Lakota Moon - Antje Babendererde - E-Book
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Lakota Moon E-Book

Antje Babendererde

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Beschreibung

Oliver ist 15 und schwer verliebt in Nina. Und - o Wunder - Nina liebt ihn auch. Doch dann passiert das Unfassbare: Olivers Mutter beschließt wieder zu heiraten und zwar einen waschechten Indianer. Aller Protest nützt nichts - Oliver muss mit seiner Mutter nach Amerika auswandern. Doch im Pine Ridge Indianerreservat ist nichts so, wie er es sich vorgestellt hat, und Oliver möchte nur eins: so schnell wie möglich zurück nach Deutschland zu Nina. Bis eines Tages etwas passiert, das Oliver seiner neuen Familie näher bringt, als er es jemals geahnt hätte. 2006 ausgezeichnet mit dem Harzburger Jugendliteraturpreis.

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Seitenzahl: 335

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Antje Babendererde

Lakota Moon

Antje Babendererde, 1963 in Jena/Thüringen geboren, war zunächst als Töpferin und Arbeitstherapeutin tätig. Seit 1996 ist sie freiberufliche Autorin mit einem speziellen Interesse an der Kultur der Indianer. Nach intensiven USA-Reisen und den Besuchen verschiedener Reservate erschienen von ihr zu diesem Thema mehrere Romane für Erwachsene und der Arena-Jugendroman Der Gesang der Orcas. Lakota Moon ist ihr zweites Jugendbuch.

Zur Erinnerung an Robert »Boo« Many Horses, den man am 30. Juni 1999 kopfüber in einem Abfallcontainer in Mobridge S.D. fand. Er wurde nur 22 Jahre alt.

Ich danke der Stiftung Kulturfonds für die Unterstützung meiner Arbeit an diesem Roman.

Veröffentlicht als E-Book 2010 © 2005 Arena Verlag GmbH, Würzburg Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Frauke Schneider Umschlagtypografie: knaus. büro für konzeptionelle und visuelle identitäten, Würzburg ISBN 978-3-401-80113-1

www.arena-verlag.de Mitreden unter arena-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1.

Kapitel 2.

Kapitel 3.

Kapitel 4.

Kapitel 5.

Kapitel 6.

Kapitel 7.

Kapitel 8.

Kapitel 9.

Kapitel 10.

Kapitel 11.

Kapitel 12.

Kapitel 13.

Kapitel 14.

Kapitel 15.

Kapitel 16.

Kapitel 17.

Kapitel 18.

Kapitel 19.

Kapitel 20.

1. Kapitel

Ich rannte durch die Nacht. Es regnete und die Straßen der Stadt waren beinahe menschenleer. Niemand beachtete mich und das war auch gut so. Ich heulte vor Wut und Verzweiflung. Ich wollte laufen, nur noch laufen, so weit weg von zu Hause wie möglich.

Nicht dass irgendetwas schlecht war an meinem Zuhause. Im Gegenteil, auf einmal schien es für mich nichts Schöneres zu geben als die kleine Zweizimmerwohnung im dritten Stock des alten Mietshauses, wo ich mit meiner Mutter wohnte. Auf einmal erschien mir sogar unsere Stadt attraktiv, obwohl an ihr eigentlich nichts Umwerfendes dran war.

Ich rannte weg, weil ich bleiben wollte.

Das klingt verrückt, aber genau so war es. Ich rannte, bis ich vollkommen durchnässt war und die kühle Luft in meine Lungen biss. Aber die Wut ließ nicht nach und der Schmerz auch nicht. Beides pochte in mir und nahm mir den Atem. Ich konnte einfach nicht fassen, was meine Mutter mir antun wollte: einen waschechten Indianer heiraten und nach Amerika auswandern.

Ich lachte laut in die Nacht. Es klang ein bisschen irre und tatsächlich hatte ich das Gefühl, jeden Augenblick verrückt zu werden. Es war nämlich kein Spaß und ich war auch nicht im falschen Film. Meine Mutter war tatsächlich fest entschlossen diesen Rodney Bad Hand zu heiratenund mit ihm in sein Reservat nach South Dakota zu ziehen. In ein Indianerreservat!

Und ich musste natürlich mit. Wo sollte ich denn auch hin? Ich war erst fünfzehn und meine Mutter durfte über mich bestimmen, als wäre ich ihr Eigentum. »Oliver«, hat sie gesagt, »jeder andere Junge wäre begeistert, wenn ihm ein solches Abenteuer bevorstünde.« Abenteuer! Dass ich nicht lache. Es war ein Alptraum. Ich würde irgendwo in einer klapprigen Indianerhütte ohne Wasser und Strom im Grasland hausen müssen, mit Indianern zur Schule gehen, meine Sprache nicht mehr sprechen können, meine Freunde niemals wieder sehen und Nina . . .

. . . ach verdammt, Nina war mein Traum, meine große Liebe, der Mittelpunkt meiner Gedanken und Gefühle und nun war sie mein größtes Problem. Weil ich sie verlassen musste. In meinem ganzen Leben hatte ich mich noch nie so schrecklich gefühlt wie nach dieser Offenbarung meiner Mutter.

Was sollte ich bloß tun? Mein Herz flimmerte vor Liebe. Nina war für mich das aufregendste Mädchen der ganzen Schule, mit den längsten Beinen und den schönsten grünen Augen, die ich je gesehen hatte. Sie war der Grund, warum ich überhaupt geboren wurde. Ich hatte mich schon vor einer Ewigkeit in Nina verliebt und sie wochenlang angehimmelt, bis ich mir endlich einen Ruck gegeben und sie angesprochen hatte. Und ich hatte unglaubliches Glück: Nina mochte mich auch. Ich meine, ich war nicht gerade der Typ, auf den die Mädchen flogen. Ich konnte ganz gut zeichnen und ein bisschen Gitarre spielen. Aber ich war nicht besonders sportlich. Körperlichen Rangeleien hielt ich mich fern, soweit dies möglich war, denn ständig eine neue Brille kaufen, das konnten wir uns nicht leisten.

Also, meine Kondition war nicht die beste. Ich war zu schnell gewachsen und machte im Augenblick einen etwas klapprigen Eindruck. Ich war ein langer Schlaks, eine Bohnenstange, wie meine Mutter zu sagen pflegte. Mir fehlte einfach der Mumm in den Knochen. Zu Hause, in meinem Zimmer, hatte ich heimlich begonnen Gewichte zu stemmen. Vielleicht brachte das ja was, wenn ich Nina mal verteidigen musste. Unsere Stadt war zwar klein, aber trotzdem ein ziemlich heißes Pflaster, jedenfalls bei Nacht.

Aber eigentlich war ich nicht erpicht darauf, meine Fäuste zu gebrauchen. Ich war mehr der sanftmütige Typ und hasste jede Art von Gewalt. Wahrscheinlich war es genau das, was Nina an mir gefiel. Dass ich von anderen Jungs hin und wieder als Weichei betitelt wurde, schien sie jedenfalls nicht zu stören.

Nina, meine Traumfrau. Wir gingen jetzt seit vier Monaten miteinander und meine Mutter hatte natürlich keine Ahnung, wie weit unsere Beziehung inzwischen fortgeschritten war. Kaum zu glauben, aber ich hatte Kondome gekauft. Was ich damit sagen will: Ich stand kurz davor, meine Unschuld zu verlieren, und da sollte ich nach Amerika auswandern. Das war einfach absurd, unmöglich. Ich würde mich nicht zum Indianer machen lassen–ich nicht. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als wegzulaufen.

Aber wohin? Zu meinem Vater konnte ich nicht, ich wusste nicht einmal, an welchem Punkt der Erde er sich gerade aufhielt. Die letzte Postkarte von ihm war aus Brasilien gekommen, aber das war jetzt auch schon wieder drei Monate her. Es gab Momente im Leben, da konnte einVater ganz nützlich sein, aber in solchen Momenten war meiner nie da gewesen. Nein, mein Vater konnte mir nicht helfen.

Er ging von uns weg, als ich neun war. Aber schon vorher, als er noch bei uns lebte, hatte ich begriffen, dass ich mich nicht auf ihn verlassen konnte. Hatte er den Auftrag, mich vom Kindergarten abzuholen, war ich meist der Letzte und manchmal vergaß er mich ganz. Das war dann immer richtig schlimm. Ich war unglücklich und heulte nach meiner Mutter. Waren wir beide allerdings allein zu Hause, lief meistens alles ganz prima. Ich durfte fernsehen bis zum Umfallen, wir aßen Pizza und Eis und er erzählte mir von seinen Rucksackreisen, die er als Student gemacht hatte. Das war mächtig interessant und damals wollte ich genauso werden wie er. Wir waren eine ganz normale Familie, bis er auszog und einen Neunjährigen zurückließ, der nichts begriff.

»Papa will frei sein«, hatte meine Mutter zu mir gesagt. »Er ist ein rastloser Mensch und wir sind ihm nur ein Klotz am Bein.«

Dieses Bild verfolgte mich lange. Meine Mutter und ich, geschnitzt aus schwerem Holz, wie wir als Gewichte an den Beinen meines Vaters hingen. Das war ein ganz schöner Brocken für einen Jungen von neun Jahren. Und dann, später, als mein Vater uns das erste Mal nach langer Zeit wieder besuchte und er mir in der Stadt ein Eis spendierte, erzählte er, dass meine Mutter ihn rausgeworfen hatte. Ich weiß bis heute nicht, wer von beiden nun im Recht gewesen war, aber ich denke, jeder von beiden ein bisschen.

Ich liebte meinen Vater. Obwohl ich ihn vor einem Jahr das letzte Mal gesehen hatte, liebte ich ihn. Wenn wir zusammen waren, hatten wir meistens eine Menge Spaß miteinander. Aber um zur Sache zu kommen: Ich hatte einen Vater, auch wenn der mir im Augenblick nicht helfen konnte. Was ich auf keinen Fall brauchte, war noch ein Vater. Und schon gar keinen, der Rodney Bad Hand hieß. »Schlimme Hand«, das konnte alles Mögliche bedeuten. Ich kannte den Mann überhaupt nicht, der mein neuer Vater werden sollte. Ich hatte ihn erst einmal kurz gesehen. Meine Mutter hatte ihn zweimal gesehen, aber ich hielt auch das für unzureichend. Sie musste von allen guten Geistern verlassen sein einen Mann heiraten zu wollen, den sie nur zweimal gesehen hatte.

Als ich meiner Mutter heute sagte, dass ich nicht mit nach Amerika kommen würde, fing sie an zu heulen. »Warum gönnst du mir nicht, dass ich glücklich bin?«, fragte sie mich. So ein Unsinn. Natürlich wollte ich, dass sie glücklich ist. Aber sie konnte ja schließlich auch hier glücklich werden. Warum musste es unbedingt Amerika sein? Und noch dazu ein Indianerreservat. Keine Ahnung, ob sie überhaupt begriff, was sie uns da einbrockte. Wenn dieser Rodney sie wirklich so sehr liebte, wie sie es behauptete, dann konnte er doch auch zu uns ziehen. Wir würden uns eine größere Wohnung mieten und alles wäre in Butter. Ich könnte Nina haben und meine Mutter Rodney. Ich meine, ich habe doch genauso das Recht, glücklich zu sein, wie meine Mom, oder?

Ich liebe Nina schon so lange. Wir kennen uns besser als meine Mutter diesen Indianer kennt. Sie haben sich Briefe geschrieben. Briefe! Als ob das was bringt. Da kann man den anderen überhaupt nicht richtig kennen lernen. Sie schreibt ihm nur Gutes über sich und er ihr nur das Besteüber seine Person und sein Leben. Klar, dass jeder den anderen für einen tollen Typen hält. Aber so läuft das nicht. Das sind doch alles nur Hirngespinste.

Auf jeden Fall: Ich werde nicht mitkommen nach Amerika, niemals. Ich haue ab. Ich bleibe hier.

»Mein Gott Oliver«, rief meine Mutter erleichtert, als mich der Polizist um vier Uhr morgens an unserer Haustür ablieferte. Ich war sogar zu dämlich zum Abhauen. Als die Streifenpolizisten mich am Stadtrand aufgriffen, bin ich nicht mal weggerannt. Ich konnte einfach nicht mehr. Meine Kondition war eben nicht die beste.

Nachdem wir eine Weile im Streifenwagen umhergefahren waren, hatte ich dem Polizisten schließlich gesagt, wo ich wohne. Ich war müde, todmüde, und wollte nur noch in mein Bett. Und außerdem war er ein ganz netter Kerl. Er hat mir erzählt, dass er einen Sohn in meinem Alter hat, der auch schon mal abgehauen ist. Er sagte, von da an hätten sie immer über alles geredet.

Wahrscheinlich war er ein guter Vater. Ich ließ mich von ihm zu Hause abliefern, weil er dann mit einem besseren Gefühl seinen Nachtdienst beenden konnte.

Meine Mutter umarmte mich immer wieder. Sie sah verheult aus und auf einmal tat sie mir Leid. »Ich bin ja wieder hier, Mom«, sagte ich. »Und heute Nacht haue ich auch nicht mehr ab.«

Sie schluchzte wild auf und ich gab ihr einen Kuss auf die nassen Wangen. »Nun hör schon auf!«, sagte ich, weil mir ihre Tränen peinlich waren.

»Ich hätte nie gedacht, dass du so sehr dagegen sein würdest«, sagte sie. »Ich dachte immer, du würdest nachdeinem Vater kommen und wärst froh mal was anderes zu sehen als Deutschland.«

»Ich hab ja auch nichts dagegen, mir Amerika anzusehen. Aber deswegen muss ich doch nicht gleich dort leben«, erwiderte ich. »Wenn du Schlimme Hand schon unbedingt heiraten musst, warum kann er dann nicht bei uns wohnen? Hier würde es ihm doch bestimmt besser gehen als in seinem Reservat.«

»Sprich nicht so über Rodney«, sagte sie leise, weil sie Angst hatte, dass unsere Nachbarn wach werden würden von meinem Geschrei. »Wir haben natürlich darüber geredet, wo wir leben werden, und uns die Entscheidung nicht leicht gemacht.«

»Aber du hast nachgegeben«, sagte ich und wurde gleich wieder wütend. »Indianermänner sind Machos, hast du das gewusst? Sie trinken und verhauen ihre Kinder und ihre Frauen.«

Das war dann wohl doch ein bisschen daneben gewesen, denn meine Mutter sah mich nur traurig an und sagte: »Reden wir morgen darüber, Oliver. Ich hatte einen harten Arbeitstag und bin vor Sorge um dich bald verrückt geworden. Ich muss jetzt schlafen.«

Mom ging in ihr Zimmer, schloss die Tür vor meiner Nase und ließ mich mit meiner Wut und meiner Verzweiflung allein zurück.

Am nächsten Tag war ich mit Nina verabredet, und bevor ich ihr von der ganzen Sache erzählen konnte, musste ich sie irgendwie geklärt haben. Wenn ich jetzt also verschwand, bevor meine Mutter aufgestanden war, legte ich mich nur selber rein.

Ich machte Frühstück, das würde sie mir gegenüber gnädig stimmen. Gegen zehn kam sie aus dem Bett und setzte sich zu mir in die Küche. Ich goss ihr einen Kaffee ein und sah sie an. Nicht aus dem Blickwinkel, aus dem ein Sohn seine Mutter sieht. Ich versuchte sie mit Rodney Bad Hands Augen zu sehen. Meine Mom–sie heißt Susanne–trug einen taubenblauen Samtbademantel und das Haar fiel ihr in schweren Locken auf die Schultern. Es hatte die Farbe von reifem Stroh und ich mochte es.

Über Nacht hatte sich meine Mutter von ihrer Furcht um mich erholt und sah jetzt wie ein junges Mädchen aus, obwohl sie schon 35 war. Also kein Wunder, dass Rodney sie heiraten wollte. Für jemanden, der nicht dazu verdammt war, von ihr erzogen zu werden, war sie wirklich eine tolle Frau. Ich meine, sie sah richtig klasse aus. Ein bisschen wie Sharon Stone, die Figur inbegriffen. Außerdem roch sie immer gut. Meine Mutter hätte wirklich jeden haben können, wieso musste es dann ausgerechnet Rodney sein?

»Warum muss es Rodney sein?«, fragte ich.

»Weil ich ihn liebe, Olli«, antwortete sie, »auch wenn du dir das vielleicht nicht vorstellen kannst. Rodney gibt mir das Gefühl, einzigartig zu sein.«

Oh ja, einzigartig, das war meine Mom wirklich. Besonders, was ihre Zukunftspläne betraf, die mich leider einschlossen. »Aber du kennst ihn doch überhaupt nicht«, wandte ich ein. »Wäre es nicht besser, mit der Hochzeit noch ein wenig zu warten? Du könntest deinen Urlaub bei ihm verbringen, sein Land kennen lernen, das Leben dort.« Mein Gott, ich hörte mich verdammt noch mal an wie ein Vater, der sich um seine minderjährige Tochter sorgt. Ich hätte mich eher darum kümmern sollen, was meine Mutter in ihrer Freizeit so treibt. Vermutlich hatte ich sie vernachlässigt, und das waren nun die Folgen.

Ihre blauen Augen wurden dunkelgrau. »Wahrscheinlich hast du mir nie zugehört, wenn ich dir von den Dingen erzählt habe, die mich interessieren. Ich beschäftige mich seit Jahren mit dem Leben der Lakota-Indianer. Ich weiß, was uns im Pine Ridge erwartet. Rodney ist ein wichtiger Mann im Reservat, ein Hoffnungsträger für sein Volk. Er kann nicht einfach wegziehen und seine Leute im Stich lassen.«

Ich stöhnte leise. Tatsächlich war meine Mutter schon immer von der Idee besessen gewesen, eines Tages dorthin überzusiedeln, wo sie ihre spirituellen Wurzeln vermutete. In unserer Wohnung sah es aus wie in einem Tipi. Überall hingen diverse indianische Gegenstände, die alle irgendeine tiefere Bedeutung hatten. Ich fand das Zeug ja ganz dekorativ, aber interessiert hatte es mich nie. Meine Kumpel dagegen waren jedes Mal hellauf begeistert, wenn sie in unsere Wohnung kamen. Besonders mein Freund Markus interessierte sich für all die Bilder, Holzschnitzereien, Leder-und Perlenarbeiten. Mom musste ihm dann immer etwas über das Leben der Indianer erzählen, was sie auch gerne tat. Sie war der Meinung, in dieser Hinsicht hätten wir Deutschen mächtige Bildungslücken und sowieso vollkommen falsche Vorstellungen.

Bis jetzt hatte ich den ganzen Hokuspokus einfach ignoriert, aber wenn meine Mutter es ernst meinte, dann würde ich das bald nicht mehr können. Dann würde es auf einmal mein Leben sein. Etwas, das ich mir beim besten Willen nicht vorstellen konnte.

»Ich komme nicht mit«, sagte ich. »Gewöhne dich an den Gedanken.«

»Du wirst es dort toll finden«, meinte sie, als hätte sie nicht gehört, was ich gerade gesagt hatte.

»Ich bleibe hier«, wiederholte ich mich. »Ich will mit Nina zusammen sein, genau so, wie du mit Rodney zusammen sein willst. Ich werde deinem Glück nicht im Wege stehen, aber du solltest es meinem auch nicht. Ich liebe Nina«, sagte ich und hoffte, meine ungewöhnlich klare Ausdrucksweise würde ihr die Augen öffnen.

Stattdessen sagte sie: »Du weißt doch noch gar nicht, was Liebe ist.«

Mir blieb die Luft weg. Das war ja wohl der Hammer. Ihre Worte hallten in meiner Magengrube wieder. Meine Mom hatte mich nie geschlagen, auch als ich klein war nicht. Aber nun hatte sie mich ungeheuer verletzt. Und verdammt, es tat weh. Wie konnte sie nur so etwas sagen? Sie wollte einen Typen von einem anderen Planeten heiraten und erzählte mir, ich wüsste nicht, was Liebe ist.

Ich stand wortlos auf und ging aus der Küche. Bevor ich die Haustür ins Schloss fallen ließ, rief ich noch: »Warte nicht auf mich, ich komme heute Nacht nicht nach Hause.«

Wie betäubt lief ich durch die Straßen und die Worte meiner Mutter hämmerten in meinem Kopf. »Du weißt doch gar nicht, was Liebe ist.« Und ob ich das wusste. Ich liebte Nina, mit allem was dazugehört. Seit ich sie hatte, interessierte mich kein anderes Mädchen mehr. Ich dachte unaufhörlich an sie und dabei war mir innerlich warm. Wenn sie redete, hörte ich ihr gerne zu, egal, was sie erzählte, und wenn es dabei um irgendwelche Klamotten ging. Mir gefiel ihr Stil. Sie sah immer perfekt aus, was sie auch anhatte. Ich sah Nina gerne an und am liebsten lachte ich mit ihr. Und natürlich wollte ich mit ihr schlafen. Wir hatten in diese Richtung schon einige Versuche unternommen, aber für den letzten Schritt hatte uns der Mut gefehlt. Es funktionierte einfach nicht, wenn jeden Moment die Türklinke heruntergehen konnte und sich draußen jemand darüber wundern würde, warum das Kinderzimmer abgeschlossen ist.

Aber wie auch immer, es war auch so schon aufregend genug und letztendlich hatten wir ja alle Zeit der Welt. Das hatten wir jedenfalls geglaubt. Und nun? Was würde Nina sagen, wenn ich ihr von den Plänen meiner Mutter erzählte? Ob sie einen Rat wusste oder eine rettende Idee hatte?

Vielleicht konnte ich bei ihr bleiben. Nina und ihre Eltern bewohnten ein großes Haus mit Garten am Stadtrand und es gab darin noch mindestens drei leere Zimmer, seit ihre Oma letztes Jahr gestorben war. Vielleicht konnte ich eines davon haben. Oder vielleicht konnte Nina mich im Keller verstecken, bis alles vorbei war.

Aber es würde nie vorbei sein. Nein, da brauchte ich mir keine Illusionen zu machen: Ohne mich würde Mom nicht nach Amerika gehen. Aber gehen würde sie, da kannte ich sie viel zu gut. Wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, tat sie es auch. Ihre Entschlossenheit war beängstigend und raubte mir die letzte Hoffnung.

Als ich endlich vor Ninas Haustür stand, fühlte ich mich immer noch, als hätte ich einen Schlag mit dem Holzhammer bekommen. Nina öffnete mir und strahlte mich an. Sietrug Jeans mit weitem Schlag und ein kurzes dunkelbraunes T-Shirt, das ihren Bauchnabel frei ließ. Ihre Haare waren frisch gewaschen und noch feucht und dunkel. Der Duft nach Sommerwiese ließ mich aufwachen aus meiner Benommenheit.

»Komm rein!«, sagte sie. »Meine Haare sind noch nass, ich erkälte mich sonst.«

Sie hatte vielleicht Sorgen.

»Stimmt was nicht mit dir?«, fragte sie.

Das war auch etwas, das ich so an ihr mochte. Nina merkte gleich, wenn irgendetwas nicht stimmte. Sie konnte in meinem Gesicht lesen wie in einem Buch. Sie umarmte mich und gab mir einen Kuss. Es war so ein Kuss, der einem die Knie weich werden ließ. Dann nahm sie meine Hand und zog mich hinter sich her ins Wohnzimmer. Ihre Eltern waren übers Wochenende verreist und niemand würde uns stören. Wir setzten uns auf die gemütliche Ledercouch.

»Was ist los mit dir, Olli?«, fragte Nina erneut, während sie meine Hand immer noch hielt.

Am liebsten hätte ich angefangen zu heulen, aber das verkniff ich mir. »Meine Mutter will Rodney heiraten«, brachte ich hervor.

Nina überlegte eine Weile, dann warf sie den Kopf in den Nacken und lachte. »Ach Olli, bist du etwa eifersüchtig? Warum sollte sie nicht wieder heiraten? Deine Mutter ist eine schöne Frau und viel zu jung, um alleine zu bleiben.«

»Du verstehst nicht . . .«, hob ich an, da setzte sich Nina auf meinen Schoß. Ihre feuchten Haare streiften mein Gesicht. Mein Körper reagierte sofort und ich seufzte leise.

»Was verstehe ich nicht?«, flüsterte sie, ihre Lippen dichtan meinem Mund. Sie strich mir das Haar hinter die Ohren, das tat sie immer, bevor sie mich küsste.

Ihr Kuss war ein Sommerwiesenwindstoß, der all die furchtbaren Gedanken aus meinem Hirn pustete. Da war nur noch Nina und ihr warmer Körper, die festen, kleinen Brüste unter ihrem kurzen Hemd. Es hatte Wochen gedauert, bis ich mit meinen Händen zu ihnen vordringen durfte, und jetzt genoss ich dieses Privileg in vollen Zügen. Ich schwebte irgendwo im Raum. In Windeseile waren wir dort, wo wir das letzte Mal aufgehört hatten. Wo hatte ich eigentlich die Kondome gelassen?

Aber dann zog Nina meine Hand unter ihrem T-Shirt hervor, warf ihre Haare über die Schultern und fragte: »Und was wird aus dir, wenn deine Mutter Rodney heiratet?«

Ich stöhnte und sagte: »Aus mir wird Oliver Schlimme Hand und ich werde nachts heulen wie ein Wolf, weil ich vor Sehnsucht nach dir nicht schlafen kann.«

Mit einem Ruck setzte Nina sich auf. Ihre grünen Katzenaugen blickten mich erschrocken an. »Heißt das etwa...?« Sie sprach es nicht aus, aber nun hatte sie endlich begriffen.

»Ja«, erwiderte ich. »Genau das heißt es: Meine Mutter wird zu Rodney nach South Dakota ziehen und ich muss mit.«

»Amerika?«, fragte sie.

»Amerika«, antwortete ich.

Nina zupfte ihr T-Shirt zurecht und zog ihre Jeans wieder an. Ihr Traumkörper verschwand unter den Kleidungsstücken und ich wusste, ich würde Nina nicht haben können. Nun nicht mehr. Ich würde nie wieder solche herrlichen Brüste berühren.

Ein bisschen war es wie sterben.

Ich zog mich auch an, setzte meine Brille wieder auf und dann saßen wir schweigend nebeneinander auf der Couch und starrten auf den Teppich zu unseren Füßen. Die orientalischen Muster verschwammen zu eigenartigen Gebilden, die plötzlich wie Ungeheuer aussahen.

»Ich kann nichts machen, Nina«, sagte ich. »Ich habe nicht mal eine Oma, bei der ich bleiben könnte.«

»Scheiße!«, sagte Nina.

Schimpfwörter passten gar nicht zu ihr, Nina drückte sich immer sehr gepflegt aus. Verwundert sah ich sie an. Sie weinte und die Tränen tropften auf ihre Hände, die auf ihren Knien lagen.

»Was machen wir denn jetzt?«, fragte sie leise.

Ich zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Ich dachte, du hast vielleicht eine Idee.« Sie sah mich mit großen Augen an und ich kam mir unendlich einfallslos vor. »Wir könnten zusammen abhauen«, sagte ich schließlich.

An Ninas Blick erkannte ich, dass sie von meinem Vorschlag wenig begeistert war. Einen besseren hatte sie allerdings auch nicht. Ich glaube, schon damals fing ich an sie zu verlieren.

2. Kapitel

Unser Flieger landete kurz vor Mitternacht auf dem Flughafen von Rapid City in South Dakota und Rodney nahm Mom und mich am Gepäckband in Empfang. Irgendwie hatte ich ihn kleiner und schmächtiger in Erinnerung gehabt. Aber jetzt stand er da wie ein aufgerichteter Bär, mit langem, kräftigem Oberkörper und einem breiten Grinsen auf dem dunklen Gesicht.

Er und meine Mutter drückten und küssten sich lange. Ich sah weg, weil ich es kaum ertragen konnte, die beiden so glücklich zu sehen, während ich todmüde und zutiefst deprimiert war. Das wird ihnen schon noch vergehen, dachte ich griesgrämig.

Dann kam Rodney auf mich zu und boxte mich freundschaftlich vor die Schulter. »Hi, Oliver«, sagte er. »Willkommen in South Dakota.«

»Hmm«, antwortete ich.

Rodney übernahm einen der beiden Rollwagen, auf die wir unsere vielen Gepäckstücke verladen hatten, und schob ihn in Richtung Glastür. Meine Mutter lief neben ihm, eine Hand auf seinem Arm. Ich schob den anderen Gepäckwagen hinterher. Rodney trug dunkelblaue Jeanskluft, ein weißes T-Shirt und Cowboystiefel. Sein glänzender Pferdeschwanz war so lang wie seine Arme. Meine Haare waren auch mal lang gewesen. Aber einen Tag vor unserer Abreise war ich zum Frisör gegangen und hatte siemir abschneiden lassen. Millimeterkurz. Ich sah aus wie ein GI, es fehlte nur noch die Tarnuniform. Es sollte hier nur ja keiner denken, ich hätte was übrig für Indianer und wollte versuchen wie einer auszusehen. Jeder sollte wissen, dass ich mein Leben von nun an in einer Art Verbannung verbrachte. Ich musste drei Jahre lang durchhalten, dann konnte ich wieder heimkehren. Zurück zu meinen Freunden, zurück zu Nina. Drei Jahre und ich würde frei sein.

Es würden drei harte Jahre werden, da machte ich mir nichts vor. In den letzten Wochen hatte ich mich im Internet eingehend darüber informiert, was mich im PineRidge-Indianerreservat erwarten würde. Und was ich herausgefunden hatte, war nicht nur deprimierend, es war bedrohlich. Ich würde die meiste Zeit damit zu tun haben, mich am Leben zu erhalten. Viele Lakota im Reservat waren arbeitslos und hatten nichts zu tun, außer sich jede Woche ihren Scheck von der Wohlfahrt abzuholen. Weil sie das Nichtstun verrückt machte, kauften sie sich Alkohol von ihrem Geld und betranken sich sinnlos. Und wenn sie erst betrunken waren, dann fuhren sie ihre Autos zu Schrott, ballerten mit ihren Jagdgewehren wild in der Gegend herum und waren auf solche wie mich vermutlich nicht gut zu sprechen.

Aber was sollte ich machen? Ich konnte nur versuchen mich so unauffällig wie möglich zu bewegen und die meiste Zeit unsichtbar zu bleiben. Vielleicht schaffte ich es, die nächsten drei Jahre ohne Schaden zu überstehen. Im Nachhinein muss ich allerdings zugeben: Ein Großteil dessen, was mir hier im Reservat passieren konnte, kam mir damals nicht mal in den Sinn.

Aber da waren auch noch ein paar andere Dinge, die mir Sorgen machten. Meine Mutter und ich würden vollkommen von Rodney abhängig sein und niemand wusste, ob er ein großzügiger Mensch war oder ein Geizkragen. Ich nahm mal an, er war nicht so arm, dass wir Gefahr liefen, verhungern zu müssen, sonst hätte meine Mutter sicher nicht eingewilligt bei ihm zu leben. Aber würde ich auch ein ausreichendes Taschengeld bekommen?

Na ja, der silbergraue Van, in dem jetzt unser Gepäck verschwand, sah ja ganz passabel aus. Ich quetschte mich auf die Rückbank neben eine große Kiste und Rodney sagte, dass ich mich anschnallen solle. Ich tat, was er sagte, und kurze Zeit später flogen wir durch die Nacht. Tatsächlich hatte ich das Gefühl, wir würden jeden Moment abheben, so schnell fuhr der Indianer. Vermutlich hielt er nicht das Geringste von Geschwindigkeitsbegrenzungen und ich fragte mich, was er von anderen Regeln hielt.

Aber um diese Zeit waren die Straßen leer, in den nächsten anderthalb Stunden begegneten uns nur zwei oder drei Fahrzeuge. Es war stockdunkel draußen und ich sah nichts als schwarze Nacht, wenn ich aus dem Fenster blickte. Die Dunkelheit hatte die Landschaft völlig ausgelöscht.

Irgendwann drosselte Rodney das Tempo, denn die Fahrbahn wurde holprig und er musste Schlaglöchern ausweichen. Ich ahnte, dass wir uns nun auf Indianerland befanden und bald unser Ziel erreicht haben würden. Wir fuhren aber dann doch noch eine ganze Weile und ich sah im Dunkel vereinzelte Lichter auftauchen, wie verirrte Glühwürmchen. Bis Rodney nach rechts abbog.

Kurz darauf hielten wir vor einem Haus, das einsam auf einer Wiese stand, umgeben von ein paar Bäumen und einigen Sträuchern. Ich löste den Gurt, stieg aus und streckte mich. Durch ein Loch in der Wolkendecke schien auf einmal der Mond. Sein fahles Licht erhellte den Hügel, auf dem Rodneys Haus stand, und ließ die Blätter der Bäume wie Silbertaler aufleuchten. Immerhin, es war keine Hütte, wie ich es befürchtet hatte, sondern ein großes Haus. Es hatte eine eigenwillige Architektur, soweit ich das bei dieser Beleuchtung erkennen konnte. In der Mitte gab es ein oberes Stockwerk mit einem Satteldach und der untere Teil des Hauses hatte Dachflächen, die im gleichen Winkel abfielen. Das sah eigentlich ganz nett aus, aber etwas daran irritierte mich. Das Haus schien nagelneu zu sein und machte einen unfertigen Eindruck. Als ich ein paar Schritte lief, kam neben dem Gebäude ein großer Bretterhaufen zum Vorschein.

Wir zogen auf eine Baustelle, das war der Hammer.

Rodney hantierte mit einer Taschenlampe und schloss die Haustür auf. Er knipste drinnen das Licht an und machte eine einladende Handbewegung. Nichts Gutes ahnend, trat ich ein und fand meine Befürchtungen bestätigt. Auch drinnen war nichts fertig. Überall kahle, ungestrichene Wände, leere Zimmer, manche noch ohne Fußböden. Trotzdem zeigte uns Rodney ganz stolz jeden Raum. Nur die Küche und das Bad waren fertig und benutzbar. Ich konnte mich nicht darüber freuen, so wie meine Mutter es tat. Ich war sauer auf Rodney, weil er ihr und mir zumutete auf einer Baustelle zu leben. Als ob alles andere nicht schon genug wäre.

Was sollte das werden? Dachte er etwa, er hätte jetzt in mir und Mom billige Arbeitskräfte? Da hatte er sich gehörig verrechnet. Keinen Handgriff würde ich tun, nicht einen. Das ging mich alles nichts an, ich wollte überhaupt nicht hier sein.

»Ich bin müde«, brummte ich.

»Rede englisch!«, sagte meine Mutter. »Gewöhne dich daran, auch mit mir englisch zu reden. Auf diese Weise lerne ich es am schnellsten.«

Die Sprache war bei all dem, was mich hier erwartete, das kleinste meiner Probleme. Ich war bisher auf ein neusprachliches Gymnasium gegangen und hatte immer eine Eins in Englisch gehabt. In den letzten Wochen hatte meine Mutter mich ständig als Wörterbuch benutzt, weil sie einen riesigen Haufen Papierkram zu erledigen hatte, bevor wir auswandern konnten.

Ich schwieg trotzig, aber Rodney schien mich auch so verstanden zu haben. »Hilfst du mir noch ausladen, Oliver? Dann zeige ich dir dein Zimmer.«

Wir luden Kisten, Koffer und Reisetaschen aus dem Van und brachten sie ins Haus. Dann nickte Rodney und machte eine Handbewegung, dass ich ihm die Treppe hinauf folgen sollte. Ich schnappte meine beiden Taschen, und als er sah, wie ich mich abschleppte, nahm er mir eine ab und trug sie nach oben.

Der obere Flur sah auch nicht besser aus als der untere, aber als Rodney die Tür zu einem großen Zimmer am Ende des Ganges öffnete und das Licht anschaltete, da verschlug es mir für einen Augenblick die Sprache. Ich war dabei, den gemütlichsten Raum des ganzen Hauses zu betreten.

»Das ist dein Zimmer, Oliver«, sagte Rodney und lachte breit, als er mein Staunen bemerkte.

Die schräge Decke war mit hellem Holz verkleidet, dieWände in einem warmen Rot-Ton gestrichen. Ein halbhohes Regal aus dicken Holzbohlen nahm eine ganze Wand ein, an der anderen stand ein Kleiderschrank. Ich hatte einen eigenen kleinen Fernseher und unter dem Fenster stand ein großer, ebenfalls selbst gezimmerter Schreibtisch. Passend dazu das Bett, an einer Wand, die mit einem bunten Webteppich bespannt war. Über dem Bett hing ein Traumfänger, so ein rundes Ding mit nachgebildeten Spinnweben und Perlen in der Mitte.

Meine Mutter hatte mir mal erklärt, was so ein Traumfänger bedeutet. Der lederumwickelte Ring aus Weiden-holz symbolisiert den Kreis des Lebens. Das Netz, gewebt von der Perlenspinne, fängt die guten Träume auf und über die Federn werden sie in den Kopf des Träumers geleitet. Die schlechten Träume fallen durch das Loch in der Mitte. Natürlich glaubte ich nicht an solche Sachen, ich war da mehr der bodenständige Typ. Außerdem fragte ich mich, welche Überlegungen Rodney dazu veranlasst haben könnten, mir einen Traumfänger übers Bett zu hängen. Rechnete er etwa damit, dass ich Alpträume haben würde? Verdammt, auch diesen Gefallen würde ich ihm nicht tun.

»Ich habe alles selbst gebaut«, sagte er stolz. »Und beinahe hätte ich es nicht geschafft. Du kannst dir das Zimmer natürlich so gestalten, wie du es willst. Deine Mutter hat gesagt, du magst Rot. Es ist eine machtvolle Farbe.«

Ich brachte nur ein krächzendes »Danke« hervor.

Rodney zeigte mir dann noch ein kleines Badezimmer mit einer Dusche, das ich für mich alleine haben würde. Dann wünschte er mir eine gute Nacht und ging wieder nach unten.

Ich war zwar müde, aber schlafen konnte ich nicht, dafür war ich viel zu aufgekratzt. Dieses Zimmer war ganz in Ordnung. Nichts Besonderes eigentlich, aber im Gegensatz zu den übrigen Räumen ein richtiges Paradies. Es hatte keine feuchte Ecke wie mein Zimmer zu Hause und es gehörte mir. Das Wichtigste war: Ich konnte es abschließen. Mit diesem Zimmer hatte Rodney mich wirklich überrascht. Nach dem, was ich über die Lakota gelesen hatte, war ich davon ausgegangen, dass alle Indianer arm waren und in baufälligen Hütten hausten.

Mom musste von dem neuen Haus gewusst haben, hatte mir jedoch nichts erzählt. Ich knipste das Licht aus und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Die Matratze war okay und das Bettzeug schien neu zu sein, jedenfalls roch es so. Rodney wusste wahrscheinlich nicht, dass man neue Bettwäsche erst einmal in die Waschmaschine steckt, bevor man sie benutzt, aber das konnte man von einer Rothaut wohl nicht erwarten.

Doch auch wenn ich froh war über all diese Dinge, die mir das Leben hier erträglich machen sollten, würde ich mich nicht so einfach kaufen lassen. Rodney war schuld, dass ich jetzt hier sein musste, herausgerissen aus meinem schönen Leben, mit Problemen, die mir auf einmal winzig klein erschienen. Hier würde ich andere haben. Schwerwiegendere. Kaum auszudenken, was in der nächsten Zeit alles auf mich zukommen würde. Vor allem in zwei Monaten, Anfang September, wenn aus mir ein Senior der Little Wound High-School in Kyle werden würde. Mir wurde schon übel, wenn ich nur daran dachte.

Ich stand noch einmal auf, weil ich pinkeln musste, und als ich aus dem Bad kam, hörte ich Rodney und meine Mutter unten in der Küche sitzen und reden. Rodneys Stimme war tief und klang heiser. Er nannte meine Mutter »Susan« und »Darling«. Auch etwas, an das ich mich erst gewöhnen musste. Es hörte sich seltsam an, als wäre sie gar nicht meine Mutter, sondern eine fremde Frau. Und irgendwie war sie das auf einmal auch.

Noch war Mom zwar nicht mit Rodney verheiratet, aber ich wusste, die Hochzeit würde die erste schwierige Hürde werden, die ich hier zu meistern hatte.

Ich konnte nicht gut verstehen, was die beiden da unten redeten, also ging ich wieder ins Zimmer zurück und kroch in mein Bett. Ich löschte das Licht und lauschte auf das leise Zirpen der Grillen, dem einzigen Geräusch der Nacht. Diese Stille war ich nicht gewohnt. Mein Zimmer zu Hause hatte an einer viel befahrenen Straße gelegen, auf der eine Straßenbahnlinie entlangführte. Es war nie still gewesen, auch nachts nicht. Ich hatte mich an das Quietschen der Straßenbahn gewöhnt und nun würde ich mich an die Stille gewöhnen müssen.

Während ich noch darüber nachdachte, was ich verloren hatte und was mich hier erwarten würde, war ich auch schon eingeschlafen. Ich träumte von Nina, aber da wusste ich natürlich nicht, dass ich nur träumte. Die Sonne schien warm und wir liefen Arm in Arm über eine grüne Wiese. Ich machte mir keine Gedanken, wo diese Wiese war, Hauptsache, Nina war bei mir. Sie küsste mich und ich hörte die Glocken läuten. Aber dieses selige Bimbam wandelte sich plötzlich in Geheule, das mich an Kriegsgeschrei aus Indianerfilmen erinnerte. Ich öffnete meine Augen und blinzelte über Ninas Schulter. Da kamen sie auch schon auf ihren Pferden, bunt gekleidet, mit Kriegsbemalung im Gesicht, die Tomahawks über dem Kopf schwingend.

Weit und breit war kein Baum, kein Strauch, hinter dem wir uns verstecken konnten. Die Rothäute kreisten uns ein, ihr Geheul wurde immer wilder und drohender und der Kreis um uns immer enger. Ich machte mir vor Angst bald in die Hosen. Nina presste sich an mich und ich wusste: Sie erwartete von mir, dass ich etwas unternahm.

Auf einmal streckte der Wildeste von allen, ein Krieger mit schwarzen Augen und einem siegessicheren Grinsen im bemalten Gesicht, seinen muskelbepackten Arm nach Nina aus, entriss sie mir und hob sie zu sich aufs Pferd.

»Neiiiin«, schrie ich und schreckte schweißgebadet aus meinem Traum.

Ich war wach, saß in meinem Bett, aber das Geheule hörte nicht auf. War ich jetzt verrückt geworden? Waren sie tatsächlich da draußen unterwegs? Der Traumfänger hing zwar über meinem Bett, aber gewirkt hatte er nicht.

Ich stand auf und ging zum Fenster. Draußen heulte es inbrünstig und vielstimmig. Wölfe, dachte ich. Mom hatte nicht mit einer Silbe erwähnt, dass es im Reservat Wölfe gab. Ich ahnte, dass sie mir überhaupt eine Menge verschwiegen hatte. Mit einem unbehaglichen Gefühl legte ich mich wieder ins Bett und wartete auf den Morgen.

Ein leises Klopfen weckte mich aus dem Schlaf. Ich schreckte hoch und zuerst wusste ich nicht, wo ich überhaupt war. Dann stand meine Mutter im Zimmer. Der Stoff ihrer roten Bluse leuchtete mich an wie ein Warnsignal. »Was ist los?«, fragte ich erschrocken.

»Es ist schon Mittag«, sagte sie und lächelte. »Ich habe uns was zu essen gemacht.«

Ich ließ mich aufs Kissen zurückfallen und stöhnte. Die Sonne schien hell in mein Zimmer und durch das große, offene Fenster kam warme Luft herein. Meine Mutter sah sich um und sagte: »Du hast ein schönes Zimmer, Olli. Rodney hat in den letzten Tagen nichts anderes getan, als es für dich herzurichten.«

Anstatt ihr zu sagen, wie froh ich über das Zimmer war und dass ich sogar einen winzigen Funken Dankbarkeit gegenüber Rodney empfand, fragte ich: »Warum müssen wir auf einer Baustelle wohnen? Warum konntet ihr nicht wenigstens warten, bis das Haus fertig ist?«

Meine Mutter setzte sich zu mir aufs Bett und streckte die Hand nach meinem Kopf aus, aber ich zog ihn weg.

»Weil das noch lange dauern wird«, erwiderte sie schließlich. »Rodney arbeitet hart, aber er ist auch viel unterwegs und manchmal sind andere Dinge wichtiger. Nach und nach werden wir das Haus fertig bauen und es gemütlich einrichten. Mach dir da mal keine Sorgen.« Sie stand auf und ging zum Fenster. »Hast du schon mal rausgesehen?«, fragte sie. »Es ist wunderschön hier.«

»Warum hast du mir nicht gesagt, dass es im Reservat Wölfe gibt?«, brummte ich verdrießlich.

»Wölfe?« Mom sah mich stirnrunzelnd an.

»Hast du sie nicht gehört–in der Nacht?«

Auf einmal lachte meine Mutter. »Das waren Kojoten, Olli, keine Wölfe. Hier gibt es keine Wölfe, Kojoten dafür eine ganze Menge.«

»Worin liegt der Unterschied?«

»Da fragst du am besten Rodney, Schatz.«

Ich konnte es nicht leiden, wenn sieSchatzzu mir sagte, und schwieg. Schließlich ging sie. Ein bisschen tat sie mir Leid, weil sie es so schwer hatte mit mir, aber sie machte es mir auch nicht gerade leicht. Sie hatte meine ganze Lebensplanung über den Haufen geworfen und erwartete nun auch noch von mir, dass ich hier alles toll fand. Aber das war nicht der Fall, nicht mal annähernd. Ich sehnte mich jetzt schon zurück nach Hause, obwohl ich noch keinen einzigen Tag im Reservat verbracht hatte.

Es nützte nichts. Ich musste aufstehen, denn meine Lage würde sich nicht ändern, nur weil ich versuchte sie zu ignorieren. Ich tappte zum Fenster und sah hinaus. Die Sonne blendete mich und ich musste die Hand über die Augen halten, damit ich etwas sehen konnte.

Rodneys Haus stand auf einer kleinen Anhöhe und war umgeben von mehreren Hügeln, die mit Sträuchern und Kieferngruppen bestanden waren. Mit Sicherheit hatte es wochenlang nicht geregnet, denn das Gras war gelb bis zum Horizont. Alles sah vertrocknet aus, wie tot.

Einige Schritte entfernt vom Haus, sah ich ein längliches rotes Gebäude mit hellem Blechdach und großem Tor. Das war vermutlich die Scheune, denn Rodney züchtete Pferde, so viel wusste ich zumindest schon. Und dann sah ich sie auch, die Tiere, ein Stück weiter unten in einem kleinen Tal, wo ein paar grüne Büsche wuchsen und sie Wasser und Schatten fanden.

Was ich weit und breit nicht finden konnte, war ein anderes Haus, obwohl ich gestern Nacht Lichter gesehen hatte, bevor wir abgebogen waren. Sollten wir tatsächlich völlig allein hier draußen wohnen? Meine Mutter war