mütter haben schöne Kinder. Du musst dir nur überlegen, ob du die Söhne oder die Töchter willst.«

Dann schwebte sie auf eleganten Tanzschuhen hinaus.

Alexandra zuckte leicht zusammen, als die Tür ins Schloss fiel. Sie musterte nachdenklich die halbvolle Flasche. Michelles vermutlich ehrlich gemeinte Ratschläge halfen nicht viel, denn wenn sie in sich hineinhorchte, wurde ihr nur immer wieder klar, dass sie weder Frauen noch Männer wollte. Nur einen einzigen Menschen mit Namen Sarah Weinberg.

Falls sie weiter hier herumsaß und trank, würde sie irgendwann selbst zum Telefon greifen. Und wenn es der Teufel wollte, wäre Sarah am Ende zuhause. Doch bei dem Gespräch käme nicht mehr als eine weinerliche, vorwurfsvolle Litanei heraus, nach der sie sich endgültig wie ein unwürdiges Nichts fühlen konnte.

Entschlossen stand sie auf. Sie würde losziehen und ein paar Tanzlokale aufsuchen. Vielleicht traf sie dort auf Django oder einen seiner Musiker. Sie wollte endlich wieder singen. Die Aussicht auf laute Jazzmusik, verqualmte, heiße Luft und wild tanzende Menschen ließ ihre Lebensgeister erwachen.

Aber zunächst brauchte sie einen starken Kaffee. Danach vielleicht noch eine warme Suppe in ihrem flauen Magen. Wenn sie Glück hatte, war die Garküche in der Schmuckstraße noch offen.

Sie zog eines ihrer Tanzkleider aus dem Schrank und begann sich herzurichten. Michelles teure Eleganz strebte sie nicht an, aber sie wollte frech und modern wirken. Wie ein Flapper eben.

Das Kleid war ärmellos und hing locker bis zu ihren Knien hinab. Sie hatte es aus alten Ballroben geschneidert, die von ihrer ersten Besitzerin in einen Ramschladen gebracht worden waren, und Fransen an den Saum genäht. Der mit Bändern und bunten Knöpfen verzierte Clochehut verbarg ihren Haarbob fast gänzlich, so dass sie sich nicht zu frisieren brauchte. Schließlich hängte sie sich ihre Glasperlen um den Hals und schlüpfte in die Schuhe. Auf einmal konnte sie es kaum erwarten, dieser großen Wohnung mit dem stummen Telefon zu entkommen.

Alexandra sprang die Stufen im Hausflur hinab. Ob sie im Chinesenviertel wieder das dünne Mädchen treffen würde? Sie war gewiss jung, doch trotzdem schien das feine, zarte Gesicht seltsam verhärmt. Alexandra grübelte noch kurz über das Schicksal der exotischen Unbekannten nach, doch bald schon nahm der Taumel des Nachtlebens ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch.

2. KAPITEL

Chinatown, my Chinatown

Where the lights are low

Hearts that know no other land

Drifting to and fro

Es war eine leichte, gefällige Melodie, fast wie ein Kinderlied. Die Gesichter der Musiker wirkten ein wenig gelangweilt, als sehnten sie sich nach einer größeren künstlerischen Herausforderung. Nur in der weichen, kräftigen Stimme der Kupferhaarige schwang etwas Begeisterung.

Mai Ling starrte durch das verglaste Fenster der Tür, hinter der sie sich versteckt hatte. Es war nicht besonders schwer gewesen, den Kellner zu bestechen, damit er sie die Hochzeitsfeier heimlich beobachten ließ. Die Tatsache, dass er nur einen kantonesischen Dialekt sprach, hatte die größte Hürde dargestellt, und schließlich mussten sie sich mühsam auf Deutsch verständigen. Scheinbar schien der junge Mann es ihr tatsächlich abzunehmen, dass sie eine Studentin war, die dem seltenen Ereignis der Heirat zwischen einem chinesischen Mann und einer deutschen Frau beiwohnen wollte. Falls er ihren Wunsch, dies heimlich zu tun, merkwürdig fand, so zeigte er es aus Höflichkeit nicht.

Liang hatte ihr erzählt, dass die wenigen jungen Chinesinnen in Deutschland Gaststudentinnen waren. Einmal hatte Mai Ling eine solche Frau neugierig durch die Schmuckstraße laufen sehen, an der Seite einer älteren Weißen, mit der sie angeregt plauderte, ohne Kontakt mit den kleinen Händlern und Hafenarbeitern zu suchen.

Mai Ling hatte sich rasch von ihnen abgewandt, denn das ernste, bebrillte Gesicht dieser jungen Landsmännin erinnerte sie schmerzhaft an eine Zukunft, die man früher auch ihr in Aussicht gestellt hatte.

Seitdem gab sie sich gegenüber anderen, ihr unbekannten Chinesen als Studentin aus. Es freute sie, dass ihr immer geglaubt wurde. Noch war nicht alles an der Person, die sie einst gewesen war, vom Schmutz der Gosse bedeckt.

Die Hochzeitsfeier von Liangs Bruder fand in einem der großen chinesischen Restaurants statt, das in der Nähe der Schmuckstraße lag. Sein Name lautete nicht unbedingt einfallsreich Cheong Shing, »Die große Mauer«. Wu Dehong stand in einem eleganten Anzug an der Seite seiner großen, kräftigen Frau. Sie trug flache Schuhe, um ihn nicht zu überragen, und ein sehr schlichtes Kleid in Weiß, was sie neben dem herausgeputzten Dehong geradezu armselig aussehen ließ. Die fröhliche Gelassenheit ihrer Bewegungen machte deutlich, wie wenig sie sich um die Wirkung ihrer Erscheinung kümmerte.

Weiß. Die Farbe der Trauer. Damals, als Mai Ling in Beijing aus dem Automobil stieg, hatte sie ebenfalls ein westliches Kleid in dieser Farbe getragen. Ihr Gemahl, so versicherte Großmutter Wang, liebe das Moderne. Es war ein besticktes, mit Perlen verziertes Gewand, das sie wohl trösten sollte, weil ihr als Nebenfrau keine aufwändige Zeremonie zustand. Großmutter Wang hatte trotzdem nicht auf leuchtend rote Glücksbringer verzichten wollen, die an den Fenstern des Wagens baumelten. Es missfiel ihr, dass die Enkelin weder ein Hochzeitskleid aus roter Seide noch den üblichen Kopfputz mit Schleier trug, so wie ihr jeder Bruch mit Traditionen stets ein Dorn im Auge gewesen war, angefangen mit Mai Lings großen, gehfähigen Füßen.

Der Fremde, in dessen Haus Mai Ling gebracht wurde, war ein Händler, der Geschäfte mit den Langnasen machte. Er verkaufte ihnen Seide und kostbares altes Porzellan. Dadurch war er reich geworden, wie Großmutter Wang begeistert erzählte. Über eine Heiratsvermittlerin, die einer der treulosen Söhne der Großmutter kannte, war diese Hochzeit zustande gekommen. Der Fremde wollte ein modernes Mädchen, das Englisch sprechen konnte und sich in Gegenwart seiner Kunden zu benehmen verstand. Mai Ling fragte sich, ob ihre Rolle eher die einer Angestellten sein sollte. Diese Vorstellung gefiel ihr besser als alle anderen Ideen, die sie mit der Ehe verband.

»Du hast Glück, weil seine Mutter schon tot ist«, hatte Großmutter Wang Mai Ling ins Ohr geflüstert, als sie die Enkelin ins Automobil schob. »Für deinen Mann bist du ein angenehmer Zeitvertreib. Eine Schwiegermutter würde dich zu ihrer Dienerin machen.« Als der Wagen von einem mit Laternen geschmückten, grauen Steinbau hielt, fragte Mai Ling sich, was wohl die Andere, die erste Frau ihres Gemahls, aus ihr machen würde.

Er war ein untersetzter Mann mit kleinen Augen und trug einen grauen, westlichen Anzug, in dem er Mai Ling an eine Maus erinnerte. Dass er ihr eine Ehre erwies, weil er sie gleich nach der Ankunft persönlich begrüßte, war ihr in diesem Augenblick nicht klar. Der Lärm der riesigen Stadt, das fremde Haus, die neuen Eindrücke, all das tobte wie ein Sturm um ihre Ohren. Ihr war schwindelig, als sie über die hohe Türschwelle schritt, die bösen Geistern den Eintritt verwehren sollte. Auf weichen Knien folgte sie dem Fremden durch die drei Höfe des Hauses, die von Mauern umschlossen und mit runden, rot lackierten Türen verbunden waren. Zu jedem Hof gehörten drei Zimmer. Sie nahm Diener wahr, die sich zur Begrüßung verneigten. Irgendwann fand sie sich in einem Lager voller Porzellanfiguren, bemalter Teller und Statuen aus Jade wieder.

»Sie zahlen einen guten Preis für diesen alten Kram«, meinte der Fremde. »Es gefällt ihnen und sie bewundern die Kunstfertigkeit unserer Vorfahren. Auf diese Weise kann man Geschäfte mit ihnen machen. Doch nun haben sie die neue Technik, Maschinen und hervorragende Schusswaffen. Deshalb konnten sie unser Land unter sich aufteilen. Wir müssen von ihnen lernen, damit wir nicht nur eine glorreiche Vergangenheit, sondern auch eine Zukunft haben.«

Mai Ling nickte, ohne recht zu wissen warum. Großmutter Wang hatte ihr eingeschärft, sich gefällig zu zeigen. Gleichzeitig hielt die Grazie der zarten, ebenmäßigen Porzellanformen ihren Blick gefangen. Warum vermochte der Fremde nicht mehr als eine gut verkäufliche Ware in all dieser Schönheit sehen? Sie verspürte plötzlich den Wunsch, sich ein Stück von ihm zu entfernen.

Beim Abendessen musterte sie Schalen voller Delikatessen, ohne Hunger zu empfinden. Aus Höflichkeit griff sie zu und zwang sich zu schlucken, während sie sehnsüchtig an die gefüllten Teigtaschen von Großmutter Wang zurückdachte. Freude am Essen war stets ein selbstverständlicher Teil ihres Lebens gewesen, doch nun begann ihr Appetit allmählich zu schwinden, als hätte Mai Ling eine Welt betreten, in der selbst den edelsten Gerichten jeder Geschmack fehlte.

Ein feines Rauschen kündete die Andere an. Sie trug einen seidenen Qipao, der locker saß und die Formen des Körpers eher verhüllte, als sie zu betonen und durch seitliche Schlitze gleichzeitig die nackte Haut der Beine zur Schau zu stellen, wie Mai Ling es bei vielen jungen Mädchen in der Stadt gesehen hatte. Das Gesicht strahlte die gleichmäßige Anmut der Figuren aus, die der Fremde in seinem Lager sammelte. Bleich geschminkte Haut spannte sich über feine, zerbrechliche Knochen. Das Wesen, das zu kostbar und zu zart für die raue Wirklichkeit schien, hieß Baihe, Lilie, ein sehr treffender Name. Die Lilie grüßte höflich, aber dann sprach sie nichts mehr.

»Dein Vater hat in Amerika studiert?«, wandte sich der Fremde an Mai Ling, ohne seiner ersten Frau irgendeine Beachtung zu schenken. Wieder nickte sie.

»Und du hattest eine englische Lehrerin, nicht wahr?«

Die Erinnerung an Miss Johnson tat weh. Zu viele Hoffnungen waren mit ihrer Person verbunden gewesen.

»Hat sie dir gezeigt, wie man Geschäftsbriefe schreibt? Das wäre vielleicht nützlich für mich«, fuhr der Fremde fort, während er seine rasch geleerte Schüssel erneut füllte.

Verwirrt schüttelte Mai Ling den Kopf. »Sie erzählte mir viel von ihrer Heimat. Ich habe englische Romane gelesen«, murmelte sie.

Das war nicht die erhoffte Antwort, doch der Fremde gab sich damit zufrieden. »Es reicht, wenn du reden kannst wie die Langnasen. Das macht Eindruck. Dich kann ich ihnen vorstellen und stehe als moderner Mann da.«

Die Andere erhob sich und flüsterte leise eine Entschuldigung, bevor sie aus dem Raum schlich. Ein solches Verhalten grenzte an Unhöflichkeit, doch schien es den Fremden nicht zu stören. Mai Ling sah den schwankenden, mühsamen Gang, mit dem der zarte Körper der Anderen sich bewegte, und begriff jetzt erst seine Ursache. Ihre Füße begannen plötzlich zu schmerzen.

»Meine Familie hat sie ausgesucht«, erklärte der Fremde kauend. »Sie ist die Tochter eines kaiserlichen Beamten, doch seitdem es keinen Kaiser mehr gibt, sind seine Beamten unwichtig geworden. Meine Eltern meinten, es wäre eine Ehre, mit so einer vornehmen Dame verheiratet zu sein. Aber mit ihren altmodischen, winzigen Füßen ist sie nur peinlich. Die Langnasen starren sie entgeistert an und denken sich, wir sind kranke Barbaren. Sie kann Konfuzius auswendig aufsagen und außerdem viele der alten Dichter. Aber natürlich kein Wort Englisch. In fünf Jahren hat sie es nicht einmal geschafft, schwanger zu werden.«

Er musterte Mai Ling aufmerksam, als erwarte er einen Kommentar zu dieser unschönen Lage. Sie senkte den Kopf und starrte auf die Reiskörner in ihrer Schüssel, was er offenbar als Aufforderung zum Weiterreden auffasste.

»Ich bin ein gutmütiger Mann, deshalb schicke ich sie nicht zu ihren Eltern zurück. Sie ist sehr stolz, mit dieser Schmach könnte sie nicht leben. Aber wenn sie dir Ärger macht, dann muss sie gehen, das verspreche ich.«

Mai Ling wollte diese Aussage mit einem Nicken zur Kenntnis nehmen, doch es gelang ihr nicht. Ihr Genick war plötzlich versteinert. Sie fragte sich, ob die dünnen Wände des Hauses die Andere vor derart abfälligen Worten schützen konnten.

Die folgende Nacht war weniger schlimm, als Mai Ling erwartet hatte. Zwar glaubte Großmutter Wang, dass Ahnungslosigkeit Mädchen am ehesten ihre Unschuld bewahren ließ, aber Miss Johnson hatte dies anders gesehen. Zudem war es kaum möglich, auf dem Land aufzuwachsen und dabei nicht mitzubekommen, wie Tiere sich fortpflanzen. Mai Ling wusste, welche Pflichten zu ihrem Leben als Ehefrau gehören würden, auch wenn die englische Lehrerin diese Tätigkeit niemals als Pflicht beschrieben hatte. Sie erwartete kein Vergnügen, war jedoch erleichtert, nach einigen Gläsern Wein und Reisschnaps kaum noch Widerwillen zu empfinden. Der Schmerz war stechend, aber vermutlich ein einmaliges Übel. Doch eines überraschte sie: Die Vorstellung, dass die weichen, fleischigen Hände des Fremden, die nun auf ihrem Körper lagen, regelmäßig die feinen Gelenke und die blasse Haut der Anderen berührt haben mussten, weckte ein leichtes, durchaus angenehmes Kribbeln in ihrem Unterleib.

Neue, schnellere Musik riss sie in die Gegenwart zurück. Die Kupferhaarige sang nicht mehr, sondern hatte sich unter die Gäste gesellt. Ein paar vertraute Gesichter aus der Schmuckstraße befanden sich darunter, so auch Xiao von der Garküche mit seiner Frau. Liangs Mutter schien trotz aller früheren Klagen nun höchst zufrieden, Ehrengast bei einer großen Feier zu sein, der Vater hingegen wirkte verschlossen, doch war er Mai Ling als Eigenbrötler beschrieben worden. Am anderen Ende der Tafel saßen die geladenen Langnasen, Freunde der Braut offenbar, denn laut Liang hatte seine zukünftige Schwägerin kaum Familie vorzuweisen. Sie kosteten mit skeptischer Miene von dem fremden Essen, blickten neugierig um sich, doch keiner von ihnen suchte Kontakt mit den anwesenden Chinesen. Zwei separate Grüppchen hatten sich gebildet, bis eine große Frau, die Miss Johnson ähnelte, plötzlich aufstand, um sich an die Seite von Dehongs Eltern zu setzen. Liang hatte Mai Ling von der kinderlosen, unverheirateten Tante seiner zukünftigen Schwägerin erzählt, der einzigen noch lebenden näheren Verwandten der Braut. Mai Ling sah, wie diese Tante sich an Frau Wu wandte, um ein Gespräch mit ihr zu beginnen. Vermutlich meinte sie, einer einfachen Chinesin dadurch entgegenzukommen. War ihr klar, dass sie in den Augen dieser Frau ein bemitleidenswertes Wesen war, da sie keine männlichen Nachkommen vorweisen konnte, die sie im Alter versorgen und nach dem Tod ehren würden?

Die ersten Paare wagten sich auf die Tanzfläche. Braut und Bräutigam drehten unter allgemeinem Jubel ihre Runden. Dann wechselten allmählich die Tanzpartner. Mai Ling sah die Kupferhaarige mit Dehong in einem von Drehungen unterbrochenen Galopp über das Parkett fegen. Blank polierte, schwarze Männerschuhe jagten neben einem Paar golden glitzernder Sandaletten dahin, flink und behände wie flatternde Vögel. Die Umstehenden machten Platz, um den eleganten, schwungvollen Lauf nicht aufzuhalten. Applaus erklang, denn beide waren hervorragende Tänzer. Mai Lings Blick wanderte zu der Braut. Die meisten Frauen wären verunsichert, ihren Gemahl am Tag der Hochzeit in derartiger Übereinstimmung mit einer Anderen tanzen zu sehen, doch das rosige, von blonden Locken umrahmte Gesicht drückte nur Freude aus. Die Ausgeglichenheit und das Selbstvertrauen dieser Frau waren nicht leicht zu erschüttern.

Obwohl Liang immer wieder betonte, dass es weitaus hübschere Exemplare unter den deutschen Frauen gab als seine zukünftige Schwägerin, verstand Mai Ling Dehongs Entscheidung für dieser unscheinbare Schullehrerin sehr gut. Die Kupferhaarige, mit der er tanzen konnte, als seien ihre Körper Teile eines Ganzen, mochte eine reizvolle, schillernde Erscheinung sein, doch die Braut in ihrem schlichten, fast schäbigen Kleid war wie ein Felsen, an den ein vom Ozean angeschwemmter Fremder sich in seiner neuen Heimat klammern konnte.

Wieder wechselte man die Tanzpartner. Dehong kehrte in die Arme seiner Frau zurück, während die Kupferhaarige plötzlich mit Liang tanzte.

»Sie kleidet und benimmt sich wie ein Flittchen, diese gute Freundin von Dehongs zukünftiger Frau«, hatte Liang Mai Ling gestern erzählt. »Angeblich arbeitet sie aber für einen Anwalt, aber mal ernsthaft, wer stellt schon so eine Frau ein? Ihre Haare, die leuchten wie Feuer. Da kann sich doch kein Mann auf die Arbeit konzentrieren!«

Bei diesen Worten war Mai Ling erst klar geworden, von wem die Rede war, und sie hatte endgültig beschlossen, sich zur Hochzeitsfeier zu schleichen.

Liang bewegte sich beim Tanz nicht so geschmeidig wie sein Bruder, doch schien das Mädchen sich daran nicht zu stören. Kaum eine weiße Frau, die etwas auf sich hielt, hätte in Shanghai öffentlich mit einem Chinesen getanzt. Die Tatsache, dass dieses Mädchen es mit völliger Selbstverständlichkeit tat, machte die Kupferhaarige für Mai Ling weniger fremd und unzugänglich.

Wieder stiegen in Mai Ling Erinnerungen hoch wie Dampf aus einem Kessel kochenden Wassers. Die ersten Wochen in dem Hofhaus in Beijing waren träge dahingeflossen. Sie ertrug die Reden und Berührungen des Fremden geduldig. Überfiel sie gelegentlich Verzweiflung über die Wendung, welche ihr Leben genommen hatte, so tröstete sie sich mit dem Entschluss, den sie gefasst hatte, sobald sie dem Druck von Großmutter Wang nachgab und in diese Ehe einwilligte: Es sollte nur eine vorübergehende Notwendigkeit sein. Sie würde nicht für immer in diesem Haus bleiben, sondern irgendwann einen Ausweg aus ihrer Lage finden, auch wenn ihr noch nicht klar war, wie er aussehen könnte.

Die regelmäßige Abwesenheit ihres Mannes nutzte sie, um nach der zarten Gestalt der Anderen zu suchen, die ein Zimmer gegenüber dem ihren im dritten Hof bewohnte. Regelmäßig erschien sie im kleinen Garten, der in der Mitte des Hofes angelegt war, drehte auf ihren winzigen Füßen ein paar Runden, um dann wieder zu verschwinden. Mai Ling wusste aus den Erzählungen ihres Vaters, dass die Taitais, vornehme chinesische Damen, zwar die Öffentlichkeit mieden, sich aber gegenseitig besuchten. Doch außer den Geschäftspartnern ihres Mannes kamen hierher keine Gäste, selbst die im Heim wohlhabender Chinesen übliche arme Verwandtschaft fehlte. Mai Ling wusste nicht, ob er überhaupt noch Familie hatte und falls ja, wie es ihm gelungen war, diese abzuschütteln. Vielleicht war sie ihm ebenso peinlich gewesen wie seine wunderschöne, aber durch und durch altchinesische erste Frau. Vieles hier schien ihr seltsam, unbegreiflich, und sie sehnte sich nach dem einfachen, unkomplizierten Leben in dem Dorf zurück, wo sie aufgewachsen war. Und warum fühlte Baihe den Drang, sich für ihre kurzen, einsamen Spaziergänge im Hof stets herauszuputzen, ihr Haar in kunstvolle Formen zu drapieren, die sicher ebenso schmerzhaft zogen wie jene Frisur, die Großmutter Wang ihr aufgezwungen hatte, bevor sie zu dem Fremden geschickt worden war? In ihren bestickten, farbigen Qipaos erinnerte Baihe an einen Schmetterling. Mai Ling war niemals bewusst gewesen, wie reizvoll der bloße Anblick eines Menschen sein konnte.

Die Hochzeitsfeier zog sich bis in die Abendstunden. Mai Ling harrte hinter der Fensterscheibe aus, obwohl ihre Fußsohlen schmerzhaft protestierten. Sie wartete, bis die ersten Gäste sich zu entfernen begannen. Liang ging früh, vermutlich hatte er noch ein geschäftliches Treffen geplant. Die Tanzwut ließ die Kupferhaarige länger ausharren, immer weiter Runden mit irgendwelchen Männern drehen. Sie hätte wohl selbst mit einem Besenstiel getanzt, so sehr verlangte es ihr anscheinend danach, sich zur Musik zu bewegen. Mai Ling staunte über die Ausgelassenheit, mit der das Mädchen von Tanzpartner zu Tanzpartner eilte, völlig blind für die Blicke, die begierig ihre nackten Schultern streiften. Versunken in die Musik, spürte sie nicht einmal die Hände, die verstohlen nach immer neuen Gelegenheiten suchten, um über die Muskulatur ihres Rückens zu fahren. Als ein sichtlich angetrunkener Freund der Braut den ungeschickten Versuch unternahm, seine Tanzpartnerin rasch zu küssen, schubste sie ihn nur lachend von sich.

Mai Ling grübelte, ob sie selbst sich ebenso ungezwungen in männlicher Gesellschaft verhalten hätte, wenn ihr Leben anders verlaufen wäre. Ein rückenfreies, glitzerndes Kleid und goldene Sandalen, die rot lackierte Fußnägel freigaben, hätte sie wohl niemals anziehen wollen, aber als Kind hatte sie gern mit den Dorfjungen gespielt.

Die Musiker begannen ihre Instrumente einzupacken, der Saal war allmählich leer geworden. Mai Ling sah, wie das kupferhaarige Mädchen noch einmal Braut und Bräutigam zum Abschied umarmte. Ohne weiter zu überlegen, ging sie hinüber zum Hinterausgang, den der Kellner ihr gezeigt hatte. Eine menschenüberströmte Straße tat sich vor ihr auf. Die Große Freiheit von Altona. Sie versank in der Menge, spähte aufmerksam in jedes Frauengesicht, das an ihr vorbeieilte. Vielleicht wäre es jetzt möglich, ein Gespräch mit der unbekannten Sängerin zu beginnen, die gewiss beschwipst und guter Laune sein musste. Mai Ling konnte vorgeben, in dem Restaurant zu arbeiten, und den Auftritt der Musiker loben. Dann nebenbei erwähnen, dass sie wusste, wo es hier in Hamburg die beste chinesische Küche gab. Das stimmte zwar nicht, aber was machte es schon? Sie wollte nur hören, wie es klang, wenn Mädchen redete, sein Gesicht ein einziges Mal aus der Nähe betrachten.

Aufgeregt lehnte sie sich an eine Hauswand. Sobald die glitzernde Gestalt der Kupferhaarigen im Getümmel der Passanten aufleuchtete, tat Mai Ling einen Schritt vorwärts. Ihr war schwindelig, als litte sie an Fieber, doch der unsinnige Wunsch nach einer noch so flüchtigen Begegnung mit der Unbekannten trieb sie voran.

Zwei Männer versperrten ihr kurz den Weg, sie wich schnell aus, konnte aber nicht den Worten ausweichen, die an ihr Ohr drangen.

»Ich glaube, die kenne ich. Eine echte Chinesenhure. Die war richtig gut.«

Sie selbst kannte den Mann nicht mehr, er gehörte zu einer unüberschaubaren Masse aus starren asiatischen und teigigen weißen Gesichtern, denen sie keinen Raum in ihrem Gedächtnis erlauben wollte. Trotzdem spürte sie sein Urteil wie einen Tritt in den Magen. Welchen Sinn machte es, mit einer Frau zu reden, deren Leben nichts mit dem ihren gemein hatte? Mai Ling starrte dem kupferhaarigen Mädchen hinterher und empfand einen quälenden Stich in ihrem Herzen, als der leuchtende Haarschopf zwischen anderen Gestalten verschwand.

Der Lärm des Weckers drang beharrlich in Alexandras Träume.

»Verfluchter Mist!«

Sie stöhnte und rieb sich die Augen. Sonnenlicht erhellte das Zimmer trotz der zugezogenen Vorhänge. Wenn sie nicht sofort hochkam, würde sie wieder zu spät im Büro erscheinen. Widerwillig zwang sie sich, das warme, weiche Bett zu verlassen. Sie wollte nicht daran denken, dass Michelle im Nebenzimmer vermutlich bis zum Mittag weiterschlafen würde. Früher, als sie noch zur Schule ging, da hatte sie große Reden vom Recht der Frauen auf einen eigenen Verdienst geschwungen und damit ihren Vater zur Weißglut gebracht. Nun vermied sie es, mit ihm über ihre Arbeit zu sprechen. Er sollte nicht wissen, dass jeder Tag, den sie im Büro von Dr. Katzenberg verbrachte, für sie nichts weiter war als sinnlos vergeudete Zeit.

Mit halboffenen Augen tastete sie den Nachttisch nach der Zigarettenschachtel und Streichhölzern ab. Nachdem sie gierig ein paar Züge am Glimmstengel genommen hatte, schlich sie auf bloßen Füßen in die Küche, wo der Wasserkessel glücklicherweise an seinem Platz stand. Es gab kaum etwas Schlimmeres, als morgens im Halbschlaf nach dem banalen Zubehör des täglichen Lebens suchen zu müssen.

Alexandra leerte mit großen Schlucken eine große Tasse starken, pechschwarzen Kaffee und merkte erleichtert, wie der Nebel in ihrem Kopf sich zu lichten begann. Ein leichtes Stechen an ihren Schläfen blieb jedoch zurück, und sie befürchtete, es könnte sich im Laufe des Tages zu einem quälenden Schmerz entwickeln. Warum hatte sie nach der Hochzeitsfeier mit Schampus und chinesischem Schnaps nicht darauf verzichten können, gemeinsam mit Michelle noch eine Flasche Wein zu leeren, während sie ihr die Jazzplatte vorspielte, die Django beim Kartenspiel mit einem amerikanischen Seemann gewonnen hatte? Wenigstens schien ihr Magen in Ordnung.

Da sie keine Zeit hatte, die Wohnung nach Aspirin zu durchsuchen, wusch sie sich in aller Eile und wühlte in ihrem Schrank nach dem Kleid, das am wenigsten nach Rauch roch. Die anderen musste sie bei Gelegenheit endlich wieder im Waschbecken durchschrubben. Vielleicht wäre auch noch genug Geld für eine Wäscherei übrig, wenn sie den Rest des Monats weniger ausging. Oder wenn Django es endlich schaffen sollte, für seine Band mehr bezahlte Auftritte zu bekommen. Immerhin hatte er sich überreden lassen, bei Gretas und Dehongs Hochzeit in einem der bekanntesten chinesischen Lokale der Stadt zu spielen, was ihn vielleicht ein klein wenig bekannter machen konnte.

Sie eilte zur Trambahn, die sie zum Jungfernstieg brachte. Dr. Katzenbergs Büro lag in der nobelsten Gegend von Hamburg und viele Kolleginnen waren daher stolz, für ihn arbeiten zu können. Sie selbst hatte sich am Anfang redlich bemüht, es ebenfalls aufregend zu finden, doch mittlerweile meinte sie ein Gefängnis zu betreten, sobald sie die Eingangstür des ehrwürdigen Gebäudes öffnete.

Der Blick von Fräulein Petersen, der Bürovorsteherin, streifte sie mit offensichtlicher Verachtung. Alexandra blickte kurz an sich hinab und sah ihr Kleid mit Petersens Augen. Es war zu bunt, der Rock zeigte beim Gehen die Knie, was sich nicht gehörte, und außerdem hing auch in diesem Stoff der Geruch durchzechter Nächte. Trotzig zog sie die Schultern zurück, bevor sie auf ihren Stuhl sank. Dann öffnete sie die auf dem Tisch liegende Mappe und ließ ihre Schreibmaschine im Takt all der anderen deutsche, englische und französische Texte aufs Papier hämmern. Dr. Katzenberg hatte internationale Kontakte. Ihr guter Abschluss bei der Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin hatte Alexandra eine Anstellung in seiner Kanzlei ermöglicht, und nur, weil ihre Sprachkenntnisse tatsächlich hervorragend waren, konnte sie ihre Stelle behalten, auch wenn die Petersen nicht viel von ihr hielt.

Der Rhythmus der ratternden Schreibmaschinen ließ eine Melodie in Alexandras Kopf entstehen. Ihr Fuß wippte unter dem Tisch, während sie einen ersten Blick auf die Uhr warf. Noch vierzig Minuten bis zur Kaffeepause, dann war erst die Hälfte des Morgens vorbei. Noch drei weitere schier endlose Tagesabschnitte standen ihr bevor. Wenn sie ihre Arbeitszeit in kleinere Einheiten teilte, schien sie kürzer und erträglicher.

Plötzlich fiel ein Schatten auf den Schreibtisch. Alexandra hob den Kopf, um in Petersens strenges Gesicht zu blicken. Ihr Magen verkrampfte sich, das Stechen an ihren Schläfen wurde zu einem Hämmern.

Fräulein Petersen hielt ihr ein Papier entgegen. »Diesen Brief haben Sie gestern geschrieben, Fräulein Gierczynski«, begann sie seufzend und bewusst langsam, als spräche sie mit einem unartigen Kind. Alexandra musterte das Gesicht der Bürovorsteherin und fragte sich, wie alt diese Frau eigentlich sein mochte. Trotz ihrer glatten Haut wirkte sie wie ausgetrocknet.

»Würden Sie bitte einen Blick auf den letzten Satz werfen«, kam es nun genüsslich. Alexandra fühlte, wie ihr der Schweiß aus den Poren trat. Ihr Herzschlag kam ihr plötzlich lauter vor als alle Schreibmaschinen im Raum. Die getippten Worte verschwammen vor ihren Augen.

»Wo ist das Problem?«, fragte sie so gefasst wie möglich.

Die Petersen lächelte, und Alexandra staunte, wie viel Verachtung in einem Lächeln liegen konnte.

»Sie haben ein Wort vergessen, Fräulein Gierczynski. Sie haben unserem Mandanten geschrieben, er soll bitte zögern, sich bei Fragen an uns zu wenden. Dr. Katzenberg hätte den Brief fast unterzeichnet. Glücklicherweise fiel es mir rechtzeitig auf.«

Stolz malte sich auf Fräulein Petersens Gesicht. Sie konnte selbst den kleinsten Tippfehler entdecken, was in Alexandras Augen das Ergebnis abgrundtiefer Engstirnigkeit war.

»Es wäre schön, wenn Sie in Zukunft besser aufpassen könnten, Fräulein Gierczynski. Sie haben doch schließlich eine höhere Schulbildung.« Petersens Mäuseaugen lagen hinter dicken Brillengläsern und musterten Alexandra abfällig. Sie schluckte.

»Ja, Fräulein Petersen. Die habe ich.« Nach einem kurzen Moment des Zögerns fügte sie laut hinzu: »Im Gegensatz zu manchen anderen Leuten hier.«

Der entgeisterte Blick von Simone Behr, die im Büro gleich neben ihr saß, streifte Alexandra. Im Hintergrund erklang das unterdrückte Kichern einiger anderer Mädchen. Fräulein Petersen stand wie versteinert.

»Übrigens, vielleicht interessiert es Sie, dass Fräulein Weinberg gekündigt hat«, meinte die Bürovorsteherin nach einer kurzen Pause. »Sie ist jetzt krankgeschrieben und wird wohl nicht mehr kommen. Ich denke, das sollten Sie wissen, da Sie doch so etwas wie ihre persönliche Assistentin waren.«

Fräulein Petersen entfernte sich ohne weitere Erklärungen.

»Bist du von Sinnen, Alex? Hast du es darauf angelegt rauszufliegen?« Simones Stimme schien von weit weg zu kommen. »Es ist nicht einfach, heutzutage eine gute Stelle zu finden, vor allem seit diesem Börsenkrach letzten Winter.«

Alexandra hatte eine Zigarette aus der Packung gezerrt und fingerte in der Handtasche nach ihrem Feuerzeug.

»Lass mich in Ruhe und arbeite besser weiter!«, zischte sie ihre Kollegin an. »Sonst fliegst du vielleicht als erste oder hast wenigstens die Ehre, von Dr. Katzenberg persönlich angebrüllt zu werden!« Ihr war klar, dass sie ihre Schroffheit bereuen würde, sobald sie sich beruhigt hatte. Doch noch schwammen Tränen in ihren Augen, sodass sie die Tasten ihrer Maschine kaum erkennen konnte.

Vor zwei Jahren hatte sie in diesem Büro angefangen, kurz nach ihrem Abschluss bei der Handelsschule. Ihre Eltern waren nicht willens gewesen, der Tochter Gesangsunterricht zu bezahlen, was in ihren Augen reine Verschwendung von Geld und Zeit gewesen wäre. Doch eine Ausbildung im Tippen und Stenographieren sowie Fremdsprachenkurse bei der Berlitz School schienen ihnen durchaus sinnvoll. Es galt mittlerweile als respektabel für junge Damen, im Büro zu arbeiten, und in einer Anwaltskanzlei tat sich zudem die Möglichkeit auf, einen gut verdienenden Ehemann zu finden. Alexandra hatte allerdings andere Pläne, in die sie ihre Eltern nicht einweihte. Das Gehalt genügte zunächst, ein paar Gesangsstunden zu bezahlen, bis sie merkte, dass Operetten und Schlager nicht das waren, wonach ihr der Sinn stand. Was sie wollte, hatte sie zum ersten Mal während eines Ausflugs nach Berlin gespürt, wo die Amerikanerin Josephine Baker auftrat. Dann suchte sie nach dieser Musik so lange, bis sie in einer Spelunke am Hafen auf Django und seine Band stieß: quietschenden, wilden, ungezügelten Jazz.

Leider erfüllte die Hoffnung, bald schon von ihren Auftritten als Sängerin leben zu können, sich nicht einmal ansatzweise, so dass ihre Arbeit bei Dr. Katzenberg allmählich von einem vorübergehenden Übel zur täglichen Plage wurde. War die Arbeit zunächst zu unwichtig gewesen, um sie nach Feierabend noch zu beschäftigen, so drang sie allmählich wie ein bösartiges Geschwür in ihre Freizeit. Der Lärm all der Schreibmaschinen in dem kleinen Büro verursachte schnell Kopfschmerzen. Brennende Augen und ein verkrampfter Nacken plagten Alexandra, wenn sie dem Büro endlich entkommen war, stahlen ihr immer öfter die Lust auf nächtliche Streifzüge durch Tanzlokale und Bars. Am Schlimmsten jedoch war das Gefühl, ständigen Anfeindungen ausgesetzt zu sein. Ihre Abneigung gegen Fräulein Petersen und der Widerwillen, den die Wutausbrüche des Anwalts ihr einflößten, hatten bereits einen ersten, qualvollen Höhepunkt erreicht, als unerwartet Sarah Weinberg auftauchte.

Eine richtige Anwältin, so wurde sie allgemein angekündigt, wie ein exotisches Wesen. Frauen waren in diesem Beruf erst seit ein paar Jahren zugelassen. Sarah war eine der ersten gewesen, die es auch gewagt hatten, ihn tatsächlich auszuüben, und sie musste sich dabei bewährt haben, sonst hätte Dr. Katzenberg sie nicht eingestellt. Heimlich schlossen die Sekretärinnen Wetten ab, wie lange es wohl dauern würde, bis das Gebrüll des Chefs die erfolgsverwöhnte Dame wieder vergraulte. Fräulein Petersen und einige ihrer Favoritinnen debattierten darüber, ob eine Frau im Anwaltsberuf nicht widernatürlich und daher fehl am Platz sei. Es schien vielen der Sekretärinnen zu widerstreben, nun Anweisung von einer Geschlechtsgenossin annehmen zu müssen.