Im Schatten des Fuchsmondes - Antje Babendererde - E-Book

Im Schatten des Fuchsmondes E-Book

Antje Babendererde

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Beschreibung

Der wild-romantische Liebesroman der preisgekrönten Antje Babendererde - wie Urlaub für Herz und Seele! Dieses Jahr ist für Lia auf dem Landsitz ihrer Familie nichts mehr, wie es einmal war - wegen Finn, dem Neffen des Wildhüters. Lia kann sich seiner geheimnisvollen Art nicht entziehen. Obwohl er sie mit seinen spöttischen Sprüchen herausfordert, verliebt sich Hals über Kopf in ihn. Als Finn ihre Gefühle erwidert, scheint Lias Sommer perfekt. Doch wer ist dieser Junge wirklich, der mit einem wilden Fuchs Ball spielt und ihm Gedichte vorliest? Bald erreichen die Schatten der Vergangenheit die Wildnis von Badfearna. Sie bringen Dinge über Finn ans Licht, die keinen Zweifel lassen: Ein Mädchen wie Lia hat in seinem Leben keinen Platz. Kann man vor der Liebe weglaufen - oder vor sich selbst? Wild und rau wie Schottland: Die privilegierte Lia und Finn aus der Arbeiterklasse verlieben sich gegen alle Widerstände. Eine Geschichte über verletzte Gefühle - und die Kraft der Natur, sie zu heilen. Zum Dahinschmelzen schön und voller kribbelnder Sehnsuchtsmomente! Gedruckt auf Recycling-Umweltschutzpapier, zertifiziert mit dem Blauen Engel. Ausgezeichnet mit dem DELIA-Literaturpreis Junge Liebe 2023

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Seitenzahl: 508

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Im Schatten des Fuchsmondes ist auch als Hörbuch erhältlich.

 

 

 

Antje Babendererde,

geboren 1963, wuchs in Thüringen auf und arbeitete nach dem Abi als Hortnerin, Arbeitstherapeutin und Töpferin, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Seit vielen Jahren gilt ihr besonderes Interesse der Kultur, Geschichte und heutigen Situation der Indianer, ihre einfühlsamen Romane zu diesem Thema für Erwachsene wie für Jugendliche werden von der Kritik hoch gelobt. Zum zweiten Mal entführt Antje Babendererde ihre Leser nun in die schottischen Highlands, an die sie auf ihren Reisen ihr Herz verloren hat.

Mehr Infos und Austausch mit Antje Babendererde unter antje-babendererde.de und bei Instagram: antje.babendererde.autorin

Antje Babendererde

Im Schatten des Fuchsmondes

HINWEIS

Dieses Buch kann sensible Themen enthalten. Weitere Informationen dazu findest du am Ende des Buches. (Achtung: Diese Hinweise enthalten Spoiler!)

 

 

Die Autorin dankt der Kulturstiftung Thüringen für die Unterstützung ihrer Arbeit an diesem Roman.

Ein Verlag in der Westermann Gruppe

 

© 2022 Arena Verlag GmbH

Rottendorfer Str. 16, 97074 Würzburg

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München, unter Verwendung von Bildern von AdobeStock © Abundzu, Rechitan Sorin, Iuliia Pilipeichenko, Kevin George, Ystewarthenderson und milanares sowie von Shutterstock © Bastian Kienitz, Pfeiffer

Innenvignette: AdobeStock © Abundzu

E-Book-Herstellung: Arena Verlag mit parsX, pagina GmbH, Tübingen

E-Book ISBN978-3-401-81023-2

 

Besuche den Arena Verlag im Netz:

www.arena-verlag.de

Neunzehn Jahre zuvor

Olivia presste sich so fest an Fraser, dass kein Hauch Luft mehr zwischen sie passte. Ihr Körper bebte noch von seiner Liebe. Sie lagen unter einer abgestorbenen Eiche, einem Wunschbaum, auf einer Insel inmitten eines Sees in den schottischen Highlands und weißes Mondlicht schien durch die schwarzen Äste auf ihre bloßen Körper herab.

In der warmen Augustnacht lag der Duft von Erde, Moos und Heide. Ein kleines Tier huschte raschelnd durchs trockene Eichenlaub und ein Nachtvogel schrie. Olivia schmiegte sich an den jungen Mann, den sie erst seit ein paar Stunden kannte. Diese Nacht war das Romantischste, was sie mit ihren neunzehn Jahren bisher erlebt hatte.

Zwei Wochen lang hatte Olivia im Loch Maree Hotel als Kellnerin gearbeitet und heute war ihr letzter Tag. Morgen würde sie in ihre schäbige kleine Hochhauswohnung in Barrowfield auf der Glasgower East Side zurückkehren, um ihren Job im Crafty Joes zu beginnen, einer Kellerbar, in der sich jeden Abend die zwielichtigen Gestalten des Viertels versammelten.

Aus der brodelnden Stadt heraus und weg von Johnny zu sein, hatte ihr gutgetan. Fraser tat ihr gut. Der junge Mann mit dem dicken hellen Haar war sanft und um Längen klüger als ihr Freund. Er küsste sie und erzählte ihr, dass ein irischer Mönch Anfang des 8. Jahrhunderts eine Kapelle auf der Insel errichten ließ, in deren eingefallenen Mauern der Wunschbaum gewachsen war. In seinen Stamm hatte man über die Jahre Hunderte Münzen getrieben, weil die Menschen bis heute glaubten, das würde Wünsche erfüllen und Krankheiten heilen.

Fraser warnte Olivia, nichts von der Insel mitzunehmen, nicht einmal eine vertrocknete Eichel, weil das Unglück über sie bringen würde. Doch Olivia lachte nur. Sie war ein modernes Mädchen aus der Stadt und glaubte nicht an solche Dinge.

Das Kupfer der alten Münzen hatte den Baum schon vor langer Zeit absterben lassen und große Äste waren heruntergebrochen. Mit einem Stein hatte Fraser einen Penny in den Stamm getrieben und Olivia aufgefordert, sich etwas zu wünschen. Daraufhin hatte sie den Schlafsack unter dem Baum ausgebreitet und sich ausgezogen.

Hand in Hand liefen sie in den See, um zu schwimmen. Die Wasseroberfläche war ein glatter Spiegel, auf dem ein heller Mond schwamm. Es war ein Moment magischen Glücks und ihr Lachen vermischte sich mit dem Ruf des Vogels. Als sie ans Ufer stiegen, hob Olivia heimlich einen Kiesel auf, der in ihrer Hand wie ein Mondstein schimmerte. Sie wollte etwas mitnehmen von diesem verwunschenen Ort, etwas, das sie für immer an diese Nacht erinnern würde. Sie liebten sich noch einmal und als Fraser sie im Boot zurück zum Hotel ruderte, steckte der Stein in Olivias Jeanstasche.

Zu Hause in Glasgow legte sie den weißen Kiesel in eine Schatulle, in der sie ihren Schmuck aufbewahrte. Und erinnerte sich erst wieder an ihn, als das Unglück begann.

Kapitel 1

Die Rosabel, unser kleines Boot mit dem schwarzen Rumpf, gesteuert vom alten Duncan, tuckert zwischen Eilean Sùbhainn und Eilean Eachainn durch die klaren Wasser des Loch Maree, während über den dichten Kiefernkronen ein Fischadler seine Kreise zieht. Kein Wind bewegt die Wasserfläche des Lochs, auf der sich die schlanken, kupferfarbenen Stämme der schottischen Kiefern spiegeln wie ein schwimmender Wald voller dunkler Geheimnisse.

Während der fünfzehnminütigen Überfahrt von Sliochewe zu unserem Landsitz am anderen Ufer kommt es mir jedes Mal vor, als würde ich zwischen den Inseln eine unsichtbare Grenze überschreiten und die wirkliche Welt hinter mir zurückbleiben. Badfearna ruft nach mir. Ein kribbelndes Gefühl der Vorfreude summt in meiner Brust und ich kann es kaum erwarten, mit meinem Kajak durch das Labyrinth der Inseln zu paddeln.

Duncan McGowan, unser Wildhüter, steuert das Boot aus der Passage zwischen den Inseln und am anderen Ufer erhebt sich hoch über dem Waldstreifen und den steilen grünen Hängen der graue Gipfel des Sliochs in den strahlend blauen Himmel. Auf Gälisch bedeutet Slioch »Speer«, doch aus dieser Richtung ähnelt die Silhouette des Berges eher einem Backenzahn. Laut Duncan stammt der Name aus einer Zeit, als man eine Rechnung noch mit einem Speer als Zahlungsmittel begleichen konnte.

Der Slioch ist geologisch einer der ältesten Berge Schottlands und von majestätischer Schönheit. Mit seinen schroffen grauen Felswänden wirkt er abweisend, wie jemand, dem man lieber nicht zu nahe kommt. Doch dieser Eindruck täuscht. Der Weg zum Gipfel ist lang, steinig und manchmal auch sehr steil, aber jede Anstrengung wert.

Hallo, mein Freund, begrüße ich den Berg mit einem Lächeln, während ich gedankenverloren Duncans schwarzen Labrador-Retriever Archie hinter den weichen Ohren streichle.

Auf einmal habe ich das Gefühl, von Eispfeilen getroffen zu werden, und mein Kopf schwenkt automatisch in Kelsis Richtung. Vermutlich hat meine kleine Schwester mich verträumt lächeln sehen und ihr smaragdgrüner Blick straft mich dafür mit tödlicher Verachtung. Sie empfindet unsere Ferien auf Badfearna als Strafe und gibt mir die Schuld daran, dass sie hier sein muss.

Das Thermometer an der Steuerkabine zeigt nur fünfzehn Grad, aber Kelsi trägt ein leichtes geblümtes Kleid, als könne sie den Sommer auf diese Art mit Macht heraufbeschwören. Ihre ellenlangen, sorgfältig rasierten Beine stecken in Stiefeletten von Erdem, schwarzes Leder mit zarten weißen Blüten. Kelsis dünne Arme und Beine sind von einer Gänsehaut überzogen und ihr ganzer Körper verströmt Trotz.

Meine Schwester würde alles dafür geben, jetzt mit Mum im warmen Kalifornien zu sein, um bei Granny Lou und Grandpa Jack wie geplant die Sommerferien zu verbringen. Doch ein Waldbrand hatte im Juni bei Sacramento fünfzehn Häuser vernichtet, unter anderem auch die Villa unserer amerikanischen Großeltern. Als das Feuer ausbrach und sich rasend schnell verbreitete, waren sie mit Freunden in Alaska zum Angeln und hatten nichts retten können. Ihr ganzes Leben lag in Schutt und Asche, aber sie waren zum Glück mit heiler Haut davongekommen.

Als Grandpa Jack die verkohlten Überreste seines Hauses erblickte, erlitt er einen Herzinfarkt. Inzwischen ist er auf dem Weg der Besserung, allerdings noch schwach, und Granny ist hilflos ohne ihn. Vor zwei Wochen war Mum ohne uns nach Sacramento geflogen, um sich um ihren Vater zu kümmern und ihren Eltern bei der Suche nach einem neuen Haus und der Abwicklung der Versicherungen zu helfen.

Dad muss sich um unsere Ländereien und die Jagdlodge kümmern, deshalb gab es für Kelsi und mich nur zwei Möglichkeiten: unter der Fuchtel von Großtante Heather in Edinburgh bleiben oder unseren Vater nach Badfearna begleiten. Edinburgh und die humorlose Tante waren keine Option für mich – und Dad sichtlich erleichtert, als ich mich entschied, ihn nach Badfearna zu begleiten. Kelsi musste natürlich mit, denn er wollte sie keinesfalls allein bei seiner fast achtzigjährigen Tante in Edinburgh zurücklassen.

Statt im sonnigen Kalifornien am Strand zu liegen oder sich in Edinburgh mit ihren Freundinnen und ihrem heimlichen Liebsten zu treffen, ist Kelsi dazu verdammt, sich auf Badfearna zu Tode zu langweilen. Und sollte sie weiterhin in solchen dünnen Fähnchen herumlaufen, schafft sie es bestimmt vorher noch, sich ihren kleinen Hintern abzufrieren. Denn Sommer in den Highlands bedeuten selten wirklich Sommer.

Früher hat Kelsi es genauso geliebt, auf unserem Landgut zu sein wie ich. Doch seit sie sich in ein Insta-Sternchen verwandelt hat und hauptsächlich mit Klamotten und Jungs beschäftigt ist, hält meine Schwester unseren alten Clansitz für den ödesten Ort der Welt.

Auf der Website der Jagdlodge hat Dad Badfearna Estate als letzte große Wildnis Schottlands angepriesen. Das mag unbescheiden klingen, doch es stimmt. Einfach, weil es keine befestigte Straße zu unserem Anwesen gibt. Weil man die Fünf-Sterne-Lodge nur mit dem Boot erreichen kann. Und weil es ein kleines Vermögen kostet, die Lodge für eine Jagd zu mieten. Während des Lockdowns hat Dad das Herrenhaus von Grund auf renovieren lassen, denn mit dem Angebot von Sportjagden will er die Zukunft unserer Ländereien sichern.

Inzwischen nähern wir uns der Anlegestelle am anderen Seeufer, wo, eingebettet in das üppige Grün der Erlen, Kiefern und Eichen, umgeben von bunt blühenden Sträuchern, die leuchtend weiß getünchten Mauern des Herrenhauses auftauchen. Mit seinen vier Seitenflügeln, dem runden Glockenturm, den Sprossenfenstern und den Stufengiebeln samt ihren überhängenden Ecktürmchen wirkt unser vierhundert Jahre alter Familiensitz wie ein kleines Märchenschloss.

Als Kinder haben Kelsi und ich in dem alten viktorianischen Gemäuer mit Begeisterung eingekerkerte Schottenprinzessinnen gespielt. Natürlich wurden wir jedes Mal von einem mutigen Highlander im Kilt befreit und vom Fleck weg geheiratet, um eine Schar Kinder in die Welt zu setzen. Was meinen Helden anging, hatte ich dabei im Gegensatz zu Kelsi nicht unseren Vater, sondern Struan Carrick, den rothaarigen, verträumten Sohn unseres Verwalters vor Augen, der zwei Jahre älter ist als ich. Stru erfüllte seine ihm zugeteilte Rolle mit leidenschaftlicher Begeisterung. Doch sein Dad fand es weibisch, mit zwei kleinen Mädchen in Gardinenkleidern zu spielen, und nahm ihn, sooft es ging, mit auf die Jagd.

Seit er seine Wildhüterausbildung am North Highland College in Thurso macht, habe ich Struan nur noch selten gesehen, aber wir sind ab und an per WhatsApp in Verbindung und er liked regelmäßig die Tier- und Naturfotos, die ich auf meinem Instagram-Account hochlade. Struan liebt Badfearna genauso sehr wie ich.

Inzwischen bin ich zu alt für Kinderspiele, aber der Gedanke an Struan Carrick lässt mein Herz immer noch höherschlagen. Er ist jetzt neunzehn und definitiv kein Junge mehr, davon konnte ich mich letztes Hogmany überzeugen, das schottische Silvester, das unsere Familie traditionsgemäß auf Badfearna verbringt. Struan macht zurzeit ein Praktikum auf einem Jagdgut in den Cairngorms, wird aber bald nach Hause kommen, um Duncan als Stalker bei der Jagd zur Hand zu gehen. Insgeheim wünsche ich mir, er wäre längst hier. Dann wäre mein Sommer perfekt.

Dad blickt zum Pier, wo unsere Ankunft bereits erwartet wird. Sein Gesicht ist voller Anspannung. Für die letzte Juliwoche haben sich fünf Jagdgäste aus London in die Lodge eingemietet. Zwei Investmentbanker mit ihren Frauen und einem russischen Geschäftsfreund. Sie sind unsere ersten offiziellen Jagdgäste. Vor der Renovierung der Lodge hat Dad nur private Jagden für Bekannte und seine Geschäftspartner veranstaltet.

Mein Vater Alexander Malcolm MacKenzie ist ein direkter Nachfahre der MacKenzies von Kintail, ein schottischer Laird, und Badfearna ist der Sitz seiner Familie seit fünfhundert Jahren. Mum ist waschechte Amerikanerin und war in ihrem früheren Leben ein gefeiertes Model für Labels wie Polo Ralph Lauren und Gucci. Die beiden haben sich in Berkeley kennengelernt, wo Dad ein Jahr lang Ingenieurwesen studiert hat. In letzter Zeit gab es immer häufiger Streit zwischen unseren Eltern, dabei ging es meistens um Geld. Durch Corona und den Brexit war Dads Baufirma haarscharf an einer Pleite vorbeigeschlittert und die Renovierung der Lodge wäre ohne finanzielle Hilfe von Mums Eltern nicht möglich gewesen.

Wenn die Engländer und der Russe anreisen, soll in der Lodge und auf dem Anwesen alles perfekt sein, damit die Gäste die Unterkunft, das Ambiente und den Service in den höchsten Tönen loben und weiterempfehlen unter ihren reichen Geschäftsfreunden. Deshalb wird Dad in den nächsten drei Wochen schwer beschäftigt sein und sich kaum um Kelsi und mich kümmern können. Mir ist das nur recht. Ich liebe meine Freiheit auf Badfearna und es macht mir nichts aus, mich allein zu beschäftigen. Aber meine kleine Schwester braucht viel Aufmerksamkeit und langweilt sich schnell.

Duncan, die schwarze Strickmütze tief ins faltige Gesicht gezogen, steuert die Rosabel an den gemauerten Pier. Fergus Carrick, der mit einem Quad samt Anhänger bereitsteht, um unsere zahlreichen Gepäckstücke ins Haus zu transportieren, macht sie fest. Carrick, ein stämmiger Mann mit rotem Bart und grüner Sherlock-Holmes-Mütze, begrüßt Dad und erkundigt sich, ob die Anreise aus Edinburgh angenehm war.

»Miss Lia, Miss Kelsi.« Nach einer ritterlichen Verbeugung hilft Carrick erst mir und dann Kelsi aus dem Boot. »Die jungen Ladys werden von Mal zu Mal hübscher«, sagt er mit starkem schottischem Akzent, als wir auf dem Pier stehen.

Kelsi, auf die sein Kompliment durchaus zutrifft, reckt das Kinn noch ein wenig mehr in die Höhe. Mit Argusaugen wacht sie über ihr Gepäck, vor allem den metallic-pinkfarbenen Rollkoffer, der von Carrick auf den Wagen geladen wird.

»Hallo, Mr Carrick«, sage ich, »schön, Sie zu sehen.« Lieber wäre mir gewesen, Struan hätte am Pier gestanden, aber auf meine letzte WhatsApp hat er nicht geantwortet, und seinen Vater nach ihm fragen, das werde ich auf keinen Fall tun – nicht vor Kelsi.

Meine Schwester verdreht die Augen – etwas, das sie sehr eindrucksvoll kann – und zischt mir »Schleim, schleim!« zu. Dann widmet sie sich ihrem ebenfalls metallic-pinkfarbenen Smartphone und stöhnt mit zusammengezogenen Augenbrauen, als sich nur ein winziger Balken zeigt.

»Keine Angst, kleine Elfe«, sagt Dad, »näher am Haus ist der Empfang besser.«

Als ob Kelsi das nicht wüsste. Doch so, wie ich sie kenne, wird sie keine Gelegenheit auslassen, Dad und mir ihren Frust über ihr unfreiwilliges Hiersein kundzutun. Sie schultert ihre Handtasche von Alexander McQueen mit dem silbernen Totenkopf und stiefelt davon. Die schwarzen Locken wippen auf ihrem schmalen Rücken. Meine schöne kleine Schwester ist in der Prinzessinnenphase stecken geblieben und das ist meganervig. Dad schaut ihr stirnrunzelnd hinterher. Kelsi ist für ihn ein Wesen von einem anderen Stern, das eine fremde Sprache spricht. Und solange Mum nicht bei uns ist, werde ich notgedrungen zwischen ihm und ihr als interstellare Dolmetscherin fungieren müssen.

Dad und Fergus verladen das Gepäck und fahren zum Haus. Unser Domizil ist nicht das Märchenschloss, das bleibt seit der Renovierung den zahlenden Gästen vorbehalten. Die nächsten Wochen werden wir im schiefergedeckten Granitsteingebäude gleich dahinter wohnen, in dem früher die Bediensteten untergebracht waren. Obwohl nur ein paar der Mauersteine, die Regenrohre und die Eingangstüren schwarz sind, nennen wir es das Blackhouse. Auch in diesem Gebäude hat es Renovierungsarbeiten gegeben: Neue Fenster wurden eingebaut und eine neue Heizungsanlage, aber so luxuriös wie in der Lodge ist es zu Kelsis Leidwesen nicht.

Mum hat die Jagdlodge nach der aufwendigen Renovierung stilvoll einrichten lassen, sie war damit sogar über drei Seiten im Land Business Magazine gewesen, was uns sofort mehrere Buchungsanfragen eingebracht hatte. Mir ist das neue Hochglanz-Ambiente etwas zu stylish und perfekt. Als wir noch in der Lodge gewohnt haben, fand ich die Räume gemütlicher. Kelsi hingegen nervt es, dass wir nun im »Gesindehaus« wohnen.

Meine Schwester ist praktisch pausenlos online, als wäre ihr Leben eine einzige Insta-Story. Ständig macht sie Selfies, postet Fotos von sich und erzählt, was sie gerade denkt, um ihre Fangemeinde auf dem Laufenden zu halten. Zwischen antiken Möbeln, goldgerahmten Bildern, Schottenkaros und edlem Nippes zu wohnen, also in der Jagdlodge, damit hätte sie mehr Aufmerksamkeit bei ihren inzwischen dreitausend Followern gehabt.

Ich schultere meinen Rucksack und warte mit Archie auf Duncan, der die Rosabel noch in den Bootsschuppen fährt. Der Wildhüter hat schon mit sechzehn für Granda Hamish gearbeitet, als mein Großvater noch ein junger Laird war und das Anwesen gerade von seinem Vater übernommen hatte.

An meine Gran Amelia, nach der ich benannt bin, kann ich mich kaum erinnern. Sie hatte Dad, ihr einziges Kind, erst mit vierzig bekommen und starb, als ich fünf Jahre alt war. Dafür habe ich einige glasklare Erinnerungen an die beiden anderen Frauen, mit denen Granda Hamish sich nach ihrem Tod getröstet hat. Gleichzeitig und nicht nacheinander, wohlgemerkt. Hamish war ein wahrer Herzensbrecher gewesen und hatte seine Zeit am liebsten auf der Jagd oder dem Golfplatz in Gairloch verbracht. Auf seiner Beerdigung vor vier Jahren gab es einen Eklat, als seine beiden Verflossenen mit ihren Regenschirmen aufeinander losgingen wie Furien. Da Granda Hamish von jeher nur sporadisch Interesse an mir gezeigt hat, habe ich mir Duncan McGowan zum Ersatzgroßvater auserkoren.

Duncan umarmt mich, als er bei Archie und mir angelangt ist. Sein silberweißer Bart und das drahtige weiße Haar, das er zu einem kleinen Zopf gebunden trägt, bilden einen scharfen Kontrast zu seinen torfdunklen Augen und lassen ihn wie einen keltischen Druiden aussehen. »Na, wie geht es meinem Lieblingsmädchen?«, fragt er mit einem Augenzwinkern.

»Prima«, erwidere ich. »Ich bin ein bisschen müde, aber froh, der Stadt entkommen zu sein.« Wir gehen den Kiesweg an der von blühenden Stauden gesäumten Natursteinmauer entlang. Aus den blauen Glockenblumen steigen Schwärme kleiner blauer Schmetterlinge auf, sodass man denken könnte, die Blüten flattern davon. Das ist die Magie von Badfearna.

Ich frage Duncan nach seinem Knie, doch er winkt nur ab. »Heute ist kein guter Tag, Lass.«

Seit Anfang des Jahres macht dem Alten sein rechtes Knie zu schaffen und wenn ich sehe, wie er sein Humpeln zu verbergen sucht, weiß ich, dass es nicht besser geworden ist. Vermutlich braucht er eine Meniskus-OP, oder schlimmer noch, ein neues Kniegelenk. Ich ahne, dass er die Untersuchung hinausschiebt, weil er befürchtet, dass, sollte Letzteres der Fall sein, endgültig Schluss ist für ihn als Wildhüter von Badfearna. Dass er sein Cottage räumen muss. Aber das ist Unsinn. Dad hängt genauso wie ich an Duncan und ich bin mir sicher, dass der Alte bis an sein Lebensende in dem kleinen Haus bleiben kann, in dem er vor einundsiebzig Jahren geboren wurde.

»Wie geht es Macbeth?«, frage ich. Macbeth ist ein weißer Hirsch, ein Zwölfender, das Maskottchen von Badfearna.

»Er wird alt, kleine Distel, ein greiser Monarch.«

Kleine Distel, ich muss lächeln. Diesen Kosenamen hatte Duncans Frau Greta mir verpasst, als ich, sieben Jahre alt, an seinem Geburtstag mit blutigen Händen und einem Strauß schottischer Disteln aufgetaucht war. »Er ist siebzehn«, entgegne ich entrüstet, »so alt wie ich.«

»Aye«, meint Duncan, »aber gerechnet in Hirschjahren ist er so alt wie ich.« Vor dem Eingang zum Blackhouse trennen sich unsere Wege. »Wir sehen uns beim Dinner, Lass«, sagt Duncan mit einem Augenzwinkern.

»Ja, bis später«, erwidere ich und sehe ihm nach, wie er humpelnd davongeht.

 

Kelsis und mein Zimmer nehmen das ganze Dachgeschoss des Ostflügels ein und sind durch ein kleines Bad voneinander getrennt. Meine beiden Koffer stehen vor der Tür, Dad oder Fergus müssen sie die Treppe heraufgetragen haben. Aus Kelsis Zimmer dringt kein Laut. Vermutlich hat sie Kopfhörer auf den Ohren, hört Musik und schmiedet Rachepläne.

Ich wuchte meine Koffer ins Zimmer. Es hat gewachste Holzdielen, schräge Wände und ein Sprossenfenster, das auf die Berge zeigt. Seit der Renovierung lassen zwei neue Dachfenster mehr Licht herein. Die hellgrüne Tapete, die ich mir ausgesucht habe, ziert ein feines Distelmuster. Auf den Holzmöbeln – Kleiderschrank, Kommode, Schreibtisch und Bücherregal – liegt ein matter Glanz und der Bettüberwurf, ebenfalls im Distelmuster, ist glatt gezogen. Nirgendwo liegt Staub. Das war Georgina, das Mädchen aus dem Dorf, das seit letztem Herbst bei uns sauber macht. Dass sie dabei jeden einzelnen meiner Badfearna-Schätze in die Hand genommen hat, unter anderem meine kostbare Kintsugi-Schale, behagt mir nicht. Mein Urgroßvater Andrew MacKenzie hat die türkisblaue Schale, deren Scherben kunstvoll mit goldenem Urushi-Lack zusammengefügt sind, vor hundert Jahren aus Japan mitgebracht.

Sie bedeutet mir viel, denn ich mag die Philosophie dahinter: Statt Zerbrochenes zu betrauern, lehrt uns Kintsugi, Unvollkommenes anzunehmen und die Schönheit darin zu sehen. Mit ihren goldenen Narben ist diese Schale kostbarer als zuvor.

Ich werfe meinen Rucksack auf die kleine Couch im grünen MacKenzie-Tartan-Look und beschließe, mein Zimmer von nun an lieber selber sauber zu machen.

Ein Blick auf die Uhr. Noch eine knappe Stunde bis zum Dinner. Schnell räume ich meine Sachen in Schrank und Kommode und ziehe meinen grünen Bikini mit den kleinen weißen Herzchen unter Jeans und T-Shirt. Die Zeit ist knapp, jedoch völlig ausreichend für mein unerlässliches Badfearna-Begrüßungsritual.

Ein Handtuch über der Schulter, trabe ich zwischen Hecken, Blumenrabatten und Rhododendronsträuchern über den gepflegten Rasen, vorbei an Duncans weiß getünchtem Cottage, das von der ausladenden Krone einer alten Kastanie überschattet wird. Hinter der Feldsteinmauer, die unser gesamtes Anwesen umgibt, beginnt die Wildnis. Zwei Ziegenköpfe zieren die Steinsäulen des Eisentores, das meistens offen steht. Ein Schild weist verirrte Wanderer darauf hin, dass Badfearna Privatbesitz ist. Betreten verboten. Die meisten Leute halten sich daran.

Ein paar Meter weiter führt eine befahrbare Holzbrücke über den Caoach Burn, einen von alten Bäumen und moosbewachsenen Steinen gesäumten Fluss, der aus den Bergen kommt und weiter unten in den See mündet. Ein Pfad schlängelt sich am diesseitigen Ufer des Flusses entlang hinauf zum Berg. Ich überquere die Brücke und laufe weiter parallel zum Loch. Hier wachsen Eichen, Ebereschen, Buchen und Erlen, von denen Badfearna seinen Namen hat. Badfearn bedeutet auf Gälisch »Erlenhain«.

Kurz darauf nehme ich den Abzweig zum Fox Point hinunter, meinem Lieblingsplatz am See. Fox Point ist eine Landzunge mit einer versteckten Bucht, deren sichelförmiger Kiesstrand von windschiefen Bäumen und dunklen Felsen gesäumt ist. Der Stamm einer umgestürzten Kiefer liegt auf dem Strand und ragt bis ins Wasser hinein.

Vom schnellen Laufen ist mir warm. Ich schlüpfe aus meinen Schuhen und den Klamotten und laufe über die flachen Kiesel in den See. Das Wasser hat höchstens sechzehn Grad und ich genieße den prickelnden Moment, wenn die Kälte unter der Haut ankommt.

Da die Zeit knapp ist, schwimme ich nur ein paar Züge, trinke einen Schluck hellbraunes Wasser und tauche bis zum Grund des Sees. Am Boden nehme ich eine Prise Sand und feinen Kies in den Mund, verteile alles auf der Zunge und schlucke es hinunter. Wie Schmirgelpapier kratzen die feinen Körner in meiner Kehle, aber ich mag das Gefühl. Als ich ein paar Minuten später aus dem Wasser ans Ufer steige, habe ich Schule und Stadtleben abgestreift und bin innerlich gereinigt.

Der Sommer auf Badfearna kann beginnen.

Kapitel 2

Auf dem Weg zurück zum Blackhouse erhasche ich zwischen Bäumen und Sträuchern einen spektakulären Blick auf den Slioch und zücke sofort meine kleine rote Digitalkamera, die ich immer bei mir trage. Die Abendsonne bestrahlt die Kuppe des Berges, sie glüht wie ein Schmiedeeisen.

Der Slioch ist ein Munro – so heißen alle Gipfel in Schottland, die höher sind als neunhundertvierzehn Meter. Mit seinen fast tausend Höhenmetern ist er der höchste Berg rund um den Loch Maree. Seine unteren Hänge steigen steil an, bis sie eine hohe, felsige Wand erreichen, die wie ein Ring um den Gipfel liegt. Von dieser Stelle auf unserem Anwesen wirkt der Berg wie eine uneinnehmbare Felsenfestung, aber bei schönem Wetter ist der Aufstieg in zwei bis drei Stunden zu schaffen.

Ich schieße ein paar Fotos und kann mich nur schwer vom Anblick des glühenden Berges trennen.

Nach einer heißen Dusche ziehe ich meine weinrote Leinenbluse an, die vorteilhaft geschnitten ist und meine blauen Augen betont, dazu eine schwarze Cordhose. Ich föhne mein schulterlanges, gelocktes Haar und nehme es vor dem Spiegel in der Schranktür zu einem lockeren Dutt am Hinterkopf zusammen. Mein Haar passt zu mir, es ist kräftig und störrisch und von einem undefinierbaren Braun. Mausbraun, um es mit Kelsis herzlichen Worten zu sagen.

Meine Schwester versteht nicht, warum ich nicht etwas mehr Aufwand betreibe, um mein unauffälliges Äußeres zu optimieren. Ihr Standpunkt ist: Man wird, was man aus sich macht. Doch warum soll ich jemanden aus mir machen, der ich nicht bin? Lieber halte ich es mit Wabi-Sabi, einem Prinzip des Zen-Buddhismus, das sich an der Schlichtheit und Einfachheit der Natur orientiert. Dem Wabi-Sabi zufolge liegt wirkliche Schönheit nicht offensichtlich zutage, sondern erscheint im Verborgenen und erschließt sich erst durch die nähere Betrachtung. Deshalb glaube ich auch nicht an Liebe auf den ersten Blick.

Noch ein Hauch Lipgloss, dann begebe ich mich nach unten ins Esszimmer mit den alten Fliesen im Schachbrettmuster, das gleich neben der Küche liegt. Das erste Abendessen nach unserer Ankunft nehmen wir wie immer gemeinsam mit Duncan, Fergus und seiner Frau Ethlenn ein, die sich während unseres Aufenthaltes um unsere Mahlzeiten kümmern wird.

Während des Dinners erfahre ich von Ethlenn, dass Struan erst nach Badfearna kommt, wenn die Londoner Jagdgesellschaft eintrifft. Bis dahin sind es noch drei lange Wochen und ich bin enttäuscht, was Kelsi mit einem triumphierenden Lächeln registriert. Meine kleine Schwester hat feine Antennen für Dinge, die unausgesprochen in der Luft schweben.

Kelsi trägt eine beige karierte Bluse mit einer großen Schleife am Kragen, der neuste Schrei von Burberry. Mein Schwesterherz geht glatt für siebzehn durch, ist aber erst fünfzehn – während ich in vier Wochen tatsächlich siebzehn werde, alle mich aber immer jünger schätzen. Seit einiger Zeit hat Kelsi einen Freund, ich habe die beiden schon ein paarmal zusammen gesehen. Eng umschlungen und wild küssend. Klar, bei ihrem perfekten Aussehen: schwarze Locken, grüne Katzenaugen, Schmollmund, lange Fohlenbeine und hübsche Brüste – alles, was ein Mädchen braucht, um die Blicke der Jungs auf sich zu ziehen.

Dass ich mit fast siebzehn noch solo bin, ist in Kelsis Augen allein meine Schuld. Meistens lassen mich ihre Sticheleien kalt, aber manchmal bringt sie mich damit auch zur Weißglut. Kleine Schwestern können grausam sein.

Die Seeforellen, am Morgen von Duncan aus dem See gefischt, schmecken köstlich und ich lange ordentlich zu. Ethlenn ist eine grandiose Köchin, im Gegensatz zu meiner Mum, die Probleme damit hat, ein einfaches Nudelgericht zuzubereiten, und ohnehin mehr auf Rohkost und Müsli setzt.

Wäre Mum hier, würde ich für meinen gesunden Appetit vorwurfsvolle Blicke von ihr ernten, denn sie hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, ich würde eines Tages ebenso elfenhaft dünn sein wie sie und Kelsi. Doch erstens bin ich kräftiger gebaut als die beiden – ein bisschen wie ein Highlandpony, kompakt und trittsicher. Und zweitens denke ich gar nicht daran, meinen Appetit irgendwelchen Schönheitsidealen zu unterwerfen. Wenigstens kann mich nicht jeder Windhauch gleich umwerfen.

Während ich mir das zarte Fleisch der in Kräutern gedünsteten Seeforelle auf der Zunge zergehen lasse, lausche ich den Gesprächen der Erwachsenen, die sich anfangs um unser vor ein paar Wochen in Betrieb genommenes kleines Wasserkraftwerk drehen und später um die Hirschbestände, die bevorstehende Jagd und Dads Probleme mit Tier- und Umweltschützern.

Mit einigen dieser Leute liegt er im Clinch darüber, was zu tun ist mit der Natur von Badfearna Estate. Natur, in die der Mensch über Jahrhunderte so sehr eingegriffen hat, dass sie ohne ihn nicht mehr funktioniert. Es geht um die Forderung der Natur- und Tierschützer nach Rewilding und die Abschaffung der Jagd. Ein Ansinnen, das Dads Zukunftspläne für Badfearna zunichtemachen würde.

Seit mein Vater offiziell Sportjagden anbietet, mehrt sich sein Ärger mit denjenigen, die ihn dafür verachten. Zwar sehen nach wie vor viele Alteingesessene die Pirschjagd als kulturelles Erbe mit hohem wirtschaftlichem Nutzen für die Gemeinde, doch die Stimmen derer, die die Jagd auf Hirsche und Moorhühner ausbeuterisch und grausam finden, werden lauter. Wo die einen Wildnis sehen, sehen die anderen eine Arbeitslandschaft.

Badfearna hat große Hirschwälder und Heideflächen, bestens geeignet für die Hirsch- und Moorhuhnjagd. Gleichzeitig bieten unsere bergigen Ländereien jenen Tieren eine Zuflucht, die in der intensiven Landwirtschaft keine Chance mehr haben. Tiere, die vom Aussterben bedroht sind, im Gegensatz zu Hirsch, Rotfuchs und Krähe. Aber mit diesem Argument dringt mein Vater bei den Öko-Aktivisten nicht durch.

Alles verändert sich, auch das Wissen. Es gibt immer neue Erkenntnisse und diese Erkenntnisse können beweisen oder widerlegen, was der bessere Weg ist, um die Natur in den Highlands in einem gesunden Gleichgewicht zu halten.

Darf hier Heide wachsen oder müsste es Wald sein? Aus welchen Baumarten sollte dieser Wald bestehen? Dürfen Landbesitzer wie Dad darüber entscheiden, welches Tier leben darf und welches nicht? Ist Rewilding – die Rückkehr von Wolf, Luchs und Biber – vielleicht doch eine realistische Alternative?

Ich will besser verstehen, wie unterschiedliche Menschen die Landschaft wahrnehmen. Deshalb will ich Wildtiermanagement studieren und nicht Businessmanagement, wovon Dad mich ständig zu überzeugen versucht.

Von Duncan McGowan habe ich im Laufe der Jahre eine Menge über das komplexe Zusammenspiel von Mensch und Natur gelernt und der Wildhüter hat nie versucht, mir meinen Wunsch auszureden, mal in seine Fußstapfen zu treten.

Schon bald schwirrt mir der Kopf von all den Informationen und Argumenten, die über den Tisch hin und her fliegen. In Kelsis Kopf hingegen ist kein Platz für die Belange von Badfearna, die Gespräche am Tisch langweilen sie offensichtlich. Alle fünf Minuten verdreht sie ihre hellgrünen Augen und gegessen hat sie wie ein Spatz. Meine Schwester setzt alles dran, in Mums Model-Fußstapfen zu treten. Wenn sie achtzehn ist, will sie nach Kalifornien zu unseren Großeltern ziehen und ihre Model-Karriere starten. Ihr großes Vorbild ist Leni Klum, die blonde Tochter von Heidi Klum.

Erst neulich hat Kelsi mir Lenis Insta-Account gezeigt, wo die Siebzehnjährige alle Welt wissen lässt, dass sie von ihrer ersten Model-Gage für fünfzigtausend Dollar Bäume gekauft hat. »Siehst du? Sie tut mit ihrem Geld mehr für den Umweltschutz, als du es jemals können wirst«, war Kelsis Kommentar. Auf dem nächsten Post zeigt Leni am Strand ihren beinahe blanken Busen.

»Darf ich nach oben gehen?«, fragt Kelsi. »Ich bin mit Cara auf FaceTime verabredet.«

Dad nickt und Kelsi verschwindet mit einem gemurmelten Gutenachtgruß. Ich wette, dass Cara in Wahrheit Navin heißt (ich habe ein wenig nachgeforscht) und ein stylisher Sechzehnjähriger mit langen Beinen, schwarzen Locken und verträumten Augen ist. Aber das werde ich für mich behalten. Meine kleine Schwester ist wütend auf mich und sie mir zur Feindin zu machen, wäre keine gute Idee.

Gegen acht verabschiede auch ich mich. Die Fahrt von Edinburgh nach Sliochewe hat mit zwei kurzen Unterbrechungen fast fünf Stunden gedauert und auf einmal merke ich, wie müde ich bin. »Zeigst du mir morgen, wo Macbeth mit seinem Rudel steht?«, frage ich Duncan.

Der Wildhüter lächelt. Er weiß, dass ich Macbeth auch ohne ihn finde. Dass es mir darum geht, mit ihm gemeinsam den Pfad in die Hügel hinaufzugehen und darüber zu reden, was in den vergangenen Monaten für jeden von uns wichtig war.

»Morgen hat Donna Geburtstag und ich bin zum Essen eingeladen. Sei Montag um acht Uhr bei mir am Cottage, Lass, dann statten wir dem alten König einen Besuch ab.«

»Ich werde da sein«, sage ich. »Grüß Donna von mir.«

Duncans Schwester Donna, sie lebt in Sliochewe, dem kleinen Ort auf der anderen Seite des Loch Maree, war früher Lehrerin und ist schon seit einigen Jahren pensioniert. Sliochewe, das sind ein paar verstreut liegende Häuser am Ufer des Sees, eine Bushaltestelle, ein winziger SPAR-Laden mit Poststelle und das Stag Inn, ein dreihundert Jahre alter Pub.

Vor der Pandemie hat es regelmäßig Ceilidhs gegeben im Pub mit dem schwarz verräucherten Kamin und den niedrigen dunklen Deckenbalken. Die ganze Familie liebt diese gemütlichen Abende, an denen Geschichten erzählt werden, musiziert, gesungen und getanzt wird. Doch während des langen Lockdowns ging nichts mehr. Seit ein paar Monaten hat das Virus endlich seinen Schrecken verloren und das Leben verläuft wieder in halbwegs normalen Bahnen.

Als ich im Obergeschoss vor der Tür des kleinen Badezimmers stehe, höre ich Kelsi nebenan leise sprechen. Kein lautes Gekicher, wie es üblicherweise bei Telefonaten mit Cara aus ihrem Zimmer dringt. Nur geflüsterte Worte. Liebesschwüre? Oder beklagt sie sich bei Navin, dass sie hier sein muss? Weit weg von ihm und abgeschieden von allem, was für Kelsi als lebenswert gilt? Wochenlang eingepfercht mit ihrem Dad, der sie nicht versteht, und ihrer seltsamen Schwester, mit der sie nichts verbindet außer den gemeinsamen Eltern?

Schon komisch, wie zwei Schwestern aus demselben Genpool so verschieden sein können. Kelsi und ich waren nie ein Herz und eine Seele, hatten uns nie unsere Geheimnisse anvertraut. Aber wir waren gut miteinander ausgekommen. Unsere Zwistigkeiten begannen erst im Lockdown, als Mum und Dad anfingen, sich beinahe täglich zu streiten. Kelsi schlug sich auf Mums Seite, ich mich auf Dads. Meine kleine Schwester war schon immer Mums Modepüppchen gewesen, aber als ihr dann über Nacht hübsche kleine Brüste wuchsen und sie ihre Macht über das andere Geschlecht entdeckte, war es um sie geschehen. Schönheit verschafft einem Vorteile, das hat sie schnell verinnerlicht.

In Danderhall, unserer Schule in Edinburgh – eine reine Mädchenschule –, ist Kelsi das It-Girl in ihrem Jahrgang und immer von einer kleinen Schar Gleichgesinnter umgeben. Zum Glück gibt es Schulkleidung, sonst würde meine Schwester jeden Morgen zu spät kommen, weil sie sich nicht für ein Outfit entscheiden kann.

Im Bett schreibe ich noch eine Nachricht an meine beste Freundin Zoé. Mit ihrem Vater, der von dort stammt, verbringt sie die ersten drei Ferienwochen in Sainte-Maxime an der Côte d’Azur bei ihren Großeltern. Ich hatte gehofft, Zoé würde danach noch ein paar Tage zu mir nach Badfearna kommen, wie sie es in den vergangenen Sommern auch getan hat. Doch ihr Freund Alec hat andere Pläne mit ihr und gegen ihn haben ich und die einsamen Highlands keine Chance.

Was Aussehen, Klamotten und Jungs angeht, ist Zoé mir meilenweit voraus, aber im Gegensatz zu Kelsi lässt sie das niemals raushängen und will auch nicht mein Äußeres optimieren. Doch selbst meine Freundin ist der Meinung, dass es sich positiv auf die Entwicklung meiner Persönlichkeit auswirken könnte, wenn ich endlich so etwas wie ein Liebesleben hätte.

Ich schicke Zoé ein Foto vom regenverhangenen Gipfel des Sliochs und bekomme ein sonnenpralles Strandfoto zurück.

Dreißig Grad, textet sie.

Dreizehn Grad, antworte ich.

Ist Struan da?

Noch nicht, aber er kommt bald.

Super, dann besteht ja noch Hoffnung, ma chérie.

Damit spielt Zoé auf unseren Entjungferungspakt an. Zur letzten Burns night Ende Januar, haben wir – da waren wir schon ziemlich beschwipst –, beschlossen, an unserem jeweiligen siebzehnten Geburtstag richtigen Sex zu haben. Zoé, da war sie mit Alec schon zwei Monate zusammen, hat es an ihrem Geburtstag im April zum ersten Mal getan und seitdem schildert sie mir ihre erotischen Erfahrungen mit wachsender Begeisterung. Mein siebzehnter Geburtstag steht noch bevor, dicht bevor, und vermutlich wird Zoé nicht lockerlassen.

Immerhin, mit Struan Carrick gibt es auf Badfearna wenigstens einen möglichen Kandidaten. Er sieht gut aus, ist sensibel und klug, riecht immer gut und ich bin schon mein Leben lang in ihn verliebt. Zwar bin ich mir noch nicht sicher, ob ich den Pakt auch wirklich einlösen will, aber Stru hat mich während des Happy-Hogmany-Feuerwerks auf der anderen Seeseite heimlich geküsst und es hat mir gefallen. Warum also nicht?

Ich halte dich auf dem Laufenden, schreibe ich.

Bis bald, Süße. Jetzt ist Strandparty angesagt.

Ich schicke ihr noch ein Winken und schalte mein Handy aus.

Von Strandpartys hatte Kelsi auch geträumt. Wegen der Pandemie waren Reisen in die USA zwei Jahre lang unmöglich gewesen und so hatten sich all die angesammelten Hoffnungen meiner kleinen Schwester auf diesen Sommer konzentriert. Ihre Enttäuschung sitzt tief und in einem Winkel meines Herzens tut Kelsi mir ehrlich leid. Aber weil sie so ein kleines Biest ist, werde ich ihr das niemals sagen.

Kapitel 3

Tanzende Schleier aus Nieselregen wandern von der Seeseite kommend über Rasen, Blumenrabatten, Sträucher und Bäume. An den Berghängen steigen die grauen Wolken auf und verschlucken den Slioch. Ohne Regen, denke ich, wäre alles da draußen weniger interessant.

Auf dem Rasen hüpft eine Elster herum und ein rotes Eichhörnchen flitzt den Stamm einer Kiefer hinauf. Ich nutze den verregneten Morgen, um Ethlenn einen Besuch abzustatten und sie, ganz beiläufig, ein wenig über ihren Sohn auszufragen.

Ich mag Struans Mum mehr als seinen Vater, bei dem ich nie so genau weiß, woran ich bin. Fergus Carrick kann gut mit Gästen umgehen, aber er kann auch aufbrausend sein. Ich erinnere mich noch gut daran, wie oft Struan früher in den Wald abgehauen ist, um den Launen seines Vaters zu entkommen.

Ethlenn ist eine warmherzige Frau Ende dreißig, mit begnadeten Kochkünsten und zahllosen anderen Fähigkeiten, die in der Abgeschiedenheit von Badfearna unerlässlich sind. Ihr dunkles Haar hat sie zu einem lockeren Zopf geflochten, hinter ihren Brillengläsern schimmern große braune Augen. Während sie in ihrer heimeligen Küche klebrigen Teig für Sauerteigbrot knetet, erfahre ich, wie gut es Struan auf dem Jagdgut in den Cairngorms gefällt.

»Sein Chef, ein schwerreicher Däne, schätzt ihn sehr«, schwärmt Ethlenn. »Er hat Stru sogar eine Stelle als Headstalker angeboten, wenn er mit seiner Ausbildung fertig ist.«

»Das ist ja toll.« Ich bemühe mich, Begeisterung in meine Stimme zu legen, denn ich bin immer davon ausgegangen, Struan würde einmal für Dad arbeiten, so wie sein Vater seit beinahe vierzehn Jahren.

Ethlenn scheint zu spüren, was mir durch den Kopf geht. Ohne mich anzusehen, meint sie: »Aber Stru weiß natürlich, dass er auf Badfearna gebraucht wird.«

Ja, denke ich, er wird dringend gebraucht. Aber sieht Stru hier auch seine Zukunft? Zwischen seinem Vater, der Dad treu ergeben ist, und Duncan, der die Entscheidungen meines Vaters, wie manche Dinge auf Badfearna gehandhabt werden sollten, immer öfter hinterfragt? Später, als die Sonne sich einen Weg durch die Wolken bahnt und ich auf dem Anwesen unterwegs bin, denke ich immer noch darüber nach, was Struan Carrick wohl für Zukunftspläne haben mag und ob Badfearna und ich darin eine Rolle spielen.

Bei der Weide, die das Anwesen zum Berg hin mit einer Feldsteinmauer begrenzt und auf der während der Jagdsaison die Garrons, unsere Hochlandponys, stehen, glaube ich meinen Augen nicht zu trauen. Ist das Fiona, die dort ganz allein vor dem Stall steht? Mum und Dad hatten mir die graubraune Ponystute zum dreizehnten Geburtstag geschenkt, nachdem ich auf der Isle Maree einen Penny in die Rinde des Wunschbaumes getrieben und mir aus tiefstem Herzen ein Pferd gewünscht hatte. Beim Wünschen hatte ich zwar ein edles Vollblut mit langen Beinen und glänzendem Fell vor Augen gehabt, aber als ich das kleine Fiona-Fohlen dann auf der Weide stehen sah, schloss ich es sofort ins Herz.

Ich schlüpfe durch den Koppelzaun, um Fiona zu begrüßen, und entdecke hinter ihr ein Schimmelfohlen mit dünnen Beinen und knubbeligen Knien. Es kann noch nicht alt sein, höchstens vier Wochen. Augenblicklich vergesse ich Struan und gehe in die Hocke. Es ist ein Hengstfohlen. »Na, du bist ja ein hübsches Kerlchen.«

Highlandponys stammen von einheimischen Ponys ab, die schon vor Tausenden von Jahren hier beheimatet waren. Sie sind kräftig gebaut und haben einen freundlichen, ausgeglichenen Charakter. Während der Pirschjagd dienen sie uns als Lastentiere. Auf dem breiten Rücken eines Garrons wird der erlegte Hirsch ins Tal gebracht, eine Tradition, die nicht mehr auf vielen Jagdgütern gepflegt wird, weil der Unterhalt der Pferde und ihre dreijährige Ausbildung teuer sind. Schon als Jungtiere müssen sie an den Geruch von Blut gewöhnt werden und lernen, ihre tote, oft noch warme Last sicher ins Tal zu transportieren.

Das weiße Fohlen mit den hübschen grauen Flecken auf der Hinterhand drängt sich an seine Mutter, die mich mit einem freudigen Schnauben begrüßt. Ich atme Fionas vertrauten Pferdegeruch ein und streichele ihre weichen Nüstern. Das Hengstfohlen betrachtet mich mit Argwohn, aber irgendwann lässt es doch zu, dass ich seinen Hals berühre. Vielleicht hat Fiona ihm auf Pferdeart signalisiert, dass es mir vertrauen kann. Wobei wahrscheinlicher ist, dass Duncan gleich von Anfang an mit dem Fohlen gearbeitet hat und es an Menschen gewöhnt ist.

Fiona zeigt ihre gelben Zähne und stößt ein Wiehern aus. Als ich mich umdrehe, sehe ich Duncan am Koppelzaun stehen. Für den runden Geburtstag seiner Schwester trägt er die volle Montur, mit Kilt im Clan-Tartan der MacGowans, in dem die Farben Beige, Schwarz und Grün vorherrschen. Dazu eine schwarze Weste und ein Sporran mit Fuchsfellbesatz. Ich gehe zu ihm und begrüße ihn. »Du siehst toll aus, Duncan.«

»Du aber auch, Lass.«

Ich schaue an mir herunter: beige Cargohosen, T-Shirt, Regenjacke und bequeme Turnschuhe. Ich muss lachen.

»Ich meine deine Augen, kleine Distel«, sagt Duncan mit einem Schmunzeln. »Sie leuchten wie das Meer an einem sonnigen Tag.«

»Ich bin glücklich, wieder hier zu sein«, gebe ich zu. »Und da ist dieser kleine Kerl, von dem mir niemand erzählt hat.«

»Druid«, sagt Duncan, »ich habe ihn Druid getauft. Das Fohlen war dünn und schwach nach seiner Geburt und ich war nicht sicher, ob es überlebt. Deshalb habe ich die beiden auch hier runter auf die Weide geholt. Aber Druid hat es geschafft und jetzt ist er ein munterer kleiner Bursche. Du kannst mit ihm üben, Lass. Mir fehlt die Zeit dafür.«

»Das mache ich.«

»Bald müssen auch die anderen Garrons aus den Bergen geholt werden.«

»Du kannst auf mich zählen, Duncan.«

Wie es seit Jahrhunderten üblich ist, entlässt Dad die Hirschponys am Ende einer jeden Jagdsaison in die Freiheit. Auf den Berghängen oberhalb der Lodge können sie so lange wild herumstromern, bis die nächste Saison beginnt.

»Ich muss los, kleine Distel«, sagt Duncan. »Sonst komme ich noch zu spät zum Lunch. Wir sehen uns morgen früh.«

 

Am nächsten Morgen erstrahlt der Himmel in perfektem Blau und es verspricht ein warmer Tag zu werden. Punkt acht bin ich an Duncans weiß getünchtem Cottage und begrüße Archie, der mir schwanzwedelnd um die Beine streift, mit einem Leckerbissen.

Duncan trägt hohe, kreuzgeschnürte Wanderschuhe, halb verborgen unter einer verbeulten, beigefarbenen Cordhose. Dazu eine derbe Tweedjacke im McGowan-Muster. Er ist Wildhüter in fünfter Generation, einer vom alten Schlag. Duncan schwört auf Tweed statt Outdoorkleidung und auf seinen Rundgängen oder der Pirsch korrekt gekleidet zu sein, zeugt von seinem Respekt gegenüber der Wildnis und ihren Bewohnern.

Duncan ist ausgerüstet mit Gewehr, Feldstecher und einem Stock, um sein Knie zu entlasten. Ohne Gewehr sieht man den Wildhüter selten, der Stock ist neu. Ich trage Wasserflasche und Regenjacke im Rucksack und zwei Äpfel für alle Fälle. Die Kamera hängt um meinen Hals. Über die Jahre habe ich unzählige Fotos von Macbeth geschossen, aber ich werde nie müde, den weißen Hirsch in seiner wilden Umgebung zu fotografieren.

Wir laufen den Bergpfad am Caoach Burn entlang, der von alten Bäumen und bemoosten Steinen gesäumt ist. Sonnenstrahlen brechen durch grünes Laub, tanzen schillernd im klaren Wasser des Flusses, der aus den Bergen kommt und in kleinen Wasserfällen Richtung See strömt. Duncan schreitet forsch voran. Es scheint Tage zu geben, an denen sein Knie ihm kaum zu schaffen macht, und heute ist so ein Tag.

Archie verschwindet mit wedelndem Schwanz hinter Wurzeln und Steinen, jagt den unzähligen magischen Gerüchen nach, die seine Hundenase erschnüffelt. Ab und zu bleibe ich stehen und schieße ein Foto, aber die meiste Zeit laufen wir und reden. Duncan ist ein guter Zuhörer, einer, der nachfragt. Ich erzähle ihm von meinen Problemen in Mathe, von den Streitereien meiner Eltern und dem Gezicke mit Kelsi. Nur meine Struan-Pläne verschweige ich dem Wildhüter.

Nach etwas mehr als einer Stunde erreichen wir das Krähenmoor, ein parallel zum Berg verlaufendes Hochtal mit einem winzigen See und einem Moorbirkenhain, in dem ein Rudel Rothirsche äst. Um diese Jahreszeit findet man die Tiere meistens hier oben am Berg, weil das Grün hier noch zarter und schmackhafter ist als in den Wäldern unten am Loch.

Wir bleiben im Schutz von Heide und Sträuchern. Archie stellt seine Ohren auf, ihn packt das Jagdfieber, doch auf einen Befehl von Duncan setzt er sich und bleibt still. Der Alte lässt sich auf einen morschen Baumstumpf nieder und reicht mir sein Fernglas. Ich hocke mich neben ihn in die struppige Heide.

Die schlanken Stämme der Birken leuchten weiß im Sonnenlicht. Macbeth, er steht ein wenig abseits von seinen jüngeren Geschlechtsgenossen, hebt sein Haupt, das von einem schönen, ausladenden Geweih gekrönt ist. Wie verästelte Zweige eines Baumes ragen seine Enden in den Himmel. Der Hirsch lässt mit heraushängender Zunge ein lautes Röhren vernehmen, ein Ton, der in meiner Brust vibriert. Hat er uns bemerkt und will uns begrüßen? Seine Lauscher sind aufgerichtet. Schließlich geht er zu einer Birke und beginnt, sich am Stamm zu scheuern. Noch ist sein Geweih mit dem samtigen Bast überzogen.

Macbeth ist ein majestätischer Zwölfender mit einem weißen Körper und geheimnisvoll grünen Augen. Als Duncan ihn mir zum ersten Mal zeigte, damals war ich sieben oder acht, hatte der Hirsch gerade sein Geweih verloren und ich war der Überzeugung, ein Einhorn zu erblicken, das sein Horn verloren hatte. Damals fürchtete ich mich vor dem Tier, denn Duncans Frau hatte mir erzählt, frei lebende Einhörner seien gefährlich.

Seit Tausenden von Jahren ranken sich Mythen und Legenden um den weißen Hirsch und es gibt viele Geschichten über folgenreiche Begegnungen. In der Artus-Sage gilt er als das einzige Tier Schottlands, das nie gefangen werden konnte.

Heute weiß ich alles über weiße Hirsche. Zum Beispiel, dass sie keine Albinos sind. Ihr weißes Aussehen ist auf Leukismus zurückzuführen, ein seltenes genetisches Muster, das ihr Fell und ihre Haut die natürliche Farbe verlieren lässt. Weiße Hirsche sind extrem selten, in ganz Großbritannien gibt es höchstens eine Handvoll. Der prächtigste von ihnen grast nur etwa hundert Meter von uns entfernt und ist sich seiner Schönheit und majestätischen Ausstrahlung nicht bewusst.

Ich schaue durchs Fernglas und zähle. Macbeths Rudel besteht aus über dreißig Tieren. In unseren Hirschwäldern leben derzeit an die zweitausend Rothirsche. Es sind so viele, weil Dad in den vergangenen beiden Jahren wegen Corona und der Renovierung der Lodge keine privaten Jagden veranstaltet hat. Die Restaurants waren geschlossen und Hirschfleisch nicht gefragt. Der kontrollierte Abschuss von überzähligem Rotwild ist gesetzlich vorgesehen, deshalb hatten Fergus und Duncan ein paar Tiere geschossen, aber bei Weitem nicht genug.

Im Winter mussten sie Futterrüben im Wald verteilen, weil sonst Tiere verhungert wären. Gibt es jedoch im Frühjahr zu viele Hirsche, zertrampeln sie die Gelege der Moorhühner und anderer Bodenbrüter in der Heide. Auch die zarten Baumschösslinge haben gegen ihren Appetit keine Chance. Das sensible Gleichgewicht zu halten, ist für Dad und seinen Wildhüter eine immerwährende Gratwanderung durch alle Jahreszeiten.

»Bis zum nächsten Frühjahr müssen wir dreihundert Hirsche schießen«, sagt Duncan leise, »sonst bekommen wir Ärger.«

Zum Glück besteht für Macbeth keine Gefahr, denn er ist das Maskottchen von Badfearna. Ohnehin werden Zwölfender nicht geschossen, es sei denn, sie sind krank.

»Das sind viele Tode.« Ich gebe Duncan das Fernglas zurück.

»Aye. Zum Glück gibt es wieder genug Abnehmer für das Fleisch.«

Ich suche einen stabilen Untergrund für meine Kamera und drücke ein paarmal ab. Auf meinem Insta-Account poste ich ausschließlich Tier- und Naturaufnahmen und habe es damit immerhin auf fast achthundert Follower geschafft. Fotos von Macbeth sind nicht für die Öffentlichkeit gedacht. Dass es den weißen Hirsch gibt, braucht nicht alle Welt zu erfahren. Man weiß nie, was manchen Leuten in den Sinn kommt, wenn sie ein seltenes Tier sehen, um das sich so viele Mythen ranken.

Ich zupfe einen Farnkringel ab, schiebe ihn in meinen Mund und kaue darauf herum. Er schmeckt nach Spargel und irgendwie grün. Im Gegensatz zu Kelsi glaube ich, dass ich zu dem werde, was ich esse: zu einem Teil der Natur. Deshalb verschwinden nicht nur Beeren, Pilze, Fisch und Wild in meinem Magen, sondern auch Blätter, Rinde, Gras und Blüten. Gelegentlich esse ich Sand und kleine Steine – wie ein Huhn. Dass ich so etwas Schräges tue, weiß niemand, nicht einmal der alte Wildhüter.

Auf dem Rückweg lässt Duncan Archie wieder frei herumstöbern. Der Hund rennt durchs Flussbett, dass es nur so spritzt. Auf der anderen Seite schüttelt er sich kurz und verschwindet hinter Felsen und Sträuchern. Irgendwann hören wir ihn aufgeregt bellen.

»Vermutlich hat er einen Fuchs gewittert«, sagt Duncan.

Füchse, Wiesel und Krähen sind Dad ein Dorn im Auge. Gibt es zu viele von ihnen, werden sie zur Gefahr für die Gelege und Küken der Moorhühner. Als Wildhüter eines Jagdgutes muss Duncan dafür sorgen, dass die Vögel so zahlreich wie möglich bis zur Moorhuhnsaison überleben, die landesweit am 12. August eröffnet wird, dem Glorious Twelfth. Dads Jagdgäste müssen tief in die Tasche greifen, wenn sie Moorhühner schießen wollen. Deshalb tötet Duncan im Auftrag meines Vaters Füchse und Krähen. Gelegentlich stellt er auch Wieselfallen auf. Raubtiermanagement, so nennt sich das.

»Hast du in diesem Jahr viele Füchse geschossen?«

Duncan nickt. »Schon ein Dutzend.« An seinem Tonfall merke ich, dass er nicht stolz darauf ist. Aber weniger Füchse bedeutet: mehr Kiebitze und Goldregenpfeifer. Mehr große Bodenbrüter wie den Wachtelkönig. Darauf setzt Dad, das ist sein Argument für die Tierschützer, die ihm Mord aus Geldgier vorwerfen. Außerdem gibt es Geld vom Staat, wenn er geschützte Arten auf seinem Grundbesitz nachweisen kann.

»Das Frühjahr war zu nass und der Sommer ist bisher zu trocken«, sagt Duncan. »Zu viele Moorhuhnpaare haben nur zwei bis drei Küken, statt sieben oder acht. Am liebsten würde ich ein Jahr mit der Jagd aussetzen, damit sich die Population erholen kann.« Er bleibt stehen und stützt sich auf seinen Stock. »Aber davon will Fergus nichts wissen.«

»Und was sagt Dad dazu?«

Der Alte presst die Lippen zusammen und schüttelt den Kopf. »Vom Glorious Twelfth an ist die Lodge wochenlang ausgebucht. Dein Vater braucht das Geld der Jäger, kleine Distel. Dringend. Die Renovierung der Lodge und der Bau des Wasserkraftwerks haben mehr Geld verschlungen, als er eingeplant hat.«

Im Herbst vergangenen Jahres hat unser kleines Wasserkraftwerk am Allt Furnace seinen Betrieb aufgenommen. Seitdem hat Badfearna eine autarke Stromversorgung und Dad ist froh, dass wir nicht mehr vom lokalen Stromnetzwerk abhängig sind, das bei einem Sturm schnell mal zusammenbricht.

Während wir weiter absteigen, wollen Duncans Worte mir nicht aus dem Sinn. Dads Bauunternehmen läuft nicht mehr so gut. Seit dem Brexit fehlt es an Baumaterial, an Benzin und an Lkw-Fahrern, weil Gastarbeiter keine Arbeitserlaubnis mehr bekommen. Und ich weiß auch, zumindest ansatzweise, wie viel Geld Badfearna verschlingt. Dass Dad jedes Jahr finanzielle Einbußen hat. Aber um Geld habe ich mir bisher nie ernsthaft Sorgen gemacht. Muss ich das von nun an tun? Ich nehme mir vor, Dad danach zu fragen. Allerdings wird das Ganze am Ende nur wieder auf eine Diskussion um meine Studienrichtung hinauslaufen, was ich total nervig finde.

Ich stecke zwei Finger in den Mund und pfeife nach Archie. Nichts.

»Er ist alt und ein bisschen schwerhörig geworden.« Mit einem Ächzen setzt Duncan sich auf einen dick bemoosten Stein. Offenbar hat sich der Schmerz im Knie zurückgemeldet.

Zwar bezweifle ich, dass Archie meinen Pfiff nicht gehört hat, aber um Duncan eine Pause zu verschaffen, sage ich: »Ich schaue mal nach, wen er da gestellt hat.«

Indem ich mir Trittsteine suche, komme ich trockenen Fußes über den Fluss, der an dieser Stelle etwas mehr als zwei Meter breit ist. Auf der anderen Seite schlage ich mich durch struppiges Heidekraut, Büsche und Kiefernschösslinge. Schließlich sehe ich einen Fuchs, der wie ein kleiner König auf einer Felsnase thront. Sein rotbraunes Sommerfell leuchtet in der Sonne wie eine Flamme. Es ist ein Jungtier mit schmalem Kopf, wachsamen Augen und einem noch nicht völlig verheilten Riss im linken Ohr. Sein buschiger Schwanz mit der weißen Spitze zuckt.

»Hallo, Mr Fuchs«, sage ich.

Archie bellt sich irgendwo hinter dem Felsen die Kehle heiser, aber das schlaue Füchslein scheint zu wissen, dass der Hund alt ist und ihm da oben nichts anhaben kann. Ich muss lächeln und bin froh, dass Duncan mit seiner Flinte auf einem Stein sitzt. Nachdem ich ein paar Fotos von dem unerschrockenen Tier geschossen habe, umrunde ich die Felsnase, um Archie zu holen – und bleibe wie angewurzelt stehen.

Die Felswand im Rücken, steht vor mir ein Junge, die Hände schützend vor dem Gesicht, die Arme voller roter Mückenbisse. Seine Jeans sind an den Knien eingerissen und haben braune Torfflecke. Auf seinem grauen T-Shirt mit dem Kleeblatt-Logo des Celtic FC zeichnen sich dunkle Schweißflecke ab. Er ist groß und wirkt sportlich, doch im Gegensatz zu dem kleinen Fuchs hat der Typ offenbar Angst vor dem alten Archie.

»Archie, aus!«, rufe ich mit Nachdruck. Der Hund bellt noch zweimal, knurrt widerwillig, dann ist er still. »Guter Junge, sitz!« Archie gehorcht und zwischen den sich öffnenden Fingern des Fremden blitzen zwei dunkle Augen auf. »Er ist harmlos«, sage ich.

Langsam lässt mein Gegenüber die Hände sinken. Er hat weizenblondes Haar, das ihm wirr über die Augen hängt. Unter dem rechten Auge verläuft eine halbmondförmige Narbe und am Kinn sprießen helle Bartstoppeln. Der Mund des Jungen ist rot verschmiert, als hätte er gerade ein blutiges Mahl beendet. Starr ihn nicht an, Lia. Aber ich kann nicht anders.

»Könntest du deinen Hund vielleicht an die Leine nehmen?« Aus seiner Stimme, die unerwartet tief ist, höre ich Frust heraus, Misstrauen und einen Glasgower Akzent. Ein Glaswegian, Fußballfan. Auch seine Handflächen sind rot, fällt mir jetzt auf.

»Du kannst ja sprechen«, bemerke ich spöttisch. »Bist du verletzt?«

»Ich? Ähm … nein.« Er betrachtet seine roten Hände und deutet schließlich mit einem halben Grinsen auf ein paar Himbeersträucher mit ihren in der Sonne leuchtenden Früchten. Reif und rot.

»Ich habe keine Leine dabei, aber Archie ist hinter dem Fuchs her und nicht hinter dir.«

Archie zieht die Lefzen hoch und zeigt leise knurrend seine gelben Zähne.

»Schon klar.« Der Junge streicht sich das Haar aus dem Gesicht und fährt mit der Hand in den Nacken, wo er sie lässt. »Na dann, schönen Tag noch.« Er macht Anstalten zu gehen, doch offenbar traut er Archies Friedfertigkeit nicht und will der Bestie nicht den Rücken zukehren. Ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen.

Der Fremde sieht ungewaschen aus, aber nicht unattraktiv. Von solchen Typen halte ich mich normalerweise fern, doch der hier macht mich neugierig. Ein Landstreicher auf unserem Land? Hin und wieder muss Dad sich mit der Zerstörungswut Fremder herumplagen: kaputte Wildzäune, Einbrüche im Gobhair Cottage oder sogar Wilderei.

»Du wanderst?«, frage ich, obwohl die nassen, schlammverschmierten Sneakers, die er an den Füßen trägt, kaum als Wanderschuhe taugen.

»Ich … ähm, aye.«

Lügner. »Warst du schon auf dem Slioch?« Der Gipfel des Sliochs ist ein beliebtes Wanderziel für Munrobagger, Wanderer, die Berge sammeln wie andere Leute Briefmarken.

»Nein … morgen.« Er holt tief Luft, als ob seine Geduld mit mir am Ende ist. »Morgen steht der Slioch auf dem Plan.«

»Überlege es dir gut«, warne ich ihn. »Eine Schlechtwetterfront ist im Anmarsch und wenn die Steine nass sind, wird der Pfad rutschig. Dem Slioch sind schon erfahrene Bergwanderer zum Opfer gefallen.«

Seine Augen werden noch dunkler – wie Torf. »Danke für den Tipp«, bemerkt er trocken. Zum Gruß legt er zwei Finger an die Stirn und ist gleich darauf hinter Büschen und Bäumen verschwunden.

Noch eine ganze Weile starre ich auf die Stelle, an der er gestanden hat.

 

Finn schnappt sich seinen Rucksack. Er läuft ein Stück gen Westen und springt dann in wilder Hast den farnbewachsenen Hang hinunter, bis er sicher ist, genügend Abstand zwischen sich und das Mädchen mit dem großen schwarzen Hund gebracht zu haben. Wo, verdammt noch mal, waren die beiden plötzlich hergekommen? Soll das hier nicht die letzte, ultimative Einsamkeit Schottlands sein? Menschenleer?

Erneut verflucht er den diebischen kleinen Fuchs, der ihm gestern sein letztes Sandwich weggefressen hat. Seitdem verfolgt ihn das Tier wie ein herrenloser Hund. Finn hasst Hunde. Oder besser: Er hasst seine eigene, tief sitzende Angst vor ihnen. Das schwarze Untier hat mit Sicherheit ihn gewittert, denn er hat sich seit Tagen nicht mehr gewaschen und stinkt garantiert schlimmer als ein Fuchs.

Finns Magen knurrt. Zwei Hände voll Himbeeren haben seinen Hunger nicht stillen können. Um Essen hat er sich keine Gedanken gemacht, genauso wenig wie um alles andere, als er Hals über Kopf aus Glasgow geflüchtet war. Sicher fahndet die Polizei schon nach ihm, aber dass er hier ist, weiß bis jetzt nur dieses Mädchen, und sie hat ihn nicht erkannt. Sein Smartphone hat er in den Fluten des Clyde versenkt, aus Angst, die Polizei könnte ihn orten und aufspüren. Wie viele Tage ist das jetzt her? Sechs? Oder schon sieben? Sein Zeitgefühl lässt ihn im Stich.

Als er den sprudelnden Fluss erreicht, hockt Finn sich auf einen Stein am Ufer, um mit beiden Händen vom klaren Wasser zu schöpfen. Kühl kribbelt es in seiner Kehle und schmeckt besser als jedes Wasser, das er je getrunken hat. Er wäscht sich Gesicht und Hände, fährt mit den Fingern durch seine Haare. Bestimmt sieht er furchtbar aus – wie ein Landstreicher.

Als er die Hände an seiner Jeans trocken reibt, spürt Finn den Stein unter dem Stoff. Er schiebt seine Rechte in die Vordertasche und holt den warmen Kiesel hervor. Er hat die Form eines Vogeleis, ist weiß und glatt geschliffen. Ein Stein, wie es vermutlich hundert andere gibt am Ufer des Sees. Bei seinem Anblick wird Finn überwältigt von Schmerz und Trauer.

Kann ein so unscheinbarer Stein derart viel Unglück bringen? Seine Mum muss es geglaubt haben, sonst hätte sie ihn nicht darum gebeten, den Kiesel auf die Isle Maree im Loch Maree zurückzubringen. Auf ihrer Beerdigung hat Finn gedacht: Schlimmer kann es nicht kommen. Doch, das konnte es.

In den Monaten nach ihrem Tod, in denen Finn finsteren Groll darüber hegte, dass seine Mum ihn allein zurückgelassen hat, war er nur noch sporadisch zum Fußballtraining erschienen. »Komm erst dann wieder, wenn du verdammt noch mal Fußball spielen willst!«, hatte Kevin Bell, sein Trainer, ihn angeblafft. Wegen der Pandemie waren die Stadien ohnehin dicht gewesen und es hatten keine Spiele mehr stattgefunden. Trotzdem hatte sein Manager ihm mit Vertragsstrafe gedroht.

Finn kam zu der Einsicht, dass er sein Leben von nun an ohne seine Mum meistern musste. Er beschloss, endlich ihren letzten Wunsch zu erfüllen und den Stein in die Highlands zurückzubringen. Danach wollte er sich überlegen, wie es mit ihm und dem Fußball weitergehen sollte, wenn sein Vertrag mit den Celtic Fox Boys ausgelaufen war.

Um für das Wetter in den Highlands gerüstet zu sein, wollte er seine Regenjacke aus dem Spind im Barrowfield-Trainingszentrum holen, die einzig wirklich wetterfeste Jacke, die er besitzt. Dort schlug der Fluch des Kiesels erneut zu. Die Vergangenheit holte Finn ein und das Schicksal gab seinem Leben eine unwiderrufliche Wendung, die all seine Profipläne zunichtemachte. Er versenkte sein Handy im River Clyde, damit die Polizei seine Spur nicht verfolgen konnte, und floh Hals über Kopf aus Glasgow.

In Poolewe stieg Finn aus dem Bus und lief tagelang auf morastigen oder steinigen Wanderpfaden durch die Wildnis, geplagt von winzigen, gefräßigen Mücken, ohne Blick für die raue Schönheit, die ihn umgab. Zweimal übernachtete er in Bothys, kleinen Wanderschutzhütten, die anderen Nächte schlief er unter freiem Himmel. Und endlich, hungrig, zerstochen und verzweifelt, hatte er Loch Maree mit seinen Inseln unter sich liegen sehen.

Ob er auf den Berg will, hat das Mädchen mit den blauen Augen ihn gefragt. Finn blickt hinauf zum Slioch, dessen steile Flanken im Sonnenlicht schimmern. Dieser schroffe Gipfel scheint der perfekte Ort zu sein, um das Schicksal herauszufordern. Finns Knie beginnen zu zittern und sein Magen meldet sich mit einem dunklen Grummeln. Ohne Stärkung schafft er es nicht, diesen Berg zu erklimmen, so viel ist schon mal klar. Der Slioch läuft ihm nicht weg. Schon seit Millionen Jahren reckt der Berg sein felsiges Haupt in den Himmel und thront über allem wie ein Wächter. Irgendwie muss Finn da hinauf. Aber nicht mit leerem Magen und nicht heute.

Nicht heute.

Kapitel 4

Auf dem Rückweg humpelt Duncan stark und muss sich auf seinen Stock stützen. Ich habe ihm weder vom vorwitzigen Fuchs noch von dem Jungen erzählt, keine Ahnung, warum. Der Fremde war mir seltsam vorgekommen, irgendwie verloren. In seinem Blick hat etwas Verzweifeltes, Hoffnungsloses gelegen, aber was weiß ich schon über Blicke von Jungen? Schließlich gehe ich auf eine reine Mädchenschule.

Während meine kleine Schwester gerne mit ihren Freundinnen shoppen geht, findet man mich meistens oben, am Arthur’s Seat, dem Berg, der sich mitten aus der Stadt erhebt. An klaren Tagen kann man von dort auf der einen Seite Edinburgh Castle mit den darunterliegenden viktorianischen Häuserschluchten sehen und auf der anderen das Meer.