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Die Magdalenenheime in Irland, der Kampf zweier Frauen um Liebe und Gerechtigkeit und ein lang gehütetes Geheimnis. Für alle Leser:innen von Charlotte Lyne und Julia Kröhn »Fiona bekreuzigte sich schnell. ›Du versündigst dich! Gehorsam ist eine Tugend.‹ ›Oder eine Gefahr, wenn man den falschen Leuten gehorcht.‹« Irland 1960: Rose und Cathy sind seit ihren Kindertagen unzertrennliche Freundinnen, obwohl sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Rose ist ein ungestümer Wildfang, Cathy ein introvertierter Bücherwurm. Als Cathy ungewollt schwanger wird, steht die verheiratete Rose ihr bei und gibt den Jungen als ihr Kind aus. Erst nach Jahren erfährt sie, was Cathy danach für ein Schicksal ereilte. Die junge Leah Hermann, die als Au-Pair nach Cork kommt, stößt sechzig Jahre später auf ein Netz aus Lügen und Schweigen. Aus Liebe zu dem eigenwilligen Shaun, der sich mit Hingabe um seine Großmutter kümmert, macht sie sich auf die Suche nach der Wahrheit. Und enthüllt die dramatische Geschichte zweier Frauen, die sich ein Leben nach eigenen Vorstellungen erkämpfen wollten und dafür einen hohen Preis zahlen mussten. »Mit einer Geschichte, die mir so unter die Haut ging hatte ich aber nicht gerechnet. Dieses Buch kann ich wirklich empfehlen.« ((Leserstimme auf Netgalley)) »Ein atmosphärisches Buch, in dem langsam Spannung aufgebaut wird. Der Roman zeigt sehr eindrücklich, welchen Stellenwert Frauen früher hatten, mit welchen Problemen sie alltäglich zu kämpfen hatten und welchen schrecklichen Einfluss die Kirche auf das Leben unbescholtener Frauen nehmen konnte.« ((Leserstimme auf Netgalley)) »Was für ein schönes Buch! Ich konnte es kaum aus der Hand legen, weil es spannend und gleichzeitig sehr unterhaltsam war. Einfach schön, vielen Dank!« ((Leserstimme auf Netgalley))
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Redaktion: Julia Feldbaum
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Cover & Impressum
The Maid and the Palmer
1. Kapitel
München 2019
2. Kapitel
Dublin 2019
3. Kapitel
Dublin 2019
4. Kapitel
Dublin 1966
5. Kapitel
Dublin 1969
6. Kapitel
Dublin 2019
7. Kapitel
Dublin 1970
8. Kapitel
Dublin 1970
9. Kapitel
Dublin 2019
10. Kapitel
Dublin 1970
11. Kapitel
Dublin 1970
12. Kapitel
Dublin 2019
13. Kapitel
Dublin 1971
14. Kapitel
Dublin 1971
15. Kapitel
Dublin 2019
16. Kapitel
Dublin 1971
17. Kapitel
Dublin 1971
18. Kapitel
Dublin 2019
19. Kapitel
Dublin 1971
20. Kapitel
Dublin 2019
21. Kapitel
Dublin 1975
22. Kapitel
Dublin 2003
23. Kapitel
Dublin 2019
24. Kapitel
Dublin 1972
25. Kapitel
Dublin 2019
Nachwort
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
You lie, you lie, you are forsworn
Nine children you have born
As the sun shines down so early
Oh, there’s three of them lying under your bed-head
Three of them under the hearth are laid
As the sun shines down so early
Three more laying on yonder green
Count, fair maid, for that makes nine
As the sun shines down so early
Palmer, oh, Palmer, do tell me
Penance that you will give to me
As the sun shines down so early
Penance I will give thee none
But seven years as a stepping stone
As the sun shines down so early
Seven more as a clapper to ring in the bell
Seven to run from the apes of hell
Irisches Volkslied
»Wir dachten immer, du weißt genau, was du willst«, sagte Leahs Mutter und nippte an ihrem Bierglas. Es war der erste Sommertag des Jahres 2019, und sie hatten sich alle im Biergarten getroffen. Leah hatte gehofft, die entspannte Atmosphäre würde ihren Eltern helfen, die Neuigkeit leichter zu verarbeiten.
»Das dachte ich auch«, gab sie zu. »Lange schien es einfach, aber jetzt eben nicht mehr.«
Mädchen, die hervorragende Noten hatten, wurden Ärztinnen. Es hatte in ihrer Familie mehrere solcher Fälle gegeben, und Leah war stolz auf diese Frauen gewesen, die es zu einem angesehenen Beruf mit gutem Einkommen gebracht hatten. Der Weg war immer klar vor ihr gelegen, bis sie begonnen hatte, ihn selbst zu beschreiten.
»Es ist … so furchtbar anstrengend«, gab sie zu. »In der Schule musste ich mich nur ein bisschen bemühen, um gut zu sein, aber jetzt soll ich von morgens bis abends pauken.« Zum ersten Mal in ihrem Leben machten Prüfungen ihr Angst, denn die Möglichkeit, dass sie versagen konnte, lag nicht mehr jenseits ihres Vorstellungsvermögens.
»Manchmal muss man kämpfen, um an sein Ziel zu kommen«, meinte der Vater und lächelte sie aufmunternd an. »Das ist sicher nur eine vorübergehende Krise. Ruhe dich ein paar Tage aus, dann fühlst du dich besser.«
»Ich denke schon seit mehreren Wochen darüber nach!«, erwiderte Leah wütend, weil sie sich nicht ernst genommen fühlte. »Und jetzt ist meine Entscheidung gefallen. Im nächsten Semester mache ich nicht mehr weiter. Es … fühlt sich nicht richtig an. Ich sehe mich nicht als Ärztin.«
Tatsächlich hatte sie lange nur ein vages Bild von klugen Leuten in weißen Kitteln vor sich gesehen. Jeder respektierte Ärzte. Sie hatten einen noblen Beruf, weil sie Leben retteten. An Nachtschichten, völlige Erschöpfung und gleichzeitig eine erdrückende Last von Verantwortung hatte sie niemals gedacht. Das allein war es aber nicht.
»Ich habe schon in der Schule Naturwissenschaften nicht so gemocht wie Geschichte oder Deutsch. Der ganze Stoff, den ich lernen muss, ist so furchtbar trocken und …«
Angesichts der skeptischen Gesichter ihrer Eltern verging ihr die Lust auf weitere Erklärungen. Sie drehte sich dabei nur im Kreis.
»Was möchtest du denn stattdessen machen?«, gab ihr Vater erstaunlich schnell nach. »Lehrerin für Geschichte und Deutsch werden? Das ist vielleicht weniger anstrengend.«
Beide Eltern sahen Leah hoffnungsvoll an. Sie wusste, wie froh sie über ein sofortiges Einverständnis gewesen wären. Lehrerin klang nicht ganz so eindrucksvoll wie Ärztin, aber es war ein sicherer Beruf, der ein gutes Einkommen garantierte. Die Tochter würde weiter den richtigen Weg verfolgen.
»Ich brauche ein bisschen Zeit, um darüber nachzudenken, was ich mit meinem Leben anfangen will«, sagte sie leise, denn es schmerzte sie, die Eltern zu enttäuschen. »Es ist eine wichtige Entscheidung, denn man verbringt einen großen Teil seines Lebens auf der Arbeit. Ich würde gern etwas finden, von dem ich wirklich begeistert bin.«
»Aber zu lange darfst du nicht warten«, mahnte ihre Mutter. »Meine ehemalige Kollegin, die letztes Jahr gekündigt hat, sucht immer noch eine Arbeit. Sie ist über 50, da ist es dann schwierig.«
»Bis ich so alt bin, wird es noch eine Weile dauern«, erwiderte Leah schmunzelnd, doch ihre Mutter sah weiter bedrückt drein. Sie musste es wohl hinnehmen, dass sie ihre Eltern gerade schwer enttäuschte. Viele ihrer Freundinnen empfanden das als normal, aber Leah war immer eine vorbildliche Tochter gewesen.
»Bis zum nächsten Wintersemester solltest du wissen, was du studieren willst«, wandte der Vater ein.
Leah widersprach nicht, obwohl sie überlegt hatte, sich erst einmal einen Job zu suchen. Ihre Mutter arbeitete als Chefsekretärin, doch da Leah immer sehr gut in der Schule gewesen war, hatte man bei ihr höhere Erwartungen. »Ich werde es mir überlegen«, gab sie nach. »Jetzt muss ich los. Ich bin noch mit Monika verabredet.«
Das Treffen sollte erst in zwei Stunden stattfinden, aber das konnten ihre Eltern zum Glück nicht wissen. Leah wollte noch eine Weile durch den Englischen Garten laufen, um einen klaren Kopf zu bekommen. Das Gespräch mit ihren Eltern war doch anstrengender verlaufen als befürchtet.
Es tat ihr weh, deren bedrückte Gesichter zu sehen, als sie sich verabschiedete, aber sie vermochte an der Situation nichts zu ändern.
»Na, hast du deine Sünden gebeichtet?«, fragte Monika, die bereits in dem derzeit angesagten Café im Glockenbachviertel wartete. »Lass mich raten! Du wurdest enterbt und mit einem Fluch belegt, weil es doch völlig unzumutbar bist, dass du dich einmal nicht wie die Mustertochter verhältst!«
Monika hatte immer nur getan, was sie selbst wollte. Nach dem Abitur hatte sie eine Ausbildung als Friseurin gemacht, mit allen Haarfarben des Regenbogens experimentiert und es genossen, ihre Tattoos ohne Scheu zur Schau zu stellen.
Leah setzte sich seufzend hin und bestellte einen Kaffee. »Natürlich werde ich nicht enterbt. Sie machen sich nur Sorgen. Das ist ja verständlich. Man sollte doch wissen, was man im Leben will, oder?«
In dieser Hinsicht war Monika vorbildlicher als sie selbst. Ihre Berufswahl erfüllte zwar nicht die Vorstellungen ehrgeiziger Eltern, entsprach aber ihrer Persönlichkeit. Eben danach suchte Leah bisher vergeblich.
»Du darfst dich nicht zu sehr unter Druck setzen lassen«, erwiderte Monika sofort. »Manche Dinge müssen gut überlegt sein. Wie wäre es, wenn du dir für eine Weile einen Job im Ausland suchst? Dann hättest du etwas Ruhe von deiner Familie und würdest neue Eindrücke bekommen. Meine Cousine reist seit zwei Monaten durch Lateinamerika. Die ist begeistert.«
Leah musste sofort an Skorpione, Schlangen und eine schießwütige Drogenmafia denken. »Ich glaube, so viel Abenteuerlust habe ich nicht«, gab sie kleinlaut zu.
»Egal.« Monika winkte ab. »Dann eben Europa. Italien vielleicht. Oder Griechenland.«
Seufzend schüttelte Leah den Kopf. »Als wir das letzte Mal auf Kreta waren, wollte ich kaum das Hotel verlassen. Ich vertrage die Hitze schlecht, und außerdem kann ich es nicht leiden, auf Schritt und Tritt von Männern angequatscht zu werden. Der Süden ist nichts für mich.« Monikas breites Grinsen gefiel ihr nicht unbedingt, aber sie nahm es hin.
»Du machst es einem nicht leicht. Ich fand schon immer, dass du ein bisschen lockerer werden könntest, und der eine oder andere Urlaubsflirt würde dir nicht schaden. Aber wie du meinst. Ich hätte eine andere Idee. Sie holte kurz ihr Handy aus der Tasche und studierte es aufmerksam. »Na bitte … Meine kleine Schwester hatte eine Stelle als Au-pair in Dublin, die sie jetzt nicht antreten wird.«
»Warum denn nicht?«, fragte Leah ehrlich überrascht. »Du hast mir immer erzählt, wie anglophil sie ist.«
»Ist sie auch, daher hat sie sich in einen Schotten verknallt, der aber in München lebt«, erwiderte Monika. »Er will hier eine Kneipe aufmachen, und Susanne will dabei mithelfen. Also müssen diese Iren ihre Schreihälse nun ohne mein Schwesterherz versorgen. Ich beneide sie nicht darum.« Monika lachte herzlich. »Vielleicht willst du der armen Familie ja helfen und an Susannes Stelle ihren Nachwuchs bändigen. Sie wären dir sicher dankbar, und du kämst nach Dublin.«
Leah schüttelte verwirrt den Kopf. »Einfach so? Ich … ich kenne diese Leute nicht. Wer weiß, ob sie mich nehmen?«
»Warum sollten sie nicht. Du wirkst so unglaublich solide. Ein echtes Vorbild für alle Kinder. Du hältst sie garantiert davon ab, später Drogengangs beizutreten.«
»Es ist nicht gerade nett, dass du dich ständig über mich lustig machst«, erwiderte Leah verärgert.
Monika musterte sie skeptisch. »Wer sagt denn, dass ich mich über dich lustig mache? Du bist wahnsinnig ernsthaft und denkst eine halbe Ewigkeit nach, bevor du eine Entscheidung triffst. Das ist ja nicht immer schlecht. Aber manchmal fehlt dir die Spontanität. Jetzt zum Beispiel. Du kannst annehmen oder ablehnen. Wenn du zu lange zögerst, findet die Familie eine andere Lösung.«
Leah nahm ihren Kaffee in Empfang. In ihrem Kopf drehte sich alles. »Du meinst, ich soll jetzt so ganz locker und spontan entscheiden, ob ich die nächsten Monate in einer wildfremden Stadt verbringen will? Ohne es mit irgendjemandem zu besprechen?«
»Wen willst du denn fragen? Deine Eltern? Lass mich raten, die wären dagegen, denn die Betreuung von Kindern klingt nicht gerade nach einer herausragenden Karriere. Aber du musst doch erst mal selbst erkennen, was du willst. Ein bisschen Abstand würde dir guttun. Als Au-pair hast du nicht besonders viel Stress. Du kannst dir Dublin ansehen und in Ruhe überlegen, was du aus deinem Leben machen willst. Ohne Druck vonseiten deiner Eltern.«
Der letzte Satz löste bei Leah ein Gefühl der Erleichterung aus. Sie würde keine unglücklichen oder vorwurfsvollen Gesichter mehr vor sich sehen müssen. In der Fremde wäre es Leuten egal, dass sie mit ihrem hervorragenden Abitur nicht wusste, was sie mit ihrem Leben anfangen sollte. Sie tat ein paar tiefe Atemzüge und war gerade im Begriff, die größte Verrücktheit ihres Lebens zu begehen. »Also gut. Schreib der Familie, dass ich an der Stelle interessiert wäre. Wenn sie mich kennenlernen wollen, dann schick ihnen meine E-Mail-Adresse.«
Noch bestand die Möglichkeit, dass die irische Familie nicht den erstbesten Ersatz wollte, sondern absagen würde. Außerdem hatte sie noch keinen Vertrag unterschrieben, durfte ihre Meinung also wieder ändern. Aber Leah war plötzlich seltsam froh zumute. Eine Last schien von ihren Schultern zu gleiten, während sie bereits zu überlegen begann, was sie vor einer Abreise alles würde erledigen müssen. Das Zimmer in der WG in Regensburg, wo sie das erste Semester als Medizinstudentin zugebracht hatte, war bereits zum nächsten Monat gekündigt. Sie würde nun auch ihr Kinderzimmer in dem Vorort von München nicht mehr beziehen, wo ihre Eltern vor einigen Jahren ein Haus gekauft hatten. Ihre Habseligkeiten konnte sie dort im Keller lagern. Erst einmal würde sie nur Kleidung für Herbst und Winter mitnehmen, denn wer wusste schon, wie lange sie es in Dublin aushalten würde.
Zunächst einmal sollte sie den Zug nach Regensburg nehmen und dort in Ruhe Dublin googeln. Sie wusste nichts von der Stadt. Aber die Aufregung und Neugier, etwas Unbekanntes zu erleben, schenkten ihr eben jene Energie, die sie seit Wochen an sich vermisste.
»Ich habe Susanne gerade deine Entscheidung mitgeteilt«, sagte Monika endlich ohne jedes Anzeichen von Belustigung und holte Leah aus ihrer Gedankenwelt. »Sie gibt der Familie Bescheid, und wenn sie Interesse hat, melden die Leute sich bei dir. Ich glaube, ich habe dich unterschätzt. So spontan wäre nicht einmal ich gewesen.«
Es klang ein wenig nach Lob, aber auch nach Verblüffung. Hielt Monika sie jetzt plötzlich für übergeschnappt? Leah wusste es nicht, aber sie hatte das merkwürdige Gefühl, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Ob jemand das nun verstehen konnte oder nicht, war plötzlich unwichtig geworden.
In ihrem bisherigen Leben war Leah noch niemals allein verreist. Sie hatte Urlaube mit den Eltern in Italien und auch einmal in Thailand verbracht, war mit Freundinnen in den Alpen gewandert und hatte gemeinsam mit Monika ein Wochenende in Paris erlebt. Und niemals hatte sie sich in einer anonymen Menschenmenge derart verloren gefühlt wie jetzt, da sie ihren Rollkoffer durch die endlosen Gänge des Flughafens zog.
Vier anstrengende Wochen lagen hinter ihr. Ihre Eltern konnten nicht verstehen, warum sie für mehrere Monate nach Irland verschwinden wollte, anstatt baldmöglichst ein neues Studium zu beginnen. Im Grunde konnte Leah es ihnen nicht einmal übel nehmen. Früher hätte sie über Leute, die einfach durch die Welt reisten, anstatt konkrete Ziele zu verfolgen, auch den Kopf geschüttelt. Aber nun fehlte ihr selbst die Orientierung.
Es ist ja nur vorübergehend, sagte sie sich, als sie sich in die Schlange der Wartenden am Check-in einreihte. Ein Jahr in Dublin konnte sie in einem Bewerbungsgespräch sicher gut anpreisen. Auslandserfahrung und Verbesserung ihrer Englischkenntnisse klangen nicht nach sinnlos verschwendeter Zeit. Sie würde aus diesem Abenteuer das Beste herausholen, wenn sie endlich wusste, wo sie im Leben hinwollte.
Nach der Passkontrolle und dem Durchleuchten ihres Rucksacks landete Leah schließlich in einer weiteren Wartehalle. Eine ältere Dame setzte sich an ihre Seite und musterte den Reiseführer, den Leah gerade aufgeklappt hatte.
»Sie fliegen zum ersten Mal nach Dublin?« Es klang freundlich.
Leah blickte auf. »Ja. Ich gehe als Au-pair hin.«
»Oh, das ist eine wundervolle Idee«, sagte die Unbekannte und warf ihr grau meliertes langes Haar zurück. »Ich war stets der Meinung, dass junge Leute etwas von der Welt sehen sollten.«
Tja, diese Meinung teilten Leahs Eltern leider nicht unbedingt.
»Als junges Mädchen war ich in Afrika und Nepal«, begann die Frau zu erzählen. »Damals war das noch richtig aufregend, wir waren wirklich von zu Hause abgeschnitten, während heute ja alle Handys haben und ständig Nachrichten schicken können.«
»Das hat doch auch Vorteile«, wandte Leah ein. Sie konnte sich nicht vorstellen, auf einem anderen Kontinent zu sitzen, ihrer Familie nur gelegentlich Briefe schreiben zu können und dann mehrere Wochen auf eine Antwort zu warten.
»Es ist ein anderes Gefühl«, meinte die fremde Frau. »Kein richtiges Abenteuer mehr. Aber ich bin ja auch aus dem Alter raus. Inzwischen genügt mir Europa.« Sie wandte sich kurz ab, um das eben noch kritisch beurteilte Handy aus ihrer Tasche zu ziehen und Nachrichten zu checken.
»Sie reisen also immer noch gern?«, fragte Leah, um das Gespräch fortzusetzen, denn es erleichterte ihr die Wartezeit bis zum Abflug.
Die Unbekannte ging sofort darauf ein. »Aber ja. Irland mag ich besonders gern. Die Leute sind so freundlich und haben eine echte Künstlerseele. Die Musikszene von Dublin ist großartig.«
»So in etwa steht es auch in meinem Reiseführer«, stimmte Leah lachend zu. Allmählich ließen ihre Sorgen nach, und sie begann, sich auf ihr eigenes kleines Abenteuer zu freuen.
»Dabei gibt es natürlich auch eine dunkle Seite von Irland«, redete die Frau weiter und zog ihre Jacke aus.
Sie trug schlichte, sportliche Kleidung, die auch Leahs Mutter mochte. Nur die schulterlangen Locken ließen sie etwas unkonventioneller wirken.
»Die katholische Kirche hatte lange einen verheerenden Einfluss auf die Gesellschaft«, redete sie weiter. »Ledige Mütter wurden gezwungen, ihre Kinder wegzugeben, und Mädchen aus einfachen Verhältnissen steckte man in Wäschereien, wo sie wie Sklavinnen arbeiten mussten.«
Leah nickte mit angemessener Betroffenheit. Die Welt war voller Ungerechtigkeiten. Monika hatte ihr immer wieder Artikel über im Mittelmeer ertrunkene Flüchtlinge und Mädchen in Afrika, die unter der Beschneidung zu leiden hatten, vorgelegt. Nur schien niemand so genau zu wissen, was eigentlich geschehen musste, um all dies zu ändern. »Jetzt ist es in Irland ja besser geworden, oder?«, meinte sie.
Die Frau nickte. »Ja, aber weder Staat noch Kirche haben sich für dieses Unrecht entschuldigt«, sagte sie mit deutlich mehr Gefühl. »Dabei gibt es noch Überlebende, die sich das wünschen würden.«
Wieder nickte Leah. Monikas Predigten über die Ungerechtigkeit der Welt hatte sie ebenso abgenickt.
»Ich arbeite für ein Onlineforum, das Berichte über solche Ungerechtigkeiten veröffentlicht«, erklärte ihre Gesprächspartnerin mit sichtlichem Stolz. »Es gab auch in Deutschland Heime, in denen wehrlose Kinder misshandelt wurden. Man darf das nicht totschweigen.«
»Nein. Natürlich darf man das nicht«, stimmte Leah zu. Sie wusste, dass ihre Zustimmung wie ein lustlos aufgesagter Vers klang. Im Grunde bewunderte sie diese Frau für ihr Engagement, aber ihr selbst fehlte die nötige Begeisterungsfähigkeit.
Als eine Lautsprecherstimme verkündete, sie könnten nun ihre Maschine besteigen, empfand Leah fast Erleichterung. Idealisten wie ihre Gesprächspartnerin waren sehr mutige, manchmal aber auch anstrengende Menschen. Im Flugzeug würde sie sehr wahrscheinlich nicht neben ihr sitzen, sodass sie sich weiter dem Reiseführer widmen konnte.
»Ach ja, falls Sie sich in Dublin einsam fühlen, können Sie sich gern mal bei mir melden«, bot die Frau ihr an, als sie schon am Schalter Schlange standen. »Ich bin Karin MacCarthy, mein Vater war Ire, hat aber lange in Deutschland gelebt. Ich wohne bei meiner Cousine, wenn ich in Dublin bin.«
Das Angebot erleichterte Leah, und sie schämte sich fast, dass sie sich einen Sitzplatz weit weg von Karin gewünscht hatte. Offenbar wollte die Idealistin auch einsamen Reisenden helfen. »Ich melde mich gern bei Ihnen, vielen Dank«, versicherte sie ihrer Mitreisenden und erhielt einen Zettel mit einer Handynummer, den sie in ihre Handtasche schob. Dann tat sich ein neuer Gang vor ihnen auf, und sie wurden von Stewardessen an unterschiedliche Enden des Flugzeugs gelotst.
Es war nur ein kurzer Flug gewesen. Leah suchte die Flughafentoilette auf, um ihr Haar zu kämmen. Sie würde nun jene Leute kennenlernen, in deren Haus sie das nächste Jahr verbringen wollte, und die sollten keinen schlechten Eindruck von ihr bekommen.
Sie wirkte völlig normal, stellte Leah erleichtert fest. Eine mittelgroße, schlanke junge Frau mit schulterlangem braunem Haar. Das weite schwarze Kleid zerknitterte zum Glück nicht. Niemand konnte an ihrer Erscheinung etwas auszusetzen haben. So ergriff sie ihren kleinen Rucksack und machte sich auf den Weg zur Gepäckausgabe. Der Flughafen war deutlich kleiner als in München – weniger herausputzt und poliert. Die Leute um sie herum machten ebenfalls nicht den Eindruck, auf Markenkleidung und teure Autos zu achten, wie es bei einigen ihrer Mitschüler der Fall gewesen war. Wenn Irland insgesamt ein eher bescheidenes, gemütliches Land bleiben würde, könnte sie sich hier wirklich wohlfühlen.
Kurz darauf trat sie mit ihrem Rollkoffer in die Ankunftshalle und sah sich um. James und Marian Cullen hießen ihre Arbeitgeber. Leah machte sich auf dem Weg zum vereinbarten Treffpunkt bei einem Coffeeshop.
Sie winkte, als sie ihre Arbeitgeber anhand ihrer Fotos erkannte. James hatte bereits ergraute Schläfen und trug ein Holzfällerhemd. Seine Frau Marian musste etwas jünger sein. Ihr glattes, hellbraunes Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden, und die leicht verwaschene Jeans betonte ihre schlanke Figur. Insgesamt wirkten die beiden wie ein nettes Paar ohne besondere Allüren. Leah wurde leichter zumute. Sie stellte ihren Rollkoffer ab und grüßte freundlich.
In der Schule war sie in Englisch nicht schlecht gewesen, doch der irische Dialekt machte ihr ein wenig Angst. Er klang wie ein melodischer, kraftvoller Gesang, bei dem einige Silben verschluckt wurden. Sie konnte immerhin verstehen, dass man sich über ihre Ankunft freute und die Kinder neugierig waren, sie kennenzulernen.
»Wir sind wirklich dankbar, dass Sie eingesprungen sind, nachdem das erste Au-pair abgesagt hatte«, erzählte Marian, als sie gemeinsam zum Auto liefen.
James hatte Leah den Koffer abgenommen, was sie als gutes Zeichen wertete. Man würde sie nicht wie eine Bedienstete behandeln.
»Ich bin Lehrerin«, fuhr Marian fort. »Bald geht das nächste Schuljahr los, und ich werde mindestens sechs Stunden täglich außer Haus sein, früh losmüssen und zu spät heimkommen, um für das Essen zu sorgen. Wir haben niemanden, der die Kinder übernimmt, wenn sie aus der Schule kommen.«
Sie klang erschöpft. Das Lehrerdasein war wohl nicht immer so leicht, wie Leahs Eltern es sich vorstellten.
»James ist Arzt«, setzte Marian ihre Erklärung fort. »Er kann auch nicht so einfach zu Hause bleiben. Also: Es ist wirklich ein Segen, dass Sie jetzt hier sind.«
Diese Worte machten Leah glücklich. Sie wusste nicht, wann sie zuletzt das Gefühl gehabt hatte, gebraucht zu werden. »Ich bin auch froh, dass ich diese Stelle bekommen habe«, sagte sie frei heraus. »Ich … ich habe mein Studium abgebrochen. Jetzt muss ich herausfinden, was ich wirklich werden will.«
Marian nahm es ohne besondere Aufregung hin, erzählte dann, dass sie selbst ein Jahr in Italien verbracht hatte, bevor sie beschlossen hatte, Lehrerin zu werden. »Man darf sich selbst nicht unter Druck setzen. Nehmen Sie sich Zeit«, versicherte sie.
Leah murmelte Dankesworte und musterte die reizvollen, altmodischen Häuser mit bunten Türen und Vorgärten und Pubs, an denen sie auf dem Weg zu ihrem neuen Heim vorbeifuhren. Elephant and Castle, Rat and Mice. Was die Namen von Lokalen betraf, war man hier einfallsreich.
Die Cullens bewohnten eines der traditionellen Reihenhäuser aus Backstein in einem Vorort. Der kleine Garten wirkte etwas vernachlässigt, vermutlich da beide Ehepartner berufstätig waren. Leah beschloss gleich, sich um die Rosensträucher zu kümmern, denn sie gefielen ihr.
Nachdem James aufgesperrt hatte, stürmten ihr zwei Kinder entgegen. Als Einzelkind hatte Leah sich manchmal Geschwister gewünscht, doch hatte sie bei ihren Freundinnen auch gesehen, wie anstrengend diese sein konnten. So weit verhielten die zwei kleinen Cullens sich umgänglich, blieben ganz ruhig vor ihr stehen und starrten sie neugierig an.
»Lucy und David«, meinte die Mutter. »Beide sind leidlich gut in der Schule, aber es könnte besser werden. David hat dieses Jahr mit dem Deutschunterricht begonnen, vielleicht können Sie da helfen. Lucy zeichnet gern. Außerdem hat sie einmal die Woche Ballettunterricht. Ich überlasse Ihnen meine Autoschlüssel, damit Sie sie hinbringen können. Sie haben doch einen Führerschein?«
Leah bejahte.
»Das ist gut«, fuhr die Familienmutter fort. »David ist leider nicht besonders sportlich, aber er hat einen Klavierlehrer, der immer mittwochs kommt. Den müssen Sie begrüßen und in Empfang nehmen. Ansonsten reicht es, wenn Sie Lucy jeden Tag von der Schule abholen. David kommt allein nach Hause. Versorgen Sie die Kinder einfach, bis wir wieder da sind. So weit zum Job, aber jetzt zeige ich Ihnen erst einmal Ihr Zimmer.«
Eine schmale Treppe führte hoch in den ersten Stock. Leah wurde ein kleiner Raum zugewiesen, der ein einfaches Bett, einen Schrank und einen Schreibtisch beinhaltete.
»Packen Sie in Ruhe aus, Leah. Das Bad ist eine Tür weiter rechts. Wir essen um sechs zu Abend. Sind Sie Vegetarierin?«
Leah verneinte. »Ich esse manchmal Fleisch, aber nicht oft.«
»Ich habe vor drei Jahren damit aufgehört, aber James will nicht darauf verzichten«, erklärte Marian mit einem verlegenen Lächeln. »Er wird sich freuen, wenn jemand mit ihm Roast Beef oder Cornish Pasty isst. Lucy mag kein Fleisch, und David hat es meinetwegen aufgegeben. Wir bestellen es meist beim Take-away. Wenn Sie selbst einmal Fleisch kochen wollen, ist es natürlich in Ordnung.« Wieder lächelte Marian. Sie schien sehr bemüht, einen freundlichen und verständnisvollen Eindruck zu machen.
Hatte sie Angst, das in letzter Minute gefundene Au-pair würde wieder zum Flughafen stürmen, weil ihm verboten wurde, manchmal in der Küche ein Steak zu braten? »Danke. Jetzt werde ich auspacken und mich ein wenig ausruhen«, sagte Leah.
Marian entfernte sich mit einem weiteren Lächeln. Leah ließ sich auf ihr Bett fallen und starrte die von ein paar Flecken verunstaltete Zimmerdecke an. Daheim war alles größer und sauberer und ordentlicher. Aber sie spürte, dass sie dieses Haus, seine Bewohner und hoffentlich auch die Stadt ins Herz würde schließen können.
Drei Wochen später hatte Leah sich bereits daran gewöhnt, mit dem kleinen blauen Auto der Cullens durch die Stadt zu fahren. Der Linksverkehr war zu bewältigen, wenn man aufmerksam blieb. Der Stadtteil, den sie bewohnte, hieß Ranelagh. Er besaß einige viktorianische Häuser, viele kleine Geschäfte und etliche Bars und Restaurants. An ein paar Gebäuden waren kunstvolle Graffitis zu bewundern. Trotz oder gerade wegen dieses künstlerischen, alternativen Flairs war die Gegend alles andere als billig. James hatte das Haus geerbt, wie Marian mit ihrem üblichen leicht verlegenen Lächeln erzählt hatte.
Mit etwas Glück fand Leah immer einen Parkplatz vor Lucys Schule, so auch jetzt. Der Unterricht dauerte in Irland bis zum Nachmittag, was anstrengend schien. Ebenso gewöhnungsbedürftig kam Leah der Umstand vor, dass Lucy eine reine Mädchenschule besuchte und dort eine Uniform – Rock und Bluse – tragen musste. Leah selbst hatte immer gern Kleider angezogen, aber sie wusste, dass die meisten Mädchen in Deutschland Hosen bevorzugten. War das in Irland anders? Wahrscheinlich schienen die Uniformen den Schülerinnen zu selbstverständlich, um gegen sie zu rebellieren. Ebenso wie die Trennung nach Geschlechtern. Was Leah am meisten störte, war die fehlende Individualität aufgrund der Uniformen. Für Monika, die stets ausgefallene Kleidung geliebt hatte, wäre das ein echtes Problem gewesen. Aber wenigstens wurden soziale Unterschiede dadurch nicht so offensichtlich.
Lucy kam mit einer Gruppe von Freundinnen aus dem Gebäude gestürmt. Sie rangelten und schubsten, denn an kindlichem Übermut vermochten auch die konservativen Uniformen nichts zu ändern. Bevor der kleine Wildfang in eine echte Rauferei geraten konnte, stieg Leah aus dem Auto und winkte dem Mädchen zu. Lucy ließ nach einigem Herumgeschrei von ihren Freundinnen ab, um zum Auto zu rennen.
»Mach schnell, ich will rechtzeitig zum Ballett!«, teilte sie Leah anstelle einer Begrüßung mit, während sie auf den Rücksitz kletterte.
Leah unterdrückte einen Seufzer. David war ein stilles, umgängliches Kind, aber Lucy strapazierte immer wieder ihre Nerven. Es galt inzwischen als wünschenswert, wenn ein Mädchen einen starken Willen hatte. So sah es auch Marian, die keine besonderen Versuche unternahm, ihrer Tochter Grenzen zu setzen. Doch war es notwendig, sich von einer Elfjährigen herumkommandieren zu lassen?
»Ich kann nicht schneller fahren, als es erlaubt ist«, teilte sie Lucy mit. »Komm du besser gleich zum Auto, anstatt dich mit anderen Mädchen zu streiten.«
Lucy zog eine Schnute. »Janet, die blöde Kuh, sagte, dass mein Bruder ein Langweiler ist. Dabei ist sie nur sauer, dass sie nicht zu meiner Geburtstagsparty eingeladen wurde.«
Diese Feier sollte nächste Woche stattfinden. »Warum ist es so wichtig, was sie über David denkt? Sie wird ihre Meinung nicht ändern, nur weil du sie verprügelst«, erklärte Leah, als sie losfuhr.
Lucy schnaubte. »Du verstehst das nicht. In Deutschland sind wahrscheinlich alle Kinder brav.«
»Nein, das sind sie nicht«, widersprach Leah. »Ich habe eine gute Freundin, die genauso wild war wie du. Ich dagegen war mehr wie David. Menschen sind verschieden, und nicht jeder kann jeden mögen. Schläge ändern nichts daran.«
»Ja, klar, aber Janet wollte mich nur ärgern, weil ich sie nicht auf meiner Feier haben will. David ist ihr egal, aber sie wollte meinen Onkel Shaun wiedersehen, der mich früher manchmal von der Schule abgeholt hat. Auf den steht sie nämlich, auch wenn sie das nicht zugibt.« Stolz über ihre Menschenkenntnis streckte Lucy das Kinn hoch.
»Und warum meinst du, dass sie deinen Onkel mag?« Leah merkte, dass dieses Gespräch ihr Freude bereitete. Vielleicht würde sie so eine Möglichkeit finden, Lucy Grenzen zu aufzuzeigen.
»Weil alle ihn mögen. Er sieht aus wie … wie einer aus dem Fernsehen, also ein Mann, der den Frauen gefällt. Deshalb finde ich es toll, dass Mum ihn zu meinem Geburtstag eingeladen hat. Dir gefällt er sicher auch, aber ich glaube, er will keine Freundin.«
»Wer sagt, dass ich einen Freund will?« Leah grinste süffisant. Ihre letzte Beziehung hatte sie kurz nach dem Abitur beendet. Ihr damaliger Freund hatte zunächst durch Amerika reisen wollen, während sie sich um ihren Studienplatz bemüht hatte. Damals war sie ehrgeizig und zielstrebig gewesen. Nun chauffierte sie anstrengende kleine Mädchen durch Dublin.
»Jetzt klingst du wie Mum«, meinte Lucy genervt. »Die sagt immer, dass Frauen keinen Mann brauchen, aber sie hat ja Dad.«
»Und ich habe keinen Mann«, meinte Leah. »Ich lebe trotzdem.«
»Ja klar, und jetzt muss ich zum Ballett.«
Der Versuch, Lucys Einstellung zu ändern, war offensichtlich nicht erfolgreich gewesen. Leah hielt vor dem Gebäude der Ballettschule, Lucy sprang selbst aus dem Auto und stürmte hinein. Das Tanzen liebte sie mit Leib und Seele. Leah wollte die Zeit nutzen, um ein paar Einkäufe zu erledigen. Marian hatte ihr eine Liste geschrieben, denn die Vorbereitung für Lucys Geburtstagsfeier brachte einigen Aufwand mit sich. Dass auch erwachsene Verwandtschaft kommen sollte, hatte Leah bisher nicht gewusst. Wer wohl dieser Onkel war, wegen dem sich Schulmädchen angeblich prügelten? Zu ihrer eigenen Schulzeit hatte Leah mit umschwärmten Jungs nicht viel anfangen können, daher ging sie davon aus, dass auch dieser Shaun keinen besonders guten Eindruck auf sie machen würde.
Wer auch immer dachte, dass Lehrer faul und überbezahlt waren, sollte an einer Kinderparty teilnehmen, überlegte Leah, während sie Marian half, Getränke und Essen zu verteilen. Jeden Tag von der dreifachen Menge solcher kleiner Teufel umgeben zu sein, musste selbst das stärkste Nervengerüst an seine Grenzen bringen. Lucy stürmte mit einer Eskorte von Freundinnen kreuz und quer durch den Raum. Die zwei Hauskatzen hatten sich bereits angewidert in den ersten Stock zurückgezogen. Eine Vase war umgeworfen worden, Marian hatte mit Leahs Hilfe schnell den Boden trocken gewischt. Den Mädchen war das egal, sie waren zu sehr damit beschäftigt, sich gegenseitig zu jagen. Es handelte sich dabei um irgendein Spiel, dessen Regeln Leah nicht wirklich begriff. David schien es ebenso zu gehen, denn er musterte die Mädchen nur stumm. Als die Türglocke erklang, hastete Marian davon, um aufzumachen.
»Das ist hoffentlich Onkel Shaun«, hörte Leah David murmeln. »Allein halte ich es mit den Gören nicht aus.«
Sein Vater würde erst am Abend nach Hause kommen. Hatte dieser Shaun keine Arbeit? Vermutlich war er Lehrer wie Marian oder hatte gerade Urlaub.
Bald darauf betrat Marian mit einem mittelgroßen Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren in Jeans und Pullover das Zimmer. Er hatte dichte dunkle Locken, die ihm bis zum Nacken reichten. Er sah tatsächlich gut aus, musste Leah zugeben, auf eine eher alternative Art, wie ein Musiker oder der Kellner in einer Szenebar. Nur schien er sich dessen nicht bewusst zu sein, der Blick seiner Augen hinter der Nickelbrille war unsicher und scheu. Sobald er das Zimmer betreten hatte, kam Lucy auf ihn zugestürmt. Er hob sie hoch und wirbelte sie durch die Luft. Die anderen Mädchen sahen gespannt zu. Als Lucy wieder auf dem Boden abgesetzt worden war, kam Marian mit der Geburtstagstorte herein.
»Jetzt sind alle da. Wir können essen.«
Leah hastete sofort los, um ihr zu helfen. Die Mädchen umringten indessen den Onkel. Nur David sah mit gerunzelter Stirn zu.
Schließlich hatten alle an dem großen Tisch im Esszimmer Platz genommen. Marian schnitt die Schokoladentorte an, die aus irgendeiner Konditorei in der Nähe stammte. Leah schenkte den Mädchen Limonade ein. Dabei wurde sie dem neuen Gast vorgestellt.
»Woher in Deutschland kommen Sie?«, fragte Shaun und musterte sie kurz ohne besonderes Interesse.
»München«, erwiderte Leah. Sie rechnete mit einer Erwähnung des Oktoberfestes, denn damit wurde ihre Heimatstadt überall auf der Welt sofort in Verbindung gebracht. Aber Shaun nickte nur und griff nach der Teekanne, die Marian ebenfalls auf dem Tisch platziert hatte. Leah bemerkte mehrere Silberringe mit keltischen Motiven an seinen Händen, die für einen Mann seiner Größe erstaunlich feingliedrig schienen.
»Kommst du zu meiner Aufführung?«, drängte Lucy. »Wir tanzen vor Weihnachten auf einer echten Bühne.«
»Natürlich bin ich da«, versicherte Shaun ihr.
Lucy begann zu strahlen, und Leah fragte sich, warum die Kleine ihn derart anhimmelte. War ihr Vater als Arzt zu oft außer Haus? Es mochte auch die Ruhe sein, die dieser große Mann ausstrahlte und die ihn von seiner ständig lächelnden und hektischen Schwester unterschied.
»Wenn du dich weiter anstrengst, wird aus dir noch eine großartige Tänzerin«, versprach er Lucy, die vor Stolz rot anlief und zu Leahs Erstaunen eine Weile ruhig dasaß.
»Es überrascht mich, dass Lucy sich so für Ballett begeistern kann«, meldete sich nun Marian zu Wort. »Ich dachte, es wäre zu streng für mein Mädchen. James wollte, dass sie Tennis oder Volleyball lernt, weil er das immer mochte, aber sie bestand auf dieser Ballettschule.«
»Sie weiß eben genau, was sie will«, meinte Shaun, und Leah stimmte ihm im Geiste zu. So anstrengend Lucy sein mochte, manchmal beneidete sie die Kleine um ihren starken Willen.
»Wie kommst du an der neuen Schule zurecht?«, fragte Shaun seine Schwester, während Lucy wieder mit den anderen Mädchen zu tuscheln begann.
»Es ist besser als dort, wo ich vorher war«, sagte Marian. »Die Schüler sind umgänglicher. Aber es fällt mir immer noch schwer, autoritär zu sein. Ich hasse es einfach, so mit Kindern umzugehen. Nur fürchte ich, dass sie mich sonst nicht ernst nehmen.«
»Du setzt dich zu sehr unter Druck«, meinte Shaun. »Es gibt sicher Schüler, die dich so schätzen, wie du bist.«
Marian lächelte verlegen. »Ja, das hoffe ich.«
Ein netter Bruder, dachte Leah. Er schien ein angeborenes Talent zu besitzen, Menschen Mut zu machen. Jemand, den man sich im Leben wünschte.
Lucy begann nun, lautstark von ihrer letzten Auseinandersetzung mit dem Mathematiklehrer zu berichten, der sich sehr autoritär verhielt, und riss dadurch die Aufmerksamkeit wieder an sich.
Etwa nach einer Stunde kam James nach Hause. Bald darauf wurden Lucys Freundinnen von ihren Eltern abgeholt, und Marian bestellte ein Abendessen beim Take-away, das alle gemeinsam verzehrten. David und Lucy verschwanden danach in ihren Zimmern, die Erwachsenen blieben in einer geselligen Runde im Wohnzimmer sitzen. Marian forderte Leah ausdrücklich auf, bei ihnen zu bleiben. James holte eine Flasche Whiskey, wovon auch Leah ein Glas angeboten wurde. Obwohl sie nicht gern Alkohol trank, wagte sie aus Höflichkeit nicht abzulehnen. Shaun hatte neben ihr auf dem Sofa Platz genommen, ohne sie weiter anzusehen. Sie fragte sich, ob er sie vielleicht nicht mochte oder als Eindringling in der Familie betrachtete. Sein kräftiger Körper strahlte Ruhe aus, die wohltat, doch schmerzte diese Zurückweisung so sehr, dass sie sich wünschte, lieber im ersten Stock bei den Kindern zu sitzen.
James redete eine Weile über seine Arbeit, die ihn mehr in Anspruch nahm, als es dem Familienleben guttat.
»Aus diesem Grund hat unsere Leah ihr Medizinstudium abgebrochen«, unterbrach Marian plötzlich. »Diese langen Arbeitszeiten. Ich kann sie verstehen. Für mich wäre das auch nichts.«
Leah spürte, dass ihre Wangen sich rot färbten. Auf einmal fühlte sie sich wieder schuldig. »Es war nicht nur das. Ich wollte einfach nicht Ärztin sein.«
»Ja, es ist ein sehr anstrengender Beruf«, bestätigte James. »Nicht jeder ist dafür geeignet. Aber das Leben ist nun einmal nicht billig, vor allem, wenn man eine Familie hat. Ein Mann sollte wissen, wie er Geld verdient.«
»Ach, Schatz, manchmal bist du schrecklich altmodisch!«, rief Marian kichernd und stupste ihn an. James verzog keine Miene.
»Ein Mensch sollte wissen, was ihm im Leben wirklich wichtig ist«, erwiderte Shaun mit seiner ruhigen, tiefen Stimme.
»Es ist wichtig, sich selbst ernähren zu können. Wichtiger als irgendwelche Träume oder Ideale, würde ich sagen«, konterte James.
Leah begann zu ahnen, dass hier ein schwelender Konflikt in der Luft lag und Flammen zu schlagen drohte. Marian räusperte sich und wollte etwas sagen, doch Shaun kam ihr zuvor.
»Es gibt verschiedene Arten, sich durch Leben zu schlagen. Manchmal braucht es länger, bis der Erfolg sich einstellt.« Erstmals hatte er ein wenig unsicher geklungen, als müsse er sich gegen eine Übermacht zur Wehr setzen.
»James meint es doch gut«, sagte Marian versöhnlich. »Er findet einfach, dass du dich nach einer richtigen Arbeit umsehen solltest, statt nur deine Bilder zu malen. Du verdienst fast nichts damit.«
Leah spürte, wie der große Mann neben ihr sich versteifte.
»Es ist das, was ich machen will. Im Gegensatz zu euch versteht Granny Rosie mich, und ich habe ihre Unterstützung.«
Leah kannte diese Art der Selbstverteidigung, bei der man in eine Ecke gedrängt um sich schlug. Shaun hatte einen Vorwurf in den Raum gestellt. Marian senkte den Blick, James schnaubte.
»Eure Granny Rosie ist nicht mehr richtig bei Verstand und schaut zu oft, zu tief ins Whiskeyglas. Sie würde jeden unterstützen, der ihr bereitwillig nachschenkt.«
Das war gemein, befand Leah.
»Also so brauchst du nicht über die Frau zu reden, die uns großgezogen hat!«, rief Marian auch schon.
Ganz falsch konnte die Erziehung dieser Granny nicht gewesen sein, denn auch die stets lächelnde Marian konnte für ihre Meinung einstehen, wenn sie es für notwendig erachtete.
Mit einem leisen Seufzer senkte James den Kopf. »Ich weiß, sie hat viel für euch getan, aber jeder kann sehen, wie es jetzt um sie steht. Sie ist ein Pflegefall.«
»Eben aus diesem Grund kümmert Shaun sich um sie, und ich unterstütze ihn finanziell«, erwiderte Marian.
»Wir Iren sind dafür bekannt, ein trinkfreudiges Volk zu sein«, fügte Shaun hinzu. »Ja, Granny Rosie mag ihren Whiskey, aber wenn sie ein Mann wäre, würde sich niemand darüber aufregen.«
Wieder fand Leah seine Einstellung bemerkenswert.
»Wir wissen doch alle, dass es nicht ihr einziges Problem ist«, mischte James sich nun etwas leiser ein. »Meine beiden Großmütter glauben auch nicht an Abstinenz, aber sie haben sich unter Kontrolle.«
»Eben weil sie Probleme hat, bin ich für sie da«, beharrte Shaun. »Marian ist nun mit anderen Dingen beschäftigt. Zwei Kinder und ein Mann, der fast nie zu Hause ist, weil er irgendwann Chefarzt werden möchte.«
Jetzt schlugen die Flammen also doch hoch. Leah duckte sich. Es stand ihr nicht zu, sich in diesen Familienzwist einzumischen, und sie wäre am liebsten bereits in ihrem Bett gewesen oder oben bei den Kindern. Doch einfach fortzugehen wagte sie nicht. Es wäre unhöflich gewesen.
»Ob ich jemals Chefarzt werde, weiß ich nicht, aber ich habe einen Beruf, den ich ernst nehme und der meine Familie ernährt«, rief James aufgebracht. »Das erfordert nun einmal lange Arbeitszeiten!«
Marian legte schützend den Arm um ihren Mann.
»James respektiert auch meine Arbeit. Wir haben jetzt Leah, damit ich ein bisschen Zeit für mich habe. Wir wissen beide, wie sehr du Granny Rosie liebst, aber irgendwann musst du auch dein eigenes Geld verdienen.«
Wieder wurde Shauns Körper steif, als müsste er feindliche Angriffe abwehren.
»Ich arbeite daran, so weit zu kommen. Bei manchen Leuten dauert es länger. Granny respektiert das. Ihr tut es offenbar nicht, also gehe ich jetzt besser.«
Er stand auf. James verzog das Gesicht, Marian sah schuldbewusst aus. Leah streckte instinktiv den Arm aus, um ihn zurückzuhalten.
»Ihre Verwandten wollten Ihnen sicher nur einen guten Rat geben, nichts weiter. Ich denke, dass sie Verständnis haben.«
Marian warf ihr einen dankbaren Blick zu.
Shaun setzte sich wieder. »Na gut, vielleicht habe ich überreagiert.«
Eine Weile herrschte noch betretenes Schweigen.
»Was malen Sie denn für Bilder?«, wagte Leah nun zu fragen.
»Eindrücke aus Dublin. Manchmal vermischt mit den Mythen meiner Heimat. Ich male, was ich sehe. Um mich herum und in meinem Kopf.«
Leah hatte Künstler immer für anstrengend und unangenehm selbstverliebt gehalten. Einige Freunde von Monika fragte man besser nicht, woran sie genau arbeiteten, da sonst ein Vortrag folgte, der sich über mehrere Stunden hinzog. Shauns klare, präzise Zusammenfassung seiner Arbeit imponierte ihr. »Kann ich die Bilder mal sehen?« Die Worte waren ihr entwichen, bevor sie hatte nachdenken können. Gleich darauf erschrak sie über ihre eigene Dreistigkeit. Sie hatte sich sozusagen selbst eingeladen. Dabei hatte Shaun bisher kaum Interesse an ihrer Person gezeigt.
»Sie können gern einmal vorbeikommen«, stimmte er zu, aber es klang nicht besonders enthusiastisch.
Leah beschloss, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Sie würde die Einladung einfach ignorieren, was vermutlich auch seinen Wünschen entsprach.
Ein leises Gefühl der Enttäuschung blieb zurück wie der unangenehme Nachgeschmack einer schlecht zubereiteten Mahlzeit.
Nachdem der Rest des Abends friedlich verlaufen war, nahm Leah am nächsten Tag wieder ihre gewohnten Tätigkeiten auf. Sie brachte Lucy in die Schule, erledigte Einkäufe und räumte das von den Mädchen verwüstete Wohnzimmer einigermaßen auf. Danach konnte sie erst einmal eine Ruhepause einlegen. Sie schrieb Nachrichten an ihre Eltern und eine E-Mail an Monika, die wissen wollte, ob Leah schon irgendwelche interessanten Leute kennengelernt hatte. Die Musik- und Künstlerszene Irlands sollte aufregend sein
Der Bruder von Marian Cullen malt Bilder. Er wirkt interessant, tippte Leah in ihr Handy.
Monika reagierte sofort: Seit ich dich kenne, hast du vielleicht mal drei Männer als interessant bezeichnet. Halleluja! Tu mir bitte einen Gefallen und gehe mit diesem aus, wenn sich eine Gelegenheit ergibt.
Leah ließ sich schmunzelnd auf ihr Bett fallen. Sie vermisste Monikas Leichtigkeit und ihren Optimismus.
Wenn sich die Gelegenheit ergibt, tue ich es, versprach sie. Aber ich glaube, er findet mich langweilig.
Überzeuge ihn vom Gegenteil!
Nun begann Monika, anstrengend zu werden. Leah hatte sich nie darauf verstanden, sich für jemanden interessant zu machen. Entweder sie wurde gemocht, so, wie sie war, oder eben nicht. Bei diesem Shaun schien eher Letzteres der Fall zu sein.
Ich sehe zu, was ich tun kann, schrieb sie dennoch an Monika, um die Freundin zufriedenzustellen.
Anschließend machte sie einen Spaziergang, aß ein Sandwich in einem Café und stöberte in ein paar Charity Shops herum, wo für wenig Geld allerhand Kuriositäten zu erwerben waren. Ein Blick auf die Uhr machte ihr schließlich klar, dass sie Lucy abholen musste.
Später beaufsichtigte sie beide Kinder bei ihren Hausaufgaben. Marian erschien gegen fünf Uhr und machte sich daran, das Abendessen vorzubereiten. Leah half wie üblich mit.
»Und, wann besuchst du meinen Bruder?«, fragte Marian, als die Nudeln auf dem Herd köchelten.
»Er hat mich doch nicht eingeladen«, erwiderte Leah mit Unbehagen.
»Doch. Hat er. Er sagte nicht, dass er keine Zeit habe, sich mit Gästen abzugeben.« Marian grinste.
»Dazu war er wohl zu höflich. Aber begeistert wirkte er nicht, als ich mich selbst eingeladen hatte. Das lag nur an dem Whiskey, sonst bin ich nicht so.«
Wieder verzogen sich Marians Lippen amüsiert. »Shaun ist ein Grübler und Eigenbrötler. Solche Leute sind selten höflich«, erklärte sie. »Wenn er nicht wollte, dass du mal vorbeikommst, hätte er es schon gesagt. Vielleicht mit der Ausrede, dass Granny Rosie keine Fremden mag. Für seine Verhältnisse war seine Reaktion sogar richtig gastfreundlich.«
Leah holte die Teller aus dem Schrank, denn bald würden sie das Essen servieren können. »Ich bin mir nicht sicher«, gab sie zu. »Ich dränge mich Leuten ungern auf.«
»Das würdest du auch nicht tun.«
Marian schüttete die gekochten Nudeln in ein Sieb. »Mein Bruder ist umgänglicher, als es den Anschein hat. Er kommt nicht gut mit Leuten klar, die er nicht kennt, aber mit der Zeit wird es besser. Es würde ihm guttun, mal Besuch zu bekommen. Granny Rosie nimmt ihn zu sehr in Anspruch. Fahre doch morgen einfach mal hin und bringe ihm den Rest von den Spaghetti mit, die wir gerade kochen. Er mag italienische Küche. Sag einfach, dass ich dich geschickt habe.« Sie schenkte Leah ein verschwörerisches Lächeln.
Es klang, als wäre irgendein Komplott geplant, an dem Leah sich nur ungern beteiligen wollte. Dennoch konnte sie schlecht ablehnen, denn es gehörte zu ihren Aufgaben, sich um die Familie zu kümmern. »Okay, ich fahre hin.« Zu ihrer eigenen Überraschung musste sie feststellen, dass sie sich durchaus auf diesen Ausflug freute.
Marian hatte ihr die Adresse aufgeschrieben, und Leah ließ sich von ihrem Handy sowie vom Navi dirigieren. Der Ortsteil, zu dem sie nun unterwegs war, hieß Summerhill – laut Marian kein so schönes Viertel wie Ranelagh und beliebt bei Drogenhändlern. Es war zentraler gelegen, nördlich des Flusses Liffey. Marian hatte Leah ausdrücklich ermahnt, keinesfalls zu vergessen, das Auto abzusperren. Tatsächlich schien die Gegend, in die das Navi Leah gelotst hatte, heruntergekommen und arm, doch tauchten an manchen Stellen auch schöne, alte Häuser auf. Eines davon wurde Leah von der automatischen Stimme als Ziel ihrer Fahrt präsentiert. Granny Rosie bewohnte ein mittelgroßes, durchaus elegantes Backsteingebäude, das in München sicher ein Vermögen wert wäre.
Mit der Essensschüssel unter dem Arm machte Leah sich auf den Weg. Die Tür zum Vorgarten war offen, danach entdeckte sie einen Klingelknopf an der Eingangstür. Zunächst blieb es still. Hatte Marian ihrem Bruder wirklich Bescheid gegeben, dass ihr deutsches Au-pair auf dem Weg zu ihm war? Andernfalls war vielleicht niemand zu Hause. Bei der Vorstellung, unverrichteter Dinge wieder die Heimfahrt anzutreten, fühlte Leah sich wie eine nicht abgeholte Briefsendung.
In dem Moment, da Leah schon wieder zum Auto gehen wollte, hörte sie plötzlich eine Frau schreien. Es war eine Aneinanderreihung grober Flüche, die Leah nicht alle verstehen konnte. Der aggressive Tonfall erschreckte sie, es klang, als brüllte eine Furie aus den Tiefen einer mittelalterlichen Hölle ihren Zorn in die Welt hinaus. Ihre Stimme war bereits heiser, gleich darauf folgte ein Hustenanfall. Leah dachte an Marians Warnung bezüglich der Drogenhändler. Hatte da jemand einen schlechten Trip? Doch die Schreie kamen nicht aus irgendeiner dunklen Straßenecke in ihrem Rücken, sondern direkt aus dem Haus, vor dem sie wartete. Hatte der digitale Routenplaner ihr einen bösen Streich gespielt? Bevor sie sich nach einem Namensschild hatte umsehen können, ging plötzlich die Tür auf.
Shaun trug ein T-Shirt mit keltischem Motiv und mehrere Silberketten um den Hals. Er sah aus wie einer von Monikas alternativen Freunden, doch fand sie diese für gewöhnlich nicht so anziehend. Es musste an der Ruhe liegen, die er ausstrahlte. Man verspürte den Wunsch, sich an seinen breiten Schultern auszuruhen.
In der Hoffnung, dass er ihr diese Empfindungen nicht an der Nasenspitze ablesen konnte, überreichte sie ihm die mitgebrachte Schüssel. Am besten sollte sie gleich wieder verschwinden, damit sie nicht noch aufdringlicher wirkte als bei der letzten Begegnung.
»Wollen Sie kurz reinkommen?«, fragte er aber leise.
Leah nickte. Jede andere Reaktion wäre unhöflich gewesen.
»Es tut mir leid, dass es etwas gedauert hat«, sagte er, als er sie in den Korridor führte. »Meine Granny hatte einen Anfall. Ich musste nach ihr sehen.«
Daher also das Gebrüll.
Das Heim der Cullens war ein modern eingerichteter, in hellen Farben gehaltener Ort. Hier allerdings glaubte Leah, die Kulisse zu einem Film aus der Zeit der Weltkriege zu betreten. Die dunklen Möbel hätten auf Antikmärkten vielleicht hohe Preise erzielt, aber die ganze Atmosphäre schien düster, als würde das Sonnenlicht stets durch schwere Vorhänge ausgesperrt.
»Möchten Sie einen Tee?«
Wieder bejahte Leah höflich, obwohl der Gesamtzustand des Hauses sie befürchten ließ, dass die Tassen nicht wirklich sauber wären. Sie folgte Shaun in die Küche, wo er die Schüssel in den Kühlschrank stellte. Die Wände hatten dunkle Flecken, die Möbel sahen abgenutzt aus. Dennoch erinnerte dieses Relikt aus einer weniger perfektionistisch reinlichen Vergangenheit an die Eleganz früherer Jahrzehnte. Die bestickte Tischdecke gefiel Leah, obwohl sie kleine Löcher aufwies. Auf den Stühlen lagen grüne Kissen, deren glatte grüne Oberfläche ebenfalls Risse hatte. Aber einst musste der Samtstoff so wunderschön gewesen sein wie leuchtende Smaragde.
»Es ist alles nicht so modern hier wie bei Marian«, erzählte Shaun, während er einen altmodischen Wasserkessel füllte und den Gasherd anzündete. »Ich hoffe, meine Schwester hat Sie vorgewarnt.«
»Hat sie nicht, musste sie aber auch nicht, denn es gefällt mir«, antwortete Leah völlig ehrlich. »Ich komme mir vor wie in einem Schwarz-Weiß-Film.«
»Ja, so kann man es sehen.«
Er stellte zwei Tassen auf dem Tisch, die mit großen Blumen bemalt waren. An der blechernen Teekanne hingegen war alle Farbe bereits abgesplittert.
»Earl Grey. Früchtetees haben wir nicht, weil Granny sie nicht mag.«
»Das ist völlig in Ordnung«, versicherte Leah und lächelte. Sie fragte sich, ob er sich für den Zustand des Hauses schämte. War das nötig vor einer gescheiterten Medizinstudentin, die als Au-pair einen Hungerlohn verdiente? Auch ein derart heruntergekommenes Haus hätte Leah sich niemals leisten können.
»Dann ist’s ja gut. Da ist die Milch. Zucker?«
Leah schüttelte den Kopf.
Shaun nahm ihr gegenüber Platz und öffnete eine Packung mit Keksen aus dem Supermarkt. Leah griff höflich zu. So schlecht schmeckten sie nicht einmal.
Ihr fiel auf, dass an seinen Fingern Farbreste klebten.
»Ich würde wirklich gern Ihre Bilder sehen«, wagte sie nochmals zu sagen.
»Wenn Sie wollen … ich weiß nicht, ob sie so besonders sind.«
Er hatte verlegen den Kopf gesenkt. Leah fand diese Neigung zu Selbstzweifeln sympathisch, denn allzu selbstbewusste Menschen verunsicherten sie eher.
»Ich verstehe nicht viel von Kunst. Meine Meinung ist also völlig unwichtig«, sagte sie aufmunternd.
»Keine Meinung ist unwichtig. Ich male nicht für Kunstkritiker«, konterte er nun deutlich lauter.
Hatte sie ein besonderes Talent, im genau richtigen Moment stets das Falsche zu sagen? »Ich meinte nur, dass …«
»Ich weiß, was Sie meinen. Also egal, ob Sie meine Bilder mögen oder nicht, eine Ausstellung werde ich in nächster Zeit wohl nicht haben. Machen Sie sich also keine Sorgen, meine Gefühle zu verletzen.«
Er stand auf und forderte sie auf, ihm zu folgen. Es ging in einen Raum neben der Küche, wo er eine Leinwand aufgestellt hatte. Darauf war ein junges Mädchen zu sehen, das durch eine Art verwunschenen Wald rannte. Gnome und Geister starrten von den Bäumen auf sie herab, aber sie strahlte eine unerschütterliche Energie aus, während sie voranpreschte. Das Gesicht der Kleinen kam Leah bekannt vor.
»Das ist Lucy!«, rief sie überrascht.
Er nickte. »Ich mag ihre freche, forsche Art. Frauen haben sich in der Vergangenheit zu viel gefallen lassen.«
Damit hatte er zweifellos recht. »Warum diese verzauberte Landschaft. Das wirkt wie in einem Fantasyfilm mit Horrorelementen?«, fragte Leah, denn ihr war aufgefallen, dass einige der Gnome hässliche Fratzen zogen. Dabei führte Lucy das behütete Leben einer Tochter moderner, aufgeklärter Eltern aus der Mittelschicht.
»Irland hat eine Kultur voller Sagen und Mythen. Aber gegen unsere Frauen sind wir oft brutal gewesen. Nun beginnt es, sich zu ändern, sogar Abtreibungen wurden legalisiert. Lucy hat eine völlig andere Zukunft vor sich als meine Großmutter Rosie. Aber so leicht lässt die Vergangenheit sich nicht abschütteln. Lucy ignoriert bisher alle Traditionen und tut, was immer ihr gefällt. Vielleicht ist diese Art von Egoismus notwendig, damit sie sich von alten Fesseln befreien kann.«
Shaun stand mit verschränkten Armen hinter ihr, während er all das erklärte. Wieder war Leah angenehm überrascht. Gingen Künstler nicht für gewöhnlich davon aus, dass man den Sinn ihrer Bilder ohne besondere Erläuterungen begriff?
Sie sah sich weiter um. An den Wänden lehnten andere Bilder, die ebenfalls verwunschene Landschaften mit düsteren Elementen darstellten, manchmal aber auch modern aussehende Menschen, die sich durch eine bedrohliche Welt kämpften. Trotz der stets gegenwärtigen Finsternis drückten die Gemälde auch Hoffnung aus.
»Mir gefallen sie«, rief Leah spontan. »Also die Bilder. Ich würde eines kaufen, also … also, wenn ich es mir leisten könnte.« Momentan konnte sie sich nicht mehr kaufen als gelegentliche Cappuccinos und Sandwiches in den schicken Cafés von Ranelagh.
Verlegen musterte sie die auch hier schmutzigen Wände. Was konnte sie schon sagen, um einen bisher erfolglosen Künstler zu ermutigen? Sie selbst war noch erfolgloser, denn Shaun wusste wenigstens, was er im Leben wirklich wollte.
»Es freut mich, dass Sie meine Bilder mögen«, erwiderte er, wieder ohne ihr ins Gesicht zu sehen. »Verkauft habe ich bisher kaum etwas. Ich kann Ihnen ein Bild schenken, bevor Sie nach Hause fahren.«
»Das kann ich nicht annehmen … aber … Ja, das wäre wirklich nett. Also wenn ich dieses Bild mit Lucy haben könnte.« War das jetzt dreist gewesen? Diese Darstellung seiner Nichte drückte deutlich aus, was Leah an dem Mädchen eindrucksvoll, aber auch verstörend fand.
»Ich werde es für Sie reservieren«, erwiderte er grinsend. »Lucy würde es sicher gefallen, dass Sie eine Erinnerung an sie mitnehmen wollen. Nun muss ich wieder nach meiner Großmutter sehen. Es geht ihr heute nicht gut.«
»Woran leidet sie denn?« Leah merkte, dass sie nicht willens war, sich schon jetzt hinauskomplimentieren zu lassen. Dieses Haus erinnerte an die Landschaften, die er malte. Verwunschen, düster, voller Geheimnisse, die neugierig machten.
»Genau weiß ich das nicht«, erzählte er bereitwillig, während er sie aus dem Zimmer führte. »Sie trinkt sicher zu viel … wie viele Leute in Irland. Dann verliert sie die Kontrolle über sich. Es gibt Erinnerungen, die sie plagen.«
»Haben Sie eine Ahnung, woran Sie sich erinnert?«
Eine leise Stimme in Leahs Kopf mahnte, dass sie in ihrer Neugier forsch zu werden begann.
Aber Shaun verzog keine Miene. »Das ist eine lange Geschichte. Ich weiß nicht, ob Sie Zeit haben, sie anzuhören.«
»Ich muss Lucy um vier von der Schule abholen. Also erst in fünf Stunden«, erwiderte Leah. Irgendwann würde sie auch etwas essen müssen, aber bis dahin war noch Zeit.
Shaun blieb etwas ratlos im Korridor stehen. »Ich kann Ihnen meine Großmutter vorstellen, wenn Sie wollen. Aber es ist möglich, dass sie sich merkwürdig verhält.«
»Das stört mich nicht«, versicherte Leah. »Ich hatte einen dementen Großvater, der vor zwei Jahren verstarb.« Die Besuche bei ihm hatte sie anstrengend gefunden, aber sie hatten ihr auch klar gemacht, wie zerbrechlich die menschliche Existenz war.
»Na gut, dann kommen Sie mal mit. Granny Rosie mag Besuch. Aber wenn sie sich vor Ihnen blamiert, dann erzählen Sie bitte Marian nichts davon.«
Leah versprach sogleich, das nicht zu tun. Es musste einen Konflikt zwischen den Geschwistern geben, dessen Ursachen sie nur erahnen konnte.
Eine Holztreppe führte hinauf ins nächste Stockwerk, wo sich noch drei weitere Räume befanden. Leah atmete den Geruch ein, den sie von ihren Besuchen bei ihrem Großvater im Pflegeheim kannte. Alte Menschen wurden hilflos wie Kinder, ohne dabei die Lebensfreude von Kindern auszustrahlen. Sie schenkten keine Energie, sondern kosteten Kraft. Dennoch bereute Leah es nicht, ihren Großvater bis zu seinem Tod regelmäßig besucht zu haben, denn so hatte sie langsam von ihm Abschied nehmen können.
Kümmerte Shaun sich deshalb um seine Großmutter? Oder brauchte er einfach eine kostenlose Bleibe, was James ihm wahrscheinlich unterstellen würde?
Als sie sah, wie er sich zu der alten Frau hinab beugte, die in einem altmodischen Plüschsessel kauerte, verflogen all diese zynischen Gedanken. Shaun strich so liebevoll über das dünne graue Haar, dass Leah sich wünschte, jemand würde sie auch einmal mit derartiger Zuneigung berühren, wenn sie alt war, schlecht roch und manchmal unkontrolliert durch die Gegend brüllte.
»Wir haben Besuch, Grandma. Aus Deutschland!«, sagte er sehr langsam und deutlich.
Granny Rosie stieß ein fröhliches Glucksen aus. »Deutsche sind nett. Ich hatte mal eine Kollegin im Frisiersalon, die war aus Deutschland. Ich weiß nicht mehr, wie sie hieß. Es klang ähnlich wie Cathy, aber sie war ganz anders. Nicht so ernst und klug.«
»Diese Deutsche hier heißt Leah«, erklärte Shaun geduldig. »Sie kümmert sich um die Kinder von Marian, und sie mag deine Urenkelin Lucy. Schon deshalb muss sie verrückt sein. Sie ist sogar so verrückt, dass ihr meine Bilder gefallen.« Er lachte kurz auf.
Seine Großmutter stimmte lautstark in das Lachen mit ein. »Ja, Marian, die hat einen guten Mann geheiratet und Kinder bekommen. Das wünschte ich mir auch immer, aber wer wollte schon eine wie mich?«
Leah staunte über diese Aussage. Das herzförmige Gesicht, die großen, strahlend blauen Augen, die immer noch feinen Hände – all das deutete darauf hin, dass Granny Rosie in jüngeren Jahren alles andere als unattraktiv gewesen war.
»Du warst verheiratet. Du hattest einen Sohn. Liam … mein Vater. Hast du ihn vergessen?«, fragte Shaun leise.
Einen Moment schien seine Großmutter angestrengt nachzudenken. »Liam, ja, Liam … Er war so fleißig. Wie Cathy.« Sie lachte nochmals. Es klang nicht verrückt, sondern fröhlich wie bei einem Kind.
Leah trat vor. Sie war angenehm überrascht, denn Granny Rosie machte einen gepflegten, wohlgenährten Eindruck. Sie trug einen jener altmodischen geblümten Kittel, die heute wieder in Vintage-Läden angeboten wurden. Ihre Füße steckten in Fellpantoffeln. Insgesamt sah sie aus wie die nette Oma aus einem Kinderbuch.
»Ich komme aus München«, stellte Leah sich vor. «Wissen Sie noch, woher diese deutsche Kollegin stammte?«
»Wahrscheinlich irgendein Dorf mit Kühen in der Nähe«, sagte Granny Rosie kichernd. »Ihr Vater war furchtbar streng, deshalb lief sie weg. Sie zog mit ein paar langhaarigen Musikern herum, kam deshalb nach Irland und blieb schließlich. Sie mochte unseren Whiskey.«
Ungeduldig streckte die alte Frau ihre Hand aus, wies auf die halb volle Flasche neben sich auf dem Tisch.
Shaun schenkte ihr mit unerschütterlicher Ruhe ein. »Ein Glas. Aber das nächste erst nach dem Abendessen«, mahnte er.
Seine Großmutter nickte. »Gib unserem Gast auch was! Warum bist du so unhöflich?«
Leah wagte nicht einzuwenden, dass sie nicht gern Alkohol trank. Shaun drückte ihr gleich darauf ein Glas in die Hand und schenkte sich schließlich selbst ein. Sie nippte an dem Getränk, gleich darauf floss entspannende Wärme durch ihren Körper. Man könnte sich daran gewöhnen, was vielleicht gefährlich war.
»Was macht Marian? Sie war auch immer ein fleißiges Mädchen!«, wollte Granny Rosie wissen.
»Sie arbeitet in einer Schule. Ich glaube, es ist anstrengend für sie, auch noch allein die Kinder zu versorgen. Ihr Mann ist selten zu Hause«, erzählte Leah.
Granny Rosie hatte ihr Glas erstaunlich schnell geleert. »Sie sollte froh sein, dass sie Kinder hat! Das Glück hat nicht jede Frau!«
Es hatte ein wenig aggressiv geklungen. So umgänglich, wie die alte Frau auf den ersten Blick schien, war sie wohl nicht immer.
»Natürlich ist Marian froh«, meinte Shaun versöhnlich. »Aber manchmal ist sie erschöpft. Sie möchte eine perfekte Mutter sein, aber auch eine hervorragende Lehrerin. Das wird ihr zu viel.«
Leah staunte, wie klar er das Problem seiner Schwester auf den Punkt gebracht hatte.
»Um zwei Kinder musste ich mich auch kümmern. Liam und … und … Marian, ja, Marian hieß das Mädchen. Sie hatte braunes Haar wie Cathy«, redete seine Großmutter nun drauflos.
Leah hörte Shaun leise seufzen.
»Liam war der Vater von Marian und mir. Dein Sohn. Er ist 1993 in England gestorben. Cathy, von der du so gern redest, war deine Schwester, nicht wahr?«
Seine Großmutter sah ihn verwirrt und ratlos an. Trotz ihres Alters glich sie in diesem Moment einem lieblichen, unschuldigen Mädchen. Leah überlegte, ob Marian es bedauerte, nicht diese strahlend blauen Augen geerbt zu haben. Die meisten Frauen würden sich danach sehnen. Aber weder Marian noch Shaun glichen ihrer Großmutter, sie waren dunkelhaarig und hatten kantigere Gesichter.
»Cathy … ja … wie eine Schwester war sie«, murmelte die alte Frau nun. »Niemand sonst war so nett zu mir. Warum machte ein so kluges Mädchen Dummheiten?« Sie schüttelte heftig den Kopf.
»Jeder macht manchmal Dummheiten«, begann Leah, um das Gespräch auf harmlose Weise fortzuführen.
»Aber manche Dummheiten werden bestraft«, erklärte die alte Frau mit Nachdruck. »Gott vergibt Sünden, aber die Menschen nicht.«
»Die Menschen sollten vergeben, wenn sie an Gott glauben«, mahnte Shaun. »Ansonsten sind sie keine echten Christen.« Er warf Leah einen Hilfe suchenden Blick zu, und sie begriff, dass ein Themenwechsel angebracht war.
»Mochten Sie die Arbeit im Friseursalon?«, fragte sie daher, weil ihr sonst nichts einfiel. »Meine Großmutter hat nie gearbeitet.«
»Ach, ich fand es gut, etwas Geld zu haben!«, sagte die alte Frau nun und wirkte auf einmal sehr wach und energisch. »Mein Mann war weg. Ich musste arbeiten.«
»Es war sehr tapfer von Ihnen«, lobte Leah, um sie zu beruhigen.
»Tapfer, ja, immer war ich tapfer. Jetzt habe ich genug davon. Ich will noch etwas Whiskey!«
Es klang wie das Quengeln eines ungeduldigen Kindes. Leah sah Shaun ratlos an. War es klug, ihr noch mal einzuschenken?
»Nach dem Abendessen hatten wir ausgemacht«, mahnte er. »Ich kann dir einen Tee kochen, wenn du willst.«
»Ich will keinen Tee!« Sie stampfte mit dem Fuß auf. »Whiskey, habe ich gesagt!«
»Es wäre sicher besser, damit noch ein bisschen zu warten«, versuchte Leah, die alte Frau zu besänftigen. »Nach dem Abendessen schmeckt der Whiskey viel besser.«
»Nein, tut er nicht. Er schmeckt jetzt!« Granny Rosie hatte ihre Arme in die Lehnen des Sessels gestemmt und schaffte es, sich ein wenig aufzurichten. »Ich will Whiskey. Ich habe mich um die Kinder gekümmert, gearbeitet, Essen gekocht und alles gemacht … alles, was ich sollte. Warum bekomme ich immer noch nicht, was ich will? Warum bin ich böse, warum?« Plötzlich begann sie zu weinen. Ihr ganzer Körper wurde von Schluchzern geschüttelt.
Leah strich ihr hilflos über den Rücken.