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Ein junger Inuit kommt als Botschafter seines Stammes nach Paris. Obwohl sich alle für ihn interessieren, fühlt Ulik jeden Abend in seinem Hotel die Einsamkeit in sich aufsteigen, denn in seinem Land ist man niemals allein. Überhaupt ist Ulik verwundert. Im Land der Inuit ist Liebe ein Austausch von Geschenken unter zwei Menschen, die einander brauchen. In Paris scheint man komplett andere Vorstellungen zu haben. In dem mutigen und einsamen Inuit spiegelt der Psychiater und Bestsellerautor François Lelord unsere Sehnsucht nach starken Gefühlen und den Zustand der Liebesunordnung, in dem wir leben.
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Übersetzung aus dem Französischen von Ralf Pannowitsch
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
4. Auflage Februar 2011
ISBN 978-3-492-95628-4
© Oh! Éditions, Paris Titel der französischen Originalausgabe: »Ulik au pays du désondre amoureux« © der deutschsprachigen Ausgabe: 2008 Piper Verlag GmbH, München Umschlaggestaltung: semper smile, München Umschlagabbildung: June / Getty Images
Als das Gefühl der Einsamkeit auf seinem Zimmer unerträglich wurde, beschloss er in die Bar hinunterzugehen.
Im Flur begegnete er einem Zimmermädchen, das einen mit Handtüchern beladenen Wagen schob. Sie schenkte ihm im Vorbeigehen ein kleines Lächeln, und er lächelte zurück, denn inzwischen hatte er begriffen: Ihr Lächeln bedeutete keineswegs, dass sie mit ihm reden wollte, es war die Art, wie das Personal dieses Hotels die Gäste grüßte.
Es war ein sehr großes Hotel mit mehreren Bars, aber er fand schnell die passende. Weit vom Eingang entfernt, am Ende eines Flurs, ähnelte sie einem kleinen Salon – ein paar Sessel in sanftem Halbschatten, Licht hinter dem Tresen, wo ein junger Kablunak Getränke zubereitete, und sehr wenige Besucher zu dieser späten Stunde.
Sobald er sich hingesetzt hatte, fühlte er sich besser.
»Was wünschen Sie, Monsieur?«
Ein anderer junger Kablunak in weißem Sakko blickte ihn lächelnd an.
»Könnte ich bitte die Karte bekommen?«
»Aber selbstverständlich, Monsieur.«
Als die Karte aufgeschlagen vor ihm lag, sagte er sich, dass er die Situation gut gemeistert hatte; er hatte die richtige Antwort gegeben und durfte sich nun am Ergebnis dieser kleinen Transaktion erfreuen: eine Liste mit Getränken, die man in aller Ruhe durchgehen konnte. Gerade dieses Gefühl, etwas gut hinbekommen zu haben, hatte ihm gefehlt, seit er sein Land verlassen hatte.
Ein paar Tische weiter diskutierten drei Japaner miteinander und warfen ihm bisweilen einen Blick zu. Er hatte bemerkt, dass ihn die Kablunak manchmal für einen Japaner hielten, aber die Japaner selbst machten diesen Fehler nie; sie erkannten sofort, dass er keiner von ihnen war. Mal ganz davon abgesehen, dass blaue Augen bei Japanern selten waren; allerdings bei seinem eigenen Volk auch.
Zwei junge Frauen saßen auf hohen Barhockern und sprachen miteinander. Ihm fielen ihre nackten Arme auf, die Ohrringe, die glänzenden Haare. Sie wirkten ganz ungezwungen und mit sich selbst zufrieden. Vielleicht warteten sie auf ihre Partner? Manche Frauen hier in Paris waren sehr hübsch, aber er wusste überhaupt nicht, wie er sie ansprechen sollte. Außerdem konnte man niemals wissen, ob sie noch frei waren oder bereits einem Mann gehörten. In seinem Land war es gar nicht möglich, sich darüber zu täuschen.
Jetzt fühlte er sich viel besser als auf seinem Zimmer. Endlich war er nicht mehr allein, auch wenn er es nicht wagte, die jungen Frauen oder die Japaner anzusprechen. Seit seiner Ankunft in der großen Stadt der Kablunak hatte er sich allmählich daran gewöhnt, jeden Tag Leuten über den Weg zu laufen, die er nicht kannte, aber es schien ihm noch zu schwierig, das Wort an jemanden zu richten, dem er nicht vorgestellt worden war. Bei all diesen Begegnungen, die Marie-Alix für ihn organisiert hatte, hatte er in drei Tagen mehr Menschen kennengelernt als während seines ganzen bisherigen Lebens in seiner Heimat. Andererseits: Was die Kablunak »jemanden kennen« nannten, hieß einfach nur, dass man sich an sein Gesicht und seinen Namen erinnerte, während es für ihn bedeutete, dass man über Jahre hinweg mitbekam, wie jemand lebte, in guten Zeiten wie in schlechten.
Er schaute wieder auf die Karte und unternahm einen Versuch, sich für die »Cocktails ohne Alkohol« zu interessieren, aber er merkte bald, dass es nicht klappte. Sein Blick schweifte dauernd zu der Liste auf der anderen Seite ab. Die Erinnerung daran, wie es sich anfühlte, wenn man Alkohol getrunken hatte, strömte ihm seit seiner Ankunft in diesem Land durch die Adern. Es hatte beim Begrüßungscocktail in der Botschaft begonnen, und sein Körper wollte diese Leichtigkeit von Neuem spüren.
Manhattan. Eine Gegend, die er nicht kannte.
Blue Lagoon. Eine solche würde er jetzt gern betrachten.
Bloody Mary. Ob man in diesen Cocktail wirklich Blut gab?
White Lady. Ein Getränk, das nur für Kablunak-Frauen bestimmt war?
Polar Bear.
Sein Blick stockte. Die Wörter verschwammen ihm vor den Augen, und sehr sanft begann sich die Bar um ihn zu drehen.
Polar Bear. Eisbär. Der Große Nanook mit den schwarzen Lefzen.
Da erinnerte er sich. Die Fahrt über den Schnee, das Gebell der Hunde, der Wind. Und natürlich Navaranava.
Als die Stunde der Abreise herangerückt war und das kleine Flugzeug der Erdölförderstation seinen Motor warmlaufen ließ, hatte Navaranava es geschafft, der väterlichen Aufsicht zu entfliehen, um ihn noch einmal zu sehen.
»Wann kommst du wieder?«, hatte sie gefragt, noch ganz außer Atem vom Laufen.
»Bald.«
»Und ich, ich bleibe hier allein.«
»Ein Teil von mir wird dich nicht verlassen.«
Sie hatte gelächelt, und er fühlte sein Herz in der Brust springen wie jedes Mal, wenn sie ihn anlächelte.
»Triff nicht zu viele Kablunak-Frauen«, sagte sie.
»Sie können sich mit meiner Navaranava nicht vergleichen.«
Sie lächelte noch einmal, aber ihm war nicht entgangen, wie sich in ihren Augen Tränen geformt hatten.
Der Pilot war aus der Kabine geklettert und hatte ein Zeichen gemacht, dass es Zeit war aufzubrechen.
»Ich gehe fort, um dich wiederzufinden«, hatte er Navaranava noch gesagt.
Dann hatten sie Geschrei gehört. Bei den Iglus stand eine kleine Gruppe von Frauen, die bemerkt hatten, wo Navaranava war, und nun bekundeten sie ihr Missfallen. Seit sie nicht mehr verlobt waren, war es ihnen verboten, sich unter vier Augen zu treffen.
»Mein Geliebter«, hatte sie gesagt.
Sie hatten sich für einen kurzen Moment umarmt, und dann war jeder in seine Richtung davongegangen, er zu dem kleinen Flugzeug mit Kufen, das gleich darauf über den Schnee dahinglitt, sie zu den Iglus, wo der Vater schon verärgert wartete.
Während das Flugzeug an Höhe gewann, hatte er ein letztes Mal ihre schlanke Silhouette erkennen können, die sich gegen die glitzernde Schneefläche abhob. Dann war die Maschine abgedreht, und er hatte das Dorf aus dem Blickfeld verloren.
Navaranava. Navaranava.
Was machst du in diesem Augenblick?, dachte er und schaute melancholisch auf den Kellner, der ihm ein Glas brachte, in dem Eiswürfel klirrten.
Sie war ihm versprochen gewesen. Sie kannten sich, seit sie geboren war und er ein kleiner Junge. Als sie zu laufen begann, führte er sie über den Schnee spazieren, und ihre Mütter blickten lächelnd auf die beiden kleinen Gestalten, die einander an der Hand hielten. »Schaut nur, wie gut sich unser kleiner Ulik und unsere niedliche Navaranava verstehen! Wir werden sie einmal miteinander verheiraten.« Denn im Land der Inuit werden die Ehen oft schon ausgemacht, wenn man noch ein Kind ist, und so weiß jeder, welches Mädchen oder welcher Junge einem zugedacht ist, was Zweifel und unnütze Rivalitäten erspart.
Als er die beiden jungen Frauen beobachtete, die an der Bar noch immer miteinander sprachen, ahnte er, dass im Land der Kablunak andere Bräuche herrschten. In Paris schien man sich den Frauen nähern zu können, ohne den Zorn eines Vaters auf sich zu ziehen oder die Eifersucht eines Mannes zu wecken. Waren die Kablunak-Männer denn nicht mehr eifersüchtig? Vielleicht sollte er mit den beiden Schönen darüber reden. Es war ihm aufgefallen, dass die Frauen, denen er in diesem Land begegnete, ihm oft kurze Blicke zuwarfen. Hieß das, dass er ihnen gefiel? Aber die Erinnerung an Navaranava rief ihn zur Ordnung. Warum musste er jetzt so alleine hier sitzen, warum war er nicht bei seiner Geliebten geblieben? Er trank den ersten Schluck Polar Bear und dachte dabei an all die Katastrophen, die ihn von Navaranava getrennt hatten.
Das Unglück hatte damit begonnen, dass er noch als kleines Kind zum Waisenjungen geworden war. Eines Tages war sein Vater zur Jagd auf den Gletscher gegangen, und andere Jäger hatten gesehen, wie er mit seinem Schlitten in einer unter dem Schnee verborgenen Spalte versunken war. Sie waren ihm sofort zu Hilfe gekommen, aber die Gletscherspalte war so finster und tief gewesen, dass sie ihn nicht mehr hatten sehen können und keine Rettung möglich gewesen war. Kein Schrei hatte auf ihre Rufe geantwortet, nichts als ein schwaches Gewinsel der Hunde war aus der Dunkelheit emporgestiegen, und niemand hatte gewagt, in einen solchen Abgrund hinabzusteigen. Und dann hatten die Hunde einer nach dem andern zu winseln aufgehört.
Als seine Mutter die Nachricht erfuhr, überfiel sie eine tiefe Verzweiflung. Er sah sie den ganzen Tag reglos und mit starrem Blick im Iglu sitzen; nur manchmal ging sie hinaus ans Ufer, und dort, allein mit dem Getöse von Meer und Winden, stieß sie ein langgezogenes Schluchzen aus.
Eines Tages war seine Mutter nicht zurückgekommen. Das ganze Dorf hatte sich auf die Suche nach ihr gemacht, aber keiner sollte sie jemals wiedersehen. War sie zu weit gegangen und ins Meer geraten? War sie einem Bären zur leichten Beute geworden? Man hatte tatsächlich Bärenspuren gefunden, aber keine Spur von seiner Mutter.
Der Eisbär. Er bestellte bei dem freundlichen Kellner einen zweiten Polar Bear. Die Japaner waren gegangen. Die beiden jungen Frauen erhoben sich graziös von ihren Barhockern und gingen fort, ohne ihm noch einen Blick zuzuwerfen. Wieder war er allein.
Ein Waisenkind hatte es im Land der Inuit nicht gerade leicht. Da er keinen großen Bruder hatte, der sich um ihn hätte kümmern können, war er von seinem Onkel mütterlicherseits adoptiert worden. Aber wie jedes Waisenkind hatte er nur das bekommen, was sonst niemand wollte. Und im steinernen Iglu hatte er den Platz neben dem Eingang gehabt, dort, wo es am kältesten war. So ist das Leben der Waisen im Land der Inuit, und viele sterben bald nach ihren Eltern. Er aber hatte überlebt.
Auf dem Grunde seines Glases stießen zwei Eiswürfel aneinander. Eine Woge von Heimweh kam über ihn. Vielleicht trug dieses Eis ein wenig vom Geist des Nordens in sich? Auf seiner Insel konnte er die Gegenwart der Geister immerfort spüren, in einem Felsen, einem Tier, im Pfeifen des Windes oder einer Färbung des Himmels. Die Geister bewohnten seine Welt, und selbst auf einem einsamen Jagdzug begegnete er ihnen ständig, er war niemals allein. Aber hier, in diesen Polstersesseln, dieser Bar, ja selbst in den Tauben, die er draußen gesehen hatte, war es unmöglich, auch nur die geringste Präsenz eines Geistes zu spüren. Zunächst hatte er geglaubt, es handele sich um Kablunak-Geister, und für einen Inuk wie ihn sei es schwierig, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Dann jedoch hatte er bemerkt, dass auch die Kablunak in keinem dieser Dinge einen Geist spürten.
Die Eiswürfel waren geschmolzen. Der Kellner erschien mit einem neuen Glas, und Ulik sagte sich, dass es sein Schicksal war, von den Kablunak gerettet zu werden.
Zu jener Zeit, als seine Eltern verschwunden waren, hatte man unweit des Lagers eine Wetterstation eingerichtet. Getrieben von Hunger und dem Bedürfnis, geliebt zu werden, war er eines Tages zu der Station gegangen. Die großen Kablunak waren gerührt von dem kleinen Eskimowaisen und hatten ihn eingeladen, das Essen mit ihnen zu teilen. Er war jeden Tag wiedergekommen, und der Capitaine Tremblay hatte sich daran gemacht, ihm seine Sprache beizubringen, indem er ihm La Fontaines Fabeln erzählte und ihn sie dann auswendig lernen ließ.
Ulik war groß und stark geworden, aber was nützte es ihm, wenn er doch von seiner Geliebten getrennt worden war? Ohne dass es jemand offen ausgesprochen hätte, hatte er doch bemerkt, dass ihn niemand mehr als den künftigen Ehemann von Navaranava betrachtete.
Als Waisenkind war er keiner Gruppe von Jägern mehr zugehörig. Und er war zum Freund der Kablunak geworden. Auch wenn die Wetterstation wieder geschlossen hatte und die Wissenschaftler abgereist waren, diese Verbindung unterschied ihn in den Augen seines Stammes von allen anderen.
Er hatte den Großen Nanook beleidigt und brachte den Stamm damit in Gefahr, die schlimmste aller Verwünschungen auf sich zu ziehen: jene, kein jagdbares Wild mehr zu finden.
Am Ende war es ihm nicht mehr gelungen, Navaranava allein zu treffen. Sie musste den Weisungen ihres Vaters gehorchen. Aber immer noch warf sie ihm Blicke zu, die voll von Zärtlichkeit waren.
Sie hatten beide verstanden, dass der Häuptling des Stammes jetzt Kuristivocq als künftigen Schwiegersohn vorgesehen hatte. Kuristivocq war ein bisschen älter, er hatte bereits eine Gattin, aber er war ein hervorragender Jäger, und vielleicht würde er eines Tages auch Stammeshäuptling werden, obwohl ihn viele zu angeberisch fanden.
Aber als die Kablunak dann auf der Suche nach Erdöl in die Gegend gekommen waren und ihr großer Stützpunkt sich wie eine Krankheit der Landschaft auszubreiten begann, als ein kleiner Bärtiger, der sich um das Volk der Inuit sorgte, den Stamm auf die Liste des Weltkulturerbes setzen ließ und dem Häuptling vorschlug, einen Stammesangehörigen als Botschafter ins Land der Kablunak zu entsenden, da hatte Ulik die Chance, seine letzte Chance, beim Schopf gepackt. Er würde nur dann einwilligen, als Botschafter fortzugehen, hatte er gesagt, wenn Navaranava ihm versprochen bliebe. Der Häuptling hatte überlegt, gelächelt und dann erklärt, dass man sich die Angelegenheit nach Uliks Rückkehr noch einmal vornehmen würde. Und so war er ins Land der Kablunak geflogen, ganz wie eine Weissagung es prophezeit hatte: Er wird von einem großen Vogel mit hohlem Herzen ins Land der Weißen davongetragen werden, er wird ihre Städte kennenlernen und ihre Häuser, die so hoch sind wie Berge, er wird viele Male die Liebe der Kablunak-Frauen erfahren, und er wird, stets an der Heimkehr gehindert, durch ferne Länder irren, das Herz schwer von Sehnsucht, denn so lautet der Wille des Großen Nanook, den er beleidigt hat, und auch der Wille der tausendmal zahlreicheren Kablunak, die das Volk der Inuit ehren wollen.
Nach dem dritten Polar Bear begann Ulik sich viel besser zu fühlen. Es war, als ob der Geist des Großen Nanook ihn wieder liebte. Warum sollte er nicht ein viertes Glas nehmen?
Er war noch immer allein, vom Barmann und vom Kellner einmal abgesehen. Die beiden guckten zu ihm hinüber und tuschelten.
Er schämte sich ein bisschen. Ein Teil von ihm wusste, dass der Alkohol, diese Erfindung der Kablunak, einen in Worten und Bewegungen so ungeschickt machen konnte wie ein kleines Kind. Er erinnerte sich an den Abend in der Botschaft und an die mitleidigen Blicke der Leute, als eine dicke Frau, die offenkundig zu viel Aperitif getrunken hatte, viel zu laut lachte und dann beim Versuch, sich hinzusetzen, vom Stuhl kippte. Er wollte nicht diese Art von Mitleid im Blick jener beiden Kablunak verspüren, er war ein stolzer Inuk, und nur Kinder und Frauen durften Mitleid erwecken, ohne ihre Ehre zu beschädigen. Er stand auf, und der Fußboden kam ihm plötzlich vor wie Packeis, wenn es taut und einem die großen Eisschollen unter den Füßen hin und her tanzen. Aber genau darin war er ja geübt, und so schaffte er es bis an die Bar.
»Haben Sie noch einen Wunsch, Monsieur?«
Er wollte antworten, aber es dauerte eine Weile, bis sich die Worte gebildet hatten.
»Nein … Ich werde schlafen gehen.«
»Dann gute Nacht, Monsieur.«
»Ich fühle mich ziemlich allein.«
Der Satz war einfach so herausgerutscht, er hatte gar nicht die Absicht gehabt, ihn auszusprechen. Ulik sah, wie der Barmann und der Kellner einen Moment innehielten. Sie schauten einander an, und dann wandte sich der Barkeeper wieder ihm zu.
»Würden Sie gern Gesellschaft haben, Monsieur?«
»Ja, aber ich weiß, dass es schon sehr spät ist.«
»Es ist niemals zu spät, Monsieur. Sie können auf Ihr Zimmer gehen.«
Plötzlich wurde Ulik bewusst, dass er sein Zimmer niemals wiederfinden würde. Er war es gewohnt, sich im Freien zu orientieren, in der Natur, aber seit er in Paris war, hatte er bemerkt, dass er sich total verloren fühlte, wenn er von einer Etage in eine andere musste, vor allem, wenn sie alle gleich aussahen, und dass es hier weder Himmel noch Wind, noch irgendeinen anderen seiner üblichen Bezugspunkte gab. Und wieder schämte er sich.
»Ich befürchte, dass ich es nicht wiederfinde.«
»Pardon?«
»Mein Zimmer. Ich fürchte, ich finde es nicht wieder.«
Der Barmann lächelte kaum merklich.
»Kein Problem, Monsieur. Jean-Marc wird Sie begleiten.«
Später im Fahrstuhl (wie soll man sich zurechtfinden, wenn man nicht einmal den zurückgelegten Weg sehen kann?) lächelte Jean-Marc ihm zu und fragte: »Bei Ihnen ist jetzt Polarnacht, nicht wahr?«
Ulik war immer überrascht, dass die Kablunak bisweilen etwas über das Land der Inuit zu wissen schienen, ohne jemals dort gewesen zu sein.
»Nein, sie ist schon zu Ende. Jetzt ist die Jahreszeit, in der man wieder mit der Jagd beginnt.«
Er hätte ihm gern von dem Augenblick erzählt, wenn nach drei Monaten Nacht zum ersten Mal wieder ein schmales Stückchen Sonne am Horizont auftaucht und der ganze Stamm zu beten beginnt, damit sie am nächsten Tag wiederkommt, aber da öffnete sich die Tür des Aufzugs bereits. Sie waren in seiner Etage angelangt, dann vor seiner Tür.
»Fühlen Sie sich gut, Monsieur?«
»Ja … Ja.«
»Machen Sie sich keine Sorgen, wir kümmern uns um Sie.«
»Danke, vielen Dank.«
Aber als er dann allein in seinem Zimmer stand, fühlte er sich sehr schlecht und von allen verlassen. Nur ein Rest Scham hinderte ihn daran, wieder auf den Flur zu treten und dem Kellner hinterherzurennen.
Benimm dich nicht wie ein Kind, dachte er. Du bist ein stolzer Inuk.
Er hatte immerhin nicht wenige Prüfungen zu bestehen gehabt. Aber jetzt fand er sich zum ersten Mal in seinem Leben allein in einem Zimmer wieder. Zum ersten Mal überhaupt hatte er niemanden um sich, denn im Volk der Inuit war man niemals allein.
Im Iglu sitzt man mit den Seinen. Auf der Jagd ist man meistens mit seiner Truppe zusammen, für einen allein wäre es zu gefährlich. Manchmal geht man vielleicht allein los, um die Fallen wieder richtig aufzustellen, aber niemals weit und immer mit den Hunden. Man kommt zurück, wenn man es selbst beschließt, und so dauert die Einsamkeit eben nur so lange, wie man es möchte. Niemand würde Sie je allein lassen, es sei denn, Sie hätten einen großen Fehler begangen. Dann lässt man Sie links liegen, niemand spricht mehr mit Ihnen, und Sie müssen sich einem anderen Stamm anschließen, oder aber Sie ziehen sich allein in die kalten Weiten zurück und werden ein inivoq, ein Verdammter, der nicht mehr lange zu leben hat.
Er appellierte an seine ganze inuha, seine Vernunft, und sagte sich, dass Einsamkeit bei den Kablunak keine Bestrafung war. Er hatte nichts Schlimmes getan. Für sie war es ebenso natürlich, allein in einem Zimmer zu sein, wie es für ihn natürlich war, mit den Seinen im warmen Iglu zu hocken. Keiner der Kablunak hätte dem Leben im Norden, wie er es kannte, standhalten können, aber die Einsamkeit schienen sie gezähmt zu haben.
Er versuchte an Navaranava zu denken, für die er all dies ertrug. Aber es gelang ihm nicht, die Erinnerung an sie zu wecken, ganz als würde sich der Geist seiner Verlobten weigern, in das fremdartige Dekor dieses Zimmers zu kommen.
Nur eine Person hätte ihm helfen können, sich weniger einsam zu fühlen – Marie-Alix. Er kannte sie erst seit drei Tagen, sie war von der Organisation aller Länder auf der Welt dazu bestimmt worden, ihn zu begleiten. Marie-Alix war eine groß gewachsene Kablunak-Frau mit hübschen blauen Augen, die eine reizende Art hatte, kurz aufzulachen. Vielleicht würde sie ihn verstehen?
Aber war es nicht schon ziemlich spät für einen Anruf? Egal, er hielt es nicht mehr aus.
Ein paar lange Klingelzeichen und schließlich ihre Stimme, zunächst schläfrig und dann sofort beunruhigt.
»Ulik! Ist alles in Ordnung?«
Er brachte es nicht übers Herz, ihr seine Schwäche einzugestehen, sie zu beunruhigen, sie noch länger zu stören.
»Alles in Ordnung.«
»Sicher?«
»Jaja.«
Einen Moment lang sagte niemand etwas. Wahrscheinlich schaute sie auf ihre Uhr, aber sie ließ es sich nicht anmerken. War sie allein? Vor Uliks Augen blitzte das Bild ihrer nackten Schultern auf und einer Haarsträhne, die ihr über die Wange fiel.
»Möchten Sie mich etwas fragen?«
»Nein, nein.«
»Wenn etwas nicht in Ordnung wäre, würden Sie es mir sagen, nicht wahr?«
»Auf jeden Fall.«
»Ich hole Sie morgen früh um acht Uhr ab, wie wir es besprochen haben, ja?«
»Aber natürlich. Schlafen Sie gut, Marie-Alix.«
»Sie auch, Ulik.«
Und von Neuem war er allein in diesem so fremden Zimmer.
Er knipste alle Lampen aus und legte sich aufs Bett. Im Dunkeln konnte er davon träumen, woanders zu sein, weit fort von hier, im Land der Inuit.
Während er daran dachte, wie der Wind über den Schnee pfiff, und dabei einzuschlafen versuchte, klopfte jemand an die Tür.
Welch eine Überraschung: Es war eine der beiden jungen Frauen, die vorhin an der Bar miteinander geredet hatten.
»Guten Abend. Sieht so aus, als wünschten Sie sich Gesellschaft?«
Die junge Frau war sehr nett gewesen, auch wenn Ulik nicht gleich begriffen hatte, worauf sie spezialisiert war. Dies war eine der Schwierigkeiten, auf die er hier ständig stieß: Jeder war auf etwas spezialisiert – war Kellner, Arzt, Botschafter, Barmann. Bei ihm zu Hause war es einfacher: Alle Männer waren Jäger, und Punkt. Und alle Frauen kümmerten sich um die Iglus, kauten die Häute weich, nähten sie zusammen und zogen die Kinder groß. Sicher kam es auch vor, dass sie mit Keschern Lummen fingen, aber als richtige Jagd konnte man das ja nicht bezeichnen.
Die Gesellschaft der Kablunak mochte vielleicht arm an Geistern sein, aber sie war reich an Spezialisierungen. Er erinnerte sich an das Wort »Spiritualität«. Reich an Spezialität, arm an Spiritualität. Er freute sich, so eine schöne Formulierung gefunden zu haben.
Seine Gedanken kehrten zurück zu der jungen Frau, die eben fortgegangen war. Er spürte, wie er rot wurde. Es war das erste Mal, dass er bei voller Beleuchtung eine Frau geliebt hatte und nicht wie zu Hause in der Finsternis unter einer Felldecke, geräuschlos, während die anderen schliefen.
Er erinnerte sich an bestimmte Gesten der jungen Frau, und von Neuem erfassten ihn Erregung und Scham zugleich. Sie hatte ihm sehr unzüchtige Komplimente gemacht und gesagt, er sei der beste Liebhaber von allen Japanern gewesen, die sie bisher kennengelernt hatte.
Also hatte er ihr erklärt, woher er stammte. Sie hatte überrascht gewirkt und dann ein bisschen verlegen, als er ihr enthüllt hatte, dass er zum ersten Mal mit einer Kablunak-Frau zusammen war.
»Na ja, ich hoffe, du wirst es in guter Erinnerung behalten«, sagte sie lachend. »Das erste Mal ist immer wichtig …«
Sie hieß Jacinthe, was der Name einer Blume war, die er niemals gesehen hatte.
Dann hatte sie gefragt, ob er sie selber bezahlen würde.
Einen Augenblick lang war er völlig verblüfft, aber dann erinnerte er sich sehr vage: Die alte Anakanaluka hatte ihm von dieser Art Handel berichtet. Wenn früher die Walfänger der Kablunak einmal im Jahr in ihren großen Schiffen, deren Segel wie Flügel flatterten, vorbeigekommen waren, waren manche Inuit-Frauen an Bord gegangen und danach hochzufrieden zurückgekommen, mit Halstüchern, Messern und sogar mit kleinen Glasperlen. Ihre Männer ließen es zu, dass sie die Schiffe besuchten, weil man auf diese Art Gegenstände bekommen konnte, die für den Stamm nützlich waren, und außerdem blieben die Walfänger ja auch niemals lange. Aber manchmal entstanden aus diesen Begegnungen Babys, und das erklärt, weshalb – mehr als ein Jahrhundert später – Ulik, der Inuk, blaue Augen hatte.
Auch wenn er begriff, was Jacinthe wollte, fühlte er sich sehr verlegen.
»Du hast nicht verstanden, wer ich bin, stimmt’s?«, fragte sie ihn.
»Nein, nein, ich glaube, ich habe verstanden, aber …«
»Hast du kein Geld?«
Er hatte wirklich kein Geld bei sich, die Organisation aller Länder auf der Welt übernahm alle Kosten.
»Hör mal«, meinte sie, »ich hätte es dir vorher sagen sollen, aber ich dachte, das wäre alles mehr oder weniger arrangiert. Kann ein anderer für dich bezahlen?«
Obwohl er die hiesigen Gebräuche noch nicht kannte, fühlte er, dass es unpassend gewesen wäre, mit seinen Gastgebern von der Organisation aller Länder auf der Welt über diese Begegnung zu sprechen. Besonders mit Marie-Alix sollte er es nicht tun, selbst wenn sie stets um sein Wohlergehen besorgt schien.
»Ich weiß nicht, ob …«
Plötzlich richtete sich sein Blick auf den großen Überseekoffer.
Er hatte Geschenke mitgebracht für die Menschen, denen er bei seinem Aufenthalt begegnen würde, für all die Kablunak-Anführer mit den verschiedenen Spezialisierungen, zum Beispiel für den Botschafter von gestern Abend.
Er öffnete den Koffer und betrachtete den Inhalt. Mehrere Tierplastiken aus Walross-Elfenbein oder Narwalzähnen, Mützen aus Polarfuchspelz, drei Paar Stiefel aus Robbenleder und Eisbärenfell.
»Such dir etwas aus«, sagte er.
Sie kam behutsam näher und streckte ihre hübsche Nase wie ein kleiner neugieriger Fuchs vor. In diesem Augenblick konnte er den Geist des kleinen Mädchens sehen, das noch in ihr lebte.
Er saß auf einem kleinen Sofa im Büro von Marie-Alix und wartete darauf, dass sie ihre Arbeiten erledigt hatte und ihn ins Hotel zurückbringen konnte. Er beobachtete sie, während sie Akten durchsah und gleichzeitig kurze Telefongespräche führte. Es beeindruckte ihn, wie sie in so vielen Bereichen, die für ihn geheimnisvoll waren, derart rasch entscheiden konnte.
»… nein, es ist nicht gut genug ausgearbeitet. Da muss er noch mal drübergehen vor der Präsentation … Es kommt überhaupt nicht in Frage, dass sich die Kommission für ihre Vergnügungen aus dem Topf unserer Betriebsausgaben bedient! Sollen sie sich doch Sponsoren suchen! … Ja, wir sind einverstanden mit der Partnerschaft, aber es muss noch mal der Kommission vorgelegt werden …«
Von Zeit zu Zeit hörte man es an die Tür klopfen, und einer der beiden jungen Kablunak, die im Nachbarbüro arbeiteten, trat ein und fragte Marie-Alix nach ihrer Meinung zu einem anderen geheimnisvollen Thema. Aus der Art und Weise, wie Marie-Alix mit ihnen sprach, konnte man klar erkennen, dass sie der Häuptling war, und Ulik war jedes Mal erstaunt, wie eine Frau zwei jungen kräftigen Männern, von denen zumindest einer ein guter Jäger hätte sein können, Anweisungen erteilte.
»Ulik, ich brauche bloß noch fünf Minuten, dann können wir los.«
Er dachte, dass es für ihn ein großes Glück war, solch eine Begleiterin zu haben. Marie-Alix hatte schöne hellblaue Augen, und obwohl sie schon über vierzig war, was im Land der Inuit für eine Frau ziemlich alt ist, ähnelte sie noch einer jungen Frau. Eine Sache an ihr irritierte Ulik dennoch ein bisschen: Zum ersten Mal hatte er eine Frau um sich, die größer war als er. Dabei war er es doch gewohnt, in seinem Stamm alle zu überragen. Alles an Marie-Alix fand er ein bisschen fremdartig und ziemlich wunderbar: ihre Haare, ihre rosige Haut, ihre zarten und sanften Hände und ihr kurzes, gedämpftes Auflachen. Er wusste, dass sie einen kleinen Sohn von zehn Jahren und eine siebzehnjährige Tochter hatte und dass ihr Mann nicht bei der Familie lebte. (Aber wo war er hin? Das hatte er nicht verstanden.) Man hatte sie zu seiner Betreuerin ausgewählt, weil sie als Spezialistin für die Inuit galt. Sie hatte ihm erzählt, dass sie mehrmals bei den Uktu am Black River gewesen war und auch im Land der Yupik und sogar bei den Tschuk, welche die Leute häufig mit den Inuit verwechseln, was sehr bedauerlich ist.
Sie hatten den Tag gemeinsam verbracht. Begegnungen mit diversen Offiziellen, Mittagessen mit zwei anderen Spezialisten für die Inuit-Zivilisation, dann Empfang im Salon eines großen Palastes, wo sich Ulik eine Menge Begrüßungsreden anhören und schließlich auch selbst sprechen musste.
Als Einstieg hatte er La Fontaines Fabel von der Stadtmaus und der Feldmaus gewählt, und alle waren bezaubert und zugleich überrascht gewesen, dass ein Inuk so gut ihre Sprache beherrschte.
»Mein lieber Ulik«, hatte Marie-Alix gesagt, als der Champagner serviert wurde, »Sie sind der allerbeste Botschafter!«
Er hatte nicht zuzugeben gewagt, dass er sich nur freiwillig gemeldet hatte, um vielleicht Navaranava wiederzugewinnen. Andererseits war er jetzt tatsächlich Botschafter geworden, und so sah er es als seine Pflicht an, seinen Stamm gut zu repräsentieren.
Auf Marie-Alix’ Schreibtisch klingelte von Neuem das Telefon.
»Charles? … Nein, ich hatte bereits eingeplant, dieses Wochenende mit ihnen zusammen zu sein … Weißt du, es ist mindestens schon das dritte Mal, dass du im letzten Augenblick die Wochenenden tauschen willst …«
Er begriff, dass sie mit ihrem Mann sprach und dass sie sich darüber stritten, bei welchem Elternteil die Kinder das Wochenende verbringen sollten. Anscheinend durfte es nicht sein, dass sie ihr Wochenende mit Vater und Mutter gemeinsam zubrachten? War das bei den Kablunak ein Tabu, so wie man bei den Inuit niemals die Namen der Toten aussprechen durfte?
»So ein Idiot!«, schrie Marie-Alix in Richtung eines Autofahrers, der ihr die Vorfahrt genommen hatte. Für einen Augenblick überzog die Maske des Zorns ihr hübsches Gesicht.
Sie hatte Ulik angeboten, ihn ins Hotel zurückzubringen, und so saß er an ihrer Seite, während sie ihren kleinen Wagen durch den chaotischen Pariser Feierabendverkehr steuerte. Ihr Geschick beeindruckte ihn, aber natürlich ließ er sich das nicht anmerken, denn Erstaunen zu zeigen, schien ihm mit der Würde eines stolzen Inuk unvereinbar. Und dann hatte er in der Umgebung der Erdölbasis ja schon Motorschlitten gesehen, und ein Auto war gewissermaßen nur eine Variation davon. Im Übrigen hielten die Sitten der Kablunak für ihn viel tiefgreifendere Überraschungen bereit als ihre Maschinen.
Der große Wagen, den Marie-Alix erfolgreich überholt hatte, zog eine Weile später wieder an ihnen vorüber und hielt plötzlich vor ihnen an. Marie-Alix wollte ausscheren, aber das war unmöglich: Sie steckten im Stau. Die Tür des dicken Schlittens öffnete sich, und ein ebenso dicker Mann stieg aus. Er begann zu brüllen: »Verdammt, was glaubst du, wer du bist? Also wirklich, was die hier für einen Stil zusammenfährt!«
Ulik fragte Marie-Alix, ob sie diesen Mann, der »du« zu ihr sagte, kannte.
»Natürlich nicht. Mist, jetzt reicht’s mir aber!«
Der Mann stand inzwischen ganz nahe an ihrer Tür und stieß Wörter aus, die Ulik Beschimpfungen zu sein schienen; auf jeden Fall hatte er bei La Fontaine oder den übrigen Autoren seiner Kindheit keines dieser Wörter je gelesen. Hinter ihnen begannen die anderen Autos zu hupen.
»Man muss ihn stoppen«, sagte er.
»Bleiben Sie sitzen, Ulik, das bringt nichts.«
Aber man konnte doch unmöglich zuschauen, wie dieser Mann eine Frau beleidigte; so etwas wäre ein schwerer Fall von Schande gewesen. Ulik stieg aus dem Wagen.
Für einen Inuk war Ulik hochgewachsen, also mittelgroß und eher schlank, auch wenn seine Schultern auffällig breit waren.
»Ah, und du Schlitzauge da, du verziehst dich mal lieber«, sagte der Mann. »Dich wisch ich doch mit links auf die Bretter!«
Da hatte er sich getäuscht.
Als sich Ulik wieder neben Marie-Alix setzte, schien sie stumm geworden zu sein. Sie sahen, wie sich der Mann aufrappelte, zum Auto taumelte und, von einem Hupkonzert ausgebuht, den Motor anließ.
»Mein Gott«, sagte sie, »wenn Ihnen was passiert wäre …«
Und dann meinte sie beinahe fröhlich: »Donnerwetter, dem haben Sie’s aber gezeigt!«
Aber sogleich fuhr sie in ernstem Ton fort: »Ulik, so etwas dürfen Sie nie wieder tun. Vor allem dürfen Sie sich hier niemals schlagen!«
»Auch nicht, um eine Frau zu verteidigen?«
»Oh, aber ich war ja nicht gefährdet, ich habe doch eine Zentralverriegelung.«
Aber ihre Ehre, dachte Ulik, ihre Ehre und seine? Wirklich, er hatte noch eine Menge zu lernen über das Leben im Land der Kablunak.
Als der Wagen vor dem Hoteleingang hielt, drehte sich Marie-Alix zu Ulik hin.
»Schön, morgen früh komme ich Sie wieder abholen.«
Er schaute auf den Hotelportier in seiner Livree, der sich dem Auto näherte, und dachte daran, dass sich die nächste einsame Nacht ankündigte.
»Ist irgendetwas nicht in Ordnung, Ulik?«
Sie hatte es erraten. Unter ihrem sanften Blick fühlte er sich plötzlich ganz nackt und bloß, wie ein kleines Kind, das nichts verbergen kann. Er hörte sich murmeln: »Nein, nein, alles in Ordnung.«
Sie glaubte ihm nicht.
»Stimmt im Hotel irgendetwas nicht?«
Er stammelte: »Ich … ich bin es nicht gewohnt … allein zu bleiben.«
Er sah, wie sich Marie-Alix’ Augen überrascht weiteten.
»Aber natürlich! Daran hätte ich doch denken müssen! In Ihrem Land sind Sie ja niemals allein.«
»Nein.«
»Haben Sie mich deshalb letzte Nacht angerufen?«
Er spürte, wie er rot wurde. Welche Schande, vor einer Frau sein Innenleben derart zu entblößen! Dann fing er sich wieder und erklärte ihr, dass diesen Abend alles gut gehen würde. (Vielleicht konnte er die junge Frau von letzter Nacht ja wieder herbeirufen lassen?) Aber Marie-Alix blieb skeptisch.
Ende der Leseprobe