Im Dorf der Schmetterlinge - Rita Erz - E-Book
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Im Dorf der Schmetterlinge E-Book

Rita Erz

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  • Herausgeber: dtv
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Die Nacht, die alles veränderte Eigentlich geht es Jule gut – wären da nicht die Wechseljahre. Nacht für Nacht liegt sie wach, kämpft mit Hitzewallungen, den Ansprüchen an sich selbst und ihrer Angst vor dem Altern. Nach einem heftigen Streit mit ihrem Mann schläft Jule erschöpft ein und erwacht an einem Bach. Ein Wegweiser verheißt »Mein bestes Leben«  und sie beschließt, diesem Weg zu folgen. In einem Dorf trifft sie auf außergewöhnliche Bewohner, die ihr dabei helfen, mehr über sich selbst herauszufinden. Sie begegnet prächtigen Schmetterlingen und panischen Angsthasen, wird konfrontiert mit ihren Sorgen, Ängsten und Sehnsüchten. Von da an hat Jule neuen Mut und Schwung. Sie sieht nun vieles anders. Und sie weiß jetzt, wie sie ihr neues Leben angehen muss.

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Seitenzahl: 224

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Eine Nacht, die alles verändert

Jule kämpft. Mit den Wechseljahren, mit ihren Ängsten, mit ihrer ungewissen Zukunft – am Ende vielleicht auch mit sich selbst. Das raubt ihr den Schlaf. Nach einem heftigen Streit mit ihrem Mann nickt sie erschöpft ein und erwacht an einem Bach. Ein Wegweiser verheißt »Dein bestes Leben«. Sie beschließt, sich auf das Abenteuer einzulassen und dem Weg zu folgen. In einem geheimnisvollen Dorf trifft sie außer gewöhnliche Menschen, die ihr dabei helfen, sich selbst zu verstehen. Sie wird konfrontiert mit ihren Sorgen und Sehnsüchten, erlebt panische Angsthasen und prächtige Schmetterlinge und gewinnt dabei an Selbstvertrauen, Zuversicht und Freude. Und schließlich weiß sie, wie sie ihr bestes Leben anpacken muss.

Michaela Wiebusch mit Rita Erz

IM DORF DER SCHMETTERLINGE

Vom Aufbruch in mein bestes Leben

Eine Erzählung

Mit Illustrationen von Gisela Goppel

Für Matti und meine Eltern

Für Maximilian

Vorwort

Es gibt Zeiten im Leben, da hat man das Gefühl, nicht mehr weiterzuwissen. Manchmal öffnet sich dann ganz unerwartet eine Tür in unserem Inneren. Hat man den Mut, die vertrauten Pfade zu verlassen, entdeckt man dahinter nicht nur einen Ausweg, sondern eine vollkommen neue, wundervolle Welt. Jeder Mensch trägt eine solche Welt in sich, und ich glaube inzwischen, sie ist das eigentliche Abenteuer unseres Lebens.

Eines Nachts machte ich mich auf die Reise. Ich betrat diese neue Welt völlig unerwartet und in einer Phase meines Lebens, in der ich keine Ruhe und keinen Schlaf mehr finden konnte. In dieser Zeit war ich äußerst dünnhäutig und litt unter großen Ängsten, die ich vorher in dieser Form nicht gekannt hatte und die mir meine ganze Kraft und Energie raubten.

Der Zustand, in dem ich mich damals befand, machte es mir beinahe unmöglich, in meinem Alltag so zu funktionieren, wie ich es gewohnt war, geschweige denn, das Leben zu leben, das ich mir einmal gewünscht hatte.

Als ich in der besagten Nacht nach Stunden des Wachliegens endlich erschöpft einschlief, hatte ich einen Traum, der alles veränderte. Er führte mich in ein geheimnisvolles Dorf, wo ich auf ungeahnte Weise mir selbst begegnete. Das gab mir Orientierung und half mir, mich selbst, mein Leben und die Welt in einem ganz neuen Licht zu sehen. Denn ich verstand: Alles ist eine Sache der Perspektive.

Ich lernte, dass es immer den richtigen Zeitpunkt gibt – das Jetzt oder den Augenblick, in den ich zurückkehren und von dem ausgehend ich meine Zukunft selbst neu gestalten kann. Ich habe es in der Hand.

Aufgrund dieser Erkenntnis war ich meinen Gefühlen und meiner Vergangenheit nicht mehr so ausgeliefert, sondern ich lernte sie kennen und verstehen.

Ich tauschte meine Hilflosigkeit gegen Wissen – ein Wissen, das mir die Möglichkeit und die Kraft gab, über mich selbst und mein Handeln zu entscheiden. Ich hatte plötzlich das Wie in der Hand – wie ich aus einer schweren Zeit für mich das Beste herausholen und wie ich sie so für mich zur Chance machen konnte.

Ich war die Schöpferin meines eigenen Lebens geworden.

Noch vor einiger Zeit hätte ich niemandem eine Antwort auf die Frage geben können, worin für mich das Glück besteht oder ob ich überhaupt daran glaube. Vielleicht hatte ich meinen Glauben an das Glück oder an die Liebe zu jener Zeit beinahe schon verloren.

Aber in dieser Nacht konnte ich das Geheimnis lüften. Ich fand für mich eine Antwort auf meine Fragen und dadurch auch den Weg in mein bestes Leben.

Die Nacht

Ich wachte auf und wusste im ersten Moment nicht, ob ich überhaupt schon geschlafen hatte. Die Stille und die Dunkelheit waren so vollkommen, dass sie mir fast den Atem raubten. Eine Hitzewelle schoss durch meinen Körper, und der Schweiß trat mir auf die Stirn. Ich warf die Bettdecke zurück und hoffte, der laue Sommerwind, der durch das offene Fenster strich, würde mich ein wenig erfrischen. Doch im nächsten Moment fröstelte mich. Rasch zog ich die Decke wieder hoch bis zur Nasenspitze. Seit Wochen ging das nun so. Ich wachte fast immer zur gleichen Zeit auf und fand bis in die frühen Morgenstunden keinen Schlaf mehr.

Manchmal lag ich bis zum Klingeln des Weckers wach und starrte stundenlang an die Decke, während mir die immer gleichen Gedanken durch den Kopf schossen. »Was bringt die Zukunft? Was wird aus Stefan und mir? Was aus Tilda? Hoffentlich passiert unserer Tochter nichts in Kanada. Was wird aus der Menschheit in Anbetracht der vielen Katastrophen? Was ist mit meinem Beruf? Wie lange braucht man mich noch? Bin ich womöglich schon in absehbarer Zeit überflüssig?« Ich fühlte mich so hilf- und schutzlos, so zerbrechlich, wie ich in solchen Momenten auch mein Leben und manchmal gar die ganze Welt empfand. Woran glaubte ich eigentlich? Wer war ich? Mir fiel auf, dass ich mir fremd geworden war, wenn ich mich überhaupt jemals wirklich gekannt hatte. Wo wollte ich mit meinem Leben noch hin?

Als ich nun in jener lauen Sommernacht wach lag, dachte ich an den vergangenen Abend, an den Streit mit Stefan. Es war nicht der erste in den letzten Monaten gewesen, aber der vielleicht heftigste. Meine Dünnhäutigkeit hatte dieses Mal das Fass zum Überlaufen gebracht.

»Du kümmerst dich hier um nichts«, hatte ich Stefan nach einem längeren Wortgefecht vorgeworfen. »Und dir fällt auch nicht auf, was ich hier alles leiste. Weil es dich nämlich nicht interessiert. Ganz zu schweigen davon, dass ich nie auch nur ein Dankeschön von dir dafür bekomme.«

Er reagierte verletzt und einsilbig. »Und was ist mit mir? Mir dankt ja auch keiner.« Danach war er wütend auf sein Rennrad gesprungen und einfach davongerauscht. Er hatte das Radfahren kurz nach dem Fünfzigsten für sich entdeckt, und inzwischen war aus dieser Passion fast so etwas wie eine Manie geworden. In fast jeder freien Minute saß er auf dem Sattel. Bisher hatte er das Rad allerdings noch nie benutzt, um vor mir zu fliehen.

Traurig war ich allein zurückgeblieben und hatte den ganzen Abend weinend verbracht. Früher war er bei solchen Gelegenheiten in seinem Zimmer verschwunden. Er musste in dieser Nacht erst spät nach Hause gekommen sein, denn als ich ins Bett ging, war er noch nicht wieder zurück.

Beunruhigt richtete ich mich auf und tastete nach seinem Körper, um erleichtert festzustellen, dass er neben mir lag. Manche Männer, die nach einem Streit das Haus verlassen haben, sollen ja nie wieder zurückgekommen sein. Traute ich Stefan so etwas wirklich zu? Kannte ich ihn gut genug, um das beurteilen zu können? Kannte man einen Menschen jemals gut genug?

Meine suchende Hand weckte ihn kurz auf.

»Was ist los? Kannst du nicht schlafen?«, nuschelte er und drehte sich, ohne meine Antwort abzuwarten, auf die andere Seite.

Gleich danach hörte ich seine regelmäßigen Atemzüge. Er war eingeschlafen. Aber er war wieder da. Immerhin.

Ich spürte die Erleichterung, aber auch den leisen Ärger darüber, dass er unseren Streit offenbar schon vergessen hatte, denn sonst hätte er sich schließlich nicht einfach umgedreht und selig weitergeschlummert, während ich keine Ruhe fand. Typisch, ich war mal wieder diejenige, die sich alles zu Herzen nahm, während er nur eine Runde mit dem Rad drehen musste, um sich abzureagieren.

Ich fragte mich, wohin er im Dunkeln wohl gefahren war, und dabei durchzuckte mich der Gedanke, dass Stefan ein Verhältnis haben könnte. »Absurd«, dachte ich. Oder war die Idee doch nicht so absurd? Gab es da etwas, das ich nicht wusste? Eine andere, eine jüngere Frau? War seine Leidenschaft für den Radsport nur vorgeschoben, um eine ganz andere, verborgene Leidenschaft zu vertuschen?

Ich spürte Panik in mir aufsteigen, und mein Herz klopfte so laut, dass es meine Angst, schon bald vor den Trümmern unserer Ehe zu stehen, wie wild befeuerte. Ich ging ins Bad und ließ mir kaltes Wasser übers Gesicht laufen, um mich zu beruhigen. Das Wasser tat gut, der Blick in den Spiegel eher nicht. Die durchwachten Nächte hatten Spuren hinterlassen. Mein Gesicht sah müde und abgeschlafft aus. Die Haut: fahl und glanzlos. Die Lider: schwer und dunkel gerändert.

Ich ließ den Kopf hängen. War meine Ehe am Ende? Hatte Stefan meine ständige Gereiztheit nun endgültig satt? War ich für ihn nur noch eine Belastung? Unentspannt und unattraktiv, am Ende gar unerträglich?

Andererseits traf nicht mich allein die Schuld daran, dass wir in letzter Zeit öfter stritten. Stefan interessierte sich nicht mehr so für mich wie früher. Ständig wich er mir aus. Meine Sorgen und Gedanken wollte er überhaupt nicht hören. Und wenn es um ihn ging, dann hüllte er sich in Schweigen. Er ließ mich an seinem Leben kaum mehr teilhaben. Das, was uns früher einmal verbunden hatte, ein reges Interesse aneinander, aber auch ein stilles Verstehen, war vom Alltag geschluckt worden. Es war, als würden wir nicht mehr in die gleiche Richtung schauen.

An schlechten Tagen dachte ich sogar, er würde mich nicht mehr lieben. Schlimm war, dass ich das an meinen noch schlechteren Tagen sogar irgendwie nachvollziehen konnte. Wenn ich in den Spiegel blickte, dann mochte ich mich selbst auch nicht mehr sonderlich. Ein müdes und abgekämpftes Gesicht schaute mich an. Ich kam mir alt, verbraucht und irgendwie schwer vor.

Reflexhaft griff ich in den Spiegelschrank und kramte die Schachtel Baldriantabletten hervor, ein leichtes, rein pflanzliches Beruhigungsmittel, das ich seit zwei Monaten immer nahm, wenn ich nicht schlafen konnte – also eigentlich jede Nacht. Allerdings ließ es allmählich in seiner Wirkung nach. Ich musste nun schon mehrere Tabletten auf einmal nehmen, um innerlich ruhiger zu werden.

Ich hielt inne. Wollte ich das wirklich? Immer mehr davon nehmen, bis ich schließlich zu den harten Schlafmitteln greifen musste? War das die Lösung? Gab es überhaupt eine Lösung?

Ich fühlte mich von Stefan ungeliebt und unverstanden. Wir waren hilflos, sprachlos, und ich wusste nicht einmal, warum oder seit wann das so war. Wir lebten nur noch nebeneinander her, jeder für sich, zwei einsame Inseln. Und wir waren nicht in der Lage, an unsere glücklichen Zeiten anzuknüpfen. So hatte ich mir mein Leben nicht vorgestellt.

Ich setzte mich auf den Toilettendeckel, lehnte die Stirn an das kühle Waschbecken und atmete tief ein und aus, als könnte ich meine Gedanken wegpusten. Bisher hatte ich eine Ehekrise immer für etwas gehalten, das andere betraf, aber nicht mich selbst. Wieder kamen mir die Tränen. Die Tabletten hielt ich immer noch in meiner verschwitzten Hand.

Mit dem Auszug von Tilda war es zwischen mir und Stefan schwieriger geworden. Das war vor etwas mehr als zwei Jahren gewesen, als unsere Tochter zum Studieren nach Kanada gegangen war. Ausgerechnet Kanada. Es war klar, dass wir sie fortan nur noch einmal im Jahr zu sehen bekommen würden, wenn überhaupt. Ich hatte mich in die Arbeit gestürzt, um das Loch zu stopfen, das in meinem Leben entstanden war. Es kam mir vor wie gestern, dass ich mit meinem Kind im Sandkasten gespielt hatte. Fast zwanzig Jahre lang stand Tilda im Mittelpunkt unseres Lebens. Wir lachten mit ihr, wenn sie sich freute, wir litten mit ihr, wenn es ihr nicht gut ging. Mit ihr und durch sie sahen wir die Welt mit anderen Augen. Wir fühlten uns ebenso jung und lebendig wie unser Kind. Wir waren ein glückliches Kleeblatt.

Dann war das alles plötzlich vorbei. Wir waren raus. Ich war raus. Als Tilda ins Flugzeug gestiegen war, hatte sich in mir ein Gefühl der Einsamkeit und Leere ausgebreitet. Aber ich wollte es nicht zulassen, wollte bloß nicht darüber nachdenken, was da mit mir passierte. Also nahm ich mir Arbeit mit nach Hause und stand selbst an Wochenenden für Fortbildungen zur Verfügung. Hauptsache Ablenkung. Eine erstaunlich lange Zeit gelang es mir auch, mich abzulenken. Bis zu dem Tag, ab dem ich nicht mehr richtig schlafen konnte.

Als ich nun im Bad saß und über all das nachdachte, fasste ich einen spontanen Entschluss. Ich warf die Tabletten ins Waschbecken und drehte das Wasser auf, bis die kleinen Pillen im Abfluss verschwanden. Schluss damit! So konnte es nicht weitergehen. Aber was war die Alternative? Wach bleiben?

Der Rat meiner Freundin Sonja kam mir in den Sinn. Sie schwor darauf, bei Schlaflosigkeit ein Glas lauwarme Milch zu trinken. Babys würden danach ja auch immer selig schlummern, meinte sie.

Ich bereitete mir etwas lauwarme Milch zu, setzte mich damit an den Küchentisch und dachte mit Sorge an den bevorstehenden Tag. Ich arbeitete in der Presseabteilung eines großen Medienunternehmens, und mein Chef war der Meinung, dass die Außenwirkung der kompletten Abteilung vom Auftreten jedes einzelnen Mitarbeiters abhing. Mit meinen verschwollenen Augen und meinem verheulten Gesicht würde ich kein besonders gutes Aushängeschild sein. An einem Tag wie diesem versuchte ich möglichst nicht aufzufallen. Dennoch war ich mir nicht sicher, ob mein Chef nicht schon längst gemerkt hatte, dass ich seit einigen Monaten oft gestresst und gedanklich abwesend war. Dabei gab ich mich kompetent, interessiert und maximal engagiert. In Wirklichkeit aber war ich so dünnhäutig, dass ich am liebsten bei jeder Kleinigkeit in Tränen ausgebrochen wäre. Und sosehr ich mich innerlich auch dagegen sträubte, mir auf die Lippen biss und die Fäuste ballte, ich konnte diese Gefühle nicht stoppen.

Dann war diese junge Kollegin ins Team gekommen, um mich zu unterstützen – und da wusste ich es. Mein Chef war nicht nur unzufrieden mit mir, er hielt mich sogar für verzichtbar. Im Gegensatz zu mir war die neue Kollegin jung, kreativ, nervenstark, attraktiv und schnell. Dazu noch rasend nett und sehr sympathisch. Kurz gesagt: ein Albtraum – mein Albtraum.

Besonders mir gegenüber zeigte sie sich hilfsbereit und verständnisvoll. Sie ermunterte mich, zu Hause zu bleiben oder früher das Büro zu verlassen, und sorgte trotzdem dafür, dass alle Arbeiten erledigt wurden. Mein Chef war nicht nur hochzufrieden mit ihr, er liebte sie geradezu. Ich hingegen machte mir Vorwürfe, dass ich meine Verfassung offenbar nicht gut genug verbergen konnte.

Ich verschluckte mich fast an meiner warmen Milch, denn wieder schoss mir ein ungeheuerlicher Gedanke durch den Kopf. Was, wenn sie eine Affäre mit ihm hatte und beide nur daran arbeiteten, mich loszuwerden?

War ihre Fürsorge nur ein fauler Trick? Stand ich kurz davor, Opfer eines abgekarteten Spiels zu werden? Wie hatte ich nur so naiv sein können?

»Toll«, dachte ich. »Erst betrügt mich mein Mann, dann mein Chef.«

Offensichtlich hatte sich die ganze Welt gegen mich verschworen. Was sollte denn nur aus mir werden, geschieden und arbeitslos, wie ich es bald sein würde? Wie sollte ich je einen neuen Job finden, so alt, labil und naiv, wie ich war?

Ich spürte, wie die Angst mir die Kehle zuschnürte. Meine Ehe, mein Job, die Sorge um meine Tochter – und es gab ja noch so unendlich viele Dinge mehr, um die man sich Sorgen machen musste: die Digitalisierung, Pandemien, der Klimawandel, der zu Flüchtlingsströmen führte…

Ich benötigte eine Ablenkung, um meiner Gedankenspirale ein Ende zu setzen. Suchend sah ich mich in meiner Wohnküche um. Ich brauchte etwas, das mich auf andere Gedanken bringen würde. Mein Blick blieb bei den Fotos auf der Kommode hängen. Ich ging hinüber und betrachtete die Motive. Eines zeigte mich hochschwanger mit Tilda, ein anderes mit meiner Mutter Gertrud, und auf einem weiteren war ich gemeinsam mit meiner Großmutter zu sehen. Oma Pepe, wie ich sie immer nannte, stand mir sehr nahe. Ich hatte einen großen Teil meiner Kindheit bei ihr auf dem Land verbracht. Meine Eltern waren zu dieser Zeit beruflich sehr eingespannt und oft auf Reisen. Aber Oma Pepe war immer für mich da. Sie gab mir die Geborgenheit, die ich brauchte. Zu meiner Mutter hatte ich ein eher distanziertes Verhältnis. Sie war keine warmherzige oder umsorgende Frau und Mutter. Vielleicht lag das an ihrer eigenen Kindheit. Durch Oma Pepe verstand ich, dass Mutter einfach nicht anders konnte. Sie hatte schon immer viel gearbeitet und verlangte auch von mir Hochleistungen in der Schule. Später hatte ich dann versucht, für Tilda das zu sein, was Großmutter für mich gewesen war – mein Fels in der Brandung.

Tilda. Wie spät war es gerade in Kanada? Sechs Stunden Zeitverschiebung. Bei ihr war also früher Abend. Ich griff zum Handy. »Vielleicht geht sie ja dran«, dachte ich und wählte ihre Nummer. Es läutete kurz, und schon hörte ich ihre besorgte Stimme.

»Mama!«, rief sie. »Was ist passiert?«

»Nichts, ich wollte einfach nur kurz deine Stimme hören und fragen, wie es dir geht«, beruhigte ich sie. Ich hatte nicht daran gedacht, dass mein nächtlicher Anruf sie in helle Aufregung versetzen könnte.

»Aber wieso schläfst du nicht, es ist bei euch doch mitten in der Nacht?«

Ich blieb ihr die Antwort schuldig. »Alles gut bei dir?«, fragte ich sie stattdessen. »Wie läuft das Studium? Macht es dir Spaß?«

»Ja, alles großartig!«, erwiderte sie hastig. »Du, Mami, können wir ein anderes Mal telefonieren? Ich bin verabredet und muss jetzt los.«

»Ja, natürlich. Pass auf dich auf, mein Schatz.«

»Ja, mach ich. Hab dich lieb. Grüß Paps von mir.« Sie gab mir einen Kuss durchs Telefon und legte auf.

»Das war kurz«, dachte ich. Was hatte ich denn erwartet? Schließlich wollte ich nur ihre Stimme hören. Immerhin wusste ich nun, dass es ihr gut ging.

Ich sank aufs Sofa und blickte aus dem Fenster in die Morgendämmerung. In unendlich vielen Variationen zogen die Wolken über unser Haus hinweg. Ein friedlicher Anblick.

Als Kind hatte ich mir manchmal vorgestellt, dass ich mich auf eine Wolke legen und mit ihr davonfliegen würde, weich gebettet und sanft vom Wind gestreichelt. Bei dem Gedanken daran hatte ich mich damals unendlich frei gefühlt – ein bisschen so erging es mir in diesem Moment wieder.

Seltsam, wie lange hatte ich mich schon nicht mehr an dieses Bild erinnert? In mir breitete sich eine unbändige Sehnsucht aus. Ich hätte dieses Gefühl aus Kindertagen nur zu gern festgehalten, aber es war flüchtig und löste sich genauso rasch auf wie die Wolkengebilde am Himmel.

Die Sommerluft lockte mich in den frühmorgendlichen Garten. Ich schlenderte müde über den Rasen zu der kleinen verwinkelten Baumgruppe am Ende des Grundstücks. Zwischen den Bäumen hing eine bunte Hängematte, ein Relikt aus längst vergangenen Tagen. Früher hatte ich oft darin gelegen und mit Tilda auf dem Bauch einen Mittagsschlaf gehalten. Ich hatte das bis zu diesem Augenblick komplett vergessen. Die Witterung hatte dem Stoff anscheinend nicht allzu sehr zugesetzt. Er sah zwar etwas ausgebleicht aus, war insgesamt aber noch gut in Schuss. Ich fühlte mich zu matt, um zum Haus zurückzukehren, also legte ich mich in die Hängematte und blickte in die Baumkronen hinauf. Einen Moment lang fühlte ich mich geborgen wie ein Kind in der Wiege. Mit diesem Gedanken und einem sehr angenehmen Gefühl versank ich, vom Wind leicht hin- und hergeschaukelt, in einen tiefen Schlaf.

Der Aufbruch

Ich erwachte an einem Bach, umgeben von mächtigen Bäumen, deren Zweige bis hinunter zum Wasser reichten und in einem satten Grün leuchteten. Wo befand ich mich?

Niemand war zu sehen. Nur dichter Wald, wohin ich auch schaute. Der Boden schien stellenweise sumpfig zu sein. Bis auf das leise Plätschern des Wassers war kein Geräusch zu hören. Es lag eine gespenstische, Ehrfurcht gebietende Stille über allem. Mir war so, als würde der Wald jeden Laut verschlucken.

Um mich zu erfrischen, tauchte ich meine Hände ins kühle Nass des kleinen Baches und ließ etwas Wasser über mein Gesicht laufen. Dabei wusch ich mir den Schweiß ab und kühlte meine geröteten Augen, in der Hoffnung, mich danach besser orientieren zu können.

Ich sah mich Hilfe suchend um. Doch wohin ich mich auch wandte, es gab nur dichte Bäume und dorniges Gestrüpp. Da war kein Trampelpfad oder gar ein befestigter Weg, der mir hätte Hoffnung geben können, dass ich schon bald einen Ausweg finden würde.

Mein Blick wanderte zurück zu dem kleinen Bachlauf. »Beneidenswert«, dachte ich. Er umfloss mit einer Leichtigkeit jeden Stein und jedes Gehölz, verlor sich hier und da launig in einem Strudel, um dann einen neuen, ganz anderen Weg einzuschlagen. Durch nichts ließ er sich aufhalten. Scheinbar mühelos und spielerisch fand er immer wieder einen Pfad um jedes Hindernis herum.

Es schien mir plötzlich eine gute Idee, ihm zu folgen. Er würde mich mit etwas Glück schon irgendwohin führen. Also machte ich mich beherzt auf den Weg.

Nach einiger Zeit schmerzten meine Füße. Ich zog die Schuhe aus und sah, dass ich mir eine Blase gelaufen hatte. So lief ich barfuß weiter, mal schlenderte ich durchs Wasser, mal lief ich am Ufer entlang.

Wie lange hatte ich so etwas schon nicht mehr gemacht? Barfuß durch einen Bachlauf waten. Verrückt. Es war ein Teil meines Lebens, den ich verloren hatte. Ich genoss es, dem Bach zu folgen, obwohl ich mir für dieses kleine Abenteuer erfreulichere Umstände gewünscht hätte.

Irgendwann setzte ich mich ans Ufer, um ein wenig auszuruhen und meine schmerzenden Füße zu massieren. Dabei lehnte ich mich gegen den Stamm einer Trauerweide, deren Blätterdach mir ein Gefühl der Sicherheit verlieh. Der Baum schenkte mir tatsächlich für den Moment eine gewisse Geborgenheit.

Ich blickte nachdenklich aufs Wasser. Was sollte ich nur tun? Ich musste zusehen, dass ich vor Einbruch der Dunkelheit aus diesem wunderschönen, aber bei Nacht sicherlich unheimlichen Wald hinausfand.

Ich fragte mich, in welche Himmelsrichtung der Bachlauf mich führte, und spähte hinauf zur Sonne. Aber die Bäume waren so hoch und dicht, dass ich ihre Position und damit die Himmelsrichtungen nicht bestimmen konnte.

Eigentlich war ich nicht unerfahren mit Waldexpeditionen. Wir hatten als junge Familie viel Zeit im Wald verbracht, um gemeinsam die Schönheit der Natur zu entdecken. Wir hatten uns damals einfach auf den Weg gemacht, waren einem Bach oder Flusslauf gefolgt, ohne zu wissen, wo er uns genau hinführen würde. Solche Abenteuer, mit dem Aufbruch ins Ungewisse, waren auch eine Flucht aus dem Alltag und für uns alle das reinste Vergnügen gewesen. Solche Tage hatten uns mit wahrem Glück erfüllt. Wir schliefen in Zelten oder unter freiem Himmel, wuschen uns im Fluss und aßen das, was wir an überschaubarem Proviant eingepackt hatten. Es war wie im Paradies gewesen, denn die Zeit schien stillzustehen.

Plötzlich sah ich meine kleine Tilda vor mir, glücklich spielend an einem Bach wie diesem. Selbstvergessen baute sie kleine Staudämme und schickte Schiffchen aus Baumrinde mit Blättern als Segel auf die Reise.

Ein Knacken in unmittelbarer Nähe ließ mich aus meinen Erinnerungen aufschrecken, und ein Gefühl der Panik stieg in mir auf. Was war das für ein Geräusch? Gab es hier Wildschweine? Oder gar Wölfe?

Ich zog mir schnell die Schuhe wieder an und stand auf. Ich musste weiter, durfte keine Zeit mehr verlieren, denn ich war jetzt in einer ganz anderen Situation, und die konnte ich nicht einschätzen. Damals waren wir entsprechend ausgerüstet gewesen, weil es sich quasi um eine geplante Flucht ins Unbekannte gehandelt hatte. Wir wussten grob, wo wir uns befanden, und waren auf alles vorbereitet. Nun aber waren die Voraussetzungen nicht vergleichbar. Ich war in einem paradiesischen Niemandsland gelandet, vollkommen orientierungslos, ohne Proviant und ohne eine Idee, wie ich dort wieder hinausfinden konnte.

Ich folgte wieder dem Bachlauf. Diesmal mit schnelleren Schritten. Der Wald wurde dichter, der Boden sumpfiger. Nebelschwaden hingen zwischen den Bäumen. Teilweise sank ich bis zu den Knöcheln ein, und es kostete mich viel Kraft, vorwärtszukommen.

Schließlich gelangte ich an eine hölzerne Brücke, deren Latten vereinzelt herausgebrochen waren und teilweise im Wasser hingen. Stromabwärts weitete sich der Bach zu einem Fluss, und das Ufer war so sumpfig und stark bewachsen, dass es für mich unmöglich war, mich dort durchzuschlagen. Also entschied ich mich, die Brücke zu überqueren.

Die wenigen noch vorhandenen Holzbohlen knarrten unter meinen Füßen. Ich befürchtete, sie könnten mich nicht tragen, aber ich hatte Glück, und die kleine Brücke brachte mich wohlbehalten ans andere Ufer.

Dort entdeckte ich zu meiner großen Freude einen ausgetretenen Pfad, der mich hoffentlich wieder in die Zivilisation zurückbringen würde. Meine Schuhe trieften vor Nässe, und meine Hosenbeine waren bis zu den Knien ebenfalls pitschnass. Überdies schmerzten meine Füße immer mehr.

In der Ferne, scheinbar am Ende des Weges, entdeckte ich plötzlich zwei Schilder. Ich lief, so schnell ich konnte, dorthin, in der Hoffnung, nun einen konkreten Hinweis zu bekommen.

Die zwei alten Holzschilder zeigten in entgegengesetzte Richtungen, nach rechts und nach links. Neugierig entzifferte ich, was auf der linken Seite eingeritzt war: »Rückweg«.

Verwundert schaute ich zum anderen Schild. Die Schrift war sehr viel besser zu erkennen. Dort stand: »Mein bestes Leben«.

Ich zog die Stirn kraus. Hatte ich richtig gelesen? Oder träumte ich? Ich rieb mir die Augen und las die Schilder erneut. Dabei stellte ich fest, dass sich nichts verändert hatte. Auf den merkwürdigen Wegweisern befanden sich immer noch keine realen Ortsnamen mit den dazugehörigen Kilometerangaben. Sie stellten mich weiterhin nur vor die Wahl, den Weg in mein bestes Leben zu wählen oder einfach den Rückweg anzutreten.

»Sehr seltsam«, dachte ich. »Was bedeutet ›Rückweg‹? Rückweg wohin? Was ist gemeint mit dem ›besten Leben‹? Ein Hotel? Ein Strand?« Ich spähte in beide Richtungen.

Der Rückweg sah einladend aus. Zwar war er mit hohem Gras, Fingerhut und anderen Wiesen- und Waldblumen bewachsen. Es schien aber so, als wäre er bequem zu bewältigen. Außerdem vermutete ich, dass er mich nicht noch tiefer in den Wald führen würde. Er würde mich mit etwas Glück dorthin zurückbringen, wo ich hergekommen war.

Der andere Weg mit dem Ziel »Mein bestes Leben« war vollkommen mit dichten Himbeer- und Brombeersträuchern, Brennnesseln und Schlingpflanzen zugewachsen. Es war nahezu unvorstellbar, mir einen Weg durch dieses Gestrüpp zu bahnen. Ich würde mir weitere Schrammen und Kratzer dabei holen und mir noch mehr blutige Blasen laufen. Die Gefahr bestand, dass der Pfad mich noch tiefer in den Wald hineinführen würde, und das war mir für heute zu viel des Abenteuers. Damit war meine Entscheidung gefallen.

Entschlossen wandte ich mich dem Rückweg zu und wollte gerade losgehen, als ein Klopfen mich zurückhielt.

»Na, bist du sicher?«, hörte ich eine Stimme fragen.

Auf dem Schild mit der Inschrift »Mein bestes Leben« saß ein kleiner Vogel. Sein schwarz-weißes, leicht zerzaustes Federkleid sah wunderschön aus, und sein vorwitziger roter Schopf stand ihm zu Berge. An seinem Unterbauch prangte ein knallroter Fleck. Unermüdlich hämmerte er auf das Schild ein. Zwischendurch blickte er in meine Richtung, als wolle er etwas sagen. Dann aber senkte er wieder das Köpfchen und behackte das Holz so hingebungsvoll, dass die Federn auf seinem Kopf wackelten und das Schild vibrierte. Ich zögerte. Hatte er mit mir gesprochen? Wie konnte das sein? Sprechende Tiere, eigenartige Schilder? Nein, ich musste mich verhört haben. Dennoch verunsicherte mich der kleine Specht. Hatte ich jemals erlebt, dass ein solch besonderer Vogel mir ohne Scheu so nahe gekommen war? Er ließ sich offensichtlich überhaupt nicht von mir stören und ging unbeeindruckt seiner Beschäftigung nach.

»Komm, trau dich!«, hörte ich wieder die Stimme sagen, die mich auch dieses Mal aus meinen Gedanken riss.

»Wer spricht da zu mir?«, fragte ich vorsichtig.

»Trau dich!«, wiederholte die Stimme, und jetzt bemerkte ich, dass es tatsächlich der kleine Specht war, den ich hörte.

»Na los, komm mit mir! Du wirst schon erwartet.«