Die schöne Insel - Tereza Vanek - E-Book
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Die schöne Insel E-Book

Tereza Vanek

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Beschreibung

Shanghai anno 1900. Als uneheliches Kind von ihrer Stiefmutter verstoßen, bleibt die junge Russin Anastassia allein in der Stadt zurück, da sie sich einer erzwungenen Heirat widersetzt. Durch Zufall trifft sie auf das chinesische Mädchen Clio, das aus einem Bordell geflohen ist, und die beiden Frauen verbünden sich. Während Clio mit Anastassias Hilfe in einem Missionshaus unterkommt, findet die junge Russin eine Anstellung bei dem wohlhabenden deutschen Geschäftsmann Felix Hoffmann. Schon bald merkt Anastassia, dass sie Gefühle für ihn entwickelt. Doch als der auf Clio trifft, ist er auf der Stelle fasziniert von der schönen Chinesin. Clio dagegen hat ihr Herz bereits verschenkt – ausgerechnet an den japanischen Offizier Nobu und damit an ein Mitglied eben der Besatzungsmacht, die in Clios Heimat, der Insel Formosa, ein strenges Regime führt. Um ihn endlich wiederzusehen, kehrt die Chinesin, begleitet von Anastassia, zurück zur "schönen Insel", wo Zauber und Gefahr die beiden Frauen erwarten.

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Seitenzahl: 570

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Tereza Vanek

Die schöne Insel

Roman

Bookspot

Impressum

Als Vorlage für die Karte wurde verwendet: Karte von Formosa, nach den besten Quellen entworfen von Prof. Dr. A. Kirchhoff, aus Petermann’s Geogr. Mitteilungen, Jahrgang 1895, Tafel 2, Gotha: Justus Perthes

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile.

Alle Akteure dieses Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind von der Autorin nicht beabsichtigt.

Copyright © 2017 by Edition Carat, ein Imprint von Bookspot Verlag GmbH

1. Auflage 2017

Satz/Layout: Martina Stolzmann

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München

Lektorat: Martina Kuscheck

Korrektorat: Thilo Fahrtmann

E-Book: Mirjam Hecht

Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Made in Germany

ISBN 978-3-95669-079-2

www.bookspot.de

Karte Formosa

1. Kapitel

Anastassia nahm den Lärm der Straßen, den beißenden Gestank von Unrat und die vielen schubsenden, rempelnden Menschen nur undeutlich wahr, als hätte jemand ihre Sinne in Watte gepackt. Seit sie denken konnte, lebte sie in Shanghai, und für gewöhnlich machte ihr das Getümmel nichts aus, ja, es gefiel ihr sogar. Früher sollte ein kleines russisches Dorf ihre Heimat gewesen sein, doch sie konnte sich daran nicht mehr erinnern. Den Namen des Ortes hatte der Vater ihr einmal genannt, aber er war ihr zu unwichtig gewesen, um ihn sich zu merken.

In Russland hatte man sie als Juden nicht gewollt und sie sah daher keinen Grund, dieses Land zu vermissen. Bisher hatte sie China für die bessere Wahl gehalten, denn hier kümmerte sich niemand um Fragen der Religionszugehörigkeit.

Aber heute hatte sie erfahren, dass sie auch hier nicht erwünscht war. Der verächtliche Blick ihrer besten Freundin Charlotte Huntingdon verfolgte sie wie ein böser Geist, dem sie vergeblich zu entkommen suchte, indem sie durch eine enge Straße nach der anderen lief. Dabei war das selbstbewusste, eitle Mädchen für sie zum Mittelpunkt ihres Daseins geworden, seit sie gemeinsam in einem Klassenzimmer saßen. Eine Chinesin, die besser deutsch und französisch sprach als alle anderen Schülerinnen, gehörte zu den Kuriositäten, die nur eine so verrückte Stadt wie Shanghai aufweisen konnte. Hier wurde vermischt, was anderweitig streng getrennt zu bleiben hatte. Hier konnte auch ein blondes jüdisches Mädchen dazugehören.

Vielleicht wäre es auch so gewesen, wenn dieses Mädchen nicht so tollpatschig und ungeschickt wäre wie sie, Anastassia Gregorova Nikitina.

Sie musste kurz stehen bleiben, um durchzuatmen. Manchmal empfand sie einen solchen Zorn auf sich selbst, dass sie der Wunsch überkam, sich das Gesicht blutig zu kratzen. Ihre Mutter bezeichnete solche selbst zugefügten Verletzungen stets mit gerunzelter Stirn als Versuche, Aufmerksamkeit zu erregen. Die Erinnerung an diesen Vorwurf genügte, dass Anastassia sich zusammenriss. Sie wollte ihrer Familie keinen unnötigen Ärger bereiten, denn ihre Eltern hatten genug zu kämpfen, um sie alle am Leben zu halten.

Sie setzte sich wieder in Bewegung, denn sie musste im Laden mithelfen. Der Besuch bei Charlotte Huntingdon hatte bereits mehr Zeit beansprucht, als ihr zustand.

Die Glocke bimmelte, als die Tür hinter ihr zufiel. Anastassia nahm die kleine, leicht gekrümmte Gestalt ihrer Mutter wahr, die sich über eine geöffnete Schublade beugte.

»Deine Schule ist schon vor zwei Stunden zu Ende gewesen. Ich frage mich ja, wo du dich immer herumtreibst, aber das ist jetzt nicht so wichtig. Hilf mir, hier ein wenig sauber zu machen!«

Sie warf Anastassia über den Tresen hinweg ein nasses Tuch zu und schloss energisch die Schublade. Sophia Barakova war auch aufrecht stehend eine sehr kleine Person, kleiner noch als die meisten Chinesinnen. Doch ihr resolutes Auftreten ließ sie imposanter wirken.

»Wir haben eine neue Lieferung Kaviar bekommen und Stoffe aus Sankt Petersburg. Es gibt zum Glück in diesem Sumpf hier genug Ausländer, die solch edle Waren zu schätzen wissen. Wenn es in unserem Laden nur nicht immer aussehen würde wie in einem Schweinestall!«, klagte sie und überließ die unerfreuliche Aufgabe des Putzens erst einmal ihrer Tochter.

Anastassia tat, wie ihr geheißen wurde. Sie hatte sich tatsächlich verspätet und wollte die Mutter nicht unnötig verärgern, obwohl der Laden ihr nicht besonders schmutzig erschien. Vielleicht gab es in der internationalen Siedlung einfach zu viel Konkurrenz von britischen und französischen Ladenbesitzern, die ihren Landsleuten vertrauter waren als russische Juden und daher auf weniger Misstrauen stießen. Chinesen wäre die Frage der Religion egal gewesen, aber sie verirrten sich so gut wie nie in diesen Laden, sodass ihnen nur einige treue Stammkunden blieben, die russische Produkte schätzten. Von deren Geld konnten sie gerade so überleben, doch schon die Arztkosten für den stets kränkelnden Vater stellten eine große Belastung dar.

Während Anastassia folgsam den Tresen schrubbte, überlegte sie, ob es vielleicht sinnvoll wäre, ihr Sortiment etwas internationaler zu gestalten. Aber sie wusste, dass sie mit diesem Vorschlag bei ihren Eltern auf taube Ohren stoßen würde, denn sie mochten keine Veränderungen. Beide vermissten die kalte Heimat, in der sie unerwünscht gewesen waren, allzu schmerzlich, um ganz von ihr Abstand zu nehmen.

»Dein Vater hatte heute Vormittag wieder ganz schlimmen Husten. Das feuchte Klima hier bekommt ihm nicht«, klagte die Mutter. »Aron ist losgezogen, um den Arzt zu holen. Leider ist er immer noch nicht zurück.«

Anastassia unterdrückte einen Seufzer. Aron mit einem solchen Auftrag loszuschicken, war keine gute Idee, da er unterwegs immer irgendwie abgelenkt wurde, in Spelunken hängen blieb und Chinesen beim Glücksspiel zusah, das ihn faszinierte. Aber die Mutter verschloss hartnäckig ihre Augen vor den Fehlern ihres Lieblingskindes.

»Ich kann gleich nachsehen, wo er bleibt«, schlug Anastassia vor.

»Nichts da! Du bleibst hier, ich brauche Hilfe«, entschied Sophia Barakova in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete.

Anastassia gehorchte. Sie hatte früh gelernt, dass Widerspruch ihr nur wochenlange Vorwürfe einbringen würde. Ihre Mutter verstand sich hervorragend darauf, ihre Zunge in eine scharfe Klinge zu verwandeln.

So stand Anastassia eine Weile neben Sophia Barakova im Laden herum und wartete vergeblich auf Kundschaft. Kurz schaute ein angetrunkener Seemann vorbei, der ihnen zwei Flaschen Wodka abkaufte, aber dieser Erlös allein würde nicht reichen, um bis zum Ende der Woche ihre Mägen zu füllen.

»Wenn wir nur hätten daheimbleiben können«, klagte Sophia Barakova, während sie sich eine Schale Tee einschenkte. »Dann würde es uns jetzt gut gehen. In unserem Dorf ließen die Leute einander nicht im Stich und zahlten gutes Geld für anständige Waren. Aber hier, unter den vielen Chinesen … Und du bist sogar mit einer von ihnen befreundet.«

Anastassia schwieg und schob ein paar bemalte Dosen in den Regalen herum, um sich irgendwie zu beschäftigen. Ihre Mutter konnte nichts von dem bösen Streit mit Charlotte Huntingdon wissen. Trotzdem staunte sie über deren Fähigkeit, stets die Worte zu finden, die in eine wunde Stelle stechen konnten.

»In Russland gibt es sicher mehr Händler, die russische Waren anbieten«, wagte sie einzuwenden. »Hier sind sie etwas Besonderes. Vielleicht müssten wir nur einen Weg finden, etwas mehr Aufmerksamkeit zu erwecken. Die Huntingdons kennen sich sehr gut mit Geschäften aus, vielleicht können sie uns einen Rat geben. Außerdem lebt bei ihnen jetzt eine junge Frau aus Deutschland, die …«

»Die Goy sind nicht wirklich besser als die Chinesen«, unterbrach Sophia Barakova. »Diese Schlitzaugen arbeiten wenigstens, das muss man ihnen lassen. Die Goy saufen ständig nur und huren herum!«

Mit einer energischen Handbewegung stellte Anastassias Mutter die Teeschale wieder neben der Spüle ab. Die Türglocke bimmelte, zwei junge Engländerinnen kamen herein, um die Stoffe aus Sankt Petersburg zu begutachten. Anastassia bemühte sich, sie nach bestem Können zu beraten, denn Sophia Barakova sprach kaum Englisch. Sie erfuhr, dass den beiden ihr Laden empfohlen worden war, und ahnte, dass die Huntingdons irgendwie dafür verantwortlich sein mussten. Charlottes Mutter war zwar in der angesehenen Gesellschaft der internationalen Siedlung nicht wirklich gern gesehen, weil sie einen Halbchinesen geheiratet hatte. Aber wo auch immer sie auftauchte, zog sie durch ihre elegante Erscheinung Blicke auf sich. Nachdem die zwei Mädchen mit ein paar Stoffballen unter dem Arm fröhlich plappernd den Laden verlassen hatten, war Anastassia etwas wohler zumute. Damit hatten sie auf jeden Fall für die nächsten zwei Wochen genug zu essen. Vorausgesetzt, der Arzt, den der Vater brauchte, war nicht zu teuer …

»Ich bringe Papa schnell eine Tasse Tee«, sagte sie zu ihrer Mutter, die glücklicherweise mit dem Zählen des Geldes in der Kasse beschäftigt war. So schnell würde wohl keine weitere Kundschaft mehr kommen und falls doch, würde Sophia Barakova mit ihr selbst fertig werden müssen.

Sehr schnell, bevor sie zurückgerufen werden konnte, hastete Anastassia die schmalen Stiegen hoch. Die Eltern schliefen in der größeren der zwei Kammern. Sie selbst hatte sich lange einen Raum mit Aron geteilt, der es nun jedoch vorzog, in der Küche zu schlafen. Dort störte er niemanden, wenn er wieder einmal spät nach Hause kam. Aron war erst 16, aber bereits sehr umtriebig und er hatte einige Freunde, die Anastassia suspekt waren. Durch die räumliche Trennung blieb ihr so ein klein wenig Ruhe für ihre Schularbeiten, die sie meist spätabends bei spärlicher Beleuchtung erledigen musste. Allein die Nachhilfestunden mit Charlotte hatten ihr die Möglichkeit eröffnet, sich etwas ausführlicher mit dem Schulstoff zu befassen. Aber damit war es nun wohl vorbei.

Sie hörte den rasselnden Husten, noch bevor sie das Schlafzimmer der Eltern betreten hatte. Er ging in ein gequältes Röcheln über, das nicht enden wollte. Anastassia fröstelte trotz der stickigen Hitze im Haus. Es gab Ahnungen, die man verdrängen musste, weil sie unerträglich waren.

»Dein Tee, Papuschka!«

Wenn sie mit ihrem Vater redete, benutzte sie liebend gern die russische Sprache mit ihrem Zischen, den weichen, runden Vokalen und dem ratternden »R«.

Der Mann auf dem Bett wandte sich ihr zu und ein warmes Lächeln erhellte sein eingefallenes Gesicht. Mit einer raschen Bewegung wischte er seine rechte Handfläche auf dem Laken ab. Obwohl es bereits von dunklen Flecken übersät war, konnte Anastassia die frischen Blutspuren nicht übersehen. Ihr Magen verkrampfte sich schmerzhaft. Der Kummer wegen des Streits mit Charlotte erschien ihr auf einmal selbstsüchtig und belanglos.

»Wie nett, dass meine kleine Stassjenka an mich denkt«, flüsterte ihr Vater und nahm die Tasse entgegen. Weil seine Hände zitterten, verschüttete er einen Teil des Tees auf der Decke, während Anastassia ihm die Kissen zurechtrückte.

Dann setzte sie sich auf die Bettkante und strich ihm über die Schulter. »Der Doktor kommt sicher bald«, versicherte sie und hätte ihren Bruder in diesem Moment ohrfeigen mögen. Wahrscheinlich war er unterwegs einigen seiner Freunde begegnet, die ihn in irgendeine Spelunke geschleppt hatten. »Ich denke, ich sehe auch gleich nach, wo Aron bleibt«, fügte sie hinzu.

»Der Doktor kostet doch nur Geld, Stassjenka«, widersprach ihr Vater leise. »Er kann Gottes Willen nicht ändern.«

»Hör auf, so zu reden!« Anastassia hatte geschrien. Tränen schossen ihr in die Augen. Heute hatte sie doch schon ihre einzige Freundin verloren. Ohne den Vater wäre diese Welt nur noch dunkel und kalt.

»Was hast du denn, mein Mädchen?«, murmelte der kranke Mann und tätschelte ihre Hand. »Wir alle müssen irgendwann gehen. Mir war mehr Zeit auf Erden vergönnt als … als …« Er verstummte plötzlich und riss seine fiebrig glänzenden Augen auf. »Was rede ich nur?«, murmelte er, fast erschrocken. »Noch bin ich nicht tot, keine Sorge. Sag mir, was du auf dem Herzen hast, mein Mädchen.«

Er drückte ihre Finger zusammen. Seine Handflächen waren so glühend heiß, dass Anastassias Kehle eng wurde.

»Ich habe mich mit Charlotte Huntingdon gestritten«, sprudelte es aus ihr heraus. »Ich dachte, sie wäre meine Freundin, aber seit sie sich in diesen Engländer verliebt hat, der sie fallen ließ, ist sie wie ausgewechselt. Ich glaube, sie verachtet mich. Sie hält mich für ebenso ungeschickt und dumm wie alle anderen.«

Zu ihrem Entsetzen begann sie zu weinen. Der Vater zog sie in eine Umarmung und tätschelte ihren Rücken.

»Das Mädchen ist einfach nur unglücklich. Ein gebrochenes Herz, das tut sehr, sehr weh. Bald schon wird sie bereuen, was sie gesagt hat. Falls nicht, so ist sie selbst ein dummes Ding. Du bist klug. Stassjenka. Und begabt. Wie deine Mutter. Beende auf jeden Fall die Schule, versprich mir das.«

Anastassia nickte nach Luft japsend. Der Weinkrampf erwies sich als unerwartet befreiend und nachdem sie eine Weile in den Armen ihres Vaters gelegen hatte, erschien ihr die Welt wieder etwas heller und freundlicher. Sie fragte sich zwar, wie jemand Sophia Barakova klug und begabt nennen konnte, schämte sich aber gleich darauf für diesen boshaften Gedanken.

»Komm, lass uns noch ein bisschen malen«, forderte der Vater sie dann auf.

Anastassia nahm erleichtert zur Kenntnis, dass die Mutter noch nicht nach ihr gerufen hatte. Vielleicht hatten sie ja tatsächlich eine Weile Zeit für das, was sie als Vater und Tochter gemeinsam am liebsten taten.

Ihr Vater hatte bereits in Russland Holzfiguren und kleine Schachteln mit Darstellungen aus russischen Märchen und sonstigen Verzierungen bemalt. Angeblich hatte er diese Fertigkeit von seinem eigenen Vater erlernt. In der Heimat hatte sich solche Ware auch gut verkauft, aber hier in Shanghai wollte das Geschäft nicht so recht in Gang kommen. Es konnte daran liegen, dass dem Vater aufgrund seiner Krankheit oft die Energie zum Malen fehlte. Aron hatte keine Neigung gezeigt, von ihm zu lernen. Anastassia wurde von der Mutter meistens zu anderen Aufgaben angehalten. Jene zwei Dinge, die sie am meisten liebte, das Malen und das Lernen, waren ein Luxus, den sie sich nur gelegentlich genehmigen durfte. Auf dem wackeligen Tisch neben dem Bett stand die hölzerne Puppe, die ihr Vater mit dem Kopftuch einer russischen Bäuerin bemalt hatte. Nun sollte der rundliche Leib der Figur einen Sarafan erhalten, die klassische russische Bäuerinnentracht, bestehend aus einer Bluse und einem weiten, bunten Übergewand. Anastassia musste ein Bilderbuch zu Hilfe nehmen, da sie niemals in ihrem Leben eine so gekleidete Frau leibhaftig gesehen hatte. Russland war ein fremdes Land für sie, aber in Shanghai würde sie niemals etwas anderes sein als eine Fremde. Diese Erkenntnis verdüsterte nur für einen kurzen Augenblick ihre Stimmung, dann nahm das Mischen der Wasserfarben ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Sie malte der Puppe einen Korb mit Eiern in die Hände, verzierte ihn mit bunten Bändern, die zu dem roten Sarafan mit goldenen Bordüren passten. Für das Gesicht würde sie sich morgen Zeit nehmen, wenn die Lichtverhältnisse im Zimmer besser waren. Sobald sie die Figur zum Trocknen wieder auf den Tisch gestellt hatte, wandte sie sich erneut dem Vater zu.

»Na, wie gefällt dir meine Bäuerin? Ich finde, es war eine gute Idee mit der Puppe. Wer hat eigentlich die Figur dazu geschnitzt?«

Die Augen ihres Vaters blieben geschlossen, nur die Lider zuckten. Anastassia erhob sich und wandte sich zur Tür, als sie hinter sich plötzlich wieder seine Stimme hörte.

»Lew drechselt die Figuren. Das habe ich dir doch schon erzählt, Katjuscha. Er hatte die Idee, dass wir buntes Holzspielzeug herstellen sollten, aber dann habe ich auf dem Newski einen Laden mit japanischen Puppen gesehen, die aussahen wie Kunstwerke …«

Anastassia schüttelte ratlos den Kopf. »Wer ist denn dieser Lew? Und warum sagst du Katjuscha zu mir?«

Sie kannten keine anderen Russen in Shanghai, jedenfalls nicht gut genug, um sie mit dem Vornamen anzureden. Auch keine Juden. Es gab ein paar Händler unten am Bund, die derselben Religion angehörten, doch waren die allesamt zu reich, um die Bekanntschaft eines gewöhnlichen Krämers und seiner Familie zu wünschen.

»Lew aus meinem Dorf. Katja, du hast doch selbst die Holzfiguren bei ihm abgeholt. Warum bist du in letzter Zeit so vergesslich?«

Eine üble Ahnung beschlich Anastassia. Sie legte ihre Hand auf die Stirn des Vaters und zuckte zusammen, als hätte sie sich verbrannt.

»Du hast hohes Fieber!«, rief sie, ohne jede Hoffnung, dass er sie noch verstehen könnte.

Ihr Vater hatte begonnen, den Kopf ruhelos hin und her zu drehen. Nun drangen nur noch unverständliche Worte aus seinem Mund, allein der Name dieser Katja war immer wieder herauszuhören. Kurz bevor der nächste Hustenanfall einsetzte, schrie er geradezu gequält nach ihr, als könne sie ihn von aller Qual befreien. Bald darauf war das Laken mit großen dunkelroten Flecken benetzt. Anastassia versuchte vergeblich, ihn durch Zusprache und Berührungen zu beruhigen, während ihr Tränen über die Wangen liefen. Wenn das Malen sie nicht derart abgelenkt hätte, wäre ihr sein schlimmer Zustand vielleicht früher aufgefallen und sie hätte ihm schneller helfen können. Panik schnürte ihr die Kehle zu, als sie ihn nur noch röcheln hörte, und sie raste die Stufen hinab.

»Ich hole den Arzt!«, schrie sie der Mutter zu und rannte aus dem Haus, bevor sie eine Antwort bekommen hatte.

2. Kapitel

Gregor Ephraimowitsch Nikitin wurde auf dem Friedhof der internationalen Siedlung beigesetzt. Außer seiner Witwe und den zwei Kindern kamen ein paar Nachbarn aus der französischen Siedlung, wo sich der kleine Laden der Familie befand. Ein Kaffeehausbesitzer, der bei ihnen gelegentlich Stoffe und Getränke bestellt hatte, zwei ältere Damen, die einst Gouvernanten gewesen waren und nun von ihren bescheidenen Ersparnissen lebten, und wider Erwarten auch ein paar Gesichter aus der jüdischen Gemeinde. Anastassia vermutete, dass sie es dem Einsatz des Rabbis zu verdanken hatten, der ihnen die Peinlichkeit einer einsamen Beerdigung ersparen wollte. Es waren auch ein paar Chinesen darunter, die vermutlich aus Kaifeng stammten. Ihr Vater hatte ihr einmal erzählt, dass in dieser Stadt zur allgemeinen Überraschung eine jüdische Gemeinde entdeckt worden war, die mehrere Jahrhunderte lang völlig abgeschieden von der restlichen Diaspora bestanden hatte. Man vermutete, dass sie von ehemaligen Flüchtlingen abstammten, die sich im Laufe der Zeit so sehr mit den Einheimischen vermischt hatten, dass sie jetzt äußerlich nicht mehr von ihnen zu unterscheiden waren.

Früher einmal hatte Anastassia diese Vorstellung von einer Vermischung der jüdischen und chinesischen Kultur faszinierend gefunden, aber jetzt ließen die asiatischen Glaubensgenossen sie vollkommen kalt. Immer wieder wandte sie den Kopf zum Eingang des Friedhofs und hoffte, jenes chinesische Mädchengesicht zu erblicken, nach dem sie sich wirklich sehnte. Sie hatte Charlotte eine Nachricht zukommen lassen und war überzeugt gewesen, dass die Freundin sie in dieser schweren Stunde nicht allein lassen würde, ganz gleich, was auch immer vorgefallen war. Aber sie wurde enttäuscht, Charlotte erschien nicht, ja, sie schickte nicht einmal einen tröstenden Brief. Das Gefühl völliger Einsamkeit umhüllte Anastassia wie ein schwerer Mantel, der sie schützte, aber gleichzeitig niederdrückte. Seit dem Tod des Vaters fühlte sie sich wie ein Automat, der sich nach einem vorgegebenen Mechanismus durch jeden Tag bewegte, ohne wirklich zu begreifen, warum das notwendig war. Am liebsten wäre sie im Bett geblieben, mit geschlossenen Augen und ruhig atmend, während der Rest ihres Lebens allmählich vorüberging. Aber das war nicht möglich, denn die schrille, nörgelnde Stimme ihrer Mutter riss sie jeden Morgen aus jenem Dahindämmern, das ihr momentan als die einzig erträgliche Art der Existenz erschien. Sie hatten die Beerdigung vorbereitet, die persönliche Habe ihres Vaters aus dem Haus geschafft und dennoch den Laden weiter betreiben müssen, denn für mehrere Tage zu schließen, konnten sie sich schlichtweg nicht leisten. Aron war, wie nicht anders erwartet, keine besondere Hilfe gewesen. Er tat meistens nur, was seine Mutter von ihm verlangte, um danach sobald wie möglich wieder zu verschwinden. Sophia Barakova schwankte zwischen lautem Gezeter über die Schwächen ihrer Mitmenschen und verzweifelter Klage, in eine so missliche Lage geraten zu sein. Irgendwo in ihrem betäubten Bewusstsein registrierte Anastassia, dass die Mutter den Vater nicht wirklich vermisste, sondern vor allem sich selbst bemitleidete. Wie es Aron wirklich ging, wusste sie nicht. Sie hatten irgendwann aufgehört, sich über persönliche Dinge zu unterhalten.

Nun sah sie zu, wie ihr Vater unter einer ständig wachsenden Schicht von Erde verschwand. Gemäß der Tradition warf jeder der Anwesenden drei Schaufeln davon auf den Sarg. Die Christen glaubten an ein Wiedersehen nach dem Tod, die Buddhisten an Wiedergeburt. Bei den Juden hieß es nur: Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden. Dennoch wehrte Anastassia sich gegen die Vorstellung, dass jener Mann, der sie so oft umarmt, getröstet und das Malen gelehrt hatte, für immer aus ihrem Leben verschwunden sein sollte. Er musste irgendwo sein und dort auf sie warten. Wenn sie nur einen Weg gewusst hätte, wäre sie auf der Stelle zu ihm gelaufen, denn es gab nichts, das sie in dieser Welt festhielt.

Nach der Beerdigung zogen sich die Leute rasch zurück. Anastassias Familie hatte keine Einladung zu einer Trauerfeier ausgesprochen, weil sie sich nichts Derartiges leisten konnten, und daher war das Verschwinden der Gäste eher eine Erleichterung als eine Enttäuschung. Es war nicht zu erwarten, dass sie der jüdischen Tradition gemäß Schiwa sitzen würden, denn der Laden sollte weiterhin geöffnet bleiben. Der Vater hätte dafür sicher Verständnis, dachte Anastassia und schritt hastig neben ihrer Mutter einher, immer noch eingehüllt in den Mantel der Einsamkeit. Er dämpfte das schrille Klagen Sophia Barakovas.

Kurz bevor sie ihr Heim erreicht hatten, kam ihnen plötzlich eine breitschultrige Gestalt entgegen, die unter den vielen Chinesen geradezu riesig wirkte. Anastassia erkannte den Iren Joe Whetley, der eine Kneipe drei Häuser weiter betrieb. Sie galt als üble Spelunke, in die sich vor allem Seeleute verirrten, und ihr Besitzer sprach selbst gern dem Alkohol zu. Allerdings vertrug er ihn erstaunlich gut, denn trotz der Schnapsfahne, die ihm voranwehte, bewegte er sich mit der gewichtigen Sicherheit eines rollenden Felsens. Kurz vor Anastassia blieb er stehen. Sie trat einen Schritt zurück, denn sie mochte diesen Mann nicht.

»Mein Beileid, Miss Nikitina.«

Sie bedankte sich und wollte an ihm vorbeihasten, aber er packte sie am Arm.

»Was werden Sie jetzt machen?«

»Den Laden weiter betreiben. Ich habe es leider eilig.«

Da er sie nicht mehr losließ, sah sie sich Hilfe suchend nach Aron und ihrer Mutter um. Der Bruder bemerkte ihren auffordernden Blick tatsächlich, doch Sophia Barakova schob ihn fort, ohne sich um die Tochter zu kümmern.

»Mit dem Laden wird es nicht einfach sein ohne einen Mann im Haus«, bemerkte Joe Whetley.

Anastassia wies auf ihren Bruder, der gerade in der Menge verschwand. Der Ire lachte kurz auf und Aron war nicht mehr zu sehen.

»Ihr Bruder ist noch ein halbes Kind. Als Geschäftsmann wird ihn niemand ernst nehmen«, kommentierte Joe Whetley. Sein breites Grinsen hätte bei Anastassia normalerweise Unbehagen oder auch Zorn geweckt, wenn sie nicht bemüht gewesen wäre, jedes Gefühl im Keim zu ersticken.

»Er leidet noch unter dem Verlust seines Vaters und muss lernen, Verantwortung zu übernehmen. Wir werden zurechtkommen, keine Sorge«, erwiderte sie nur schroff und riss sich energisch los. Dann stolperte sie ihrer Familie hinterher.

»So einfach wird das nicht sein, Miss Nikitina. Nicht einfach, für zwei Frauen und einen Jungen.« Die Stimme des Iren verfolgte sie wie eine böse Prophezeiung.

Anastassia fiel das Atmen plötzlich schwer, sie taumelte auf die Eingangstür des Hauses zu. Noch niemals in ihrem Leben hatte sie sich so verloren gefühlt. Als die Tür hinter ihnen zugefallen war, musste sie sich kurz gegen die Wand lehnen.

»Was stehst du hier herum? Koch uns Tee!«, wies die Mutter sie an. »Dann kümmere dich bitte um den Laden. Ich habe fürchterliche Kopfschmerzen.« Sophia Barakovas schmächtige Gestalt quälte sich die Stiegen empor.

Aron verharrte ratlos im Korridor, die Hände in die Hosentaschen gesteckt. »Kann ich auch irgendetwas tun? Ich meine, damit du es leichter hast«, fragte er zu Anastassias Erstaunen.

Sie musterte ihren schlaksigen Bruder, auf dessen blasser Haut rote Flecken zu sehen waren. Sie konnte sich ihn als Hilfskraft im Laden einfach nicht vorstellen, selbst wenn er sich dazu bereit zeigte. Er war ein rastloser Junge mit zu vielen Flausen im Kopf.

»Ich schaffe es schon allein. Ruh dich auch ein wenig aus!«, riet sie ihm und erblickte tiefe Erleichterung auf seinem Gesicht.

In den nächsten Wochen lief der Laden unerwartet gut, fast als hätte der Tod seines Besitzers ihn bekannter gemacht. Ihr Vater hatte Anastassia zu Lebzeiten bereits alle wesentlichen Dinge erklärt, damit sie sich um alles kümmern konnte. Im Umgang mit der Kundschaft begann sie allmählich selbstbewusster zu werden, weigerte sich, sofort Preisnachlässe zu gewähren und bot auch unaufgefordert Waren an, die vielleicht dem Geschmack des Käufers entsprechen konnten. Die Einnahmen blieben zwar spärlich, reichten aber für tägliche Mahlzeiten. Sie würden sich über Wasser halten können, mit der Zeit vielleicht sogar Gewinn machen. Bedauerlich war nur, dass sie selbst keine Zeit mehr hatte, zum Unterricht zu erscheinen. Sie hätte die Schule gern abgeschlossen, wie der Vater es sich gewünscht hatte, aber im Grunde wusste sie, dass all diese theoretischen Kenntnisse ihr in ihrem Leben nicht unbedingt weiterhelfen würden. Sie konnte bereits rechnen, schreiben und beherrschte mehrere Sprachen. Was es sonst brauchte, um einen Krämerladen zu betreiben, würde sie sich mit der Zeit aneignen. Tief in ihr schlummerte die Sehnsucht, mehr von der Welt zu erfahren, aber sie ahnte, dass sie den Rest ihrer Tage hinter dem Tresen verbringen würde. Auf den Straßen von Shanghai hatte sie zu viel Elend gesehen, um sich Klagen über ein solches Los zu erlauben.

Ein Wunsch jedoch blieb hartnäckig bestehen. Jedes Mal, wenn die Türglocke neue Kundschaft ankündigte, blickte Anastassia hoffnungsvoll auf. Vielleicht war es Charlotte, der sie nun gefasster entgegentreten konnte, da sie sich in ihrem Leben langsam zurechtfand. Sie könnten zusammen Tee trinken, sich aussprechen und die Freundschaft fortsetzen, als ob nichts zwischen ihnen vorgefallen wäre. Anastassia war längst bereit, alle bösen Worte zu vergeben. Nur Charlotte, die erschien einfach nicht. Manchmal überlegte Anastassia, vor der Schule auf die Freundin zu warten, aber da sie den ganzen Tag im Laden stehen musste, fehlte ihr dafür einfach die Zeit. Die Erkenntnis, dass sie und Charlotte nun verschiedenen Welten angehörten, sickerte erst allmählich in ihr Bewusstsein. Sie war allein, denn die Mutter und der Bruder blieben ihr fremd. Nachts vor dem Einschlafen sprach sie manchmal mit ihrem Vater und spürte seine Nähe. Doch er konnte ihr keine Antworten mehr geben, wenn sie ratlos war. Die Welt fühlte sich weiterhin kalt und leer an, auch wenn es genug Aufgaben gab, die Anastassia halfen, sich von einem Tag bis zum nächsten durchzukämpfen.

Sie hatte gerade die Ladentür abgeschlossen und hastete nun auf die Straße, um ihnen allen noch etwas zum Abendessen zu besorgen. Zum Kochen hatte sie keine Zeit. Die Mutter war schwermütig geworden und duldete selbst eine chinesische Hilfskraft nicht im Haus, obwohl diese wenig Lohn bekamen. Anastassia besorgte also drei Schüsseln Reis mit Eiern und Hühnerfleisch, die sie aufeinandergestapelt wieder ins Haus trug. Hoffentlich war Sophia Barakova zu hungrig, um über chinesisches Essen zu klagen.

Zu ihrer Überraschung warteten die Mutter und der Bruder bereits in der winzigen Küche auf sie, wo sie sich regelmäßig alle bei Tisch versammelten. Sophia Barakova hatte sogar Tee zubereitet, den sie direkt von einem russischen Händler bezogen. Der Bruder sah ungekämmt aus und hatte sein Hemd offenbar schon seit mehreren Tagen nicht gewechselt. Wahrscheinlich ging er nicht mehr zur Schule, aber Anastassia fehlte im Moment die Kraft, sich darüber mit ihm zu streiten. Sophia Barakova vermied es allgemein, ihren geliebten Sohn zu kritisieren.

»Da bist du ja endlich!«, wurde Anastassia von der Mutter begrüßt. »Wo hast du dich so lange herumgetrieben?«

Statt einer Antwort stellte Anastassia das Essen auf den Tisch. Die Mutter verzog zwar das Gesicht, griff aber ohne Zögern zu. Aron stocherte nur in seiner Schüssel herum. Anastassia bemerkte, dass er immer dünner wurde.

»Ich muss mit dir reden«, sagte Sophia Barakova, nachdem sie ihre Portion verschlungen hatte. »Es geht um unser aller Zukunft.«

Anastassia hätte anmerken können, dass sie sich bisher als Einzige wirklich um die Zukunft der Familie gekümmert hatte, aber sie verzichtete auf eine freche Antwort. Ihr Leben lang hatte sie Streit und zornige Ausbrüche verabscheut.

»Gut, ich höre zu«, antwortete sie nur und schenkte sich nochmals Tee ein.

Aron rutschte ungeduldig auf dem Stuhl herum. »Braucht ihr mich dabei?«, fragte er leise.

Seine Mutter schüttelte den Kopf. »Nein. Wir beide haben ja schon entschieden, was wir tun werden.«

Anastassia fühlte sich ausgeschlossen, schwieg aber weiterhin.

»Ich habe beschlossen, den Laden zu verkaufen«, sagte Sophia Barakova, nachdem die Tür hinter Aron zugefallen war.

Anastassia blieb der Mund offen stehen. »Aber …« Sie brachte keinen weiteren Ton mehr heraus. Der Laden war das Erbe ihrer Mutter oder auch Arons. Als Mädchen hatte sie keine Ansprüche zu stellen. Dennoch war er ihrer aller Existenzgrundlage.

»Wovon sollen wir dann leben?«, fragte sie, nachdem sie sich ein wenig gefasst hatte. Ihre Hände zitterten so stark, dass sie ihre Tasse kaum halten konnte. »Willst du ein anderes Geschäft kaufen?«

»Nein!« So energisch hatte Sophia Barakova selten geklungen. Anastassia sah, wie die Mutter tief Luft holte und sich auf dem Stuhl zurücklehnte. »Ich habe dieses Land nie gemocht. Es ist so laut und schwül und … und einfach anders als alles, was ich kenne. Jetzt werden zivilisierte Menschen hier auch noch von wild gewordenen Schlitzaugen massakriert.«

Anastassia wusste, dass ihre Mutter auf die Unruhen in Peking anspielte. Sie selbst hatte nur Gerüchte aufgeschnappt, weil sie zu sehr mit der Trauer um ihren Vater und der Führung des Ladens beschäftigt gewesen war.

»Soviel ich weiß, sind wir in Shanghai sicher«, sagte sie schnell. »Es hat keine Übergriffe auf Ausländer gegeben. Und falls es dazu kommen sollte, haben wir hier genug Militär, das uns schützt.«

Sophia Barakova redete weiter, als ob sie nichts gehört hätte: »Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir Russland nie verlassen. Aber damals musste ich mich den Wünschen meines Gemahls fügen. Jetzt kann ich selbst entscheiden. Wir kehren zurück nach Hause in unser Dorf.«

Anastassia schluckte die Neuigkeit wie einen Happen ungewohnten Essens. Sie kannte Russland nicht, denn sie war noch ein kleines Kind gewesen, als die Familie nach Shanghai gekommen war. Der Vater hatte ihr manchmal von seiner Heimat erzählt, die tiefen Schichten von Schnee beschrieben, in denen man im Winter bis zu den Hüften versinken konnte. Klirrende Kälte, einen weiten, klaren Himmel und Birkenwälder. Eine magische Welt des Frostes. Die Sommer konnten allerdings ebenso heiß sein wie in Shanghai, die Hitze blieb jedoch trockener. Anastassia ging davon aus, dass sie sich an diese Fremde gewöhnen würde. Man musste im Leben Veränderungen annehmen, sonst blieb man darin stecken wie in einem zu engen Tunnel.

»Na gut. Aber was machen wir dort?«, fragte sie nur. »Haben wir Verwandtschaft, die uns helfen wird?« Ihr fiel ein, dass ihr Vater niemals von seiner Familie gesprochen hatte.

»Ich habe Verwandtschaft«, erwiderte Sophia Barakova stolz. »Man wird mich und mein Kind aufnehmen. Juden helfen einander überall auf der Welt.«

In Shanghai hat uns nur der Rabbi manchmal geholfen, dachte Anastassia, sprach es aber nicht aus.

»Wann sollen wir denn aufbrechen?«, erkundigte sie sich. Ganz plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie China vermissen würde, denn es war ein Teil ihrer selbst.

Sophia Barakova schwieg eine Weile und verrührte den Zucker in ihrer Teetasse. Sie vermied es, die Tochter anzusehen. »Aron und ich fahren in einem Monat. Ich habe schon alles geregelt.«

Anastassia schüttelte ungläubig den Kopf. »Und ich? Soll ich später nachkommen?« Vielleicht wollte die Mutter ja, dass sie den Verkauf des Ladens regelte. Aber das stand ihr nicht zu, denn sie war nicht die Erbin.

»Nein. Das ist nicht nötig.« Sophia Barakova atmete tief ein und blickte ihr nun gefasst ins Gesicht.

»Ich hatte stets den Eindruck, dass es dir hier gut gefällt. Schließlich hast du auch Freundschaft mit einer Chinesin geschlossen. Warum also solltest du mit uns nach Russland reisen? Du kannst einfach hier bleiben. Als Joe Whetleys Ehefrau.«

»Das … ist nicht dein Ernst!« Anastassia musste sich am Tisch festhalten. Das Zimmer fuhr um sie herum Karussell.

»Natürlich ist es mein Ernst. Ich will nur das Beste für dich.« Auf dem Gesicht ihrer Mutter erschien ein sehr gekünsteltes Lächeln. »Joe Whetley braucht eine Frau und kann für sie sorgen. Du gefällst ihm. Er war heute hier und hat um dich angehalten. Aron hat zugestimmt, weil ich ihm dazu riet.« Sie legte beide Hände neben ihren Teller und lehnte sich mit zufriedener Miene zurück.

Anastassia sprang auf, stieß dabei gegen die Tischkante und brachte das Geschirr zum Klirren. »Du kannst mich doch nicht so einfach mit einem fremden Mann verheiraten! Ich kenne ihn kaum!«

»Daran ist nichts Ungewöhnliches«, erwiderte die Mutter kühl. »Anständige jüdische Mädchen werden gemäß den Wünschen ihrer Familie vermählt. So war es auch bei mir.«

Anastassia atmete tief durch. Fast schon schämte sie sich für ihren Gefühlsausbruch. Auf diese Weise kam sie nicht weiter.

»Ich weiß.«

Sie wusste auch, dass die Ehe ihrer Eltern nicht glücklich gewesen war. Anders als Charlottes halbchinesischer Vater und ihre deutsche Mutter hatten Sophia Barakova und Gregor Nikitin einander niemals auf vertraute Weise berührt oder auch nur angelächelt. Erst bei den Huntingdons hatte Anastassia eine Ahnung davon bekommen, wie innig das Verhältnis zwischen Mann und Frau sein konnte.

»Aber Joe Whetley ist ein Goy. Ihr könnt mich doch nicht mit einem Goy verheiraten. Das widerspricht unserem Glauben.«

Erleichtert sank sie wieder auf ihren Stuhl. Die Religion ihres Ehemannes wäre ihr gleich gewesen, wenn er ihr nur ein klein wenig zugesagt hätte. Aber der wuchtige, stets angetrunkene Ire stieß sie ab und sie konnte sich nicht vorstellen, sich an seine permanente Gegenwart in ihrem Leben zu gewöhnen. Doch nun gab es einen Rettungsanker, an den sie sich klammern konnte. Sollte Sophia Barakova weiter auf eine Vermählung drängen, würde sie den Rabbi um Hilfe bitten. Niemand konnte eine Jüdin zwingen, einen Goy zu heiraten.

Ihre Mutter schenkte sich noch einmal Tee ein und stocherte mit ihrem Löffel in der Tasse herum. Sie vermied es, die Tochter anzusehen. Lange herrschte Schweigen im Raum, was Anastassia als Sieg wertete.

»Eine Jüdin kann man tatsächlich nicht dazu zwingen«, sagte Sophia Barakova nach einer gefühlten Ewigkeit. »Aber jüdisch ist man nur, wenn man eine jüdische Mutter hat.«

»Das weiß ich«, erwiderte Anastassia. »Aber du bist doch Jüdin.« Tief in ihr regte sich etwas. Ein leiser Hauch von Zweifel, eine unangenehme Ahnung. Sie erlaubte ihrem Verstand, diese Unruhe niederzukämpfen.

»Das bin ich in der Tat«, erwiderte Sophia Barakova sogleich. »Doch ich bin nicht deine Mutter.«

Es kam wie ein unerwarteter Hieb aus dem Hinterhalt. Trotzdem war Anastassia nicht so entgeistert, wie sie es hätte sein können. Ein lange verdrängter Verdacht wurde in diesem Augenblick bestätigt und ihre Neugier, die Wahrheit zu erfahren, war stärker als alle Angst. Langsam füllte sie ihre Teetasse.

»Wer ist es dann? Welche Frau hat mich geboren?«

Sie verspürte einen nervösen Krampf im Magen, aber ihre Hände zitterten nicht mehr. Vielleicht würde ihr Leben nun leichter werden.

»Eine Hure, wer sonst«, kam sogleich die Antwort. »Die Tochter eines Siedlers aus Deutschland. Ihr Dorf war nicht weit von unserem entfernt. Dort war ihr Vater als Bauer wohlhabend geworden, aber der feinen Dame reichte das nicht. Sie wollte Künstlerin sein. Als sie die Arbeiten von Gregor Nikitin sah, war sie so begeistert, dass sie ihn persönlich aufsuchte. Angeblich wollte sie von ihm lernen. Aber in Wahrheit ging es ihr nur darum, einen anständigen Mann zu verführen, mit ihrem Blondhaar und den leuchtend blauen Augen.«

»Anständige Männer, die sie hätte verführen können, gab es in ihrem Heimatdorf vielleicht auch genug«, warf Anastassia ein, wurde aber nicht beachtet.

»Ich wurde schon mit vierzehn Jahren mit Gregor Nikitin verlobt«, redete Sophia Barakova weiter. »Ich hielt mich für von Gott gesegnet, denn er war ein anständiger, fleißiger, begabter junger Mann, der eine Familie ohne Mühe ernähren konnte. Alles hätte gut werden können, wenn diese deutsche Hure ihm nicht den Kopf verdreht hätte.«

Kurz zuckte der Schmerz durch ihr Gesicht, was Anastassia überraschte. Sie hatte niemals gedacht, dass Sophia in ihrem Gemahl je etwas anderes gesehen hatte als eine ihr von Gott auferlegte Last.

»Er floh mit ihr nach Sankt Petersburg. Verließ seine Familie, sein Volk, wandte sich vom Glauben seiner Väter ab. Seine Eltern trauerten um ihn wie um einen Toten. Er brach ihre Herzen.«

Anastassia musste an all die Schaufeln voller Erde denken, die auf das Grab ihres Vaters geworfen worden waren. Nun wurde ihm zusätzlich tonnenweise Schuld zugeschoben, unter der er gänzlich verschwinden sollte.

»Am Ende heiratete er aber dich«, wandte sie ein. »Er kam also zurück.«

Ihre leibliche Mutter musste jene Katja gewesen sein, nach der ihr Vater kurz vor seinem Tod immer wieder gerufen hatte. War es am Ende aus schlechtem Gewissen geschehen, weil er eine junge Frau allein in Sankt Petersburg zurückgelassen hatte?

»Gott strafte ihn für seine Sünden«, murmelte Sophia Barakova sichtlich zufrieden. »Schon drei Tage nach deiner Geburt starb die deutsche Hure und er blieb allein mit einem kleinen Kind zurück.«

Anastassia spürte, wie ihr Tränen in die Augen schossen. Plötzlich hätte sie die selbstgefällige Frau an ihrer Seite gern geohrfeigt.

»Es sterben manchmal auch fromme Jüdinnen im Kindbett. Nennst du das ebenfalls Gottes Strafe?«

Selbst dieser Einwand wurde einfach überhört.

»Gregor kehrte reumütig zu seiner Familie zurück«, erzählte die Stiefmutter weiter. »Seine Eltern verziehen ihm, weil er bereit war, seine Pflicht zu erfüllen und mich zur Frau zu nehmen. Ich nahm mein Schicksal an, wie es sich gehörte. Aber mein Los sollte härter werden als erwartet.«

Sie richtete ihren Blick wieder auf Anastassia wie einen anklagend erhobenen Zeigefinger.

»Er weigerte sich, dich fortzugeben, obwohl das am vernünftigsten gewesen wäre. Das war sein einziger Wunsch an seine Familie und an meine. Du solltest als seine Tochter bei ihm aufwachsen und ich musste mich um dich kümmern. Es war meine Pflicht, meinen Eltern und meinem Mann zu gehorchen. Daher hatte ich keine Wahl.«

Anastassia wich vor der Welle von Ablehnung zurück, die auf sie zurollte. Ein Teil von ihr verstand plötzlich die langjährige Bitterkeit dieser Frau, ein anderer begehrte gegen die Ungerechtigkeit auf, die ihr selbst widerfuhr.

»Warum seid ihr damals nach Shanghai gezogen? Meinetwegen?«

Sophia nickte stumm. »In unserem Dorf hättest du ständig für Gerede gesorgt. Gregor wollte, dass du von der Vergangenheit unbelastet aufwachsen kannst. Zusammen mit drei anderen jungen Männern beschloss er, in China einen neuen Anfang zu wagen. Seine Freunde kehrten nach ein paar Jahren wieder nach Russland zurück, aber er wollte hier bleiben. Doch es hätte auch keinen Unterschied gemacht, wo wir lebten.«

Sie sackte leicht in sich zusammen. Ihre Stimme wurde leiser.

»Er vergaß sie nie, seine deutsche Hure. Sie lebte mit uns wie ein böser Geist, ganz gleich, wohin wir auch gingen. Mich sah er kaum an. Nachdem ich ihm einen Sohn geboren hatte, war ich nur noch Luft für ihn. Er versank in seinen Erinnerungen, sobald er Zeit dazu fand. Nur du warst ihm wichtig, weil er seine Hure in dir wiedererkannte. Du hast ihr Haar und ihre Augen. Auch wenn du sonst nur ein blasser Schatten von ihr bist.«

»Sie war sehr schön, nicht wahr?«, flüsterte Anastassia. Als Sophia nickte, verschaffte ihr das Genugtuung. Sie selbst mochte eine unscheinbare Gestalt sein, aber ihre Mutter hatte erreicht, wovon Charlotte Huntingdon vergeblich geträumt hatte. Sie war ihrem Mann wichtiger gewesen als seine Familie und sein Ansehen.

»Aber du verfügst nicht über ihre Verführungskünste«, unterbrach Sophia Barakova diese Überlegungen. »Joe Whetley ist der einzige Mann, der bisher um dich angehalten hat und deshalb wirst du ihn nehmen müssen. In meinem Heimatdorf wird dich keiner wollen. Was sollst du allein und mittellos in Shanghai?«

Anastassia schluckte die unangenehme Wahrheit, auf die sie nichts erwidern konnte, und stützte sich am Tisch ab, um aufstehen zu können.

»Ich werde mir selbst überlegen, was ich tue.«

Es sollte entschlossen und mutig klingen, doch nun kamen die Worte wie ein klägliches Flüstern über ihre Lippen. Allein weil sie die Gegenwart ihrer Stiefmutter nicht länger ertragen konnte, schaffte sie es, aus dem Raum zu fliehen. Sie musste nun allein sein und nachdenken, doch die Neuigkeiten hatten wie ein schwerer Sturm in ihrem Bewusstsein gewütet, der nur Trümmer zurückließ.

Sie war keine Jüdin, aber auch keine Goy. Im Grunde war sie nichts. Eine Fremde in Shanghai, die auch überall sonst auf der Welt fremd sein würde.

Als die Tür zu ihrem Zimmer endlich hinter ihr zugefallen war, warf Anastassia sich aufs Bett und hoffte vergeblich auf Tränen, die ihr vielleicht Erleichterung hätten verschaffen können.

3. Kapitel

Die Stadt war verstummt. Es waren jene kurzen Stunden, nachdem die Orte des Lasters ihre Türen geschlossen hatten und die Geschäftigkeit des Morgengrauens noch nicht begonnen hatte. Anastassia starrte mit weit aufgerissenen Augen die Wände ihrer kleinen Kammer an. Sie war schäbig im Vergleich zu dem Zimmer, das Charlotte bewohnte. Feuchte Flecken entstellten die bereits vergilbte Tapete, an einigen Bildern war das Glas zersprungen und niemals erneuert worden. Aber Anastassia empfand diesen engen Raum als ihr einzig wahres Zuhause, das sie verlieren würde, sobald der Laden verkauft war. Das Gefühl, immer tiefer in einen finsteren Abgrund ohne Boden zu stürzen, weckte Übelkeit in ihr. Sie richtete sich auf und versuchte, ihre Atmung zu beruhigen. Dann tastete sie auf dem Nachttisch nach der Karaffe mit Wasser.

Es klopfte. Sie zuckte erschrocken zusammen, denn ihr erster Gedanke war, dass Joe Whetley sie nun holen kam. Panisch sah sie sich nach einer Fluchtmöglichkeit um, doch dann erwachte ihr Verstand und sie bat den Gast herein. Joe Whetley schnarchte wahrscheinlich jetzt hinter dem Tresen seiner Kneipe.

Es war Aron. Ihr fiel auf, wie blass und schmächtig er im Dämmerlicht wirkte.

»Ich wollte sehen, wie es dir geht«, sagte er leise.

Anastassia staunte, denn sie hatten einander nur wenig beachtet, seit sie keine kleinen Kinder mehr waren. Ihr kleiner Bruder war stets der Liebling von Sophia Barakova gewesen, während sie selbst zu ihrem Vater gehört hatte.

»Wie soll es mir denn gehen? Nicht besonders gut«, gestand sie ohne Zögern. »Ich habe alles verloren, das mein Leben ausmachte. Mein Vater ist tot. Für euch bin ich kein Familienmitglied mehr.«

Aron seufzte und setzte sich unaufgefordert auf ihre Bettkante. Seine Füße steckten in zerschlissenen Pantoffeln, die Hose war mehrfach geflickt worden. In der internationalen Siedlung waren sie beide peinliche Erscheinungen. Dieser Gedanke half Anastassia, sich dem Halbbruder etwas verbundener zu fühlen.

»Wir haben denselben Vater«, erinnerte Aron sie. »Es ist nicht meine Schuld, dass Mutter dich hasst. Sie glaubt, du hast ihr seine Liebe gestohlen.«

Anastassia musste lachen.

»Als ob ich irgendetwas für die Dinge könnte, die vor meiner Geburt geschahen.«

»Wir können beide nichts dafür«, erwiderte Aron. »Aber denk ja nicht, ich hätte das bessere Los gezogen. Mutter ist krank vor Bitterkeit, beklagt sich über fast die ganze Welt. Ich werde das bis zu ihrem Tod ertragen müssen. Du bist frei.«

»Frei!«, rief Anastassia höhnisch. »Du kannst doch tun, was du willst. Du bist bald ein Mann und der Erbe unseres Vaters.«

Gleich darauf wurde ihr bewusst, dass Aron tatsächlich eine Last zu tragen hätte. Er würde mit seiner Mutter in deren Heimat ziehen müssen, um sich dort den Wünschen einer ihm völlig unbekannten Verwandtschaft zu fügen. Sich all dem zu verweigern, hätte ein Ausmaß an Energie und Rücksichtslosigkeit erfordert, das kaum jemand besaß. Sie selbst hatte nun niemanden mehr, nach dessen Vorstellungen sie sich richten musste. Nur waren die Möglichkeiten, über das eigene Leben zu entscheiden, für eine junge Frau sehr begrenzt.

»Ich habe etwas für dich«, sagte Aron unvermittelt und hielt ihr einen Beutel hin. »Die Ersparnisse meiner Mutter. Wenn du schon nichts vom Erlös für das Haus bekommen sollst, will ich dir wenigstens das geben.«

Anastassia starrte ihn ein paar Atemzüge lang fassungslos an. Sie hatte nicht gewusst, dass ihre Stiefmutter heimlich Geld hortete, doch noch unglaublicher war die Tatsache, dass Aron bereit war, es ihr zu überlassen.

»Du hast deine Mutter bestohlen!«

»So, wie sie dich bestohlen hat«, erwiderte Aron völlig gelassen. »Ich bin mir sicher, dass es irgendwo einen Letzten Willen unseres Vaters gab, den sie hat verschwinden lassen. Und selbst wenn nicht, dann hätte er niemals gewollt, dass du hier allein als Frau eines Säufers zurückbleiben sollst.«

Nun drückte Aron ihr den Beutel energisch in die Hand.

»Da, nimm und verstecke es gut. Damit wirst du eine Weile zurechtkommen, nachdem wir weg sind. Du musst diesen versoffenen Iren nicht heiraten. Wenn es nicht anders geht, dann wende dich an den Rat der internationalen Siedlung. Sie schicken verarmte Europäer in die Heimat zurück, weil mittellose Weiße hier peinlich wären.«

Davon hatte Anastassia bereits gehört. »Aber in welche Heimat soll ich denn reisen? Nach Sankt Petersburg? Ich kenne dort niemanden.« Im Grunde war Shanghai ihr Zuhause. Allerdings hatte sie hier bald schon keine Familie mehr.

»Du bist aber Russin«, erwiderte Aron. »Hier in China sieht es im Moment nicht gut aus für Ausländer.«

Dann stand er auf und entfernte sich mit einem Kopfnicken zum Abschied. Seufzend stopfte Anastassia den Beutel unter ihre Matratze. Im Augenblick fehlte ihr die Ruhe, um das erhaltene Geld zu zählen. Ein Vermögen konnte es nicht sein, denn woher hätte ihre Stiefmutter es nehmen sollen? Ob sie davon ein paar Wochen oder gar ein paar Monate würde überleben können, machte kaum einen Unterschied, solange sie nicht wusste, was sie mit ihrem Leben anfangen sollte. Außer Joe Whetley zu heiraten.

Das Land, in dem sie geboren worden war, kannte sie nicht. Ihre Mutter musste dort Familie gehabt haben, aber sie wusste nicht einmal, wie diese Leute hießen. Selbst, wenn sie das irgendwie herausbekäme, konnte sie nicht davon ausgehen, bei diesen Menschen willkommen zu sein. Sobald Aron und ihre Stiefmutter China verließen, war sie völlig allein.

Sie rollte sich auf ihrem Bett zusammen und versuchte vergeblich, einzuschlafen. Schon morgen würde sie sich weigern, weiter den Laden zu führen, denn sie fühlte sich dafür nicht mehr verantwortlich. Arons unerwartete Unterstützung hatte ihr Selbstvertrauen gestärkt. Sie brauchte eine Arbeit, um ihr eigenes Geld zu verdienen, und zwar so schnell wie möglich.

Charlottes Mutter betrieb ein Waisenhaus, fiel Anastassia ein. Vielleicht gab es für sie eine Möglichkeit, dort mitzuhelfen. Die deutsche Dame war immer freundlich zu ihr gewesen, obwohl ihre vornehme Art sie manchmal arrogant wirken ließ. Sie würde bei ihr vorstellig werden und sich erkundigen, ob es eine Verwendung für sie gab.

Es beruhigte sie, einen Entschluss gefasst zu haben. Sie schloss die Augen und fühlte, wie bleierne Schwere sich auf sie legte.

Im Morgengrauen schlich sie in die Küche und verzehrte die Reste des gestrigen Abendessens. Dann wusch sie sich schnell und zog ihr allerbestes Kleid aus blauem Leinen an. Wenn sie schon als Bittstellerin in das Haus der Freundin ging, die sich von ihr abgewandt hatte, so wollte sie wenigstens nicht wie eine aussehen. Den Beutel mit dem Geld stopfte sie in ihre Schultasche, um ihn nicht zurücklassen zu müssen. Vielleicht würden die Huntingdons sie aufnehmen, wenn sie sich an den Haushaltskosten beteiligte. Charlottes Eltern waren die großzügigsten Menschen, die sie kannte.

Sie kannte aber auch nicht besonders viele Leute.

Da sie sich keine Jinriksha leisten konnte, musste sie die ganze Strecke zu Fuß laufen. Als sie schließlich vor Charlottes Haus stand, brannte bereits die Sonne am Himmel und ihr Kleid war von Schweiß durchtränkt. Sie warf einen Blick zu den Fenstern. Jene hübschen Gardinen, die Charlottes Mutter hatte anbringen lassen, waren zugezogen. Kein Lebenszeichen regte sich dahinter. Anastassias Mut begann zu schwinden. Sie hatte Charlotte mehrere Wochen lang gemieden und wusste daher nicht, wie es ihr inzwischen ging. Die Trauer um den englischen Verlobten konnte nachgelassen haben. Vermutlich ging das Mädchen bereits wieder zur Schule und verbrachte ihre Freizeit mit anderen Freundinnen.

Wieder fühlte die Zurückweisung sich an wie ein Messerstich in die Brust. Anastassias Augen füllten sich mit Tränen und sie erwog, umzukehren. Dies hätte jedoch bedeutet, dass es für sie keine Alternative mehr gab außer eine Ehe mit Joe Whetley.

Sie betätigte den Türklopfer, einen römisch anmutenden Löwenkopf. Wer das wohl ausgesucht hatte? Anastassia stand eine Weile in der glühenden Sonne und trat von einem Fuß auf den anderen. Wenn sie hier niemanden antraf, konnte sie sich noch auf den Weg in das Waisenhaus von Charlottes Mutter machen. Aber es widerstrebte ihr, der hübschen, stets adrett wirkenden Dame ihr Unglück anzuvertrauen. Der halbchinesische Vater schien die bessere Alternative, denn ihm hatte das Leben auch manchmal übel mitgespielt.

Sie wollte schon kehrtmachen, als endlich die Tür aufging. Der kleine, magere Diener der Familie stand vor ihr. Er hatte ihr mehrfach Tee serviert und sie dabei freundlich angelächelt. Anastassia wurde etwas wohler zumute.

»Ich möchte meine Freundin Charlotte besuchen«, erklärte sie in tadellosem Chinesisch. Als Einzige in ihrer Familie konnte sie sich mit den Einheimischen mühelos unterhalten. Der Diener musterte sie von Kopf bis Fuß, lächelte dann nochmals und winkte sie herein. Anastassia schöpfte Hoffnung. Irgendjemand würde sie ganz sicher empfangen.

Bald darauf stand wieder eine dampfende Teetasse vor ihr, außerdem noch eine Schale mit Melonenkernen, die Chinesen so liebten. Warum sie auch ihr angeboten wurden, verstand Anastassia nicht, ging aber davon aus, dass es gut gemeint war.

»Ruhen Sie sich eine Weile aus«, meinte der Diener. »Sie sehen müde aus.«

Das Mitgefühl in seiner Stimme machte sie verlegen.

»Ich muss ein Mitglied der Familie Huntingdon sprechen. Es ist wichtig«, wiederholte sie.

Der Diener wich ihrem Blick aus. Bei Chinesen konnte das ein Zeichen von Respekt sein, aber Anastassia vermutete jetzt einen anderen Grund.

»Es ist keiner hier?«

Er schob die Melonenkerne nochmals auffordernd in ihre Richtung.

»Nehmen Sie doch! Das junge Fräulein ist leider fortgegangen. Niemand weiß, wohin. Ihre Eltern waren untröstlich. Sie wollen nach ihr suchen.«

Anastassia schnappte nach Luft. Sie hatte Charlotte in der Schule vermutet oder mit immer noch gebrochenem Herzen daheim. Auf jeden Fall völlig außer Gefahr. Nun wurde ihr bewusst, dass es außerhalb ihrer eigenen Existenz noch eine Welt gab, die durcheinander geraten war.

»Hat es etwas mit diesem Aufstand in Peking zu tun?«

Die Antwort war ein ausweichendes Murren, was darauf schließen ließ, dass der Diener mehr wusste als er zugeben wollte. Der Grund, warum sie die Melonenkerne erhalten hatte, begann ersichtlicher zu werden. Essen, das Europäer mochten, gab es nicht mehr im Haus.

Erschöpft und niedergeschlagen stand Anastassia auf. Wieder drückte sie ihre Tasche an sich wie einen schützenden Schild. Das Geld darin war die einzige Sicherheit, die sie noch hatte. Sie bedankte sich höflich für den Tee und floh vor dem besorgten Blick des Dieners, der ihr noch etwas Unverständliches hinterher rief.

Draußen blendete die Sonne weiterhin gnadenlos. Anastassia zog sich ihren Hut tief ins Gesicht und versuchte, im Schatten der Häuser zu bleiben. Noch gab es einen Ort, an den sie zurückgehen konnte, aber in ein paar Wochen würde der Laden ebenso wie das Haus fremden Leuten gehören. Kurz schnürte Panik ihr die Kehle zu, als sie am Straßenrand hockenden Bettlern auswich, deren Hände nach ihrem Rocksaum griffen. Es gab mehr als genug Beispiele für menschliches Elend in der Stadt, doch handelte es sich dabei ausschließlich um Asiaten. Ihr Vater hatte ihr einmal erzählt, dass es in Russland an hellhäutigen Bettlern und Prostituierten nicht mangelte. Lediglich der Rat der internationalen Siedlung versuchte, diese Art der Verwahrlosung bei Europäern zu verhindern, damit ihr Ansehen in China nicht gefährdet wurde. Wer zu tief abstürzte, dem wurde eine Heimreise bezahlt.

Sollte sie sich an den Rat wenden, sobald ihre Familie abgereist war? Sie vermutete, dass ihr noch viele Kämpfe bevorstanden, wenn sie sich weiterhin einer Vermählung mit Joe Whetley widersetzte. Sie fühlte sich stark genug, dem standzuhalten, aber was kam danach?

Sie blieb vor einem chinesischen Teehaus stehen, weil ihr schwindelig geworden war. Die Gegend kam ihr unbekannt vor, fast als hätte sie sich verlaufen. Allerdings brauchte sie nur jemanden fragen, wie sie zum Bund käme, daher hielt ihre Sorge sich in Grenzen. Seufzend hockte sie sich auf ein paar leere Kisten, die vor dem Eingang abgestellt worden waren. Es war nicht gefährlich hier, kaum jemand beachtete sie. Denn sie war nur eine ausgewaschene Kopie ihrer Mutter, der alle Männer hinterhergestarrt hatten.

Anastassia versuchte, sich zusammenzureißen. Ihre Lage war zu brisant, um einfach in Selbstmitleid zu versinken. Das konnten nur geliebte, behütete Mädchen wie Charlotte sich erlauben. Der liefen die Eltern sogar noch nach, wenn sie aus Dummheit und Trotz verschwunden war.

Plötzlich verspürte Anastassia Zorn, was ihr unverhoffte Energie schenkte. Ihr ganzes Leben lang war sie bemüht gewesen, andere Menschen nicht zu stören oder zu verärgern, um geduldet zu werden. Allein ihrem Vater war sie wichtig gewesen und den gab es nicht mehr. Sie würde in Zukunft dreister werden müssen, wenn sie sich durchschlagen wollte. Irgendwann würden die Huntingdons zurückkommen, mit oder ohne Charlotte. Ihr blieb nichts anderes übrig, als dann nochmals bei ihnen vorstellig zu werden.

Dieser Gedanke beruhigte sie ein wenig und sie beschloss, den Heimweg fortzusetzen. Heute Abend würde sie ihrer Stiefmutter mitteilen, dass sie lieber allein in Shanghai zurückblieb, als einen versoffenen Kneipenwirt zu heiraten. Anastassia entdeckte eine enge Gasse hinter dem Teehaus. An deren Ende waren ein paar hohe Gebäude zu sehen, was ihr die Hoffnung gab, es könnte ein kürzerer Weg zum Bund sein. Von dort aus würde sie sich wieder orientieren können. Ohne weiter zu überlegen, lief sie los.

Kaum war sie in die Gasse eingetaucht, schien es um sie herum dunkler zu werden. Hier lebten fast ausschließlich Chinesen, die bunte Schilder mit ihren Schriftzeichen an den Häusern angebracht hatten. Es roch nach dem stark gewürzten Essen der Straßenhändler und ein paar Verkäufer hatten Stände aufgestellt. Anastassia kämpfte sich durch die laute Enge. Sie begann zu ahnen, dass sie dieses Getümmel vermissen würde, sollte es sie jemals im Leben an einen ruhigeren Ort verschlagen.

Sie wich einer Jinriksha aus und hielt die Regale eines Händlers fest, gegen die sie gestoßen war. Dann tauchte plötzlich ein auffallend hübsches, bunt gekleidetes chinesisches Mädchen in ihrem Blickfeld auf. Es kam direkt auf sie zugelaufen, insofern das Trippeln winziger Füße so bezeichnet werden konnte. Ein Essensstand wurde dabei rücksichtslos umgestoßen, der Besitzer brach in lautes Kreischen aus, doch die Übeltäterin beachtete ihn nicht. Sie lief, als säße der Tod ihr im Nacken. Anastassia bemerkte die grelle, teilweise verschmierte Schminke in ihrem Gesicht. Lange Gehänge baumelten an den Ohren und ließen Anastassia kurz an den Christbaumschmuck der Goy denken. Kurz vor ihr geriet die Läuferin ins Stolpern. Anastassia streckte instinktiv die Arme aus, um sie aufzufangen. Sie atmete aufdringlich süßes Parfüm ein. Das Mädchen war herausgeputzt wie eine chinesische Prostituierte, doch sie sah unschuldig aus wie ein Kind, das sich an den Schminktöpfen seiner Mutter bedient hatte. Anastassia spürte den schmächtigen Körper an ihrem. Er zitterte und eine helle Stimme kreischte unverständliche Worte.

Die ganze Gasse schien plötzlich in Aufruhr. Händler rückten ihre Stände zur Seite, stellten sich schützend vor wertvolle Ware. Das Mädchen drängte sich an Anastassia vorbei, um in einem dunklen Spalt zwischen zwei Häusern Zuflucht zu suchen. Ihre winzigen Füße bluteten so stark, dass die Bandagen davon rot gefärbt waren. Anastassia schauderte. Jeder Schritt, den dieses Mädchen tat, musste ihm höllische Schmerzen bereiten. Vor dem Spalt türmte sich ein Haufen alten Gerümpels, das dort irgendjemand abgestellt hatte. Das Mädchen ging dahinter in die Hocke und gleich darauf konnte Anastassia den Grund für dieses Verhalten verstehen.

Eine ältere, ebenfalls stark geschminkte Chinesin kam in Begleitung dreier Männer angelaufen. Auch sie hatte Lotusfüße, schien aber in der Lage, sich auf ihnen flott vorwärts zu bewegen. Dennoch glänzte ihr rundes Gesicht vor Schweiß und sie schnaufte laut in der drückenden Hitze. Ihre Augen blitzten zornig, während sie schrille Laute von sich gab. Die Händler wichen ehrfurchtsvoll vor ihr zurück. Es musste sich um eine wichtige Person handeln, die allem Anschein nach das flüchtige Mädchen verfolgte.

Instinktiv stellte Anastassia sich vor den Schutthaufen.

»Sie ist weiter gerannt. Zu dem Teehaus am Ende der Gasse«, rief sie der Frau zu. Kurz wurde sie überrascht gemustert, denn es gab nicht viele Europäerinnen, die den Shanghaier Dialekt beherrschten. Dann schubste die Frau ihre drei Begleiter zeternd vorwärts. Nachdem sie verschwunden waren, kehrten die Händler zu ihrer gewohnten Geschäftigkeit zurück.

Anastassia wusste nicht, ob man ihrer Aussage wirklich Glauben geschenkt hatte. Die Frau hatte wahrscheinlich gewusst, dass es ihr Ärger einbringen konnte, sich in der internationalen Siedlung einer Europäerin zu widersetzen. Nach einer Weile würde sie zurückkommen, um die Umstehenden zu befragen. Das Mädchen war noch lange nicht in Sicherheit, deshalb wandte Anastassia sich ihm zu.

Das hellrote Kleid hatte vom Kauern auf dem Boden ein paar Flecken abbekommen. Seine Trägerin blickte wie ein verängstigtes Eichhörnchen zu ihrer Retterin auf, ließ sich widerstandslos am Arm packen und in die Höhe ziehen.

»Vielen Dank. Sind Sie Engländerin?« Die Frage wurde in einem stark akzentuierten, daher nur schwer verständlichen Englisch gesprochen.

»Nein. Russin.«

Das Mädchen sah kurz verwirrt aus. Falls sie noch niemals von Russland gehört hatte, gab sie das nicht zu.

»Können Sie mir helfen? Mich zu Missionaren bringen?«, fragte sie nur.

Sie zog sich einen bunten, mit vielen Perlen verzierten Kamm aus dem Haar und warf ihn achtlos zu Boden. Nun fielen schwarze Strähnen ungehindert über ihre Schultern, was sie noch jünger aussehen ließ.

»Ich kenne leider keine Missionare. Ich bin Jüdin.«

Der zweite Teil dieser Aussage war zwar nicht ganz richtig, aber darauf kam es jetzt nicht an.

»Aber Sie kennen doch sicher jemanden, der Missionare kennt. Ich brauche Schutz, sonst holt die böse Frau mich wieder.«

Die Stimme war kindlich hell und völlig verzweifelt. Anastassia hätte das Mädchen am liebsten in die Arme geschlossen, wagte es aber nicht.

»Ich werde dir helfen. Keine Sorge.«

Kaum war das ausgesprochen, wurde ihr klar, dass sie gar nicht wusste, wie sie es anstellen sollte. Aber ihre Gefährtin wirkte so verängstigt, dass sie ihr ein wenig Beruhigung schenken wollte.

»Gut. Dann gehen wir jetzt. Hier ist es zu gefährlich.«

Zu Anastassias Überraschung ergriff das Mädchen ohne Scheu ihren Arm und sah sie erwartungsvoll an. Gemeinsam setzten sie sich in Bewegung. Das Gehen bereitete der Chinesin offenbar weiterhin Schmerzen, denn ihre Kiefermuskeln verkrampften sich bei jedem Schritt und sie hielt Anastassias Arm so fest umklammert, dass es fast wehtat. Trotzdem kämpfte sie sich mit Entschlossenheit durch die enge, schmutzige Gasse auf den hellen Fleck an deren Ende zu. Sie gelangten so tatsächlich zum Bund und Anastassia atmete erleichtert auf. Sie konnte das Gebäude der britischen Botschaft erkennen, wusste also endlich wieder, wo sie war. Auf einer Bank davor ließen sie sich nieder. Das Mädchen ließ ihre Hand auf Anastassias Arm ruhen, als wolle sie ein plötzliches Verschwinden ihrer Retterin verhindern.

»Es ist sehr nett, dass Sie mir helfen. Sie sind eine gute Christin.«

»Ich bin Jüdin«, wiederholte Anastassia erschöpft.

Das Mädchen erwiderte nichts, sah sie nur weiter erwartungsvoll an.

Vor ihnen patrouillierten ein paar Mitglieder des Freiwilligencorps und warfen ihnen misstrauische Blicke zu. Anastassia erinnerte sich, dass die Lage zwischen Ausländern und Chinesen gegenwärtig sehr angespannt war. Es war vermutlich nicht einfach, Hilfe für eine entlaufene Prostituierte zu bekommen, die jederzeit in Verdacht geraten konnte, für die aufständischen Boxer zu spionieren.

»Hast du Hunger?«, fragte Anastassia, als sie einen Straßenhändler seinen Wagen mit Nudelgerichten vorbeiziehen sah. Sie sprach weiter auf Englisch, bemühte sich aber, sehr langsam und deutlich zu reden.

»Ja. Danke. Ich habe großen Hunger«, kam es sogleich zurück. Das Mädchen lächelte hinter vorgehaltener Hand. Charlotte hatte einmal erzählt, dass vornehme Chinesen nicht gern ihre Zähne zeigten.

Anastassia holte eine Schüssel Nudeln und sah zu, wie ihr Schützling gierig aß. Danach entspannte sich ihr Gesicht ein wenig und ihr Lächeln wurde herzlicher. Kurz sah man die Schneidezähne aufblitzen.

»Wie heißen Sie?«, fragte die Chinesin.

»Anastassia Gregorowa Nikitina.«

Der verdatterte Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Gesprächspartnerin brachte Anastassia zum Lachen.

»Nenn mich einfach Ana.«

Das Mädchen sah sehr erleichtert aus. »Gut. Mich nennen Sie dann Clio. So hat meine englische Lehrerin mich immer genannt.«

Eine perfekte Aussprache hatte diese Lehrerin ihr nicht beigebracht, aber passables Englisch. Clio wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab.

»Wohin gehen wir jetzt?«

Sie sah Anastassia hoffnungsvoll an, als erwarte sie von ihr eine Lösung für alle Probleme.

»Zunächst einmal zu mir nach Hause. Dann sehen wir weiter.«

Die Entscheidung war spontan gekommen. Sie wusste nicht, wo sie das Mädchen sonst unterbringen sollte und fühlte sich nicht in der Lage, einfach aufzustehen und zu gehen. Wie Sophia Barakova auf eine chinesische Mitbewohnerin reagieren würde, wollte sie sich im Moment lieber nicht vorstellen. Aber sie würde hartnäckig bleiben. Das Wissen, ihrer Stiefmutter völlig egal zu sein, verlieh ihr auf einmal erstaunlich viel Mut.

4. Kapitel

V ielleicht kann ja der Rabbi helfen«, sagte Aron und reichte der Chinesin ein Stück Kuchen, das er für sie beim französischen Bäcker besorgt hatte. Seit Clio vorgestern Anastassias Zimmer bezogen hatte, war sie vor allem bemüht, sich unsichtbar zu machen und nicht zu stören. Sophia Barakovas Gezeter hatte sie geduldig überhört, vermutlich, weil viel Schlimmeres hinter ihr lag als eine Gastgeberin, die sie nicht willkommen hieß. Arons Aufmerksamkeiten nahm sie höflich an, musterte ihn mit unverhohlener Neugier, aber wagte es nie, ihn anzusprechen.