Im Rampenlicht - Detlef Koch - E-Book

Im Rampenlicht E-Book

Detlef Koch

0,0

Beschreibung

Stendal 1925 Es ist eine wilde, ausschweifende Zeit. Die Goldenen Zwanziger Jahre machen auch vor der altmärkischen Kleinstadt nicht Halt. Wir lernen die junge Frau Eva kennen, die aus Liebeskummer ihre schöne, gutbezahlte Stellung im Berliner Wintergarten einfach hinwirft und bei ihrer Schwester in Stendal unterschlüpft. Minna ist Schauspielerin am Stendaler Stadttheater, wohnt möbliert und nimmt Eva liebend gern auf. Die Protagonistin Eva Maria Ruger ist ein Fräulein ihrer Zeit, ein Flapper Girl. Sie trägt Hosenanzüge, raucht, trinkt Alkohol und schminkt sich. Die neue Zeit bringt große Veränderungen mit sich. Das ist in der Mode und in der Musik so, aber natürlich auch in der Politik. Es schwelt der Kampf zwischen den Kommunisten und den Nationalsozialisten. Eva ist nach außen selbstbewusst, extravagant und provokant. Tief im Inneren aber hat sie eine schwere Last zu tragen, denn in ihrem Leben hat sie schlimme Schicksalsschläge zu verkraften gehabt. Sie ist psychisch sehr labil, zerrissen und unsicher. Statt in der kleinen Stadt zur Ruhe zu kommen, macht sie neue Herrenbekanntschaften, kommt mit ihrer alten Liebe Elfi wieder zusammen und gerät durch ihre Vermieterin plötzlich ans Theater. Mehr und mehr lernen wir das Leben am Stendaler Stadttheater kennen. Eva wird Schauspielerin. Von jetzt auf gleich beginnt sie eine ganz neue Karriere. Schafft sie den Sprung von der Tänzerin hin zu einer Darstellerin? Und welche Rolle spielt der junge Regisseur Peter von Angern in ihrem künftigen Leben?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 366

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Vorwort zum Buch

Erster Teil

1. Kapitel: Angekommen

2. Kapitel: Neuanfang

3. Kapitel: Sein oder Nichtsein

4. Kapitel: Schattenspiele

Zweiter Teil

1. Kapitel: Schritte

Kapitel 2: Metamorphose

3. Teil

1. Kapitel: Vorhang auf

2. Kapitel: Schlussakkord

Worterklärungen

Vorwort zum Buch

Stendal 1925 Es ist eine wilde, ausschweifende Zeit. Die Goldenen Zwanziger Jahre machen auch vor der altmärkischen Kleinstadt nicht Halt. Wir lernen die junge Frau Eva kennen, die aus Liebeskummer ihre schöne, gutbezahlte Stellung im Berliner Wintergarten einfach hinwirft und bei ihrer Schwester in Stendal unterschlüpft. Minna ist Schauspielerin am Stendaler Stadttheater, wohnt möbliert und nimmt Eva liebend gern auf.

Die Protagonistin Eva Maria Ruger ist ein Fräulein ihrer Zeit, ein Flapper Girl. Sie trägt Hosenanzüge, raucht, trinkt Alkohol und schminkt sich. Die neue Zeit bringt große Veränderungen mit sich. Das ist in der Mode und in der Musik so, aber natürlich auch in der Politik. Es schwelt der Kampf zwischen den Kommunisten und den Nationalsozialisten.

Eva ist nach außen selbstbewusst, extravagant und provokant. Tief im Inneren aber hat sie eine schwere Last zu tragen, denn in ihrem Leben hat sie schlimme Schicksalsschläge zu verkraften gehabt. Sie ist psychisch sehr labil, zerrissen und unsicher. Statt in der kleinen Stadt zur Ruhe zu kommen, macht sie neue Herrenbekanntschaften, kommt mit ihrer alten Liebe Elfi wieder zusammen und gerät durch ihre Vermieterin plötzlich ans Theater. Mehr und mehr lernen wir das Leben am Stendaler Stadttheater kennen. Eva wird Schauspielerin. Von jetzt auf gleich beginnt sie eine ganz neue Karriere. Schafft sie den Sprung von der Tänzerin hin zu einer Darstellerin? Und welche Rolle spielt der junge Regisseur Peter von Angern in ihrem künftigen Leben?

Mich hat diese unglaublich interessante Zeit der 1920er Jahre zu einem Roman inspiriert, der natürlich in meiner Heimatstadt Stendal spielt, der uns in diese Stadt während der großen Umwälzungen mitnimmt. Beim Schreiben war ich auf einmal mitten drin in dieser verrückten Zeit. Wir begegnen vielen verschiedenen Charakteren, sind in Geschäften und Cafés dieser Zeit zu Gast, erleben aufregende Abende im Konzerthaus Liebezeit und tauchen immer mehr ein in das Theaterleben der Stadt.

Die handelnden Personen sowie ihre Namen sind frei erfunden. Eine Ausnahme bildet Intendant Anton Ertl. Er war tatsächlich zu dieser Zeit Theaterdirektor.

Die Namen von Straßen, Geschäften, Restaurants und Örtlichkeiten sind real.

Die Angaben im Buch beruhen auf eigenen Recherchen sowie Erkenntnissen aus meiner eigenen umfangreichen Sammlung.

Erster Teil

Stendal im Mai 1925

1.Kapitel: Angekommen

Geschafft. Dem überfüllten Zug war sie entkommen. Den Lärm und das Gedränge in der Bahnhofshalle hatte sie nun auch hinter sich gelassen. Es war Freitagvormittag. Als Eva oben auf der großen Freitreppe des Empfangsgebäudes stand, ließ sie die große Reisetasche und den klobigen Koffer mit einem Stöhnen neben sich einfach fallen. So Hals über Kopf, wie sie nach Stendal aufgebrochen war, so hatte sie sich auch damals auf den Weg von hier nach Berlin gemacht.

Etwas missmutig schaute sie nach oben. Der Himmel über der Stadt hing voller grauer, dunkler Regenwolken. Was für ein passender Empfang? Gleich würde auch noch der Himmel anfangen, zu weinen. Aber ich heule jetzt nicht.

„Hallo, Stendal“, hauchte die junge Frau stattdessen wehmütig. "Das Abenteuer ist vorbei. Ich bin wieder da." Etwas zerknirscht nahm Eva den Bahnhofsvorplatz in Augenschein. Geradezu grüßte das Hotel Reichshof und hinten rechts befand sich das Hotel am Bahnhof. Dort hatte sie damals ein letztes Glas Wein mit Minna getrunken, bevor sie abenteuerlustig und tatendurstig in den nächsten Zug nach Berlin gestiegen war. Den Entschluss dazu hatte sie aus dem Bauch heraus gefasst. "Verdammt, ist jetzt über drei Jahre her." Nein, es war alles richtig so. Ich bereue nichts.

"Darf ich Ihnen behilflich sein?" Eva zuckte zusammen und schaute nach links. Sie sah in ein markantes Männergesicht. Der Fremde lüftete gutgelaunt seinen Hut und schmunzelte. "Habe ich Sie etwa erschreckt, Fräulein?" Sie musterte den Mann in Sekundenschnelle. Er war großgewachsen, denn obwohl sie ihre dunkelroten, hochhackigen Salamanderschuhe trug, musste sie aufschauen. Das passierte ihr äußerst selten. Einen hellbraunen Mantel, elegante, weinrote Krawatte, cremefarbenen Seidenschal, dunkelbraunen, teuren Anzug und einen frechen, schmalen Schnurrbart registrierte Eva. "Ich war eben in Gedanken. Nett von Ihnen. Ja, tatsächlich ist das Gepäck recht schwer, vielen Dank", antwortete sie etwas verlegen. "Es gibt also doch noch Kavaliere." Der Mann wirkte sympathisch. "Sie möchten wohl zu einem dieser grünen Vehikel drüben?" Er deutete auf die unten, etwas weiter hinten wartenden Pferdebahnen, vor die jeweils nur ein einziges Pferd gespannt war. Der Mann hatte eine sehr angenehme Stimme. "Hatte nicht erwartet, dass es diese alten Pferdeomnibusse noch gibt", meinte Eva und zwang sich ein Lächeln ab. Der Fremde klemmte sich seine eigene Tasche unter den Arm, bückte sich und schnappte sich Koffer und Reisetasche. "Hui, ist ja tatsächlich ordentlich Gewicht", meinte er lachend. "Tatsächlich sind diese Ungetüme ein wenig aus der Zeit gefallen, und doch haben sie schon wieder Charme." Eva setzte ein kokettes Lächeln auf. "Meinen Sie jetzt die Pferdebahnen oder mein Gepäck?", tat Eva etwas entrüstet. "Sie sind schlagfertig, Fräulein. Wunderbar."

Sie schritten gemeinsam die große Treppe hinunter und der Fremde plauderte ganz unbefangen von seiner wohl reichlich chaotischen Reise. Eva sagte ihm, dass sie die Bahn in Richtung Wüste Worth nehmen wollte. Daraufhin bugsierte er das Gepäck in den vorderen Wagen, zog seinen Hut und nahm ganz hinten in der Pferdebahn Platz. Eva hatte sich höflich bei ihm bedankt und sich dann eine Fahrmarke gezogen. Sie nahm gleich vorn im Wagen Platz.

Eva schloss die Augen. Ihre Gedanken flogen gleich wieder zurück nach Berlin zu ihrem überstürzten Abgang aus dem Wintergarten. Sie sah noch einmal die verdutzten Gesichter ihrer Kolleginnen, das genervte Gesicht von Hans, den tobenden Christian und wie ihr die Tränen dann plötzlich auf dem Garderobengang ins Gesicht schossen. Sie hatte alles hingeschmissen. Dann war ihr gestern die Idee mit Minna gekommen. Ihre Schwester war doch Schauspielerin hier in Stendal. Als endlich ein Telefongespräch zustande kam und Minna sie hellauf begeistert nach Stendal einlud, war die Entscheidung gefallen.

Die Glocke bimmelte aufdringlich und riss Eva aus ihren Gedanken. Der grüne Wagen ruckte an und dann begann ganz gemächlich die Omnibusfahrt. Der Kutscher vorn ließ seine Peitsche tanzen. Es rumpelte einmal heftig, als die erste Weiche und danach eine kleine Kurve kam, dann jedoch bummelte die Pferdebahn gemütlich los.

Stendal ist mir sehr vertraut. In dieser Stadt werde ich wieder zu mir selbst kommen, und Minna ist schließlich hier. Langweilig wird es ganz sicher nicht werden. Ich brauche nur ein wenig Abstand und Ruhe.

Alles links und rechts kam ihr wieder bekannt vor. Dort hinten würde die Bahn dann in die Frommhagenstraße abbiegen und danach kam dieser quadratische Platz, dessen Name Eva entfallen war.

Sie nickte dann urplötzlich ein. Schließlich war Eva heute Morgen schon sehr früh aufgewacht nach einer furchtbaren Nacht. Wieder reihten sich Bilder ungeordnet aneinander: der tränenreiche Abschied von Betty, ein triumphierendes, hämisches Gesicht von Claire, ein ungläubiger Hans und immer wieder das Gesicht von Harald. Harald. Bilder des Glücks mit ihm, Bilder der vermeintlich großen Liebe.

Erst das erneute Bimmeln des Kutschers ließ sie plötzlich aufschrecken. Noch ganz benommen, versuchte sich Eva draußen zu orientieren. Wo war sie jetzt? >Konzerthaus Liebezeit< registrierte sie eben noch, bevor die Bahn die Hallstraße weiter entlangzuckelte. Hinten schob sich schon das imposante Hauptpostamt in den Blick. Bin ja gleich am Marktplatz, dann ist es ja nicht mehr weit.

Bald verengte sich die Hallstraße, und die Bahn passierte erst das Speisehaus Krüger und danach die Grüne Laterne. Dann aber öffnete sich dem Blick der große Marktplatz mit seinem hübschen Rathaus und der sich dahinter majestätisch erhebenden Kirche Sankt Marien. Ganz rechts sah sie nun auch den edlen Roland, diese sehr imposante Sandsteinfigur, die dort schon seit Jahrhunderten wachte.

Nach einem Halt mitten auf dem Marktplatz bog die Bahn endlich quietschend in die Große Jüdenstraße ein. Ja, da stellten sich wieder Bilder aus ihrer Zeit mit Minna ein. Vorbei ging es an der Bäckerei Grasshoff und der Landschänke rechts sowie der Vereinsbank auf der linken Seite. Gleich würde die Bahn die Wüste Worth erreichen. Kurzes Bimmeln, und dann bog der Pferdeomnibus in eine scharfe Rechtskurve ein. Kurz darauf ertönte das vertraute Quietschen, und mit einem anschließendem kurzen Ruck hielt die Bahn genau am Stadttheater an.

Ein aufmerksamer, freundlicher Fahrgast brachte Evas Gepäck nach draußen und dann rumpelte die Pferdebahn davon. Die junge Frau streckte ihre Glieder und betrachtete aufmerksam das Stendaler Theater von der gegenüberliegenden Seite. Es war kein einzelnes Haus, sondern ein großer Komplex mehrerer Fachwerkbauten. Schön sah es nicht gerade aus. In über einem Jahr, das sie hier mit Minna in Stendal verbracht hatte, waren sie nicht einmal im Theater gewesen.

"Ich wusste doch gleich, das wir beide das gleiche Ziel haben." Sie hatte nicht bemerkt, dass der freundliche Mann vom Bahnhof mit ihr zusammen ausgestiegen war. Er stand nicht weit von ihr entfernt. Natürlich war er hinten aus der Bahn ausgestiegen und hatte nun Eva beobachtet. Langsam kam er ihr entgegen. "Ich denke, ich sollte mich Ihnen vorstellen. Mein Name ist Peter von Angern. Ich bin Autor und Regisseur." Er reichte Eva die Hand. "Angenehm, Eva Maria Ruger". "Fräulein Ruger, möchten Sie vielleicht drüben vorsprechen?" Sie schüttelte vehement den Kopf. "Nein, ganz bestimmt nicht. Ich möchte nur zu meiner Schwester. Sie ist hier Schauspielerin", antwortete Eva wahrheitsgemäß, und jetzt war sie eigentlich ganz froh, dass sie beide das gleiche Ziel hatten. "Na, dann wollen wir mal", sagte von Angern, spuckte sich demonstrativ in die Hände und schnappte sich erneut Evas Gepäck.

Ein unfreundlich dreinschauender Mann in der Pförtnerloge protestierte laut, als von Angern und Eva vorbei wollten. "Moment, so geht das aber nicht. Wo wollen Sie denn hin?" "Schon gut, Herr Wenzel. Die junge Dame begleite ich zur Kantine. Würden Sie bitte Fräulein Ruger ausrufen lassen? Das ist die Schwester dieser jungen Dame. Ach, und das Gepäck des Fräuleins können wir doch sicher bei Ihnen abstellen?"

Von Angern wartete die Antwort gar nicht ab, stellte Koffer und Tasche ab und öffnete gleich links die nächste Tür für Eva. Das Haus schien recht verwinkelt zu sein. Es roch etwas muffig weiter vorn im Garderobengang. Schweres, süßliches Parfüm hing in der Luft. Die Wände hatten einen freundlichen, hellen Anstrich. Allerlei Plakate und auch mehrere alte Aufnahmen von Theaterstücken hingen an den Wänden. Das Theater war wohl schon recht alt, doch alles wirkte irgendwie gediegen und machte auf Eva einen angenehmen Eindruck. Es sah schon völlig anders aus als im Wintergarten. In einigen Garderoben ging es laut zu. In der letzten war ein feiner Sopran zu vernehmen.

Von Angern blickte sich mehrmals um, ob Eva wohl Schritt hielt mit ihm. Hier also arbeitet mein Schwesterchen, dachte sich Eva amüsiert. Es dauerte dann nicht lange und der junge Mann drehte sich mit einem Lächeln um. "So, wertes Fräulein. Hier ist die Kantine. Ich darf mich damit empfehlen. Bin schon spät dran. Der Chefdramaturg wird mich lynchen." Von Angern verbeugte sich und schmunzelte wieder spitzbübisch. "Ich hoffe inständig, dass wir uns einmal wiedersehen." Er zog kurz den Hut und eilte hastig davon.

Eva schob die schwere Feuerschutztür auf und betrat die Kantine. Nur wenige Leute waren zu sehen. Kurz orientierte sie sich und schritt dann auf den Ausschank zu. Ein runder Kopf erschien in der Durchreiche. "Was darf es sein, schönes Fräulein?" Ein etwas dümmliches Grinsen folgte. "Einen Pfefferminztee, bitte, und eine Orangade. Ich setze mich in eine Nische dort drüben", antwortete Eva bestimmt und wendete sich zum Gehen. Ihren Mantel hatte sie schon beim Betreten des Theaters geöffnet. So war nun das sehr enggeschnittene, grüne Kostüm zu sehen, dass ihre makellose Figur bewusst unterstrich. Der farblich dazu passende Glockenhut umrahmte ihr puppenhaft geschminktes, feines Gesicht.

Sie wusste, dass sie verführerisch aussah und sie genoss die neugierigen, bewundernden Blicke der Anwesenden sogar. Eva setzte sich so, dass sie die Tür im Auge hatte. Sie suchte in ihrer Handtasche nach ihrem silbernen Taschenspiegel, fand ihn auch überraschenderweise gleich und betrachtete dann ihr Gesicht. Ja, sie hatte sich große Mühe gegeben beim Schminken. Das blonde Haar umspielte raffiniert ihre feinen Gesichtszüge. Kurz überlegte sich Eva, ob sie ihre Lippen nachziehen sollte, entschied sich jedoch dafür, erst eine Zigarette zu rauchen. Sie fand die angebrochene Packung Juno und genoss den ersten Zug ganz besonders. Wie sollte es nun weitergehen? Sie wusste es nicht.

Du wirst alles spontan entscheiden. Bloß nicht zu viel grübeln. Nicht zurückschauen! Zeit, sich umzusehen. Die Wände der Kantine waren halbhoch getäfelt. Von der ockerfarbenen oberen Hälfte war kaum etwas zu erkennen. Überall hingen alte, bunte Plakate, auch seltsame Requisiten und viele Autogrammfotos, große und kleine. Witzig fand Eva die Bestuhlung. Es schien nicht ein Stuhl zum anderen zu passen. Holzstühle mit Polsterung, metallene und sehr hübsch bespannte, uralte Stühle standen ringsum. Dazwischen fanden sich Sessel aller Art, von klobig bis elegant. Sogar Sofas hatten ihren Platz gefunden. Auch die Tische waren allesamt unterschiedlich. Schwere, geraffte Samtvorhänge unterteilten den großen Raum. So entstanden viele kleinere Separees. Ein Blick zur Uhr, die über der Eingangstür hing, verriet Eva, dass es gleich zwölf Uhr war. Nun, sie hatte ja jetzt Zeit.

Der Rundkopf brachte den Tee und die Orangade, ohne etwas zu sagen. Plötzlich wurde die schwere Tür aufgerissen und drei alberne Frauen in ihren Kostümen stürmten herein. Vorneweg natürlich Minna. "Wo ist meine große Schwester?" Rief sie lauthals in den Raum. Ehe Eva auf sich aufmerksam machen konnte, war sie bereits ausgemacht. Minna lief freudestrahlend auf sie zu. "Küsschen, Küsschen." Natürlich links und rechts nur angedeutet, denn beide waren ja geschminkt. "Du siehst entzückend aus, Schwesterchen, und ganz hellblond. Umwerfend! Todschick und nach neuester Mode. Komm‘ mir richtig hässlich vor", plapperte Minna in ihrer gewohnt flapsigen Art. Sie setzte sich gegenüber von ihrer Schwester und winkte einem jungen Ding, das gerade mit ihr hineingeplatzt war. "Ich will erstmal nichts von Schwermut und tränenreichem Abschied hören, Eva. Da kommt Lissy, meine Ankleiderin und Busenfreundin", alberte Minna und ließ gar nicht erst schlechte Laune aufkommen. Die Angesprochene hatte sich nun genähert und begrüßte Eva etwas linkisch. "Setz Dich, Mädchen!", befahl Minna und rutschte etwas beiseite. "Lissy hat das kleine Zimmer bei Tante Hertha. Meines ist so groß, da ist noch genug Platz für Dich, meine Süße", erklärte Minna weiter. "Mein schweres Gepäck steht bei der Pforte", sinnierte Eva. Minna schnippte mit den Fingern. "Kein Problem." Sie suchte mit den Augen die Kantine ab und wurde scheinbar fündig. "Hey, Frida!", rief sie sogleich in den Raum. Ein breitschultriger, kräftiger Hüne fühlte sich wohl angesprochen und hob fragend das Gesicht. Minna lockte ihn mit dem Zeigefinger ihre Rechten. "Und nun, Schwesterchen, gib acht", sagte sie schmunzelnd in Richtung Eva.

Der Mann stand wenig später an ihrem Tisch. "Frida ist ein seltsamer Name für einen so stattlichen Kerl", warf Eva fragend in die Runde. Minna hatte scheinbar auf solch eine Bemerkung gewartet. Sich an den Mann wendend, meinte sie: "Zeig doch mal meiner Schwester Deine Freundin, Frida." Der Mann schob mit beiden großen Händen seinen Pullover hoch. "Oh, mein Gott. Ist ja sehr originell, und lässt keine Wünsche offen", formulierte Eva betont vorsichtig. Brust und Bauch des Mannes waren von einer äußerst leicht bekleideten Dame bedeckt, die sitzend ihre Schenkel geöffnet hatte. "Das ist ein Ding, oder? Frida ist zur See gefahren und nun hat er seine Braut stets dabei", meinte Minna strahlend. "Heißt eigentlich Fritjolf, aber bei uns eben nur Frida." Minna tätschelte liebevoll Fridas Arm. "Mein Lieber, wärst Du so nett und bringst das Gepäck meiner Schwester rüber zu Tante Hertha? Es steht bei der Pforte und ist so schwer." Sie zog einen Schmollmund und klimperte mit ihren langen, falschen Wimpern. Frida zog den Pullover runter und nickte kaum merklich. "Ich weiß, kriegst Abend auch ‘ne Weiße Lady, mein Guter", setzte Minna leise dazu. Als Eva sie fragend ansah, schüttelte Minna nur störrisch ihr rothaariges Köpfchen.

Mittagszeit. Die Theaterkantine hatte sich in den letzten Minuten merklich gefüllt. Leute aller Gewerke waren nun zu sehen. Schneiderinnen, Schauspieler, Kulissenschieber, Beleuchter, Maskenbildner, Schreiner, Regisseure, Dramaturgen und noch mehr. Lautes Stimmengewirr, aufdringlicher Parfümgeruch und immer dichter werdender Zigarettenrauch hingen schwer in der Luft. Unweit ihres Tisches bemerkte Eva einen schüchternen, hageren Mann. Er trug einen dunklen, fleckigen Kittel, eine schwarze Baskenmütze auf dem Kopf und eine runde Nickelbrille. "Minna, ich glaube, dort möchte jemand mit Dir sprechen", machte Eva ihre Schwester auf den Mann aufmerksam. Ein kurzer Blick genügte und Minna war freudig überrascht. "Leibchen, hat alles geklappt. Ich danke Dir, Herzchen. Ich liebe Dich. Komm rüber, Junge." Nur zögernd näherte sich der Angesprochene ihrem Tisch. "Darf ich vorstellen? Das ist Leibchen, eigentlich Wolfgang Leibelt. Alle kennen ihn nur unter Leibchen. Er ist Requisiteur und ein wahres Genie. Er bastelt Dir alles, was Du Dir wünschst." Minna war ehrlich von diesem Mann angetan. Das merkte man deutlich. "Leibchen, das ist meine große Schwester Eva aus Berlin." Etwas verlegen verbeugte sich der Requisiteur, schaute Eva nicht in die Augen. "Sehr angenehm, Herr Leibelt."

"Quatsch, Leibelt. Leibchen", verbesserte Minna energisch.

Im Hausflur roch es verdammt penetrant nach Bohnerwachs. Alles wirkte aber sauber und gepflegt. Sie kamen an Eingangstüren mit durchbrochenen, bunten Glasfenstern vorbei. Etwas mickrige Grünpflanzen fristeten ihr Dasein im Flurfenster. "Ist nur eine Treppe hoch", meinte Minna. "Oben müssen wir leise sein. Tante Hertha pflegt mittags zu ruhen." An einer Tür mit dem Schriftzug Friedemann blieb Minna stehen und führte mahnend einen Finger zum Mund. Möglichst leise schloss sie auf und zog sogleich ihre Pumps aus. Eva tat es ihr gleich. Eine etwa fünf Meter lange Diele, die düster und pompös wirkte, erschien im Blickfeld. Gleich die erste Tür rechts war scheinbar Minnas Reich. Die Frauen huschten hinein.

Minna blieb hinter der geschlossenen Zimmertür stehen und breitete plötzlich ihre Arme aus. "Herzlich willkommen, Schwesterchen. Vielleicht findest Du hier in Stendal einen Neuanfang."

Eva ließ sich tatsächlich von ihr in die Arme nehmen und nun kullerte ja doch eine Träne ihre linke Wange hinunter. "Du Dummerchen, und alles wegen einem Kerl. Deine schöne Stellung futsch." Kurzes Stöhnen. "Ach was, wird schon wieder. Wirst schon sehen, gibt auch anständige Männer." Minna schob ihre Schwester etwas nach vorn und schaute ihr tief in ihre grünen Augen. "Habe bloß noch keinen gesehen", meinte sie etwas rührselig, und dann mussten beide Frauen herzhaft lachen. Eva tupfte sich eine weitere Träne weg und sah sich um. Sogar ein Grammophon stand hinten am Fenster.

"Ja, sieh Dich nur um, Eva. Ich wünsche Dir von Herzen, dass Du es schaffst, und keine Widerrede. Ich weiß, Du würdest auf dem Sofa schlafen wollen. Nix da, wir beide schlafen zusammen in dem großen Bett." Dankbar sah Eva ihre Schwester an. "Ich danke Dir, Minna. Mir geht es jetzt schon wieder etwas besser, Pünktchen. Oh, jetzt ist es mir doch rausgerutscht." Eva hielt sich, erschrocken über sich selbst, die Hand vor den Mund. Minna schien jedoch keineswegs eingeschnappt zu sein. "Du hast die ganze Zeit schon dran gedacht?"

"Ja, Minna, aber es ist nur lieb gemeint, wirklich. Du warst so aufrichtig und zärtlich zu mir heute. Das tut mir so gut." Diesmal nahm Eva ihre Schwester in die Arme und sie küsste Minna sehr zärtlich auf die Wange. "Ich bin so froh, dass ich bei Dir sein darf." Beide Frauen genossen diese intimen Augenblicke und nahmen sie tief in sich auf. "Ich mache uns jetzt einen richtig guten Bohnenkaffee. Nachher um sechs Uhr habe ich im Theater Leseprobe des neuen Stückes Mein geheimnisvoller Nachbar. Magst Du um neun Uhr drüben im Theatercafé auf mich warten, Eva?"

"Natürlich, gern." Minna strahlte und machte sich auf den Weg in die Küche.

Die fast drei Stunden Schlaf hatten Eva gutgetan. Sie erinnerte sich überhaupt nicht mehr daran, dass sie sich aufs Bett gelegt hatte. Absolut erfrischt, hatte sich Eva in der Küche einen grünen Tee zubereitet. Später dann wusch sie sich lange und gründlich in dem wirklich sehr schönen Badezimmer. Sie hatte sich Zeit gelassen beim Umziehen und war soeben fertig geworden mit dem Schminken. Ein wenig Puder müsste wohl noch auf die Nasenspitze.

Plötzlich öffnete jemand eine der hinteren Türen in der Diele. Eine äußerst elegant gekleidete Dame, sich auf ihren Stock stützend, erschien. Eva legte ihre Puderdose flink beiseite und trat auf die Gastgeberin zu. "Ich wünsche einen guten Abend. Ich nehme an, ich habe die Ehre, meine großzügige Vermieterin Frau Hertha Friedemann begrüßen zu dürfen. Vielen Dank dafür, dass Sie so freundlich sind, mich aufzunehmen."

Sie wurde erstmal taxiert. "Ich danke Ihnen, Fräulein. Ich bin ehrlich erstaunt, in Ihnen eine junge Frau mit ausgesprochen guten Manieren anzutreffen. Die heutige Jugend ist verroht und ohne jegliche Achtung, von guten Manieren ganz zu schweigen. Sie sind Fräulein Eva Maria Ruger?"

"Ja, Madame, ich bin Minnas Schwester. Ich hatte große Schwierigkeiten persönlicher Art in Berlin, deshalb bin ich Ihnen außerordentlich dankbar dafür, dass sie nun einen weiteren Logiergast bei sich ertragen wollen." Eva deutete einen leichten Knicks an. "Sie sind mir äußerst willkommen, junges Fräulein. Darf ich bemerken, dass Sie eine Schönheit sind, etwas groß geraten, aber heutzutage wohl nicht weiter schlimm. Sie sehen elegant und überaus modern aus. Ich bin zwar alt, doch ich registriere mit Freude und Genugtuung, dass die Frauen dieser Zeit neuen Wind in die Mode bringen. Noch immer bin ich gut informiert darüber, was in Berlin angesagt ist."

Jetzt wurde Eva doch noch rot. "Oh, ich trage ausgerechnet heute Abend eine Hose und bin recht aufwendig geschminkt. Das ist jetzt in Berlin modern, Madame." Frau Friedemann hob beschwichtigend ihre rechte Hand. "Wie gesagt, das ist mir bekannt. Sind Sie Schauspielerin, Fräulein Ruger?"

"In den vergangenen drei Jahren war ich als Tänzerin engagiert. Meine letzte Anstellung hatte ich im Berliner Wintergarten."

Das machte wohl Eindruck bei Frau Friedemann. "Meinen Respekt, junge Dame, eines der angesagtesten Varietés.“ Eva hatte natürlich bemerkt, dass sie von Frau Friedemann von oben bis unten aufmerksam studiert wurde. "Ich möchte Sie nicht aufhalten. Wollen Sie ins Theater?" Eva deutete erneut eine dezente Verbeugung an, "Ich möchte meine Schwester dort abholen. Vielleicht trinken wir noch einen Wein zusammen."

Ihre Gastgeberin nickte zustimmend. "Ich freue mich bereits auf unsere nächste Begegnung. Ich würde von Ihnen gern mehr über den Wintergarten erfahren. In den Achtzigern hatte ich das Vergnügen, dort einige Male auftreten zu dürfen. Ich war eine recht gute Sängerin seiner Zeit. Ich darf mich empfehlen."

Damit war Eva scheinbar entlassen, denn Frau Friedemann betrat ihre Küche. Auch Eva war sehr angenehm überrascht von ihrer Gastgeberin. Sie hatte sie sich etwas anders vorgestellt. Noch ein letzter Blick in den großen Spiegel. Der schwarze Cloche mit dem schmalen Rand saß perfekt, umrahmte ihr Püppchengesicht. Die schwarze, weit ausgestellte Hose und die rote Seidenbluse waren neu und sehr passend für den heutigen Abend, wie Eva fand. Der leichte Mantel reichte durchaus für die paar Schritte. Bis zum Theater war es praktisch nur um die Ecke. „Na dann, ich bin bereit.“

Der erste Eindruck vom Theater-Restaurant: plüschig, gemütlich, spießig. Die Gaslampen an den weinrot bespannten Wänden waren gedämpft heruntergedreht, halbrunde, braune Sessel an runden Tischen. An der Bar saßen kaum Leute. Ein aufmerksamer Ober eilte auf Eva zu und nahm ihr ihren Mantel ab.

"Und wen haben wir denn da?" Von Angern kam freudestrahlend auf sie zu. "Ich bin begeistert, schönen guten Abend, Fräulein Ruger!"

"Guten Abend, Herr von Angern!" „Darf ich Sie herzlich bitten, sich zu uns zu gesellen?“ Eva nickte kurz und ließ sich an seinen Tisch führen. Ein Mann um die dreißig, zurückgekämmtes, dunkles Haar in feinem, dunkelgrauen Anzug, erhob sich. „Darf ich Ihnen vorstellen, einer meiner besten Freunde: Herr Friedel Lechner. Das ist Eva Ruger." Der Mann hatte ein gut geschnittenes, interessantes Gesicht. "Was darf ich Ihnen bestellen, Fräulein Ruger?" Eva sah auf dem Tisch zwei Tassen Kaffee, ein Glas Wasser, zwei Gläser mit Likör. "Whiskey, bitte."

"Oh, Sie gehen ja ran, aber gern natürlich." Von Angern schien amüsiert und winkte dem Ober. "Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit heute gelaufen, Fräulein Ruger?" "Durchaus." In von Angern schien es zu arbeiten. Sicher versuchte er, etwas Witziges einzubringen.

"Darf man darauf hoffen, dass Sie sich vielleicht in nächster Zeit hier am Theater bewerben?" Eva tat erstaunt. "Wie kommen Sie darauf?" "Nun, da Sie Tänzerin sind, wäre es durchaus naheliegend", meinte ihr Gegenüber und schmunzelte. Der Ober kam und von Angern bestellte zwei Whiskey.

"Ich bin sehr erstaunt," nahm Eva das Gespräch wieder auf. "Außer Minna weiß das niemand. Woher wissen Sie, dass ich Tänzerin bin?" Eva war etwas irritiert und gleichzeitig auch neugierig geworden. "Fräulein Ruger, die besten Informationen bekommt man am Theater von den Ankleidemädchen."

Natürlich, dieser Schlawiner hatte Lissy ausgehorcht. Nicht zu unterschätzen dieser Mann. "Punkt für Sie, Herr von Angern", meinte Eva nur. Sein Freund Friedel schien äußerst amüsiert zu sein über dieses Rededuell. "Ich möchte Sie und Minna gern einladen, mit mir und meinem ADLER einen Sonntagsausflug zu machen. Ihre Schwester hat keine Vorstellung. Ich habe das schon rausbekommen."

"Sie fahren einen ADLER und nehmen den Zug nach Berlin?" Eva war schon wieder irritiert. "Mein Automobil war in der Werkstatt, sonst wäre ich natürlich mit ihm in die Hauptstadt gefahren. Friedel, Du kommst gar nicht zu Wort. Entschuldige."

"Nein, nein, es war höchst interessant, die Unterhaltung zu verfolgen", antwortete Lechner und grinste. "Friedel Lechner ist nicht nur ein toller Freund von mir. Er ist außerdem mein Verleger." Peter von Angern musterte Eva sehr amüsiert.

"Sie sind nicht so leicht zu beeindrucken, Fräulein Ruger?" "Sollte ich denn beeindruckt sein? Was verlegen Sie denn, Herr Lechner?" Eva beobachtete nun Friedel Lechner genauer und öffnete dabei ihre Handtasche. "Nun, eigentlich gehört das Druckhaus meinem Vater, aber nur pro forma. Seit zwei Jahren schmeiße ich eigentlich den Laden. Es macht mir großen Spaß. Über Mangel an Aufträgen kann ich nicht klagen." Eva hatte die Juno gefunden und fingerte sich eine heraus. "Ach, Schreck, nur noch zwei drin." Tatsächlich hatte sie vergessen, sich eine neue Packung zu kaufen. "Darf ich?" Friedel hatte bereits die Streichhölzer parat. "Nein, Augenblick bitte", meine Eva und zog kurz darauf ihre silberne Zigarettenspitze aus der Handtasche.

Die beiden Herren beobachteten jede Bewegung ihrer Tischpartnerin. Friedel gab Eva dann Feuer und mit sichtlichem Genuss nahm diese dann den ersten Zug. "Wenn man hier nun keine Juno mehr hat. Werden Sie dann aufhören mit dem Rauchen?" Wieder eine hinterlistige Frage des Regisseurs. "Ich bin mir fast sicher, dass Sie sich in diesem Fall hastig in Ihren ADLER setzen und mir eine Packung besorgen werden." Die beiden Herren schienen amüsiert zu sein. Eva ließ derweil ungeniert ihren Blick durch das Restaurant schweifen. An der Bar war es inzwischen voll geworden, auch die meisten Tische waren jetzt besetzt. Sie wurde beobachtet, natürlich. Die meisten Männer blickten mehr oder weniger heimlich zu ihr rüber. Wo blieb eigentlich Minna? Die Uhr über der Theke zeigt 9.17 Uhr.

Eva blickte nun wieder zu Peter von Angern. "Liest außer Ihnen noch jemand Ihre schlüpfrigen Gute-Nacht-Geschichten?"

"So habe ich meine Romane bisher allerdings noch nicht betrachtet", meinte er schmunzelnd. "Übrigens habe ich hier in meiner Aktentasche das fertige Manuskript meines neuen Buches. Es wäre mir eine Freude und eine Ehre zugleich, wenn Sie es lesen würden, Fräulein Ruger", meinte er ganz ernst. Da ertönte ein lauter, langgezogener Tusch vom Klavier drüben. Alle Blicke galten nun dem Mann dort am Klavier. "Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich darf Ihnen höchsterfreut mitteilen, dass meine Braut dort heute ihren dreiundzwanzigsten Geburtstag feiert. Wir laden ein zu einer Saalrunde!" Nochmal ein Tusch und tosender Beifall von den Gästen. Der junge Mann rief nun in Richtung des Tresens: "Eine Runde Bier für alle, Benni!" "Verdammt, jetzt bin ich ganz davon abgekommen." Peter von Angern sprang auf und meinte entschuldigend: "Ich wollte Ihnen doch eine Packung Juno holen." Schon war er weg.

"Was schreibt Ihr Freund denn so, Herr Lechner?" Eva wollte die Zeit nutzen, um etwas über Peter von Angern zu erfahren. "Wunderbare Romane, zeitgenössische, aber auch historische", antwortete Friedel Lechner und setzte hinzu: "Peter hat schon Einiges geschrieben, doch veröffentlicht hat er erst zwei Bücher. Er setzt sich selbst hohe Maßstäbe. Wundern Sie sich bitte nicht. Er trägt gern diese Maske des draufgängerischen Casanovas. Eigentlich ist er ein ganz anderer Mensch, gut erzogen, anständig, hilfsbereit und verständnisvoll. Ich bin auf den Tag gespannt, an dem eine Frau sich nicht blenden lässt und Ja sagt." Friedel Lechner lächelte Eva zu. "Auch Sie schützen sich mit einer unnahbaren Maske. Das hilft meistens, aber nicht immer, Fräulein Ruger. Sie sind eine beeindruckende Frau, wenn ich das sagen darf."

Eva fühlte sich bereits zum zweiten Male heute ertappt. "Vielen Dank, Herr Lechner." Von Angern war inzwischen freudestrahlend am Tisch zurück und schob Eva eine Schachtel Juno rüber. "Ich danke Ihnen vielmals, Herr von Angern", sagte Eva und fing an, in ihrer Handtasche zu kramen. "Ist gut, Fräulein Ruger. Die Packung geht auf mich", beeilte sich Peter zu sagen. "Dann nochmals vielen Dank und, ja."

Fragendes Kopfschütteln. "Ich habe auf Ihre letzte Frage geantwortet", meinte Eva und schaute ihrem Gegenüber in die graublauen Augen. "Welche war meine letzte Frage? Ob Sie mit mir einen Ausflug machen?" Eva schüttelte den Kopf. "Ich möchte Ihr Manuskript lesen." Von Angern strahlte übers ganze Gesicht. Der Ober servierte unterdessen zwei Martinis und einen Whiskey.

Fast unbemerkt hatte sich auch Minna endlich eingefunden. Sie trug einen schicken hellgrauen Anzug mit weit ausgestellten Hosenbeinen. Man stellte sich gegenseitig vor und dann setzte sie sich zu ihrer Schwester. Der Ober kam noch einmal zurück an den Tisch und fragte die Herrschaften, ob sie auch Freibier wollten. Alle lehnten dankend ab, bis auf Minna. "Freibier? Ich nehme gleich zwei", ließ sie unmissverständlich laut anmerken und gackerte lauthals. Nun wurde es gleich wesentlich lustiger am Tisch. Peter von Angern gefiel die unbekümmerte Art von Minna. "Warum hatte ich bisher nie das Vergnügen, mit Ihnen auf der Bühne zu arbeiten?", merkte er scherzhaft an. Minna hatte kurz an Evas Whiskey genippt. "Na, mein Herr, vielleicht ist einer von uns beiden nur die Zweitbesetzung. Aber ich bin es nicht." Damit hatte sie die Lacher auf ihrer Seite. "Touché. Gut gekontert, meine Dame", anerkannte von Angern. "Ich war vorhin so dreist und habe Ihre Schwester und Sie zu einer Sonntagsausfahrt mit meinem ADLER eingeladen, habe jedoch noch keine Antwort bekommen. Was meinen Sie, Fräulein Minna?" "Hmmm, man hat ein Automobil. Ich bin beeindruckt." Die Schwestern sahen sich gegenseitig listig an. "Dann entscheide ich. Nämlich, dass wir das jetzt nicht entscheiden, mein Herr", frohlockte Minna und erhielt durch freudiges Kopfschütteln von Eva Zustimmung.

2.Kapitel: Neuanfang

Das Erste, was Eva wahrnahm, war ein strahlend blauer Himmel draußen. Sie hatte ausgezeichnet geschlafen und fühlte sich richtig wohl. Schnell nochmal in die dicke, flauschige Bettdecke einkuscheln. Dann kam ihr jedoch eine Idee. Wäre doch schön, jetzt mit frischen, duftenden Semmeln zu frühstücken. Beim Vorbeifahren mit dem Pferdeomnibus hatte sie gestern gesehen, dass es Bäcker Grasshoff in der Großen Jüdenstraße noch gab. Das war ja praktisch nur um die Ecke von hier. Nochmal richtig strecken und dann raus aus den Federn. Die liebe Minna, liegt da wie ein unschuldiger Engel. War ein richtig schöner Abend gestern mit ihr. Kurz stellten sich bei Eva ein paar lustige Bilder dieses angenehmen Abends ein. Dieser Peter von Angern ist schon ein interessanter Mann, aber wehe Dir, wenn Du Dich an ihn ranmachst! Ach was, raus jetzt, schalt sich Eva und schlug die Bettdecke auf. Das Badezimmer von Frau Friedemann war schon ein Traum. Eine eigene, geschwungene, wunderbare Badewanne, Klosett mit Spülung. Normalerweise befand sich doch das auf halber Treppe. Eva besah sich ihr Gesicht in dem großen Spiegel.

War bisher alles richtig, meine Liebe. Sei vorsichtig und überlege genau deine nächsten Schritte, nichts überstürzen.

Später huschte sie barfuß durch die Diele, fischte das erstbeste Kleid aus dem offenen Koffer und ein paar Strümpfe. Sie hatte die Pumps auch schon an. "Oh, verdammt, die klappern zu sehr!" Gleich zog sie sie wieder aus, schnappte sich Minnas Wohnungsschlüssel, die auf dem runden Tisch lagen und schlich sich aus dem Zimmer. Schnell den leichten Mantel nehmen und leise raus. Ganz vorsichtig schloss sie die Wohnungstür. Dann erst schlüpfte Eva in ihre Schuhe und stieg die paar Stufen hinunter. Herrlich, diese frische, klare Luft. Ja, es war endlich Mai. Eva liebte den Frühling, wenn es überall prachtvoll grünte und blühte. Sie sog die klare Luft ganz tief ein und wendete sich nach rechts. Als sie bei der Wäscherei Schlobach um die Ecke ging, erinnerte sich Eva wieder sehr genau. Gleich würde sie am Victoriabad vorbeikommen. Richtig, dort hinten war auch schon die Große Jüdenstraße.

Längst hatte sich Eva eingestanden, dass es nicht die frischen Semmeln waren, die sie hierhergezogen hatten. Kurz vor der Bäckerei blieb sie stehen. Der Mut schien sie verlassen zu haben. Ihr Herz klopfte heftig. Elfi. Eva beugte sich etwas vor und luchste heimlich durch die Glasscheibe. Sie war da. Elfi hatte Dienst.

Tief Luft holen. Dann schritt Eva forsch zur Eingangstür. Die vertraute Bimmel meldete sich beim Eintreten. Zwei Frauen standen vor der Theke. Elfi war allein beim Verkauf. Und dann schaute sie in Evas Richtung. Ungläubiges Erkennen erst, dann ein Lächeln. Dieses süße Lächeln. Ach, wie Eva es immer geliebt hatte. Sie verharrte noch an der Eingangstür, wartete, bis die beiden Frauen fertig waren. Unendlich scheinende Minuten gingen dahin.

"Schönen Tag noch für Sie, Fräulein." Die Türbimmel ging wieder und dann waren sie beide allein im Verkaufsraum. Elfi stürzte hinter der Theke hervor und eilte auf Eva zu. Sie umarmten und küssten sich, lange und liebevoll. Anschließend wischten sie sich gegenseitig ihre Freudentränen weg.

"Du Schaf, seit wann bist Du wieder in Stendal?" Eva senkte den Blick. "Seit gestern, ich wohne im Zimmer meiner Schwester möbliert. Ist gleich hier um die Ecke in der Uchtstraße." Elfi sah sie glücklich an und schüttelte den Kopf. "Um eins wie immer im Fürstenhof?" Eva lächelte bejahend. Die Tür ging auf und die Bimmel riss die beiden Frauen zurück in die Realität. "Ich nehme dann acht Semmeln, bitte", tat Eva nun ganz selbstsicher und bestimmt. "Sehr wohl, werte Frau."

Die frischen Brötchen lagen im Körbchen, der Tisch war für drei Personen gedeckt, fehlte nur noch der Kaffee. Alles war noch fremd für Eva, deshalb hatte sie mühevoll in alle Schränke schauen müssen. Auch die gekochten Eier fehlten nicht.

Plötzlich ging die Küchentür auf und Frau Friedemann erschien. "Guten Morgen, Fräulein Ruger." "Oh, guten Morgen gnädige Frau. Ich wollte meine beiden Mädchen überraschen."

Frau Friedemann begutachtete offensichtlich den Frühstückstisch. Da fiel Eva ein, dass sie auch an ihre Gastgeberin gedacht hatte. Sie nahm die Bäckertüte vom Schränkchen und reichte sie der Gastgeberin. "Ich war so frei und habe Ihnen auch zwei Semmeln mitgebracht." Überrascht schaute Frau Friedemann sie an.

"Sie sind eine sehr aufmerksame junge Frau. Das wäre den anderen beiden nicht in den Sinn gekommen." Frau Friedemann lächelte wohlwollend. "Würden Sie mir eine große Freude bereiten und heute Nachmittag um vier Uhr zu mir drüben zum Kaffee kommen?" Eva war angenehm überrascht. "Sehr gern."

Als sie ihre Schwester mit einem Schwups kalten Wasser endlich aus dem Bett bekommen hatte und sie beide anschließend Lissy auf die gleiche Weise geweckt hatten, gab es eine wilde, lustige Kissenschlacht in Lissys Zimmer, bei der eine Vase und eine Bonbonschale zu Bruch gingen.

Jetzt saßen die drei allerdings ganz gesittet am Frühstückstisch.

"Also, das machen wir jetzt jeden zweiten Tag so", meinte Minna mit halbvollem Mund. "Semmeln holen oder Kissenschlacht?", fragte Lissy ganz vorsichtig in die Runde. "Übrigens bist Du eine richtige Plaudertasche, Fräulein", meinte Eva ernst und goss sich noch Kaffee nach. Die Angesprochene zog die Schultern unwillkürlich zusammen und schaute wie ein ängstliches Kätzchen. Eva wollte ihr eigentlich so richtig den Kopf waschen, doch beim Anblick der eingeschüchterten Ankleiderin wurde Eva doch milde. "Wieso hast Du gestern Peter von Angern erzählt, dass ich Tänzerin im Wintergarten war? Das geht niemanden was an." Die Röte schoß Lissy ins Gesicht.

"Dieser Mann hat so viel Charme und er hat so wunderbar geflirtet mit mir. Weiß eigentlich gar nicht mehr, was ich ihm dann alles so erzählt habe. Bitte entschuldige, Eva. Wenn jemand so nett zu mir ist, fließe ich nur so dahin."

"Also, zu mir sollte er durchaus noch viel netter werden. Darauf bestehe ich." Das war Minna. Sie fand ihre Bemerkung so lustig, dass sie ihren Kaffee vor Lachen verschüttete. Sie schien sich gar nicht wieder einzukriegen. Erst schüttelten die beiden anderen jungen Frauen ihre Köpfe. Doch das Lachen wurde dermaßen ansteckend, dass sich wenig später alle drei die Bäuche hielten. "Hört mal zu, ihr zwei", meldete sich Minna dann nach gefühlt einer Viertelstunde zu Wort. "Heute ist Samstag. Da machen wir richtig einen drauf. Nach der Abendvorstellung gehen wir zu Liebezeit und machen die Nacht zum Tag." Ihr ganzer Oberkörper und ihr Hintern auf dem Stuhl bewegten sich immer schneller und zeigten den beiden anderen in etwa, was sich Minna darunter vorstellte. "Abgemacht, Ihr beiden Mäuschen?" Alle drei klatschten sich jauchzend ab und riefen: "Jaaaaawoll!"

"10.30 Uhr habe ich leider Probe", meinte Minna dann wieder ganz ernst. "Ein total blödes Stück. So kann ich nie ein Star werden. Ach, was soll´s? Was hast Du vor, Eva?“ "Hmmm, ich werde mir ein wenig die Schaufenster besehen. Irgendwas kann man ja doch meist gebrauchen. Heute Nachmittag bin ich übrigens bei unserer Vermieterin eigeladen."

"Hört, hört, uns beide hat sie noch nie eingeladen", tat Minna etwas beleidigt. "Heute Abend wird es nicht so spät im Theater. Holst Du uns kurz nach acht Uhr dann ab? Ist `ne Sechs Uhr Vorstellung." Eva schien etwas abwesend zu sein, deshalb boxte Minna ihre Schwester etwas burschikos an den Arm. "Hey, Du Schlafmütze!"

"Ja, habe ich gehört. Natürlich", meinte Eva und lächelte. Mal auf andere Gedanken kommen. Das würde ihr gut tun.

Sie hatten noch ausgelassen gealbert und sich ein wenig vertrödelt, deshalb mussten sich später Minna und Lissy ganz schön beeilen, um rechtzeitig im Theater zu sein. Zur Probe zu spät erscheinen, hieß zwei Reichsmark Strafe in die Kasse einzuzahlen. Minna war bekannt dafür, auf den letzten Drücker zu den Proben zu kommen.

Eva räumte inzwischen den Tisch ab, stellte alles an seinen Platz und besorgte den Abwasch.

Sie entschied sich für ihr schwarzes, wadenlanges Kleid. Es machte eine sehr schmale Taille, besaß oben silberne Knöpfe, gepolsterte Schultern und enganliegende Ärmel. Dazu trug Eva den schmalen, silbernen Gürtel, schwarze Pumps und einen großen, ausladenden cremefarbenen Hut mit schwarzem Seidenband und breiter Krempe. Sie wollte einfach gut aussehen für ihre Elfi.

Kurz nach elf. Das Wetter war ideal, um ein wenig zu promenieren. Eva nahm den schwarzen Mantel vom Haken, dachte noch rechtzeitig an den Wohnungsschlüssel, den Minna ihr dagelassen hatte und stieg gutgelaunt die Flurtreppe hinunter. Unten stand der Briefträger und bestückte die Briefkästen. Als der Mann Eva herunterkommen hörte und dann die elegante junge Dame vor sich sah, ließ er vor Schreck sämtliche Briefe fallen.

Eva schmunzelte und wünschte ihm einen angenehmen Tag. Es machte ihr großen Spaß zu kokettieren.

In der Marienkirchstraße blieb Eva stehen und schaute hoch hinauf zu den Türmen von Sankt Marien. Kirchen machten immer schon großen Eindruck auf sie, so majestätisch und würdevoll hatten sie schon Jahrhunderte überdauert. Manchmal ging sie einfach hinein in diese beeindruckenden, mittelalterlichen Gebäude, um diese Erhabenheit in sich aufzunehmen.

Es würde heute ein guter Tag werden. Sie ließ sich viel Zeit und genoss es, dass sie wieder zurück war in Stendal. Diese kleine Stadt gefiel ihr. Natürlich war es grandios gewesen in der Riesenstadt Berlin mit all ihren süßen Verlockungen und den ungezählten Möglichkeiten. Man konnte aber auch verdammt einsam sein in einer solchen Stadt.

Eva stand nun an der Ecke zur Breiten Straße, die sozusagen die kleine Einkaufsmeile darstellte. Die Auslagen vom Warenhaus Theune machten schon mal einen vielversprechenden Eindruck. Der Verkehr war hektisch, auch wenn nicht zu vergleichen mit dem Berliner Chaos. Pferdefuhrwerke, Handkarren, Lastkraftwagen und Automobile aller Art hupten, klapperten, drängelten und dazwischen versuchte gerade eine Pferdebahn sich ihren Weg freizumachen. Die Gehwege auf beiden Seiten quollen über vor Menschen. Nun ja, es war Samstagmittag. Eva schlenderte jetzt weiter zu Kuntzmann und dann kam drüben schon Café Sternberg. Dort hatte sie draußen etwas abseits im Gesellschaftsgarten Elfi einen ersten süßen Kuss hingehaucht. Alle anderen Gäste waren vor dem Regen geflüchtet. Nur sie beide saßen noch da und für sie gab es keinen Regen damals. Sie fassten sich an den Händen und der Ober, der an der Tür wartete, sah wohl mehr, als es schicklich gewesen wäre. Das war im Juni einundzwanzig gewesen. Eva wohnte erst seit einigen Monaten mit Minna in Stendal. Der Tod von Mutter und Vater war noch längst nicht verarbeitet. Alles war noch so frisch.

Eva wechselte auf die andere Straßenseite. Mal sehen, was es bei Günsche für Schuhe gab. Neben den langweiligen altmodischen gab es auch schicke hochhackige, auch hübsche Stiefeletten mit Absatz in Schwarz und in Beige. Vorbei an vielen Leckereien, noch einem Schuhgeschäft und Günsches Herrenbekleidung flanierte Eva nun am Apollo Theater vorbei. Vor der Buch- u. Kunsthandlung Schulze blieb sie stehen. Mal reinschauen? In der Auslage befand sich eine wundervolle alte Kaminuhr. 11.41 Uhr. Eva drückte die Klinke und betrat den Laden. Sie musste sich erst kurz orientieren. Eva wollte zur Buchabteilung, denn sie schmökerte für ihr Leben gern. In Berlin hatte sie oft ganze Nachmittage in Buchläden verbracht. Die Abteilung mit Gedichtbänden war genau richtig. Sie ließ sich Zeit. Immer wieder fand Eva interessante Bücher, nahm sie neugierig aus dem Regal, stellte sie aber stets wieder zurück. Schließlich hatte sie zwei interessante Exemplare gefunden. Eva setzte sich in einen von den drei bequemen Sesseln, die etwas abseits zum Verweilen einluden.

Seite einhundertundzwei:

Ich weiß nicht, was ich sagen soll,

mir ist, als ob es gestern war,

weil alles, was ich sage,

doch nichts ändert oder besser macht.

Ich höre dich noch lachen,

und ich sehe dich noch am Fensterplatz.

Du ahnst nicht, was ich machen würde,

dass ich dich noch länger hab.

Vom Himmel fehlt ein kleines Stück,

ich sehe es von hier,

eine Lücke, die sich nie mehr schließt,

sie hat die Form von dir.

Eva sieht vom Buch auf und wieder wandern ihre Gedanken zurück nach Berlin. Es sind melancholische Momente, die in ihr aufbegehren wollen. Sie stöhnt mit geschlossenen Augen. Und dieses eine Gesicht taucht natürlich auf.

Es ist, wie es ist. Nie mehr kehre ich zurück. Sie versucht es sich wieder und wieder einzuhämmern und doch will da eine einzige Träne rebellieren. Seite siebenundneunzig:

„...und die Wahrheit ist, mein Herz liebt dich weiter, von weitem, ganz leise für alle Zeiten“

Sie schlägt das Buch rigoros zu und wirft es in hohem Bogen in den Sessel neben sich. Eva greift nach ihren Handschuhen, schnappt sich ihre Handtasche und steht schwungvoll auf.

"Waren die Bücher nicht nach Ihrem Geschmack?", fragt der ältere Mann hinter dem Verkaufstisch skeptisch. "Nein, guten Tag!" Draußen warf Eva noch einen kurzen Blick auf die Uhr in den Auslagen. 12.47 Uhr. Sie überquerte die Breite Straße und gelangte kurz darauf auf den Sperlingsplatz mit seinem Brunnen. Etwas merkwürdig erschien Eva dieser dreieckige Platz immer schon.

Elfi. Elfi. Diese kleine, zarte Person, gerade einmal einsfünfundsechzig war sie groß und damit fünfzehn Zentimeter kleiner als sie selbst. Hellbraunes, schulterlanges Haar. Es war immer ein wenig störrisch; dazu diese wunderschönen braunen Augen. Im Januar 1922 nahmen sie beide Abschied voneinander. Es schneite in ganz feinen Flocken vom weinenden Himmel. Was wäre gewesen, wenn sie geblieben wäre? War es gar eine Flucht vor einer Entscheidung? Eva wusste es heute genau zu sagen. Sie wollte sich nicht binden damals, in keiner Form. Ja, es war eine Flucht in die Zukunft, eine Flucht vor sich selbst.

Fürstenhof Lichtspiele & Café