5,99 €
In diesem spannenden Doppelband "Gaslicht & Irrlicht" werden die Leser in eine Welt voller Geheimnisse und unheimlicher Legenden entführt. Gaslicht: Die Protagonistin wird in einen mysteriösen Fall verwickelt, der sie in die dunklen Schatten der Vergangenheit einer Stadt führt. Intrigen und unerwartete Wendungen zeichnen diese packende Erzählung aus, in der das Gaslicht mehr ist als nur eine Beleuchtung – es birgt auch gefährliche Geheimnisse. Irrlicht: Parallel dazu folgt die Geschichte von unheimlichen Lichtern, die Wanderer in die Irre führen. Ein unerklärliches Licht zieht die Protagonisten in ein Abenteuer, das sie an die Grenzen ihrer Vorstellungskraft bringt. Der Roman verwebt Mythos und Realität und hält die Leser bis zur letzten Seite in Atem. Gemeinsam bieten diese Erzählungen ein fesselndes Leseerlebnis, das die Themen von Schatten, Geheimnissen und übernatürlichen Phänomenen meisterhaft miteinander verknüpft. E-Book 1: Im Dorf der Vampire E-Book 2: Böse Mächte auf Korsika
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 234
Im Dorf der Vampire
Böse Mächte auf Korsika
Jasmin öffnete die Tür, die zum Keller führte. Dieses Mal war es dort unten nicht vollkommen dunkel. Ein fahles Licht hob die steinerne Treppe aus der Düsternis. Eine leise Stimme flüsterte lockend ihren Namen. Jasmin fürchtete sich entsetzlich. Zugleich aber ging von diesem Locken eine gewisse Faszination aus, der sie nicht widerstehen konnte. Wie von selbst betraten ihre Füße die Treppe, führten sie immer weiter nach unten. Kalte modrige Luft umgab Jasmin. Ein seltsamer süßlicher Geruch stieg ihr in Mund und Nase und schien sich wie ein schwerer Film über ihre Lungen zu legen, der das Atmen fast unmöglich machte. Zugleich verstärkte sich die Stimme, die sie nur in ihrem Kopf wahrnahm. Nun lockte sie nicht mehr, nun befahl sie …
Neumond. Die Dunkelheit lag wie ein schweres schwarzes Tuch über dem kleinen Ort Mohnsingen. Kein Leben regte sich in dieser völligen Finsternis, kein Laut war zu vernehmen. Das Band der Durchgangsstraße, die am Tag stark befahren wurde, zog sich wie tot an den Häusern vorbei, in denen kein Licht brannte.
Es schien fast so, als sei alles erstarrt, zu Stein geworden. Obwohl die Nacht ihren Zenit noch nicht überschritten hatte, war doch die einzige Kneipe im Ort längst geschlossen. Und nach Einbruch der Dämmerung war an diesem regnerischen Märztag niemand mehr unterwegs gewesen. So als spürten die Bewohner des Dorfes, dass etwas vorging. Etwas, von dessen Existenz man besser nichts wusste.
Nur aus einem der Fenster drang ein schwacher gelblicher Schimmer. Es war das Haus von Elsa Grund, das neben der Durchgangsstraße erbaut worden war. Damals, als die heruntergekommene Villa im Gründerzeitstil errichtet wurde, hatte es die Straße noch nicht gegeben. Aber auch ihre Existenz und der trügerische Anschein von Alltäglichkeit konnten dem Haus nichts von seiner Düsternis nehmen.
Es war zweistöckig, hatte acht Zimmer, einen weitläufigen feuchten Keller, der Schimmel und Moder viele Angriffsflächen bot, und einen bleiverglasten Erker. Die Fassade glich vergilbtem Pergament, Dachsparren und Holzteile an den Mauern waren von Zeit und Regen verwittert, an einigen Stellen pfiff der Wind durchs Gebälk.
Das Grundstück war nicht sonderlich groß, jedoch mit alten Buchen bestanden und von einem spitzlanzigen Eisenzaun umgeben, den der Rost in Jahrzehnten in Besitz genommen hatte. Der Garten war ungepflegt, durchwuchert von giftigen Pflanzen und Brennnesseln, die jetzt, im Frühjahr, in Massen gediehen. In der Nähe des Zauns, fast neben der Straße, stand ein rostiges Schaukelgestell; ein abgerissener Strick hing wie eine letzte Erinnerung an eine Schaukel daran.
All dies verdeckte die Düsternis in dieser Nacht. Der schwache Lichtschein, der aus einem Fenster im Erdgeschoss drang, erhellte kaum das braune Buchenlaub unter dem Fenster, das vom letzten Herbst hier liegengeblieben war.
Drinnen war das Haus nicht viel einladender. In den Räumen stapelten sich obskure Dinge, vieles, das von weither seinen Weg nach Mohnsingen gefunden hatte. Seltsame Gerüche durchzogen das Haus, Moder und Verwesung lagen in der Luft. Zugleich aber mischten sich exotische Düfte in die stickige Luft.
Das Licht kam aus dem Wohnzimmer von Elsa Grund. Es war rechteckig und mündete an seiner Stirnseite in den bleiverglasten Erker mit den verspielten Motiven des Jugendstils. Schmutz hatte die Scheiben so getrübt, dass die Schwäne und Lilien kaum noch zu erkennen waren.
Das Wohnzimmer schien das Zentrum des Hauses zu sein, in einer besonderen Hinsicht: Es beherbergte einen runden Tisch mit polierter Fläche, in dessen Mahagoniplatte magische Zeichen eingraviert waren. Ein übergroßer Drudenfuß deutete mit seinen Spitzen auf die Personen, die in dieser Nacht um ihn herum saßen. Nur das Licht einiger Kerzen erhellte den Raum und warf zuckende Schatten auf die drei Gesichter.
Elsa Grund blickte lauernd in die Runde. Sie war eine alte Frau, hoch in den Siebzigern. Ihr faltiges Gesicht wurde von schlohweißem Haar umrahmt. Doch nichts Abgeklärtes stand in ihren Zügen; das Alter hatte sie nicht milde gemacht. In ihren dunklen Augen funkelten Hass und der Wille zum Bösen.
»Wird es endlich klappen, heute Nacht?«, fragte sie mit schwacher Stimme, in der deutlich ein Zittern mitschwang. Elsa war eine kranke Frau: Das Herz machte nicht mehr mit. Hätte sie nicht einen eisernen Willen besessen und hätte es da nicht etwas gegeben, das sie einfach tun musste, bevor sie starb, dann wäre wohl schon längst alles zu Ende gewesen. Die Ungeduld in ihrer Stimme machte das deutlich.
Eine Frau und ein Mann leisteten ihr bei dieser seltsamen Zusammenkunft Gesellschaft. Die Frau war etwa im gleichen Alter wie Elsa. Ihr schwarzes Haar wurde von vielen weißen Fäden durchzogen, an den Ohren trug sie schwere rotgoldene Gehänge, die das Kerzenlicht matt reflektierten. Der Mann war jünger, so schien es zumindest. Sein Kopf war kahl, sein stechender Blick auf den Drudenfuß geheftet. Er war makellos gekleidet; selbst eine weiße Nelke im Knopfloch seines Jacketts fehlte nicht. Er war es, der Elsa Antwort gab.
»Ungeduld wird alles verderben, Elsa, das haben wir dir schon sehr oft gesagt. Die dunklen Brüder wollen vermitteln. Aber sie werden nichts erreichen, wenn du alles wieder zunichtemachst.«
»Ich habe nicht mehr viel Zeit«, entgegnete die alte Frau bitter. Ihr Blick flackerte. »Wenn wir nicht bald zum Ziel kommen, werde ich es nicht mehr erleben.«
Der Mann betrachtete sie aus kalten grauen Augen. Etwas wie ein Schmunzeln legte sich um seinen spöttisch verzogenen Mundwinkel. »Das ist sehr wahrscheinlich.«
Elsa schnaufte. Sie stemmte ihre knochigen Finger auf die polierte Tischplatte und setzte zu einer heftigen Erwiderung an, als die andere Frau sie ansprach. In ihrer Stimme schwang ein fremdländischer Ton mit, der überall und nirgends auf der Welt zu Hause war.
»Es ist alles vorbereitet. Wir sind zu wenige und zu unbedeutend, um den dunklen Meister zu uns zu rufen. Wir haben es versucht, aber es hat keinen Sinn.«
Elsas Miene verzog sich in ungezügelter Wut. Ihre knochige Faust sauste auf die Tischplatte. »Dann war alles umsonst!«, keifte sie.
Die andere Frau ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Sie kannte Elsa seit vielen Jahren. Sie wusste um das Schicksal der Frau, die nach Rache schrie. Und sie wusste auch, dass diese Rache bald vollendet werden würde. In nicht allzu ferner Zukunft …
»Ich weiß, dass der dunkle Meister zu uns kommen wird. Ich habe ihn in einer Vision gesehen. Er steht deinen Plänen wohlgesonnen gegenüber, Elsa. Der Grund ist bereitet, er muss kommen. Du hast den Saal gemietet, eine Kapelle engagiert. Tanzen wirst du selbst nicht mehr.«
»Das ist bitter.«
»Nein, ist es nicht.« Sie wandte sich an den Mann. »Es gibt eine junge Familie, die Großnichte von Elsa. Sie haben etwas sehr Kostbares verloren. Ihre Seelen sind schwach geworden durch den Kummer. Sie werden vollenden, was nicht mehr in unserer Macht steht.«
»Sie werden gar nichts tun«, fuhr Elsa erregt dazwischen. Ihr sonst blasses Gesicht hatte eine ungesunde Rotfärbung angenommen; sie fingerte an dem altmodischen Spitzenkragen ihres schwarzen Kleides. »Sie werden es nicht verstehen. Ich kann dir nicht mehr vertrauen, Gloria. Wenn ich tot bin, hat doch alles gar keinen Sinn mehr. Bitte, tut jetzt etwas, noch in dieser Nacht!«
Der Mann erhob sich und strich sein Jackett mit einer weichen Geste glatt. »Es hat keinen Sinn zu diskutieren. Mehr können wir nicht für dich tun, Elsa. Der dunkle Meister wird kommen. Mohnsingen wird, untergehen. Das ist alles, was du gewollt hast.«
»Soll ich noch bei dir bleiben? Geht es dir schlecht?«, fragte Gloria, nachdem der Mann gegangen war.
»Nein, es ist gut. Ich werde gleich zu Bett gehen.« Elsa drückte der alten Freundin die Hand.
»Sei nicht so mutlos. Nichts ist vergessen, was damals geschah. Du wirst deine Rache haben, glaub mir.«
Elsa lächelte verloren. »Wenn ich das noch könnte …«
Gloria verließ das Haus wenig später. Die Finsternis verschluckte sie wie einen Schatten. Der Mann hatte im Auto auf sie gewartet.
»War es richtig, ihr zu vertrauen?«, fragte er nachdenklich.
»Sie hasst, und das ist der beste Grund für unser Vertrauen.«
Der Kahlköpfige wiegte den Kopf hin und her. »Ich weiß nicht recht …«
Als der Wagen abfuhr, wurde ganz in der Nähe ein anderer Motor gestartet. Der Mann hatte die beiden beobachtet. Und es schien ihm, als hätten sich seine finstersten Ahnungen bestätigt.
*
Elsa wanderte ruhelos durch das Haus. Nachdem ihre Besucher gegangen waren, kehrten die Erinnerungen zurück. Die Bilder jener Geschehnisse des Sommers vor über fünfzig Jahren. So viel Zeit war seither vergangen, aber die grausamen Bilder wollten einfach nicht verblassen.
Die alte Frau stöhnte auf. Der Wunsch nach Rache erfüllte ihr Denken, war zum Inhalt ihres Lebens geworden. Die Gewissheit, dass sie diese Rache nun vielleicht nicht mehr erleben würde, brachte sie fast um den Verstand.
Nach einer ganzen Weile postierte Elsa sich hinter einem Fenster im Erdgeschoss und starrte nach draußen, wo die tintenschwarze Dunkelheit allmählich einem wattig grauen Zwielicht wich, das den kommenden Morgen ankündigte. Es war die Zeit zwischen Dunkelheit und Dämmerung, in der die Schatten der Vergangenheit wieder zu einer trügerischen Lebendigkeit erwachten.
Während Elsa reglos nach draußen starrte, veränderte sich die Umgebung. Die Bäume wurden grün, das Unkraut im Garten verschwand, machte gepflegten Rabatten Platz. Das verrostete Schaukelgestänge am Zaun hatte wieder jenen Ton von Rot, der an Blut erinnerte. Veilchen blühten neben Akelei, der Flieder verströmte seinen fast narkotischen Duft. Die Luft war seidig, erfüllt vom Singen der Vögel und dem Duft der blühenden Natur.
Auf der Straße fuhren nur wenige Autos. Die Menschen benutzten Fahrräder oder Leiterwagen.
Über allem schien eine gelassene Heiterkeit zu liegen, denn der Krieg war vorbei, das Leben konnte wieder beginnen.
Elsa sah sich als junge Frau, mit wehendem blondem Haar und strahlenden Augen. Wie hatte sie die Sommer in Mohnsingen geliebt, wie wohl hatte sie sich gefühlt, nachdem keine Bomben mehr gefallen waren!
Für ein paar Augenblicke hatte sich das Gesicht der alten Frau verklärt, nun aber kehrte der bittere Zug um den welken Mund zurück, und der Ausdruck von Hass leuchtete in ihren Augen.
Sie wollte nicht an das denken, was damals geschehen war. Und doch gab es kein Entrinnen aus dem Gefängnis der eigenen Erinnerungen. Wie ein Kino in der Hölle, das jeden Tag den gleichen grausamen Film zeigte …
Ein Geräusch schreckte Elsa aus ihren Gedanken. Es war draußen aufgeklungen. Und als es sich wiederholte, wusste sie auch, woher es rührte: Jemand ging durch das welke Laub, das unter den Buchen lag. Jemand kam …
Für ein paar Sekunden regte sich Beunruhigung in ihrem Herzen. Doch dieses Gefühl verschwand so rasch, wie es gekommen war, machte ganz anderen Empfindungen Platz: Erstaunen und Vorfreude.
Hatten sie doch erreicht, was die beiden anderen nicht zugeben wollten? War es ihnen an diesem Abend gelungen, Kontakt aufzubauen? Den dunklen Meister, den Prinzen der Finsternis zu rufen?
Elsas Herz beschleunigte den Schlag, alles in ihr schien mit einem Mal zu vibrieren.
Über Jahrzehnte hatte sie sich mit der schwarzen Magie, mit Okkultismus und Satanismus beschäftigt. All ihre Lebenskraft und ihr Geld hatte sie in dieses Ziel hineingepumpt, mehr zu erfahren über die Mächte der Finsternis. Sie wollte einen Bund mit ihnen schließen. Einen Bund, der mit Blut geschrieben und besiegelt werden sollte. Verderben und Untergang sollte über Mohnsingen kommen. Und vielleicht, ja, vielleicht würde es schon in dieser Nacht beginnen!
So schnell sie konnte, rannte Elsa zur Haustür und riss sie auf. Feuchte, kalte Nachtluft wehte sie an. Der Garten verschwamm in grauen Schatten. Trotzdem erkannte Elsa die Person, die sich dem Haus näherte. Ja, das musste ER sein!
Sie wollte etwas sagen, ihn willkommen heißen, aber sie brachte keinen Ton über die Lippen.
Und im nächsten, für Elsa unendlich enttäuschenden Moment wurde ihr bewusst, dass sie sich geirrt hatte.
»Frau Grund? Ich muss mit Ihnen reden. Bitte, verzeihen Sie, dass ich um diese Zeit komme, aber es ist wichtig.«
Sie hatte sich wieder einigermaßen in der Gewalt, sagte abweisend: »Verschwinden Sie, ich will niemanden sehen.«
»Aber es ist wirklich sehr wichtig, bitte.« Der Mann kam näher. In der diffusen Beleuchtung konnte Elsa sein Gesicht nicht erkennen, der Stimme nach zu urteilen war er noch jung. Etwas an ihm war ihr seltsam vertraut. Aber anstatt näher darüber nachzudenken, trat sie einen Schritt zurück und wollte die Tür wieder schließen.
»Bitte, Frau Grund, es geht um ihre Freundin Gloria und um den Mann, der heute Abend bei Ihnen war!«, rief der Fremde und versuchte sich, in die Diele zu drängen.
»Verschwinden Sie, oder ich rufe die Polizei!«, fuhr Elsa ihn an und schloss die Tür mit Gewalt.
Sie hörte seine Stimme noch eine Weile. Er stand vor der geschlossenen Tür und redete mit Engelszungen auf sie ein. Aber Elsa hatte nicht die Absicht, ihn anzuhören. Sie glaubte, ihn zu kennen. Und sie wusste um seine Absichten.
O nein, dachte sie bitter, ihr werdet mich nicht davon abhalten! Damals hat mir keiner geholfen. Und nun wird euch keiner helfen.
Schließlich wurde es draußen still, und nach einer Weile hörte Elsa, wie sich ein Auto entfernte.
Sie verließ die Diele und stieg nach oben in den ersten Stock, wo sich ihr Schlafzimmer befand.
Nun machten sich die Aufregung und Anstrengungen dieser Nacht bemerkbar. Der Arzt hatte Elsa davor gewarnt, sich zu erregen. Es war Gift für ihr Herz. Jetzt bekam sie die Quittung.
Die alte Frau schaffte es kaum, ins Bett zu kommen. Unendlich mühsam erschien es ihr, das Nachthemd überzustreifen und die Decke aufzuschlagen. Als sie dann in den kühlen Kissen lag, hämmerte ihr Herz schmerzhaft gegen die Rippen. Elsa spürte die Schmerzen in sich aufsteigen und kämpfte dagegen an.
Ich will nicht sterben, dachte sie verbissen, nicht bevor es angefangen hat.
Sie presste eine Hand auf das Herz, massierte die schmerzende Stelle, aber ohne Erfolg. Das kranke Herz schickte immer neue Wellen der Qual durch ihren Körper.
Elsa stöhnte auf. Grelles Licht erfüllte für ein paar Augenblicke den Raum. Sie wusste nicht, dass nur sie es sah. Und dann erlöste Bewusstlosigkeit sie von der Qual dieser Nacht.
Elsa schloss die Augen. Irgendwo sagte eine beruhigende Stimme zu ihr: »Sei unbesorgt, alles wird so geschehen, wie du es dir erhofft hast. Ich werde kommen. Bald.«
Ein entspanntes Lächeln legte sich auf Elsa Grunds Züge. So fand der Pfarrer sie zwei Tage später. Es schien, als sei sie friedlich für immer eingeschlafen.
*
Es war ein sonniger Sommertag gewesen. Sie hatten die Wohnung schon zeitig verlassen und waren durch den Grunewald gefahren, Richtung Wannsee.
Jasmin fühlte sich so wohl wie schon lange nicht mehr. Bernd und Mark waren auf dem Wasser. Der Junge hatte unbedingt ein Tretboot leihen wollen. Während die beiden über das sonnenglänzende Wasser paddelten, ruhte Jasmin sich in einem Liegestuhl aus. Sie dachte, wie so oft in letzter Zeit, über ihre Ehe mit Bernd nach. Vieles hatte sich verändert in den letzten fünf Jahren.
Als sie sich kennengelernt hatten, war Bernd Bauer ein erfolgversprechendes Talent gewesen, hatte viele Pläne im Kopf gehabt. Oft hatte er ganze Nächte hindurch komponiert, war voller Ideen und Elan gewesen. Als sich der Erfolg nicht so bald einstellte, wie er hoffte, waren zuerst die Ideen ausgeblieben, dann der Elan. Die Geburt von Mark hatte eine kurze kreative Phase nach sich gezogen, aber auch die war irgendwann abgeebbt.
Jetzt lebte Bernd in den Tag hinein, ohne sich entschließen zu können, was er wollte. Wenn sie ihn fragte, ob er etwas komponiert habe, schwindelte er ihr von neuen Ideen vor, die nie verwirklicht wurden. Er hielt von Zeit zu Zeit Vorträge an der Akademie für Tonkunst. Das war alles.
Sie lebten von dem, was Jasmin als Übersetzerin verdiente, und das war nicht eben üppig. Sie spürte, dass er sich für seine Antriebslosigkeit schämte und ihr zugleich den Vorwurf machte, etwas zustande zu bringen. Die Situation war mehr als schwierig. Manchmal fragte Jasmin sich, was sie eigentlich noch zusammenhielt, außer Mark.
Sie war in der Sonne eingedöst. Erst die aufgeregten Rufe holten sie in die Wirklichkeit zurück.
»Ist der verrückt?«
»Sehen Sie da, das Motorboot der fährt gegen jede Regel!«
»Das Tretboot ist gekentert, man muss helfen! Sehen Sie das Kind noch?«
Wie giftige Pfeile waren die Worte zu ihr vorgedrungen, hatten einen Eispanzer um ihr Herz gelegt. Jasmin war aufgesprungen, hatte krampfhaft nach dem Tretboot mit Bernd und Mark Ausschau gehalten. Die Sonne blendete, Menschen, die durcheinanderliefen, um Hilfe zu holen, rempelten sie an.
Jasmin war wie in Trance zum Wasser gegangen, den Blick starr nach vorn gerichtet. Bernd war verschwunden. Und Mark …
Irgendwann hatte jemand zu ihr gesagt: »Der Junge ist ertrunken.« Dass es Bernd gewesen war, hatte sie erst später begriffen.
Dann hatten sie den kleinen bleichen Körper aus dem Wasser geholt. Jasmin hatte nicht begreifen wollen, sie wollte ihn nicht hergeben, flüsterte seinen Namen, hielt seine kleine kalte Hand. »Mark, Mark, Mark …«
Das Bild verschwamm, verwischte hinter grauen Schleiern.
Jasmin stöhnte auf, dann öffnete sie die Augen und starrte eine Weile ins Leere.
Nur ein Traum, dachte sie müde, nur ein Traum.
Aber dieser Traum quälte sie schon seit Monaten, seit sie ihren kleinen Sohn bei diesem Badeunfall verloren hatte. Das Gefühl der Trauer und Leere war unverändert.
Jasmin drehte sich auf die Seite und versuchte, an nichts zu denken. Die zweite Betthälfte war leer, Bernd noch nicht zu Hause. Seit Marks Tod saß er nachts entweder in seinem Studio, das er sich im Keller des Mietshauses eingerichtet hatte, oder er blieb bis zum Morgengrauen fort.
Wenn er dann heimkam, war er meist betrunken.
»Mark …« Jasmin schaffte es nicht, die Schleier des Traums abzuschütteln. Sie konnte den Tod des Kindes nicht akzeptieren, er machte alles so sinnlos.
In der ersten Zeit hatten sie versucht, einander Halt zu geben, aber es war ihnen nicht gelungen. Obwohl Jasmin Bernd keine Vorwürfe machte, glaubte er doch, sie mache ihn für das, was passiert war, verantwortlich. Ihre Ehe war zu einem qualvollen Zustand geworden.
Mehr als einmal hatte sie daran gedacht, sich von Bernd zu trennen. Susanne, ihre beste Freundin, hatte ihr behutsam zugeredet. Aber es war keine Lösung. Sie konnte Bernd nicht verlassen. Sie würde die Trauer mitnehmen, wenn sie ging.
Und sie hoffte noch immer, dass sie gemeinsam vergessen konnten.
Jasmin knipste die Nachttischlampe an, stellte fest, dass es auf vier Uhr zuging, und wärmte sich dann in der Küche noch eine Tasse Milch.
Sie trank in kleinen Schlucken, schaute dabei aus dem Küchenfenster auf das neonfarbene Lichtermeer der Stadt.
Obwohl sie hier geboren und aufgewachsen war, erschien ihr doch in diesem Moment alles kalt und fremd. Und sie fühlte sich so unendlich einsam …
*
»Wann bist du denn gestern heimgekommen?«
Bernd schaute missmutig in seinen schwarzen Kaffee und murmelte: »Ich weiß es nicht. Ist das denn wichtig?«
Jasmin betrachtete ihn eine Weile stumm und meinte dann: »Nein, sicher nicht.« Sie nahm den Stapel Post, der an diesem Morgen gekommen war, und begann alles durchzusehen.
»Ich gehe rüber und lege mich noch ein bisschen hin«, ließ er sie nach einigen Minuten wissen.
Jasmin hatte einen Brief von einem Notar aus Kallen entdeckt. Sie reagierte nicht auf Bernds Worte; ein seltsames Gefühl beschlich sie.
»Ist was?«
Sie schlitzte den Brief mit ihrem Buttermesser auf und förderte ein Anschreiben heraus, das an sie persönlich gerichtet war.
»Von einem Notar Dr. Fischer aus Kallen.«
»Wo soll denn das sein? Habe ich noch nie gehört«, stellte er fest, kehrte aber an den Tisch zurück.
»Meine Großtante Elsa ist gestorben. Es geht um das Erbe.« Jasmin, las den Brief und reichte ihn dann an Bernd weiter. »Sie hat mir ihr Haus vermacht.«
»Ich wusste nicht, dass du eine Großtante hast. Und wo liegt dieses Haus?«
»In Mohnsingen, das ist ein Dorf in der Nähe von Kallen. Im Pfälzischen.«
»So, im Hinterland also. Warst du schon mal dort?«
»Ja, sicher. Tante Elsa war die Schwester meiner Großmutter. Unsere Familie stammt aus dieser Ecke. Ich habe sie sehr lange nicht mehr gesehen.« Sie verstummte, Bilder tauchten vor ihrem geistigen Auge auf: das kleine Dorf an der Durchgangsstraße, die Kinderschaukel, die sie nicht hatte benutzen dürfen, weil sie direkt neben dem spitzen Staketenzaun gestanden hatte.
»Ein paar Sommerbesuche, als ich noch ein Kind war, an mehr kann ich mich nicht erinnern.«
»Und wieso vermacht sie dir dann ihr Haus?«, fragte Bernd etwas überrascht. »Wenn du sie kaum gekannt hast?«
Sie hob die Schultern. »Ich weiß es nicht. Tante Elsa war ein Sonderling, ein Einzelgänger. In der Familie wurde nicht eben nett über sie geredet.«
»Was hat man ihr vorgeworfen?«
»Na ja, nach dem Krieg gingen meine Großeltern nach Berlin. Mein Großvater fand hier Arbeit. Das Haus, es ist ziemlich groß und war früher mal richtig vornehm, sollte verkauft werden. Soweit ich mich erinnere, gehörte es zu gleichen Teilen Elsa und meiner Großmutter.
Elsa weigerte sich, es herzugeben. Sie hat meine Großeltern ausbezahlt. Woher sie das Geld hatte, weiß ich nicht. Wir hatten dann kaum noch Kontakt zu ihr. Sie hatte dubiose Freunde, die auch im Haus lebten. Ich war damals noch ein Kind und habe mich nicht sonderlich dafür interessiert. Aber ich mochte sie. Sie konnte tolle Windbeutel backen und Geschichten erzählen.«
»Und nun hat sie dir das Haus vermacht.«
»Ja.« Jasmin erhob sich und ging hinüber in den Wohnraum. Sie kramte in einer Schachtel mit alten Fotos und förderte schließlich ein Bild von Elsa Grund zutage.
»Sie war eine schöne Frau, hatte viel Ähnlichkeit mit dir«, sagte Bernd, während er das Bild anschaute.
Seine Worte berührten Jasmin seltsam. Zum ersten Mal seit langer Zeit redeten sie wieder wie normale Menschen miteinander, nicht wie Gegner auf einem imaginären Schlachtfeld.
»Nur frage ich mich, wieso sie mir das Haus vermacht hat. Sie wusste doch, dass ich in Berlin lebe.«
»Vielleicht wollte sie dir einfach nur eine Freude machen. Du hast doch gesagt, dass ihr euch gut verstanden habt«, wandte er ein.
»Ich weiß nicht … Ist das nicht ein bisschen dünn?«
Er gab ihr das Foto zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Was willst du jetzt tun?«
»Na ja, entweder schlage ich das Erbe aus, oder ich nehme es an.«
»Wir könnten das Haus verkaufen. Sicher wird es einen guten Preis bringen. Du hast gesagt, dass es eine Art Villa ist.«
»Schon, aber ich habe es sehr lange nicht gesehen. Wenn Tante Elsa dort allein gelebt hat, und das vermute ich, dann wird es wohl sehr heruntergekommen sein.«
Seine dunkelblauen Augen betrachteten sie mit einem Mal spöttisch. »Hast du Angst, ich wollte mich an deinem Erbe bereichern? Warum stiftest du es nicht der Caritas?«
»Habe ich was gesagt?«, entgegnete sie gereizt. Da war sie also wieder, die alte Feindseligkeit. Resignation umfing Jasmins Herz.
»Nein, schon gut. Du musst wissen, was du damit anfängst«, wehrte er unwillig ab.
Sie schwiegen sich eine Weile an, bis Jasmin schließlich sagte: »Ich werde jetzt arbeiten. Die neue Übersetzung muss bis Ende des Monats fertig sein.«
»Und wenn wir mal hinfahren?«, fragte Bernd, wie es schien, mehr zu sich selbst.
Sie blieb in der Tür stehen und betrachtete ihn abwartend.
»Ich meine, nach Kallen, zu diesem Notar. Ich würde gern sehen, wie das Haus aussieht. Irgendwie bin ich neugierig geworden.«
»Was versprichst du dir davon?«
Er hob die Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich habe einfach das unbestimmte Gefühl, dass wir mal raus sollten aus Berlin. Vielleicht würde es uns helfen …«
»Ja, mag sein, du hast recht.« Sie lächelte ein wenig verloren. »Ich rufe an und mache einen Termin mit diesem Dr. Fischer.«
*
Kallen war so grau und trist wie alle Kleinstädte an einem verregneten Frühlingstag.
Jasmin schaute sich mit gemischten Gefühlen um. Sie hatte eigentlich keine Beziehung zu diesem Ort, kannte ihn nur vom Durchfahren vor vielen Jahren. Trotzdem kamen die Erinnerungen zurück, wie bereits in der vergangenen Nacht.
Zum ersten Mal seit Marks Tod hatte sie nicht von dem Badeunfall geträumt. Sie war in ihre Kindheit zurückkehrt, zu den Sommertagen in Mohnsingen. Sie hatte sich an Dinge erinnert, die längst in Vergessenheit geraten waren: an die Sonntagnachmittage im Garten von Tante Elsa, an die seltsam gespannte Atmosphäre bei Kaffee und Kuchen.
Schon als kleines Mädchen hatte sie deutlich die Distanz zwischen ihren Eltern und der Großtante gespürt. Den stummen Vorwurf, der aus allem sprach, was sie sagten und taten. Woher hatte dieses Verhalten gerührt? Was war vorgefallen zwischen den Erwachsenen, das das Kind Jasmin zwar empfinden aber nicht begreifen konnte?
»Marktplatz, ich glaube, hier müsste es sein«, sagte Bernd in ihre Gedanken hinein.
Sie beugte sich ein wenig vor, schaute durch die Windschutzscheibe nach draußen. Der Marktplatz schien in den vergangenen Jahren herausgeputzt worden zu sein. Alte Bürger- und Fachwerkhäuser wirkten unnatürlich frisch und neu unter all der penibel aufgetragenen Farbe. Der gepflasterte Platz mit den Blumenkübeln, in denen erste Stiefmütterchen von Tannenzweigen vor den letzten späten Frösten geschützt wurden, war von allerlei kleinen Geschäften eingerahmt. In seiner Mitte befand sich ein Brunnen aus Sandstein, in dem ein bronzener Knabe einen Fisch fing.
»Hier liegt wirklich der Hund begraben«, urteilte Bernd, nachdem sie geparkt hatten und ausgestiegen waren.
Jetzt, um die Mittagszeit, roch es überall nach Essen; eine Werksirene verkündete die Pause für die Arbeiter.
»Wenn du das schon von Kallen sagst, warte erst mal Mohnsingen ab«, riet Jasmin ihm leutselig.
Der Notar Dr. Fischer war ein kleiner untersetzter Mann in einem zu engen Anzug. Er begrüßte das junge Ehepaar gönnerhaft und tat bei der Testamentsverlesung so, als schenke er ihnen etwas aus seinem eigenen Besitz.
»Nun, haben Sie schon beschlossen, was mit dem Haus werden soll?«, wollte er schließlich wissen. »Ich habe einen Makler an der Hand, und nebenan ist eine Bank, die sich mit dem Verkauf beschäftigen kann.« Er zögerte kurz. »Wenn Sie verkaufen wollen.«
»Wir haben uns noch nicht entschlossen«, erwiderte Bernd, denn der Notar hatte ihn die ganze Zeit angesehen. Jasmin registrierte er nur am Rande, obwohl sie die Erbin war.
»Wissen Sie etwas über den Zustand des Hauses?«, fragte sie kühl.
Dr. Fischer legte die kurzen dicken Finger zusammen und antwortete im gleichen Tonfall: »Nein. Woher auch? Frau Grund hat vor gut zwanzig Jahren ein Testament bei mir hinterlegt. Wäre Sie nicht vor wenigen Wochen noch einmal hier erschienen, um eine Änderung vornehmen zu lassen, könnte ich Ihnen nicht mal sagen, wie sie aussieht.«
Jasmin wurde hellhörig. »Was für eine Änderung denn?«
»Ursprünglich hat sie das Haus und alles, was sich darin befindet, einer Gloria Weiß und deren Familie vermacht. Der Sinneswandel kam spät.« Er lächelte kalt. »Sie hatten Glück, dass die Änderung noch gemacht werden konnte, bevor sie starb. Sonst wären Sie leer ausgegangen. Obwohl … ob es so ein Glück ist, wage ich zu bezweifeln.« Er verstummte, denn seine Sekretärin betrat den Raum und brachte Kaffee.
»Was haben Sie damit gemeint?«, wollte Bernd wissen, als die Frau den Raum wieder verlassen hatte.
»Nun ja, ein altes Haus kann ein Fass ohne Boden sein. Sie haben da vielleicht etwas geerbt, das sich im Nachhinein, nun ja, sagen wir mal, eher als Belastung entpuppen kann.«
»Und Sie raten uns, zu verkaufen?«
Ein listiges Lächeln erschien auf seinen schwammigen Zügen. »Es ist Ihre Entscheidung.«
»Ich denke, wir sehen es uns erst mal an, bevor wir weiterreden«, entschied Jasmin und erhob sich.
»So ein Widerling, der war nur scharf auf die Vermittlungsprovision, die er wahrscheinlich von seinem Bankfreund bekommt«, urteilte Bernd, als sie die Kanzlei verlassen hatten.
»Ich frage mich, wer diese Gloria Weiß ist, der Tante Elsa ihr Haus zuerst vererben wollte. Und warum sie sich dann so kurz vor ihrem Tod anders entschieden hat.«
»Wahrscheinlich eine Freundin, mit der sie Streit gekriegt hat. Du hast doch selbst gesagt, dass sie ein bisschen komisch war.«
»Trotzdem finde ich es seltsam«, beharrte Jasmin, wobei sie nachdenklich den Schlüssel betrachtete, den der Notar ihnen gegeben hatte. Er lag kalt in ihrer Hand. Wozu war es der Schlüssel? Zu einem neuen Lebensabschnitt, zu der Möglichkeit, endlich zu vergessen, was im letzten Sommer geschehen war? Oder eher zu etwas, das schlimmer war als alles Vorherige?
Sie wunderte sich über ihre merkwürdigen Empfindungen.
»Wie dem auch sei, wenn das Haus mich nicht umwirft, werde ich sicher nicht hierbleiben. Es ist absolutes Hinterland«, stellte Bernd griesgrämig fest.