Freda - Detlef Koch - E-Book

Freda E-Book

Detlef Koch

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Beschreibung

Der Roman beleuchtet das Leben in einer reichen, brandenburgischen Stadt an der Schwelle des ausgehenden Mittelalters und der beginnenden Neuzeit. In lockerer Weise greift er die Ereignisse aus dem vorhergehenden Roman "Der Fremde aus Spanien" auf. Vertraute Figuren treten wieder auf und wieder geht es auch um eine Mordserie die die beschauliche Stadt erfasst.

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Die Zeichnungen in diesem Buch sind urheberrechtlich geschützt.

Eine Weiterveröffentlichung wird bestraft.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort zum vorliegenden Buch

Freitag, 11. Juli

Samstag, 12. Juli

Sonntag, 13. Juli

Montag, 14. Juli

Dienstag, 15.Juli

Vorwort zum vorliegenden Buch

Der Roman >Freda< ist eine Fortsetzung des 2021 erschienenen Buches >Der Fremde aus Spanien<. Die Handlung nimmt die Geschehnisse in Stendal aus dem Jahre 1517 wieder auf. Anderthalb Jahre sind seit den Ereignissen in dieser reichen, altmärkischen Stadt vergangen. Die uns inzwischen vertrauten Personen Vincz van de Haag, Jonas Gretzko oder Scriptor Andreas Mendel begegnen dem Leser ebenso wieder wie die drei Frauen der Techler Familie.

>Der Fremde aus Spanien< war vor allem ein historischer Kriminalfall, gleichzeitig aber auch ein Familienroman am Ausgang des Mittelalters. Im vorliegenden Buch verlege ich den Schwerpunkt etwas mehr auf einen Familienroman, auch wenn erneut eine Mordserie die kurfürstliche Stadt erfasst.

Ein aufregendes Wochenende steht in Stendal bevor. Frauke Techler wird nach zwanzig Monaten Haft freigelassen. Aus diesem Grund will sich im ehemaligen Schober-Hof, den jetzt Andreas Mendel und seine Frau Betty bewohnen, die ganze Familie treffen. Dazu zählt auch Janko, der Bruder von Andreas. Aus Rotterdam haben sich Teresa und Vincz van de Haag angesagt. Auch Jonas Gretzko wird anwesend sein, der ehemalige Oberamtmann und Freund der Familie. Niemand von all diesen Personen ahnt, dass da noch jemand auf dem Weg nach Stendal ist. Freda wird nach und nach zum Mittelpunkt der Handlung, ohne dass sie es wirklich will.

Der neue Roman beleuchtet erneut das Leben in einer reichen, brandenburgischen Stadt an der Schwelle des ausgehenden Mittelalters und der beginnenden Neuzeit. Es ist die Zeit, in welcher Joachim I. die Geschicke des Landes lenkt. Stendal war sozusagen seine Lieblingsstadt, in welcher er 1502 Elisabeth von Dänemark heiratete und wo er dann auch im Jahre 1535 starb.

Ich schildere vor allem den Alltag in einer solchen Stadt. Dabei berufe ich mich auf meine eigenen, umfangreichen Erkenntnisse, die ich durch meine jahrzehntelange Leidenschaft für meine Heimatstadt gesammelt habe. Seit meiner Jugend beschäftige ich mich mit der Historie von Stendal. Ich bin bemüht, den Leser nicht mit den damaligen, recht schwierigen politischen Umständen zu konfrontieren. Einige Figuren sind real, die meisten handelnden Personen im Buch sind jedoch fiktiv. Die Straßen, Gebäude, Orte sind so beschrieben, wie sie sich damals darstellten. Auch die beschriebenen einzelnen Berufsgruppen gab es in dieser Zeit in Stendal.

Dankbar bin ich der (inzwischen verstorbenen) Witwe von Werner Borstel, die mir die Verwendung der wundervollen Zeichnungen ihres Mannes erlaubte. Großen Dank schulde ich außerdem Donald Lyko von der >Volksstimme< und meinem Freund Hartmut Holz, die mich beide wie immer tatkräftig bei diesem Buch unterstützt haben.

Altmodische Bezeichnungen habe ich in ihrer ursprünglichen Schreibweise belassen (Rath, Scriptor).

Freitag, 11. Juli

Das Klirren der Töpfe und Pfannen, die am Wagenende baumelten und unregelmäßig aneinander schlugen, war nahezu das einzige Geräusch. Dazu kam nur noch das stetige Mahlen der großen Räder, die sich durch den lockeren Sand des unebenen Waldweges quälten. Dunkel und unheimlich wirkte das Dickicht des Waldes auch jetzt am Tage. Vereinzelt rief ein Eichelhäher oder das kiwitt, ki-witt eines Kibitz ertönte. Dunkel und mächtig säumte dieser Wald den unebenen Fahrweg.

Freda schob am hinteren klobigen, kunterbunten Kastenwagen zusammen mit Marten. Auch der vordere große Planwagen musste angeschoben werden. Etzel und Klaus, barfüßig wie auch Freda und Marten, mühten sich verzweifelt an diesem heißen Julitag des Jahres 1519. Hauptsache, die beiden Gefährte kamen ja nicht zum Stehen. Lediglich der Chef der Theatertruppe, Simon Thamson, saß hoch oben auf dem großen Wagen, der den Männern bei ihren Vorstellungen zugleich als Bühne diente. Und immer wieder versuchte Thamson, Minna, das einzige Pferd, mit der Peitsche anzutreiben. Den Kastenwagen, in welchem sämtliche Kleidungsstücke und Requisiten verstaut waren, zog Hannes, ein gutmütiger, kräftiger Esel.

Diese vermeintliche Abkürzung zu nehmen, entpuppte sich längst als falsche Entscheidung. Seit Stunden zogen sie nun schon durch diesen nicht enden wollenden Wald. Nahm diese Tortur überhaupt kein Ende? Es war nicht nur beschwerlich für die Theatertruppe, sondern so lange sie sich im Wald befanden, bestand auch die Gefahr, Wegelagerern oder gar mordlustigen Räubern zu begegnen.

Immer wieder hing Freda zwischendurch ihren eigenen Gedanken nach. Erst seit drei Monaten begleitete sie diese Gauklertruppe. Natürlich konnte sie selbst als Frau nicht Theater spielen, doch sie machte sich auf andere Art nützlich für die Männer. Essen besorgen, kochen, Kleidung waschen, ausbessern und flicken, Requisiten wieder herrichten und vieles mehr. Glücklich fühlte sie sich freilich nicht, doch sie war in Bamberg der Hölle entkommen und sie hatte nun Marten an ihrer Seite. Der junge Mann, der wie sie den schweren Wagen anschob, schielte immer mal wieder hinüber zu der hübschen, jungen Frau und hoffte, ein Lächeln von der schlanken, braunhaarigen Freda zu erhaschen. Ihre Blicke kreuzten sich des Öfteren. Marten Kreuzer hatte sich wirklich sehr dafür eingesetzt, dass Simon die junge Frau aufnahm bei ihnen. Freilich war da schon ein Hintergedanke dabei, denn Marten fühlte von Anfang an etwas ganz Besonderes in seinem Herzen. Er war jetzt 25 Jahre alt, doch Erfahrungen in der Liebe hatte er noch keine gemacht. Fredas Anblick löste bei ihm eine immer stärker werdende Leidenschaft aus. Die junge Frau spürte das wohl und auch sie mochte diesen muskulösen, gut gebauten Burschen. Freda blieb jedoch vorsichtig. Ihr ging es zunächst darum, möglichst schnell und weit weg von Bamberg zu kommen. Ein zweiter Gedanke nahm allerdings rasch klare Formen an. Nämlich, dass Marten ihr später in Stendal vielleicht behilflich sein könnte. Sie sehnte sich nach einer vertrauten Person. Immerhin hatte er geäußert, ebenfalls in der reichen, kurfürstlichen Stadt bleiben zu wollen. Marten war auch der Einzige, dem sie sich nach und nach anvertraut hatte, dem sie immer mehr aus ihrem Leben und von ihren Plänen erzählte. Freda war fast 29 Jahre alt, hatte dunkle, verführerische Augen. Sie trug ein einfaches hellbraunes Leinenkleid, ein dunkelbraunes Mieder und eine weiße Schürze. Ihr langes, dunkles Haar trug sie offen.

Da, wieder trafen sich ihre Blicke. Ja, Marten Kreuzer war schon ein liebenswerter und einfühlsamer Mann. Trotzdem wollte Freda noch nicht zu viel preisgeben von sich.

Burg Rabenstein versteckte sich inmitten dichter Wälder an einer Flussbiegung. Einstmals diente das alte Gemäuer als gefürchtetes Raubritternest des Calow von Schanz und seiner blutrünstigen Mannen. Rücksichtslos und machthungrig überzogen sie das Land mit aller Härte und Unnachgiebigkeit, verbreiteten Angst und Schrecken. Nach dem Tod des tollwütigenden Haufens blieb die weitläufige Burganlage in den folgenden Jahrhunderten wegen seiner Abgeschiedenheit ein beliebter Rückzugsort für adlige Herrschaften. Im Laufe der Zeit erweiterten seine wechselnden Besitzer die Burg immer mehr, und jetzt war sie ein bevorzugter und beliebter Aufenthaltsort des Markgrafen und Kurfürsten Joachim I. und seines Gefolges. Von seiner Lieblingsburg zog er mehrmals im Jahr ins Land hinaus, doch die Wintermonate verbrachten er und seine edlen Familien wieder auf Rabenstein.

Frigga saß an diesem schönen Sommertag oberhalb des etwas abgelegenen Teiles der Burg und beobachtete ihre neunjährige Tochter Anna, wie sie mit den gleichaltrigen Edda und Solveig spielte. Wie sie dort unten so befreit und sorglos herumtobte, machte Frigga freilich glücklich, und doch merkte sie ihrer Tochter oft an, dass sie sich nach ihrem Häuschen in Stendal zurücksehnte. Für das fröhliche Mädchen bot das Leben an diesem Ort nicht besonders viel Abwechslung, aber Anna hatte zumindest einige Freundinnen gefunden. Dafür wenigstens war Frigga sehr dankbar. Ihr schönes, schwarzes Haar verbarg Frigga unter einer weißen Haube. Die dunklen Augen verrieten die slawische Herkunft der schönen Frau, die jetzt 40 Jahre alt war. Sie hatte zwar stets einen Blick für ihre Tochter, doch ihre Gedanken schweiften wieder einmal ab, hin in ihre eigene Kindheit und Jugend, die sie in einem kleinen Dorf in Silesia zu Füßen der hohen Berge verbracht hatte. Es war eine unbeschwerte, wundervolle Zeit damals. Das Leben abseits der großen Städte und Handelswege war geprägt von Ruhe, Harmonie und Unbeschwertheit, zumindest für die beiden Schwestern Frigga und Dalia. Ihr Vater arbeitete als Holzfäller, später dann als Köhler, brachte die Familie lange Zeit auch gut durch die schweren Hungerjahre. Als Frigga jedoch 16 Jahre alt war, zogen ihre Eltern mit den beiden Töchtern in die große Stadt. Unter vielen Tränen und trotz heftiger Proteste fügten sich die beiden Schwestern schließlich und sie schworen, dass sie wieder zurückkehren würden, später, wenn sie erwachsen waren. Zuerst fand sich die junge Frigga kaum zurecht in diesem neuen Leben. In dieser riesigen Stadt wimmelte es vor Menschen. Zu Tausenden lebten sie hier. Die Sehnsucht nach dem alten Zuhause schmerzte Frigga und ihre Schwester Dalia. Nach etwa einem Jahr aber kehrte das Glück zu der jungen Frigga zurück. Sie war kaum 18 Jahre alt, da begegnete sie an einem warmen Sommertag, der so herrlich wie der heutige war, einem jungen, gutaussehenden Rechtsgelehrten, der in der Stadt seine erste Anstellung gefunden hatte. Mit diesem Jonas Gretzko war sie ihrer großen Liebe begegnet und von nun an begann ein ganz neues Leben. Schon nach nicht einmal einem Jahr heirateten die Beiden. Sie lebten zwar etwas ärmlich, doch sie waren trotz allem glücklich. Einige Jahre später dann zog es Jonas und Frigga in die reiche, aufblühende Stadt Stendal in der Mark Brandenburg, wo ihr Gatte die Stellung eines Scriptors angenommen hatte. Schöne, harmonische Jahre folgten für das verliebte Paar. Dann kam ihre Anna zur Welt und die glückliche, kleine Familie bezog ein schönes Haus mit einem hübschen Garten dahinter. Ja, das Leben meinte es gut mit ihnen. Jonas stieg einige Jahre später zum Oberamtmann auf, was eine gesicherte, sorglose Zukunft für die Familie Gretzko bedeutete. Ihr Leben war geprägt von einem schönen, sorglosen Miteinander.

Vor anderthalb Jahren dann wurde ihr Jonas an den Hof des Markgrafen und Kurfürsten berufen. Für ihn bedeutete diese Stellung bei Joachim I. eine glückliche Fügung und eine Bestätigung für seine unermüdliche, hoch angesehene Arbeit als Oberamtmann.

Meist lebte die Familie Gretzko seitdem hier auf Rabenstein. Frigga hate dieses höfische Leben. Ihre Wohnräume waren dunkel und kalt. Selbst jetzt im Sommer fröstelte es Frigga oft. Neid, Intrigen und Heuchelei bestimmten in dieser Zeit das Leben der Familie hier am Hofe. Frigga machte Jonas jedoch niemals Vorwürfe, denn sie wusste um die Verantwortung und den Stolz, den ihr Mann empfand. Nicht selten fuhr man aber auch mit Joachims Entourage durchs Land ... in immer andere Burgen und Städte. Frigga sehnte sich zurück in ihr Haus in Stendal, zu den sorglosen Jahren dort.

Morgen in aller Frühe würde Jonas aufbrechen, um seinen Freund Andreas Mendel in Stendal zu besuchen. Frigga zog ihre Schultern hoch und verschränkte ihre Arme. Angespannt und unendlich traurig sah sie hinunter zu Anna. Ihr ganzer Trost blieb ihre Tochter.

Cornelius hatte es sich in der äußersten Ecke der Schenke am Marktplatz bequem gemacht. Zurückgelehnt, seine Arme hinter dem Kopf verschrenkt und die Beine auf dem vor ihm stehenden Hocker ausgestreckt, saß er hier und ließ sich den >Hypokras< schmecken. Genüsslich durchdachte er den heutigen Tag noch einmal und war äußerst zufrieden mit sich.

Es war ein arges Verhandeln gewesen mit dem Markmeister der Stadt. Schließlich hatte Cornelius die Standmiete für die Theatertruppe soweit nach unten gehandelt, dass er mit schnellen Schritten das Rathaus verließ, damit es sich der Herr der Märkte nicht noch einmal anders überlegte. Einen komfortablen Mietstall und ein Plätzchen in einer annehmbaren Scheune als Unterkunft ließ sich eigentlich schnell finden. Sogar an die hübsche Kleine hatte er gedacht. Diese Freda sollte man doch unbedingt mal im weichen Heu zu fassen bekommen. Und jetzt, da er schließlich die so von ihr ersehnten Informationen bekommen hatte, war sie ihm doch schließlich was schuldig.

Cornelius nahm wieder einen ordentlichen Schluck und zupfte seinen gezwirbelten Bart zurecht. Eigentlich war dieser delikate Auftrag von Freda das Schwierigste gewesen. Um diese Techler-Familie schien es hier in Stendal einiges Aufsehen gegeben zu haben. Musste die ganze Stadt damals in Aufregung versetzt haben. Hatten wohl ordentlich Dreck am Stecken die feinen Herrschaften. Lange Zeit erfuhr Cornelius nur kurze Andeutungen. Niemand wollte oder konnte sich angeblich erinnern. Endlich hatte er bei einer der Stadtwachen mehr Glück. Der junge Mensch war für ein paar Pfennige sehr redselig geworden. Cornelius war sich nicht vollends klar darüber, was eigentlich für Freda an dieser unappetitlichen Geschichte so interessant war.

Als die Turmuhr drüben von der Marienkirche die siebente Stunde ankündigte, erhob sich Cornelius, nahm seinen federgeschmückten Hut und seinen reichlich verzierten Gehstock. Lässig warf er ein paar Münzen auf den Tisch, rülpste wohlwollend in Richtung des Wirtes und verließ den „Roten Hahn“. Hier auf dem Markt wollten sie sich treffen. Wurde langsam Zeit, dass Thamson und seine Truppe eintrafen. Cornelius war wie immer besonders aufgeputzt, neue knielange Stiefel aus feinstem Rindsleder, die rote Hose und sein roter Wams stammten von einem guten Schneider. Dazu trug er eine hellbraune, reichbestickte lange Jacke. Sein Hut war übermäßig mit Federn geschmückt, wie auch an seinen Kleidern reichlich bunte Bänder befestigt waren. Er liebte das Erscheinungsbild eines reichen Gecken, obwohl er doch die Dreißig schon überschritten hatte. Eigentlich war Cornelius der unumstrittene erste Schauspieler der Wandertruppe und unentbehrlicher Vorreiter, der alles zu organisieren wusste, damit seine Leute in jeder Stadt vernünftig auftreten und nächtigen konnten. Im Grunde aber liebäugelte Cornelius seit längerem damit, irgendwann etwas Besseres zu finden, das ihm nach seiner Meinung auch unbedingt zustand. Wie man hörte, gab es jetzt auch in den großen Städten feste Theaterhäuser. So etwas könnte Cornelius schon gefallen. Diese Herumtreiberei im ganzen Land war etwas für Dilettanten.

Er stand nun also auf dem Stendaler Marktplatz und betrachtete jetzt etwas eindringlicher diese schöne Ansicht. Linkerhand zog sich ein langgestrecktes, flaches Gebäude fast über den ganzen Platz nach vorn. Daneben erkannte man das eigentliche Rathaus, an welchem gerade gebaut wurde. Daran schloss sich das scheinbar älteste Gebäude aus Backstein und mit hohen Spitzbögen unten an. Cornelius hatte erfahren, dass es sich dabei um die Gerichtslaube handelte. Ganz rechts vor diesem alten Gemäuer stand eine hölzerne Rolandfigur, wie er sie schon in manch anderen Städten gesehen hatte. Hinter diesen Rathausgebäuden erhoben sich die beiden mächtigen Türme der Stadtkirche Sankt Marien mit ihren hohen Spitzdächern. Insgesamt machte dieser große Platz einen erhabenen Eindruck auf den Schauspieler. Überhaupt gefiel Cornelius diese Stadt. Sie war anders als vergleichbare Städte und überraschend sauber.

Er wurde langsam ungeduldig. Wo blieb seine Truppe nur? Wurde sie etwa von Wegelagerern überfallen? Erst vor zwei Monaten lauerte den Spielleuten bei Fulda eine Horde armseliger Halunken auf. Zu ihrem großen Glück eilten ihnen zufällig einige berittene Edelleute zur Hilfe.

Da endlich zuckelte einer der beiden Wagen genau in diesem Moment hinten an der Gerichtslaube heran. Gekonnt kutschierte Theaterdirektor Thamson den großen Wagen und hielt schließlich mitten auf dem Markt. Der kleinere Kastenwagen tauchte nur wenig später hinten an der Rolandfigur auf.

Janko genoss es in vollen Zügen, bei seinem Bruder und dessen Frau Betty zu sein. Er fühlte sich hier richtig wohl. Die beiden bewohnten einen Dreiseitenhof inmitten von Stendal. Bestehend aus einem langgezogenen Vorderhaus und einem Seitenhaus, die zusammen in der ersten Etage eine umlaufende Galerie verband, war es ein recht großes Anwesen. Neben der großen Tordurchfahrt gab es noch einen linken Seitenflügel. Dort waren früher eine Schmiede und ein Pferdestall untergebracht. Jetzt legten fleißige Männer letzte Hand an, um aus der ehemaligen Schmiede drei Schlafkammern und eine Gesindeküche zu zaubern. Das Anwesen begrenzte nach Süden ein offen dahin fließendes Flüsschen. Auf dem Hof befand sich sogar ein hauseigener Brunnen. Am rechten Seitenflügel des Anwesens führte eine steile Außentreppe hinauf zur Galerie.

Andreas und Betty waren frisch vermählt, hatten erst vor zwei Monaten geheiratet. Diese Zeremonie verlief jedoch in aller Stille. Nur Andreas‘ Bruder und der alte Johann waren bei der Trauung zugegen. Die jungen Leute hätten dieses große Anwesen selbst nicht kaufen können. Andreas‘ bester Freund und ehemaliger Vorgesetzter Jonas Gretzko, hatte den freigewordenen Hof des Eigentümers Friedrich Lambert an die beiden jungen Leute vermitteln können. Das war im März des letzten Jahres geschehen. Andreas litt sehr darunter, dass sein wunderbarer Freund unmittelbar danach beim Kurfürsten eine neue Stellung angenommen hatte.

Als Scriptor und Unteramtmann verdiente er sehr ordentlich. Trotzdem mussten sich Betty und Andreas einschränken. An Bediensteten fehlte es den beiden. Der alte Johann war in Bettys Elternhaus jahrzehntelang in Stellung gewesen. Nun gab Johann hier sein Bestes, und doch war er allein für viel zu viele Dinge zuständig. Einzig eine Köchin leistete sich das junge Paar. Agnieska glich so gar nicht der allgemeinen Vorstellung von einer Köchin. Sie war groß und schlank. Schon als Kind kam sie mit ihren Eltern aus Lithuania nach Stendal. Sie war jetzt Ende Dreißig und hatte sich schon nach kurzer Zeit unentbehrlich gemacht. Was Betty besonders gefiel, war die Reinlichkeit, die Agnieska auszeichnete.

Die schlimmen Ereignisse damals im Jahre 1517 endeten mit dem Selbstmord von Bettys Vater Hermann Techler und mit der Arrestierung der Mutter. Bis heute wirkten diese Ereignisse nach bei den Schwestern Betty und Teresa wie auch in der gesamten Stadt. Die Familie Techler gehörte bis dahin zu den angesehensten Familien Stendals. Mit dem Tode des Vaters und der damit verbundenen Inhaftierung der Mutter einher ging jedoch die komplette Beschlagnahme des gesamten Familienvermögens einschließlich des großen Patrizierhauses im >Schadewachten<.

So war Betty froh, dass sie ihren Andreas hatte. Ihre Schwester Resi lebte inzwischen in Rotterdam und war seit über einem Jahr glücklich verheiratet. Man erwartete Teresa und ihren Mann Vincz in Kürze.

Zum Anlass der Hochzeit war Andreas‘ jüngerer Bruder Janko aus dem thüringischen Gotha angereist, um der Trauung beizuwohnen. Die beiden Brüder hatten sich seit Jahren nicht mehr gesehen. Obwohl sie sich immer recht nahe gestanden hatten, lebte doch jeder von ihnen sein ganz eigenes Leben. Janko war gerührt, dass sein Bruder nun endlich heiratete. Schließlich packte er sein Bündel und kam unverrichteter Dinge nach Stendal. Er bewohnte hier nun eine Kammer oben im zweiten Stock des Vorderhauses. Janko trug sich seit einigen Tagen mit dem Gedanken, sich hier in der reichen Handelsstadt Stendal niederzulassen. Der junge Mann war 26 Jahre alt und lebte allein. Er war knapp sechs Fuß groß, trug sein blondes Haar recht kurz geschnitten und war ein humorvoller, recht selbstsicherer Mann. Sowohl in Erfurt wie auch in Gotha hatte Janko wohl weiter dazugelernt im Schneiderhandwerk, sah allerdings dort kein Weiterkommen in seinem Beruf. Wäre es hier nicht möglich, sein eigenes Geschäft zu eröffnen? Diese Frage beschäftigte ihn in den letzten Wochen sehr. Vorher hatte sich Janko nicht mit solchen Gedanken beschäftigt, doch Stendal gefiel dem jungen Mann und er wäre ja auch nicht allein in dieser Stadt.

Jetzt, da sie alle drei am Tisch saßen, um ihr Abendessen gemeinsam zu genießen, brachte er seine Gedanken endlich vor. Etwas verlegen räusperte sich Janko. „Ich weiß, dass ich Euch Lieben zur Last falle“, wandte er sich an Betty. „Ich bin so gern bei Euch, das wisst Ihr, aber ich würde gern hier in Eurer Stadt sesshaft werden. Heute habe ich deshalb bei Schneider Melchior Quade vorgesprochen. Und wirklich; er nimmt mich in seine Dienste. Immerhin ist das ein erster Schritt. Meint ihr nicht auch“, brachte er mit halbvollen Mund hervor ohne aufzusehen. „Das finde ich ja großartig“, entgegnete Betty aufgeregt und strahlte Andreas an. „Das ist wunderbar. Hey, Dein Bruder hat eine Arbeit gefunden.“ Erwartungsvoll stupste sie ihren Mann an. Andreas war die ganze Zeit schon so bedrückt gewesen und auch jetzt mühte er sich ein gequältes Lächeln ab. „Was ist? Was hast Du denn?“ Betty schien etwas ärgerlich. „Nein, ich freue mich wirklich für Dich, Janko“, setzte Andreas nun an. „Diese ganze Situation bei uns hier macht mir Sorge. Betty hat nicht einmal eine eigene Folgemagd für sich. Johann ist einfach überfordert mit den Aufgaben und das Grundstück ist ein Traum, wenn man das nötige Geld dafür hat. Ich weiß nicht, wie es auf Dauer weitergehen soll.“ Betty hielt nun nachdenklich den Kopf auf ihren aufgestützten rechten Arm und schmollte.

„Mein lieber Bruder, meinst Du, mir ist diese schwierige Situation hier nicht auch aufgefallen? Warum macht Ihr beide es Euch so schwer? Die Arbeiten am Gesindetrakt gehen doch gut voran. Was Euch fehlt, ist ein Mann, der es versteht, mit Pferden umzugehen, und natürlich eine Magd für Betty und die grobe Hausarbeit. Nehmt doch etwas von dem zurückgelegten Geld von Elisabeths Mutter. Wie mir Betty selbst erzählte, hat sie es Euch doch mehrfach angeboten. So könnt ihr hier ohne Bedenken wieder eine Herberge eröffnen. Die Schoberfamilie kam doch wohl gut zurecht damals.“ Aufmunternd sah Janko zu Betty hinüber. „Es sollte doch möglich sein, zwei anständige Bedienstete zu bekommen, die für wenig Geld hier arbeiten. Schließlich habt Ihr durch den Mietstall und die Herberge auch Einnahmen.“ Andreas war aus seinen trübsinnigen Gedanken erwacht. Die beiden Eheleute schauten sich fragend an.

„Denkt darüber nach. Ich finde, dass es eine gute Möglichkeit für Euch beide wäre. Aber nun, lasst uns auf das erfreuliche Ereignis schauen. Betty, Deine Mutter wird also übermorgen endlich aus dem Arrest entlassen. Ich hoffe doch, Deine Mutter ist inzwischen etwas milder geworden. In meiner Erinnerung ist sie eine etwas schwierige Frau gewesen. Oh, bitte verzeih‘ mir.“ Janko sah spitzbübisch in das augenblicklich lächelnde Gesicht seiner Schwägerin. „Ja, zwanzig Monate sind dann endlich herum. Die letzten Wochen sind so bedächtig vergangen, aber nun hat sie es fast geschafft. Sie ist eben sehr schwierig, Janko.“ Vorfreude stand in Elisabeths Gesicht jedoch nicht geschrieben. „Es wird doch ein kleines Festessen geben?“ Natürlich wusste es Janko längst, denn Agnieska war unverkennbar seit gestern mit großen Vorbereitungen beschäftigt. „So lasst uns nun auf das Wohl von meiner Schwäherin trinken“, setzte Andreas verlegen lächelnd an und erhob seinen Kelch.

In Gedanken aber freute er sich um ein Vielfaches mehr, seinen besten Freund und ehemaligen Vorgesetzten, Jonas Gretzko, wiederzusehen. Er war ebenfalls zu diesem festlichen Anlass eingeladen, wie Bettys Schwester Resi und ihr Mann Vincz.

„Wann kommen denn eigentlich unsere Holländer? Ich bin so gespannt, sie endlich persönlich kennenzulernen. Ich meine, Resi war ja kaum erwachsen wie ich auch, als ich sie zuletzt sah. Müssen bald sieben Jahre sein, dass wir beide uns zuletzt gesehen haben.“ Tatsächlich hatte Janko lediglich seinen Bruder und Betty einmal vor zwei Jahren zu Besuch gehabt. Seit er hier in Stendal war, schwärmte Betty vor allem über diesen ihm noch unbekannten Vincz, der so wundervolle Geschichten aus seinem aufregenden Leben erzählen konnte.

Die >Vogelstraße< zweigte von Stendals wichtigstem Hauptverkehrsweg, der >Schmiedestraße<, ab und endete an der östlichen Stadtmauer. So vielversprechend der Name dieser Straße war, so beschaulich mutete sie auch durchaus an. Es gab hier eigentlich nichts Besonderes zu entdecken. Feine kleine Bürgerhäuser säumten diese ruhige, schmale Straße. Das vorletzte Haus auf der linken Seite fiel durch seine hübsch bemalten Fensterläden auf. Blumenranken, Vögel und Bäume waren hier und an der Eingangstür liebevoll dargestellt.

Altho Vegenkamp bewohnte dieses Haus seit fast drei Jahren. Nach unsteten Jahren, die er in Bremen, Lüneburg, Ludwigslust und schließlich am markgräflichkurfürstlichen Hof Joachim I. zugebracht hatte, hoffte er nun hier in der reichen Handelsstadt Stendal heimisch zu werden. Seit 15 Jahren lebte er nun schon allein. Den frühen Tod seiner geliebten Emma hatte Altho nie wirklich verwunden. Einzig die liebenswerte Luise begleitete ihn nun bereits seit vielen Jahren überall hin. Eigentlich war sie lediglich seine Köchin und Wirtschafterin. Vielmehr aber war sie inzwischen die gute Seele seines Heimes. Mit den Jahren war eine tiefe Vertraulichkeit zwischen ihr und ihrem Dienstherren entstanden. So kamen die beiden sich mit der Zeit näher und ab und an teilten sie auch das Bett.

Vom Rechtsgelehrten in Diensten des Stendaler Raths-Collegiums war Vegenkamp vor anderthalb Jahren zum Oberamtmann der Stadt aufgestiegen. Dieses verantwortungsvolle Amt hatte er von Jonas Gretzko übernommen, den es seinerseits an den Hof des Kurfürsten gezogen hatte.

Altho legte stets Wert auf eine elegante Erscheinung. Sein langes braunes Haar pflegte er ebenso gewissenhaft wie den korrekt gestutzten Kinnbart. Eine angemessene, modische Ausstrahlung war er sich selbst schuldig. Vegenkamp war jetzt 48 Jahre alt, doch er wirkte durchaus einige Jahre jünger. Nach den aufreibenden Stunden in seinem Amt widmete sich der Oberamtmann gern der Malerei. Mit den Jahren verfeinerte er seine Maltechnik immer weiter und inzwischen waren bereits beachtliche Bilder entstanden.

Heute allerdings saß er etwas missgestimmt in dem gepolsterten Lehnstuhl am Fenster zu seinem gepflegten Garten. Das reichliche Abendessen, welches Luise ihm auf dem kleinen, ovalen Tisch bereitgestellt hatte, war von ihm kaum angerührt worden. Hätte ich doch wenigstens den Scriptor Andreas von der Sache unterrichtet, dachte sich Altho nicht zum ersten Mal heute Abend. Sein Verhältnis zu Andreas Mendel war jedoch nur leidlich gut. Beide Männer fanden irgendwie nicht zueinander. Es lag nicht so sehr am Altersunterschied. Altho vermutete vielmehr, die tiefe Verehrung und enge Freundschaft zu Jonas Gretzko waren der Grund, weshalb es dem jüngeren Andreas schwerfiel, sich jetzt mit seinem neuen Vorgesetzten abzufinden.

Altho nahm noch etwas von dem wunderbar fruchtigen Getränk, das die aufmerksame Luise für ihn zubereitet hatte. Sonst konnte ihn allein ein Blick in seinen sorgsam gepflegten Garten trösten. Tatsächlich war dieses grüne Fleckchen hinter dem Haus ein hübscher Blickfang. Vegenkamp schaute auch jetzt aus dem Fenster. Allerdings beruhigte ihn heute der Anblick kaum.

Diese unbekannte junge Frau, die ihm ein Schauspieler angekündigt hatte, würde morgen früh in den >Schöppenstuhl< kommen, und sie beanspruchte für sich, Einsicht in die Unterlagen des unseligen Vorfalles, der die ganze Stadt damals im November 1517 in Aufruhr versetzt hatte. Hermann Techler, reichster und angesehenster Tuchhändler und zweiter Bürgermeister, war zusammen mit anderen einflussreichen Bürgern in einen heftigen Mord- und Intrigenskandal verwickelt. Der spätere Freitod des Herrn Techler und der öffentliche Prozess, dem der Kurfürst höchstselbst beiwohnte, waren mehr als hässlich. Diese dunklen Schatten von damals lagen bis heute drohend über der Stadt. Und ausgerechnet jetzt kam eine Unbekannte und verlangte, das man ihr Einsicht in diese unappetitlichen Akten gewährte. Altho hatte ein äußerst ungutes Gefühl. Was wollte diese Frau wirklich? Wer war sie? Vegenkamp war nicht wohl in seiner Haut. Er schlug einen Folianten auf, den er sich mit nach Hause genommen hatte. Er las:

„Samstag, den 13ten November 1517, unser geliebter, hochverehrter Markgraf und Kurfürst Joachim I. sowie Bürgermeister Betke Wulff, Rechtsbeistand Altho Vegenkamp nebst der Rechtsgelehrten Lukas Mergenthin und Malte von Kampen sitzen folgendem Prozess vor....“

Vegenkamp nahm sein Monokel ab und lehnte sich angespannt zurück. Weshalb hatte er nur dieses seltsam ungute Gefühl, wenn er an den morgigen Tag dachte? Erneut beugte er sich über den dicken Folianten, und versuchte sich an die Geschehnisse von damals zu erinnern.

Die Luft war stickig hier unter dem Dach. Diese Hitze lungerte nun schon seit Wochen in der Stadt herum. In seiner Kammer hier oben war es deshalb jetzt besonders unangenehm. Der Mann war von innerer Unruhe geplagt. Nervös schritt er durch seine Kammer und bemühte sich, seine Gedanken zu ordnen. Heute morgen war er noch so guter Dinge gewesen. Diese Nachricht vorhin hatte ihn völlig unerwartet getroffen. Eigentlich meinte er seit Wochen, gut auf diesen besonderen Tag vorbereitet zu sein, doch nun, da es ernst wurde, begann er zu zweifeln. Wer war sein Gegner? War er wirklich stark genug, um zu töten? Mit einem blütenweißen Taschentuch wischte er sich den Schweiß von der Stirn und versuchte, sich erneut zu konzentrieren. Es lag nun allein in seiner Hand. Wer konnte schon damit rechnen, dass es so schnell gehen würde? Der Mann ging in seiner Kammer nervös auf und ab. Morgen früh also würde diese Frau beim Oberamtmann im >Schöppenstuhl< sein. Nun gut, dann würde er eben vor ihr da sein. Es dürfte ein Leichtes für ihn sein, die Tür zum >Schöppenstuhl< zu öffnen. Nur durch einen dummen Zufall hatte er überhaupt davon erfahren, das sie schon morgen hier aufschlug. Jetzt beglückwünschte er sich, dass er stets hellhörig in den Schenken war. Dort erfuhr man alles Wissenswerte. Seine Gedanken wanderten zum >Schöppenstuhl<. Das alte Schloss dort an der Eingangstür sollte nicht wirklich ein Problem sein. Diese Tür war sehr alt. Er hatte vom Marktplatz vorhin einen Umweg gemacht und sich den Eingang angesehen. Wohl denn, Vegenkamp, genieße deinen letzten Abend.

Der Mann suchte mit den Augen nach der Flasche. Verdammt, es war doch noch Branntwein da, oder nicht? Da lag sie ja, die Korbflasche. Er schritt darauf zu und stieß mit der Fußspitze danach .... leer. Wie ärgerlich. Sein nächster Gedanke betraf sein Werkzeug. Lange genug hatte die Waffe in der kleinen Kiste gelegen. Morgen würde er sie brauchen. Der Mann zog den Schlüssel aus seiner Wamstasche, ging zu dem großen Eichenschrank, zog die untere Schublade raus und entnahm ihr eine reich verzierte, längliche Kiste. Er führte ganz langsam den Schlüssel ins Schloss und öffnete das wertvolle Behältnis. Zusammen mit der seltsamen Waffe war es ein Andenken aus seiner Zeit in Mantua. Kurz flogen seine Gedanken zurück in die schöne Stadt in der Lombardei. Der Mann konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Das waren noch Zeiten für ihn. Irgendwann kehre ich dorthin zurück, beschloss er. Dafür lohnte es sich, hier wenigstens zwei Morde zu begehen.

Nun hielt er sie nach über drei Jahren wieder in der Hand. Das kleine Abbild einer Armbrust lag gut in der Hand. Einmal hatte dieses Schmuckstück schon sein Leben gerettet. Das war eine unappetitliche Geschichte damals in der Lombardei. Er griff zu dem weichen Lappen, der auf dem Boden der Kiste lag und fuhr damit fast liebevoll über das eiserne Gerät. Ja, er fühlte sich dafür stark genug. Es konnte beginnen..

Johann wusste es selbst. Etwas mürrisch und unnahbar verhielt er sich in den letzten Tagen. Das gehörte sich nicht und hätte bei jeder anderen Herrschaft böse Folgen. Zum Glück war seine Dienstherrin ihm von klein auf sehr zugetan. Elisabeth Techler suchte bereits als Kind so oft es ging die Nähe zu den Dienstboten und ganz besonders zu ihm, den ersten Diener im vornehmen Techlerschen Haushalt. Und Johann genoss das unbekümmerte, humorvolle und zutrauliche Gemüt der jüngeren Tochter seiner Herrschaft. Das änderte sich auch nicht, je älter Betty wurde. Dieses unübliche, liebevolle Verhältnis zwischen der Tochter des einflussreichsten Tuchhändlers und Rhatsherren Hermann Techler und dessen erstem Diener Johann Kagelmann wurde mit den Jahren eher noch enger. War es die oft vermisste Liebe des Vaters ihr gegenüber, der sich zwar bemühte, es nicht offen zu zeigen, doch schenkte er offensichtlich all seine Liebe der älteren Tochter Teresa.

Irgendwie gehörte Johann für Elisabeth immer zu ihrer Familie dazu. Als dann das große Unglück über die Techlers hereinbrach, Betty und Resi erst den Vater durch Selbstmord, die Mutter durch ihre Inhaftierung und sie schließlich auch noch ihr Zuhause verloren, nahmen Andreas und Betty ganz selbstverständlich den alten Diener in ihrem neuen Heim auf. Wo sonst hätte Johann in seinem Alter noch eine Arbeit finden können? Seit anderthalb Jahren lebte er nun bei den Jungverheirateten und war ihnen zutiefst dankbar. Mit 71 Jahren fiel ihm die Arbeit natürlich schon recht schwer, doch Johann gab sein Bestes.

In den letzten Tagen fühlte er sich allerdings sehr unbehaglich. Natürlich zwickte es hier und da bei ihm, doch es war nichts Körperliches, was Johann Sorge bereitete. Der Grund für seine Verstimmtheit lag auf der Hand. Seine ehemalige Dienstherrin, Frauke Techler, würde am Sonntag ihre Haftstrafe abgegolten haben und sie würde zunächst hier im Haushalt der Tochter Elisabeth wohnen. Sie war immer schon sehr unnahbar, äußerst streng, unnachgiebig und resolut gegenüber ihren Dienstboten. Was würde sich für Johann ändern? Er sah diesem Tag sehr misstrauisch entgegen. Und da kamen bei ihm natürlich auch noch ganz andere, längst beiseite geschobene Befürchtungen hoch. Johann fühlte eine gewisse Hilflosigkeit. Niemandem konnte der alte Diener sein Herz ausschütten.

Samstag, 12. Juli

Der neue Tag hatte die Nacht bereits beiseitegeschoben, doch nur zögerlich erwacht die Stadt vollends an diesem samstäglichen Morgen. Der Boden ist hier und da noch feucht vom nächtlichen Regen. Die letzte Nacht hat eine angenehme Luft zurückgelassen, doch schon bald wird sich der Tag einer drückenden Schwüle bedienen.

Am öffentlichen Ziehbrunnen auf dem >Saumarkt< haben sich bereits die ersten Mägde eingefunden und tauschen Stendaler Klatsch und Tratsch aus. So früh am Morgen haben die Weiber noch Zeit, sich über die wirklich interessanten Dinge in der Stadt zu unterhalten. Unterdessen dreht Kehrichtfeger Sigmund Tenner seine letzten Bahnen in der nahen >Petrikirchstraße<.

Durch die Notpforte an der >Mollenstraße< ist gerade Fischer Lütge Krieger mit seinem mäßigen Fang zurückgekehrt und schwenkt aufmunternd seinen Hut in Richtung Tenner. Der alte Ausrufer Tobias Wenzke hat den müden Bürgern bereits die fünfte Stunde verkündet. Er reibt sich müde die Augen und ruft dann der dicken Tilde am Brunnen etwas Obszönes zu. Sein Dienst ist beendet und er kann sich nun zu den Weibern dort gesellen. Für ein kleines Schwätzchen ist Wenzke immer zu haben. Auch der Kloakenreiniger Albrecht Boeneke hat sein Werk vollbracht und kann nun ebenfalls nach Hause in sein bescheidenes Heim an der >Kleinen Jüdenstraße< zurückkehren.

Gemächlich geht es zu, denn es ist ja Samstag. Und nun hört man auch die jungen Milchmädchen rufen. Da gibt es schon mal Zank und Streit, denn jedes von ihnen will schneller sein als die anderen. Und doch geht alles heute geruhsamer zu als an gewöhnlichen Wochentagen.

Agnieska, die Köchin der Mendels, hat nur einen kurzen, verächtlichen Blick für das morgendliche Treiben. Sie hat wie an fast jedem anderen Tag das Haus mit gehöriger Wut im Bauch verlassen. Agnieska schnaubt verächtlich aus. Das war ihre letzte Nacht bei Tante Gosia. Der neue Gesindetrakt auf dem Anwesen ihres Dienstherren erspart ihr ab morgen das ewige Gezeter und Gezänk. Endlich hat sie nun ihre eigene Kammer auf dem Hof. Sie hält sich das mitgenommene Tuch vor die Nase, denn ihr Weg führt sie nun gleich durch die stinkende >Uchtstraße<. Das Wasser des Flüsschens schimmert vielfarbig. Die Straße ist schmal gehalten, denn sie muss sich mit der Hälfte des Platzes bescheiden. Die andere Hälfte beansprucht die Uchte. Drüben werden die unförmigen Kessel unter den großen Vordächern bereits erhitzt. Schon jetzt herrscht emsiges Treiben. Die Färber und Gerber gehen hier in der >Uchtstraße< und auch schon vorn an der >Mollenstraße< ihrer schweren Arbeit nach. Kleine Brücken führen von jedem Grundstück über das Flüsschen.

Agnieska hat es eilig. Nicht, weil sie möglichst schnell zur Arbeit will, sondern weil sie äußerst empfindlich ist für Gestank jeglicher Art. In ihrem Kopf spukt schon das heutige opulente Essen für die Gäste aus Holland und das für morgen vorgesehene Willkommensfest für die Mutter des Scriptors. Eine, die an die zwei Jahre im Gefängnis hinter sich hat. Agnieska spuckte verächtlich in hohem Bogen in den Fluss. Diese reichen Herrschaften können sich’s ja leisten, denkt sie sich angewidert und hat nun bald diese Straße hier passiert.

Blauer Himmel, die Sonne scheint ungehindert auf den Stendaler Marktplatz. Es wird wohl wieder einen heißen Sommertag geben. Gediegene, feine Bürgerhäuser umstehen den wichtigsten Platz der Stadt. Zu Füßen der mächtigen Stadtkirche Sankt Marien mit ihren hochaufragenden Doppeltürmen finden zweimal wöchentlich die weithin beliebten Märkte statt. Händler aus nah und fern werkeln noch und legen letzte Hand an, um ihre Waren möglichst günstig zu platzieren. Schnell noch einige kleine Änderungen werden an den Ständen und auch an den Zeltbahnen darüber vorgenommen, damit man den heißen Tag hier auf dem Wochenmarkt leidlich überstehen kann.

Kasper Grieger wischte sich den Schweiß aus der Stirn und schaute kritisch beim Aufrichten des riesigen Holzkreuzes vor dem Rathaus zu. Die Arbeiter zogen gekonnt das schwere Ding an armdicken Tauen in die Höhe. Dieses Kreuz bedeutete, dass Ruhe und Ordnung für die Dauer des Markttreibens einzuhalten waren. Das galt schon von jeher so. Grieger war ein stattlicher, wohlbeleibter Herr in den Vierzigern. Es war für den Mann selbstverständlich, sich den Stendalern stets gut gewandet zu zeigen. Schließlich war Grieger nicht irgendwer. Heute zeigte sich der Stendaler Markmeister in feiner schwarzer Samtkniehose, einem langen Gehrock des gleichen Stoffes, einem teuren, weinroten Wams mit silbernen Knöpfen und schwarzglänzenden Schnallenschuhen. Seine rot-weiße Schärpe, der Glockenkranz und die am unteren Knopf befestigte Trillerpfeife machten für jedermann sichtbar; hier kam der Herr der Märkte. Dieser elegante Herr neigte allerdings sehr zum Schwitzen. Das mochte zum Teil an seinem Übergewicht, zum anderen wohl auch am häufigen Bierverzehr liegen. Grieger empfand das Leid des Schwitzens als eine Last und außerdem als ein Ärgernis, ja sogar einen Makel an seinem ansonsten tadellosen Äußeren. Schon wieder wischte er sich den Schweiß aus Nacken und Gesicht. Dann endlich nahm der Markmeister seinen adretten schwarzen Federhut vom Kopf und wedelte sich Luft zu. Sein Blick wanderte durch das Gewirr der unzähligen Stände. Seinen wachen Augen entging nichts. Auch wenn der Tag noch jung war, auf dem Platz wimmelte es bereits von Menschen. Die feineren Herrschaften indessen hielten sich natürlich noch zurück. Sie würden den heutigen Markt erst am Nachmittag mit ihrem wohlfeinen Erscheinen beglücken. Schon hatte Grieger die pralle Marie ausgemacht, die ihren Stand mit Eiern, Speck, Obst und Gemüse drapierte. Er schnalzte genüsslich mit der Zunge. Das galt nicht den Auslagen, sondern eher dem Weib hinter dem Stand.

Und da war ja auch Elsi zu sehen, die das liebliche Backwerk ihres einfältigen Gatten anpries. Auch mit Elsi verband der Markmeister recht delikate Gedanken an einige unvergessliche Schäferstündchen. Grieger richtete seinen geübten Blick nun in Richtung der Rolandfigur. Da musste doch irgendwo .... Aha, die fesche Lisbeth war anscheinend bereits fertig mit ihrem Stand, an welchem sie wie immer feine Hemden, Röcke, Hosen, Schürzen aus Linnen und Kapok feilbot. Jetzt lehnte das kokette Luder aufreizend an der Gerichtslaube. Grieger wischte sich bei ihrem Anblick erneut die Stirn.. Da fiel ihm wieder ein, dass heute diese unbekannten Theaterleute auf dem Platz waren. Sein scharfer Blick blieb dann auch an der nordwestlichen Ecke des Marktes am Wagen der Spielleute hängen. Sogleich straffte er sich und besah schnell noch einmal seine Kleider von oben bis unten. Daraufhin ergriff er seinen fein gedrechselten Stock und machte sich auf den Weg dorthin.