Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
1865: Das Ehepaar Biel lebt mitten im Ruhrgebiet. Johannes Biel ist Bergmann auf der Zeche Neu-Iserlohn. Seine Ehefrau, Wilhelmine Biel, bringt acht Kinder zur Welt, die sie in armen Verhältnissen resolut aber liebevoll großzieht. Abseits der glanzvollen Geschichten bekannter Industriellenfamilien gewährt der Autor tiefe Einblicke in das Leben der einfachen Bergleute. Die Arbeit auf der Zeche ist dabei nur am Rande Thema. Der Blick ist immer in die Familie und das Gefühlsleben hinein gerichtet. Der Leser lernt die Werte dieser Zeit kennen, und wie sie vermittelt wurden. Werte, die sich teilweise gravierend von unseren heutigen unterscheiden. Die genannten Personen haben alle gelebt; die Schauplätze existieren teilweise heute noch. So ist die Zeche Neu-Iserlohn die heutige JVA Bochum-Langendreer.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 438
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Roman
Alle Rechte, insbesondere auf
digitale Vervielfältigung, vorbehalten.
Keine Übernahme des Buchblocks in digitale
Verzeichnisse, keine analoge Kopie
ohne Zustimmung des Verlages.
Das Buchcover darf zur Darstellung des Buches
unter Hinweis auf den Verlag jederzeit frei
verwendet werden.
Eine anderweitige Vervielfältigung des
Coverbildes ist nur mit Zustimmung
der Coverillustratorin möglich.
www.net-verlag.de
Erste Auflage 2014
© Coverbild: Jenny Schneider
Covergestaltung, Layout & Lektorat: net-Verlag
© net-Verlag, 39517Tangerhütte
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014
ISBN 978-3-95720-038-9
Für meine Mutter Edith Krämer und meine Großmutter Hilde Niggetiet.
Für beide stand immer, ganz in der Tradition ihrer Urahnin Wilhelmine Biel, die Familie an erster Stelle.
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Prolog
Familie Biel
Familie Biel bekommt Nachwuchs
Vom Erwachsenwerden
Weihnachten
Von kleinen und großen Kindern
Geheimnisse
Nicht auf die lange Bank geschoben
Mimmis Konfirmation
Schicksalsschlag und Liebesglück
Die älteren Kinder verlassen das Haus
Elisabeth hat einen Verehrer
Kleine Geheimnisse
Die jüngeren Kinder gehen arbeiten
Herrenbekanntschaften
Aus Kindern werden Leute
Ohne Fleiß kein Preis
Der erste Urlaubstag
Wo die Liebe hinfällt
Herzensangelegenheiten
Mutters Geburtstag
Das Ende des Urlaubs
Mach weiter so, Heinrich!
Einen Hausstand gründen
Abschied von Webers
Ein neues Zuhause
Hochzeitsvorbereitungen
Die Hochzeit
Epilog
Autorenbiografie
Buchempfehlungen
Hildegard Niggetiet erzählt die Lebensgeschichte ihrer Großeltern Wilhelmine und Johannes Biel. Wie und mit welchen Werten die beiden ihre Kinder in einer Arbeitswelt großziehen, die wir uns heute kaum noch vorstellen können.
Sie entführt den Leser mitten hinein in das Familienleben einer Bergarbeiterfamilie aus dem neunzehnten Jahrhundert. Dabei steht jedoch nicht die Arbeit der Männer im Mittelpunkt, sondern sie lässt uns am Gefühlsleben der Ehefrauen und Kinder teilhaben.
Arbeitsplatz der Vorfahren der Autorin war die Zeche Neu-Iserlohn an der Grenze von Dortmund-Lütgendortmund und Bochum-Langendreer.
Die Zeche wird heute zum Teil unter Nutzung der original geschichtlichen Gebäude als Justizvollzuganstalt genutzt und ist Arbeitsplatz des Enkels und Co-Autors der Verfasserin Jörg Krämer.
Auch der Kleyberg existiert noch. Neben einigen Wohnhäusern befindet sich heute eine Schrebergartenanlage gleichen Namens auf dem Gelände.
Chronik einer Bergarbeiterfamilie im Ruhrgebiet ab Achtzehnhundertfünfundsechzig
(Eine wahre Familiengeschichte)
Im Jahre Achtzehnhundertfünfundsechzig lebte in dem abgelegenen Dorf Kleyberg, in der Nähe von Stockum, eine junge Familie.
Ich möchte ein bisschen aus ihrem Leben erzählen.
Der Mann war von Beruf Bergmann, seine Frau Hausfrau und Mutter. Sie waren noch sehr jung. Die ersten fünf Kinder kamen schnell; jedes Jahr eines. Da gab es viel, viel Arbeit.
Die Mutter war von morgens früh bis abends spät auf den Beinen. Dem Vater ging es nicht besser. Der älteste Sohn war Fritz, dann kamen Johann, Heinrich und Wilhelm.
Die Jüngste war endlich ein Mädchen, das war eine Freude. Sie wurde nach ihrer Mutter benannt. Doch weil der Name so lang war, sagte man einfach Mimmi.
Eines Abends meinte Mutter: »Johannes, ich denke mit dem Kinderkriegen könnte nun Schluss sein. Die Arbeit wächst mir sonst über den Kopf. Das willst du doch auch nicht, oder doch?«
»Aber, Wilhelmine. Nein! Nein! Und noch einmal nein! Das will ich bestimmt nicht, aber was ist, wenn es trotzdem passiert? Oder wir dürfen uns einfach nicht mehr lieb haben, dann hätten wir Sicherheit.«
»Nein, Johannes, so habe ich es nicht gemeint.« Wilhelmine war geknickt.
Johannes fühlte sich stark. »Siehst du, mein Liebes.«
»Dann mache ich dir einen anderen Vorschlag, mein lieber Mann, wie du mir viel Arbeit abnehmen könntest.«
»Sag schon! Ich mache alles, was du willst.«
Wilhelmine räusperte sich. »Wenn du da nur nicht zu viel versprichst.«
Johannes war entrüstet. »Wilhelminchen, raus mit der Sprache!«
»Es fällt mir so schwer. Nun gut! Vater, könntest du nicht wie deine Arbeitskollegen in der Waschkaue baden? Da bräuchte ich nicht jeden Tag das viele Wasser tragen, und du bräuchtest nicht so schwarz nach Hause kommen. Es wäre eine große Entlastung für mich.«
»Nein!«, rief Vater ganz aufgeregt. »Nur das nicht! Alle Männer so nackt nebeneinander, ich kann das nicht. Ich will dir gern im Haushalt helfen. Aber du weißt, ich schäme mich. Es mag albern klingen, aber so ist das eben.«
»Schon gut, mein Alter, das Versprechen sei dir geschenkt. Ich werde doch nie etwas von dir erbitten, was dir unmöglich ist«, gab Wilhelmine nach.
»Du bist ein Schatz, Wilhelmine. Weißt du, ich schleppe das Wasser eben selbst, dann brauchst du es nur warm machen.«
»Prima, Johann, darauf wäre ich nie gekommen.«
Mutter dachte an die Unordnung und das Geplansche in der Wohnung. Die Wasserkübel mussten reingebracht werden. Die Pumpe war ja ein ganzes Stück entfernt. Aber wo es ihm so peinlich war, nahm sie es in Kauf.
»Wenn die Kinder etwas größer sind, können sie mir ein bisschen helfen. Jetzt tollen sie noch den ganzen Tag draußen herum.«
Es gab ja keine Autos und auch sonst keine Gefahr, außer ein paar Schrammen, die sie sich beim Fallen holten, konnte ihnen nichts passieren. Aber wenn es den ganzen Tag regnete, hing die ganze Meute an Mutters Rock, da war sie abends glücklich, wenn sie in ihren Betten lagen und sie mit dem Nachtgebet ihren Tagesablauf erfüllt hatte.
»Sieh nur, Vater, sind sie nicht wie kleine Engel?«
»Ja, mein Liebes, und du bist der schönste und beste unter ihnen.«
»Oh, Vater, das hast du aber lieb gesagt.« Glücklich nahm sie ihn am Arm und ging nach unten.
Die Kinder hatten oben, die Eltern unten ihr Schlafzimmer. Es war nichts Besonderes. Jedes Kind hatte eine kleine Kommode mit Waschschüssel und Krug, zum Schlafen einen Sack, der mit Stroh gefüllt war.
Alles blitzte nur so vor Sauberkeit.
Im Sommer wuschen sich alle unter der Pumpe, aber im Winter gab es im Zimmer oft eine Überschwemmung, wenn alle gewaschen waren. Wenn es die Kleinen aber zu toll trieben, klopfte Mutter unter die Decke, dann herrschte erst mal wieder Ordnung.
Die Eltern standen jeden Morgen um vier Uhr auf.
Vater meinte: »Bleibe du doch ruhig noch ein bis zwei Stunden liegen, ich werde schon alleine fertig.«
Doch das brachte Mutter nicht übers Herz. Sie wusste, wie schwer und gefährlich seine Arbeit war.
Schnell verging ein Jahr nach dem anderen. Fritz und Heinrich gingen schon zur Schule. Mutter musste morgens viel leisten. Wenn dann alle wieder nach Hause kamen, war die Wohnung blitzsauber, das Vieh versorgt, und das Mittagessen stand auf dem Tisch.
Saßen dann alle um den Tisch und aßen mit Appetit waren die Eltern glücklich. Waren die Kinder aber nicht manierlich, legte Vater nur seinen Riemen neben sich. Davor hatten alle Respekt. Fast jeder hatte ihn schon einmal zu spüren bekommen. Das war auch gut so.
Nach dem Essen wurden gleich die Schulaufgaben gemacht. Die Kinder hatten keine Schwierigkeiten beim Lernen.
»Vater«, sagte Mutter, »vielleicht brauchen sie einmal nicht so schwer zu arbeiten wie du. Das wäre doch schön.«
»Hoffentlich, aber ich beklage mich doch gar nicht.«
»Schon gut, mein Alter.«
Johannes stutzte: »Wilhelmine, ich bin erst dreißig. Warum sagst du immer Alter?«
Wilhelmine lächelte. »Es ist nur ein Kosename, da du doch so gescheit bist, Vater. Ich hätte fast vergessen, dass ich noch den Streuselkuchen backen muss.«
»Ist doch nicht so wichtig.«
»Doch, stell dir die enttäuschten Gesichter vor.«
Vater sorgte dafür, dass die Kinder schon den Tisch abräumten. Mimmi holte die Backsachen zusammen. Mutter musste noch das Zeug für den Kirchgang zurechtlegen. Hier hatte alles seine Ordnung. Sie wollten ja am Sonntag gemütlich frühstücken.
Am nächsten Morgen war Mutter überrascht. Mimmi hatte den Tisch schon gedeckt. »Oh, Mimmi, was für ein liebes Kind du doch bist. Wie ich mich freue.«
Mimmi war stolz. »Aber Mutter, du bist doch jeden Morgen die Erste und sorgst für uns. Morgen musst du wieder das ganze Wasser für die große Wäsche tragen. Hoffentlich ist das Wetter schön, damit du draußen trocknen kannst, dann brauchst du nicht so viel wringen. Ich reiche dir die Klammern an.«
»Ja, Vater, da bist du sprachlos«, sagte Wilhelmine mit Blick auf ihren Mann.
Johannes meinte trocken: »Das schon, aber ich halte es für selbstverständlich, dass Mimmi dir hilft.«
»Vater, das hättest du nicht sagen sollen, jetzt hast dem Kind die ganze Freude genommen. Sie ist doch noch so klein.«
Mimmi nahm es gar nicht so ernst, dafür hatte sie ihren Vater viel zu lieb. Sie lief nach oben und neckte ihre Brüder. »Es wird höchste Zeit!«
»Verschwinde schon, wir kommen!«, keiften sie zurück.
Um acht Uhr zogen sie gemeinsam los, es war ja eine ganze Stunde bis zur Kirche.
Johannes war stolz. »Wilhelmine, sieh nur, ich glaube, die Nachbarn beneiden uns. Du hast die Kinder angezogen, wie aus dem Ei gepellt. Sie werden sich fragen, wie schafft die Frau Biel das nur?«
Mutter fühlte sich geschmeichelt und trug den Kopf noch ein bisschen höher. Sie war eine sehr hübsche Frau, groß und schlank. Ihr schwarzes Haar hatte sie zu einem dicken Knoten im Nacken zusammengesteckt.
Nach der Kirche rannten die Kinder schon voraus. Die Nachbarn waren sehr freundlich und schlossen sich ihnen auf dem Heimweg an. Es standen ja nur ein paar Häuser auf dem Kleyberg. Sonst war alles nur Wald und Flur. Darum kannte einer den anderen.
Viel Zeit zum Tratschen gab es nicht. Denn jeder hatte ein großes Stück Land und Vieh zu versorgen. So viele Kinder wie Familie Biel hatte niemand.
Als die Eltern nach Hause kamen, hatten sich die Kinder schon umgezogen. Für einen leckeren Nachtisch taten sie schon einmal etwas.
Nach dem Essen sagte Vater: »Mutter, wir legen uns ein Stündchen hin. Du brauchst ein bisschen Ruhe.«
Er war so besorgt, das tat gut. Die viele Arbeit danach machte ihr deshalb nichts aus. Die Stunde musste sie ja wieder rausholen.
Der Sonntag verging viel zu schnell. Am Nachmittag wurde der Streuselkuchen verzehrt und dabei schon der nächste Tag eingeteilt.
»Zuerst muss ich für den Monat einkaufen.«
»Da helf ich dir«, meinte Vater hilfsbereit. »Ich habe doch Mittagschicht.«
Das war tatsächlich günstig.
Mittagessen war noch vom Sonntag übrig. Die Wäsche verschob Mutter auf den Dienstag.
Morgens früh zogen die beiden los. Der Kaufmann war nicht kleinlich, er machte doch immer ein gutes Geschäft. Wenn die Eltern mit den zwei großen Spankörben nach Hause kamen, war etwas los. Alle packten aus. In der Zeit zogen sich die Eltern um.
»Vater, du kannst eben die Schweine füttern. Vergiss aber die Gänse nicht, sonst gibt es keinen Weihnachtsbraten. Ich gehe schnell die Ziegen melken, damit die Kinder noch ihre Milch kriegen.«
Die Kinder hatten in der Zeit schon die Ware ausgepackt, alle Teile gezählt und die Preise verglichen.
»Mutter, es stimmt alles ganz genau«, freuten sie sich.
Sie gab jedem ein Stück Würfelzucker. Alles wurde weggepackt, dann wurde Mittag gegessen. Sie hatte noch schnell für jeden einen Pfannkuchen gebacken, sonst hätte sie die Kinder nicht satt gekriegt.
Vater musste danach zur Arbeit. Die Kinder machten ihre Schulaufgaben, und für Mutter gab es auch noch sehr viel zu tun. Der Nachmittag verging viel zu schnell. Sie hatte heute nicht alles geschafft. Es ging ihr nicht so gut, aber das verriet sie nicht.
Abends sagte sie: »Kinder, geht schlafen!«
»Aber, Mutter, du kommst doch mit uns beten«, bettelten die Kinder.
»Na gut.« Sie konnte den Kleinen nichts abschlagen.
Als Vater abends von der Arbeit kam, war das Geschirr noch nicht gespült.
Johannes war besorgt. »Mutter, ist etwas los? Du siehst so müde aus.«
»Iss erst mal, dann werde ich es dir sagen«, antwortete Wilhelmine geheimnisvoll.
»Sage es doch gleich! Ist es etwas Wichtiges? Spann mich doch nicht auf die Folter!«
»Du sollst erst essen!« Wilhelmine ließ sich nicht drängen.
»Na gut!« Doch es wollte ihm nicht so recht schmecken.
»Vater, erst noch deine Tasse Milch.«
Langsam war Johannes genervt. »Nun sag es schon!«
Wilhelmine lächelte. »Kannst du es dir nicht denken? Wir bekommen wieder ein Baby.«
Damit hatte Vater nicht gerechnet. Im ersten Moment verschlug es ihm die Sprache. Dann erholte er sich von dem Schreck.
»Wilhelminchen, ist das denn so schlimm?«, fragte er schuldbewusst.
»Nein, für dich nicht, du brauchst es ja nicht kriegen. Ich glaube, sonst sehest du es mit anderen Augen. Denn so leicht ist das nicht. Mir könnte ja auch mal etwas passieren. Und was dann? Die armen Kinder…«
»Aber, meine Liebe, an so etwas darfst du nicht denken, du bist doch eine junge und gesunde Frau. Vielleicht ist es ein Mädchen, dann hast du später Hilfe. Vielleicht wollte es der liebe Gott so.«
Wilhelmine lenkte ein. »Ja, Johannes, so wird es sein. Du hast mir schon wieder Mut gemacht. Wo fünf satt werden, wird es bestimmt auch das Sechste. Mein Gott, es ist gleich Zwölf, es wird Zeit, dass wir schlafen gehen.«
Im Bett streichelte er ihr immer wieder übers Haar. Mutter war gleich eingeschlafen.
Vater lag noch lange wach und dachte nach: Mein Kleines, jetzt gibt es noch mehr Arbeit für dich. Das Leben besteht nur noch aus Arbeit, Schlafen und Essen.
Mutter wachte wieder auf, als hätten seine Gedanken sie am Schlafen gehindert, und sagte ganz verbiestert: »Vater, schläfst du nicht? Mach dir nur keine Sorgen, wir beide schaffen das schon. Die Hauptsache ist doch, wir bleiben gesund.«
Jetzt war er beruhigt, gab Mutter noch einen Kuss und schlief bis zum nächsten Morgen um acht Uhr durch.
Als Vater aufstand, waren die Kinder schon zur Schule gegangen. Mutter saß mit Mimmi und Wilhelm beim Frühstück. Er schämte sich ein bisschen, wollte er doch heute der Erste sein.
Wilhelmine neckte ihn: »Beeil dich ein bisschen, Vater, es ist so schön gemütlich.«
Niemand merkte ihre Sorgen. Im Gegenteil, Vater staunte sogar: Sie ist zu beneiden. Nichts aber auch gar nichts wirft sie um.
Mittags verabschiedete er sich besonders herzlich.
Wilhelmine war unruhig. »Vater, mach dir keine Sorgen bei der Arbeit. Aber pass auf, dass dir ja nichts passiert!«
Abends sagte Mutter ernst zu den Kindern: »Wir bekommen wieder ein Baby.«
Mimmi war begeistert. Mutter gab ihr ein paar Stückchen Würfelzucker.
»Du musst mir aber versprechen, dass du auch ein bisschen für das Baby sorgst.«
»Ja, Mutter, ich tue alles, was du willst.« Sie hüpfte von einem Bein auf das andere vor Freude. Sie lief zum Fenster, machte es ein Stückchen auf und legte den Zucker sorgfältig von außen auf die Fensterbank.
Die Jungen sagten »Gute Nacht« und gingen ins Bett. Sie konnten aber auch nicht schlafen.
Als die Eltern schliefen, sprang Fritz aus dem Bett: »Jungens, ich habe eine Idee! Ich schleiche die Treppe runter und hole den Zucker von der Fensterbank. Den essen wir auf. Ihr müsst aber schwören, dass ihr mich nicht verratet.«
Die Jungen grinsten. »Pass nur auf, Fritz, dass Vater dich nicht erwischt, sonst gibt es eine anständige Tracht Prügel.«
»Bange machen gilt nicht.« Er steckte sich die Petroleumlampe an und öffnete die Tür.
Er lauschte, ob alles schlief. Die Stufen gaben so ein komisches Geräusch ab. Er horchte; aber alles blieb still. Die Eltern waren ja auch viel zu müde. So hatte er ein leichtes Spiel.
Als Fritz mit dem Zucker wieder im Zimmer ankam, waren die anderen erleichtert. Sie meinten: »Das dumme Gesicht von unserer Mimmi, wenn kein Baby ankommt, darauf freuen wir uns jetzt schon.«
Den Vater traf am Morgen fast der Schlag, als der Zucker weg war. Er dachte: Vielleicht hat Mutter ihn schon weggenommen. Doch dann sah er sie. »Wilhelmine, kommst du jetzt erst aus dem Schlafzimmer?«
»Ja, warum?«, fragte sie müde.
»Denk dir, der Zucker ist weg. Die Jungen nehmen die Sache doch ziemlich ernst, sonst hätten sie das nicht gewagt«, meinte Johannes entrüstet.
Mutter musste sich das Lachen verkneifen. »Diese Bengel, wer es wohl war?«
Das würden sie natürlich nicht erfahren. Vater konnte sie ja nicht zur Rechenschaft ziehen. Die Jungen glaubten ja auch noch an den Klapperstorch.
Sie dachte: Die Jungen sind gescheiter als ihr Vater. Sie haben die Nase voll von Babys.
BeimMittagessenschautederVatereinennachdemanderenan.Wie raffiniert die Bengel sind, sie werden nicht einmal rot und essen, als wäre nichts geschehen.ErhätteamliebstenmitderFaustaufdenTischgeschlagen.
Mutter sah, wie böse er war und meinte beruhigend: »Vater, es ist schon gut. Iss, sonst wird dein Essen kalt. Ihr macht eure Schulaufgaben! Bauer Stinshof war heute Morgen hier und fragte, ob ihr Kartoffeln aufsuchen helft. Ich habe es versprochen, da könnt ihr euch ein bisschen Geld verdienen.«
Die Jungen stürmten gleich los und stürzten sich auf ihre Schularbeiten. Nach einer Stunde waren sie fertig.
Sie halfen gern beim Kartoffellesen. Es gab nicht nur Taschengeld, sie bekamen auch am Nachmittag leckere Butterbrote, und abends konnten sie sich so viel Obst mitnehmen, wie sie wollten.
Mutter war stolz auf sie. »Siehst du, Vater, es sind doch fleißige Kinder. Da muss man auch mal ein Auge zudrücken, wenn sie einen Fehler machen. Es sind doch nur kleine Jungenstreiche.«
Langsam wurde es Winter, die Hausarbeit war getan.
Mutter hatte Sauerkraut eingestampft, dabei musste ihr Vater helfen. Er musste den Kapps schaben, und Mutter tat ihn in Steintöpfe. Auch grüne Bohnen wurden eingesalzen, da halfen alle schnibbeln, und Stielmus, das war besonders viel Arbeit. Aber dafür hatte sie es im Winter gut. Da brauchte sie nur in den Keller gehen und sich holen, was sie zum Mittagessen brauchte.
Fünfzehn Zentner Kartoffeln hatten sie aus ihrem Garten eingekellert, ein paar Zentner kauften sie beim Bauern. Aber meistens hatten sie das Geld schon abgearbeitet. Vater und auch Mutter halfen immer ein paar Stunden bei der Ernte. Dafür bekamen sie auch noch zwei kleine Ferkel. Die Gartenarbeit fiel weg.
Aber es wurde auch Zeit. Noch ein paar Wochen, dann war es mal wieder so weit: Die Geburt stand kurz bevor. Doch diesmal ging es noch, Mimmis Geburt lag ja schon vier Jahre zurück. Und früher kam jedes Jahr ein Kind.
Vater kriegte auch gar keine Ruhe; der weite Weg zur Arbeit, es waren immer zwei Stunden, und alles auf Schusters Rappen. Es gab keine Fahrgelegenheit. Dazu zwölf Stunden immer unter der Erde arbeiten.
»Weißt du, Mutter, oft bin ich schon müde, wenn ich auf der Zeche ankomme«, sagte er zu seiner Frau.
»Das glaube ich dir gerne«, meinte Mutter mitfühlend.
»Denk mal, was ich alles in zwei Stunden schaffen könnte.«
»Darum mach dir ja nicht auch noch Sorgen um mich, in ein paar Tagen ist alles vorbei.«
Am zwölften Dezember war es dann so weit.
Der Vater sagte: »Jungens, seid still! Ich glaube, der Klapperstorch ist bei Mutter.«
Fritz flüsterte: »Vater spinnt, der kommt doch nicht zu uns, weil wir den Zucker vernascht haben. Sag, Vater, warum schreit Mutter denn so?«, fragte er dann laut.
Vater lächelte. »Der Klapperstorch beißt sie ins Bein, das tut ziemlich weh!«
Mimmi weinte und schluchzte: »Arme Mutter!«
Die Jungens waren zornig. »Sei du still! Du hast doch Schuld, hast den Zucker auf die Fensterbank gelegt.«
Vater rannte hin und her. Die Kinder hatten ihn noch nie so aufgeregt gesehen. Darum waren sie jetzt auch still, sonst gab es noch Schläge. Sie verstanden nichts mehr und wollten doch so gescheit sein.
Plötzlich öffnete die Hebamme die Tür.
Vater rannte gleich zu Mutter. Er war froh. »Siehst du, mein Liebes, jetzt hast du es überstanden, Gott sei Dank.«
Wilhelmine war ganz ruhig. »Hör mal, Johannes, sei doch nicht so aufgeregt. Denk an die Kinder! Es ist ein Mädchen, das ist gut. Vier Jungen reichen dir, oder nicht?«
»Mensch, hör bloß auf! Jetzt ruh dich erst einmal aus«, raunte Johannes schuldbewusst.
Mutter wurde ganz energisch. »Oh nein, ruf die Kinder!«
Vater gab nach. »Fritz, kommt! Mutter möchte, dass ihr das Baby seht, es ist ein kleines Mädchen.«
Mimmi sah ganz verheult aus.
Sie tat ihrer Mutter leid. »Was ist denn, mein Kleines? Sieh nur, jetzt hast du eine kleine Elisabeth.«
Als die Jungen ihre Mutter mit dem Baby sahen, waren sie ganz gerührt. Doch Mutter war so weiß.
Sie fragten besorgt: »Hat es sehr weh getan?«
»Nur ein bisschen, aber das macht doch nichts, für so ein hübsches Baby«, meinte Mutter stolz.
Jeder gab ihr einen Kuss.
»Weißt du, Mutter, wir haben es auch schon ganz lieb«, sagte Mimmi, die Jungen nickten zustimmend.
Da war Mutter für alles entschädigt, und die Schmerzen waren vergessen. Mimmi rührte sich nicht vom Fleck. Sie wäre am liebsten zu Mutter ins Bett gekrochen, wie sonst. Das ging nicht, das Baby lag doch neben Mutter, sie hätte es ja totgedrückt.
»In ein paar Tagen kommt Elisabeth in die Wiege, dann darfst du wieder bei mir schlafen, mein Kleines. Aber jetzt esst ihr Abendbrot und geht auf euer Zimmer!«
Die Jungen rätselten noch lange herum, wie das möglich war. »Vielleicht ist es vom heiligen Geist.«
Vater war schon auf dem Weg zur Oma. Die ließ natürlich alles stehen und liegen und kam gleich mit.
Unterwegs sagte sie ihrem Schwiegersohn mal richtig die Meinung: »Weißt du, Johannes, der liebe Gott hat euch reichlich mit Kindern gesegnet… Ich denke, jetzt könntest du Schluss machen. Du bist ja kein Kapitalist und hast genug zu tun, damit alle satt werden. Wäre Wilhelmine nicht so fleißig und sparsam, sähe es traurig aus. So viel Arbeit liegt auf ihren zarten Schultern. Man sieht kaum noch, was für ein hübsches Mädel sie mal war.«
Johannes widersprach aufgebracht: »Das stimmt nicht, Oma, sie ist noch viel hübscher als früher!«
Oma ließ sich in ihrer Standpauke nicht beirren. »Du musst es ja wissen. Ihr beide tragt ja auch die Verantwortung für die Kinder, dass aus ihnen einmal was Anständiges wird, und bei sechsen ist das verdammt schwer. Ich mein es doch nur gut, Johann. Denk mal ein bisschen darüber nach!«
»Ach, Oma, das brauch ich nicht, du hast ja recht«, gab Johannes nach.
Sie hatten, da sie so ins Gespräch vertieft waren, gar nicht bemerkt, dass sie schon zu Hause angekommen waren.
»Jetzt will ich aber schnell noch Wilhelmine sehen, leg du dich schlafen!«
Johannes ließ sich aber nicht abwimmeln. »Oh nein, Oma, ich geh mit, sonst wäre meine Frau enttäuscht.«
Oma liefen beim Anblick ihrer Tochter die Tränen übers Gesicht. Sie lag so bleich und abgekämpft in ihrem Bett.
Wilhelmine wollte sie gleich aufmuntern. »Sieh nur, Mutter, unsere kleine Elisabeth. Was wird sie denken, wenn die Oma weint? Elisabeth, sie ist die beste und liebste Oma auf der Welt, das wirst du schon recht bald merken.«
Oma wurde energisch. »Aber, Wilhelmine, zuerst gratuliere ich dir mal, das hätte ich vor Aufregung fast vergessen. Und dann rede nicht so einen Unsinn! Du tust ja so, als ob das kleine Würmchen schon Verstand hätte. Johannes, für dich wird es Zeit, dass du ins Bett kommst. Ich gehe auch gleich schlafen, das heißt, wenn du nichts mehr brauchst, Wilhelmine.«
»Nein, Mutter, die Ruhe tut uns allen gut. Du weißt, hier gibt es viel Arbeit, und du bist auch nicht mehr die Jüngste.«
»Vor allen Dingen brauchst du Ruhe, mein Kind.«
Jetzt war Wilhelmine beruhigt. Wenn Oma da war, brauchte sie sich keine Sorgen machen, dann herrschte Ordnung im Haus.
»Mutter, vielen Dank, dass du gleich gekommen bist. Gute Nacht, schlaf gut!«, sagte sie mit einem dankbaren Lächeln.
Die Kinder waren begeistert, als Oma morgens da war. Sie hatte schon den Tisch gedeckt und betrachtete einen nach dem anderen. »Wollt ihr mir etwas versprechen?«
»Was denn, Oma?«
»Dass ihr ganz leise seid. Eure Mutter braucht ein paar Tage Ruhe, umso schneller kann sie wieder aufstehen.«
»Ja, Oma, wir versprechen es dir!«, riefen sie eifrig.
Oma war ganz in ihrem Element. »Dann fangt an zu frühstücken! Ich muss erst für Mutter und die Hebamme sorgen. Beeilt euch ein bisschen, sonst kommt ihr zu spät in die Schule!«
Als die Jungen am Mittag aus der Schule kamen, hatte jeder erst mal seine Arbeiten zu machen.
»Wilhelm, du schüttest die Waschbecken aus! Fritz, du füllst die Wasserkrüge, dabei kann Heinrich dir helfen! Johann, ich habe ein großes Fass unter die Pumpe gestellt, das kannst du vollmachen. Ihr habt heute Morgen vergessen, die Betten aufzudecken, ihr wisst, die müssen auslüften. Hoffentlich brauche ich das morgen nicht noch mal sagen. Mimmi, wo steckst du denn? Warum hast du den Tisch noch nicht gedeckt? Ihr wollt wohl heute nichts zu essen? Nun sputet euch mal ein bisschen!«
»Mensch«, sagte Fritz, »Oma kommt mir heute vor wie ein Feldwebel.«
Mimmi nahm Oma in Schutz. »Sie schafft es nicht allein, sie ist sonst sehr lieb und gerecht.«
»Ja«, meinte Fritz, »das stimmt.«
Vater dachte mittags: Was für eine Ruhe! Dann wandte er sich an Oma: »Sag, Schwiegermama, wie hast du das fertig gebracht? Hast du ein besonderes Rezept? Verrate es mir bitte!«
Oma wurde gleich ein Stück größer. »Es ist ganz leicht, du brauchst nur den richtigen Ton zu treffen, Johannes.«
Wilhelmine sagte nur: »Mutter, Respekt! Respekt!«
»Wisst ihr, ihr zwei, jedes Kind muss seine Aufgabe haben, sie dürfen nicht verhätschelt werden, dann boxen sie sich leichter durchs Leben. Das ist manchmal verdammt schwer, ihr habt es doch schon oft erfahren«, erklärte Oma.
Die Hebamme hatte die letzten Worte mitgehört. »Ja, Frau Biel, da muss ich Ihrer Mutter recht geben, aber man muss auch mal ein Auge zudrücken, sonst ist die Kindheit nicht mehr schön. Wie geht es Ihnen denn heute, Frau Biel?«
Wilhelmine fühlte sich stark. »Oh danke, gut, ich könnte schon aufstehen.«
Da schrie Oma: »Du willst dir wohl noch das Bettfieber holen! Untersteh dich und mach so was; dann geh ich sofort nach Haus! Du bleibst schön die neun Tage im Bett.«
Da wurde Mutter ganz kleinlaut. »Ist doch klar, Oma, so dumm bin ich doch nicht. Reg dich nur nicht auf!«
»Wenn ich schon so einen Blödsinn höre… Du hast die Ruhe wirklich nötig.«
Sie nahm das Baby auf den Arm, bestaunte es von allen Seiten. »Wilhelmine, was für ein hübsches Kind, diese großen Augen und blondes Haar. So ein hübsches Baby habe ich noch nie gesehen.«
Wilhelmine strahlte über das ganze Gesicht. »Mutter, jetzt übertreibst du aber.«
»Nein, Frau Biel, ich habe doch schon weiß Gott wie viele Kinder auf die Welt gebracht, aber so ein hübsches noch nicht«, mischte sich die Hebamme ein.
Wilhelmine war so stolz. »Wenn ihr es beide sagt, wird es wohl stimmen. Mutter, oben auf dem Speicher ist noch ein Schinken. Mach Frau Becker ein paar leckere Butterbrote, sie hat es verdient.«
»Das mach ich, Wilhelmine, und du schläfst!«
Die Hebamme war für heute fertig mit ihrer Arbeit. »Auf Wiedersehen, Frau Biel, bis morgen früh.«
Am Morgen beim Frühstück sagte Oma zu den Kindern: »Ihr wisst, dass heute die Nachbarinnen kommen. Haltet euch ein bisschen zurück und seid schön brav, damit ihr eure Eltern nicht blamiert!«
Fritz sagte: »Oma, wir werden euch bestimmt nicht stören.«
Die Jungs dachten: Da haben wir mal einen ganzen Nachmittag frei.
Aber falsch gedacht!
Oma verteilte gleich Arbeit: »Ihr könnt die Ziegen hüten, wo schönes, frisches Gras wächst, dann geben sie mehr Milch.«
Niemand war begeistert, aber Oma gegenüber ließen sie sich nichts anmerken.
Nach dem Mittagessen zogen sie los. Oma hatte ihnen Wurstbrote und Himbeersaft eingepackt. Jeder bekam auch noch ein paar Stückchen Würfelzucker. Da war die Freude groß.
»Oma, du bist die Beste!«, riefen sie.
Die Ziegen banden sie einfach an, wo schönes, saftiges, grünes Gras wuchs. So konnten sie den ganzen Nachmittag herumtollen.
Mimmi saß still in einer Ecke und häkelte Luftmaschen, da trudelten die Nachbarn auch schon ein.
Mutter durfte ein bisschen aufstehen. Die Frauen brachten Zwieback, Kaffee und Würfelzucker mit, das war so Sitte.
Oma hatte einen Streuselkuchen gebacken. Die ganze Wohnung duftete nach Bohnenkaffee. Den gab es nur zu besonderen Anlässen. Sonst trank man Kornkaffe, den brannte man selbst. Viele nannten ihn Muckefuck.
Erst wurde noch das Baby bestaunt; alle sagten dasselbe: »Was für ein hübsches Kind, wie die Mutter.«
»Aber nein!«, wehrte diese verlegen ab. Auch wenn ihre Augen strahlten.
»Doch«, sagte der Vater, »nur deine Augen sind noch schöner. Wilhelminchen, du brauchst doch nicht rot zu werden.«
Wilhelmine war verlegen. »Weißt du, Johannes, Komplimente sind so selten, da muss ich mich erst wieder dran gewöhnen.«
»Frau Biel, wie soll denn die kleine Tochter heißen?«
»Elisabeth!«
»Oh ja«, sagte Frau Krüger, »Elisabeth, der Name passt zu so einem hübschen Mädchen.«
Oma goss Kaffee ein. »So, meine Damen. Nun lassen Sie es sich schmecken!«
»Das lassen wir uns nicht zweimal sagen. Der Kaffee duftet ja herrlich.«
Frau Martens fragte: »Wann ist denn Taufe?«
»Am Sonntag.«
Das war ein Geschnatter.
Vater ließ die Frauen allein, er hackte Holz, holte Kohlen und fütterte das Vieh. Der Nachmittag ging viel zu schnell herum.
Irgendwann rief Oma: »Johannes, die Damen möchten sich verabschieden! So, Wilhelmine, du legst dich wieder hin! Es war ein bisschen viel für dich.«
»Ja, Mutter, es war schon ein bisschen anstrengend«, antwortete sie müde.
Die Frauen waren begeistert von Elisabeth: »Sie wird noch hübscher als die Mutter.«
Wilhelmine meinte zu Oma: »Ich muss mich langsam wieder an die Arbeit gewöhnen. Opa braucht dich auch.«
»Der wird schon allein fertig, darüber zerbrich dir mal nicht den Kopf! Bis nach der Taufe muss er schon warten. Johannes, wo bleiben die Jungen nur? Es wird ja schon dunkel.«
»Pass auf, Oma, ein Pfiff auf den Fingern genügt!«
Tatsächlich, sie kamen mit den Ziegen angerannt. Die hatten vollgefressene Bäuche, die Euter hingen bald bis auf die Erde. Oma hatte Spaß, denn sie gaben fast die doppelte Menge Milch. Davon kochte sie schnell eine leckere Milchsuppe, da die Jungen doch bald ins Bett mussten.
Als sie gegessen und gebetet hatten, bekam jeder Junge fünfzig Pfennig.
Sie waren außer sich vor Freude. »So viel Geld, Oma?«
»Das habt ihr euch verdient.«
»Dafür hüten wir die Ziegen morgen auch.«
»Fein, Jungens, aber jetzt ins Bett mit euch, es ist schon spät!«
Johann sagte: »Oma, du bist eine ganz große Diplomatin.«
»Das müssen wir Frauen auch sein, sonst kämen wir nicht zurecht.«
Nach dem Nachtgebet sagte Fritz: »Oma, wir haben dich alle sehr, sehr lieb.«
Oma kamen die Tränen vor Freude, das hatte sie nicht erwartet, die Kinder merkten also, dass sie es gut mit ihnen meinte.
Sonntags ging alles drunter und drüber.
Alle hatten schon ihr bestes Zeug angezogen, da erschien Opa in der Tür. Oma zeigte ihm gleich das Baby. Opa war begeistert, denn heute sah Elisabeth besonders hübsch aus in dem prächtigen Taufkleid. Oma hatte das alte auf neu gemacht. Man sah nicht, dass es schon fünf Kinder getragen hatten. Nur das Häubchen war neu, das alte ließ sich nicht mehr reparieren.
Opa entschuldigte sich bei seiner Tochter: »Wilhelmine, ich wäre so gerne eher gekommen, aber es wäre ein großer Verlust gewesen. So kommt es dir zugute. Hier, mein Mädel, nimm! Damit kannst du manches Loch stopfen, wie es auf Deutsch heißt.«
Wilhelmine war perplex. »Oh, Vater, das kann ich doch nicht annehmen«, sagte sie mit vor Rührung feuchten Augen.
»Papperlapap, zier dich nur nicht so!«
»Also gut, Vater, vielen Dank! Bekommst auch einen dicken Kuss dafür.« Sie nahm Opa in den Arm.
Oma rief: »Beeilt euch, oder wollt ihr zu spät zur Taufe kommen?«
Unterwegs wechselten die Männer sich ab, das Kind zu tragen, es zog ganz schön in den Armen.
Opa schnaufte: »Elisabeth, mach dich nicht so schwer! Sieh nur, Johannes, ich glaube fast, die Kleine lacht mich aus.«
Oma und ihre Schwester waren die Paten. Sie war stolz wie ein Pfau, als sie Elisabeth über das Taufbecken hielt.
Aber wie alles ging auch dieser Tag nach einer kleinen Feier vorbei.
Johannes, Wilhelmine und auch die Kinder vermissten Oma sehr. Elisabeth hörte man gar nicht.
Mutter sagte oft: »Als ob sie wüsste, wie viel Arbeit ich habe.«
Mimmi war außer sich, heute durfte sie das Baby zum ersten Mal spazieren fahren. Mit der Zeit wurde das anders.
Sie war ganz aufgebracht. »Mutter, Elisabeth ist ganz böse, sie steht dauernd auf! Wenn sie mal aus dem Wagen fällt, habe ich Schuld, das möchte ich nicht.«
Mutter beruhigte sie. »Aber Mimi, wo bleibt dein Versprechen? Was würde Oma sagen, wenn sie das hörte?«
»Ja, Mutter, ist schon gut. Ostern muss ich ja in die Schule, dann hört das sowieso auf.«
»Da hast du recht, mein Kind. Elisabeth wird ja auch größer und kann bald laufen, aber so lange musst du deine Pflicht tun. Du weißt doch, Mimmi, wie viel Arbeit ich habe.«
Mimmi beruhigte sich wieder. »Ja, ja, Mutter, sei nicht böse!«
»Wie könnte ich? Du bist doch so ein liebes Mädel.«
Die Jahre gingen so schnell dahin, und es war immer derselbe Trott! Aber niemand beklagte sich.
Manchmal ging es drunter und drüber, dass man verrückt werden könnte.
Dann fuhr Mutter dazwischen. »Wenn ihr nicht sofort aufhört, bekommt ihr Stubenarrest, aber nicht einen, sondern drei Tage!«
Das wirkte Wunder, alles war mäuschenstill. Die Jungen zwangen sich zur Ruhe, sie wussten, was Mutter sagte, führte sie auch durch.
Wilhelmine plante schon die nächste Familienfeier. »Vater, jetzt werden Johann und Fritz schon konfirmiert. Das kostet viel Geld, und die schönen Kinderjahre sind für die zwei vorbei. Aber mach dir keine Sorgen, ich habe jede Mark, die ich über hatte, gespart.«
»Wilhelminchen, ich tue den Rest dazu.«
»Johannes, woher willst du Geld nehmen?«
»Ich habe ein bisschen weniger geraucht«, meinte Johannes stolz.
Da meldete sich bei Wilhelmine das Gewissen. »Ach, Vater, das sollst du nicht, das ist doch das einzige Vergnügen, das du hast.«
»Macht nichts, Liebes, ich hole es später nach«, erwiderte er lapidar.
»Wir werden mal alles zusammenzählen und sehen, ob es reicht. Sonst tut Opa den Rest dazu.«
Johannes aber regte sich auf. »Das möchte ich auf keinen Fall!«
»Aber, Johannes, das machen doch die meisten Großeltern«, beschwichtigte ihn Wilhelmine.
»Na gut, wenn es so ist.«
Da wurde gerechnet und beraten.
»Wir wollen doch auch ein bisschen feiern. Die Jungen sollen sich noch einmal richtig freuen. Ehe der Ernst des Lebens beginnt!«
Dass die Kinder Bergmänner wurden wie der Vater, war Sitte. Das tat den Eltern am meisten leid. Vater spürte ja jeden Tag von Neuem, wie schwer der Beruf war. Vielleicht könnten Wilhelm und Heinrich noch ein Handwerk lernen. Die Ältesten waren immer ein bisschen im Nachteil.
Endlich kam für die Jungen der langersehnte Tag. Am Sonntagmorgen kamen die Großeltern und Tanten. Alle gingen mit zur Kirche. Die Nachbarn unterhielten sich.
Frau Krüger meinte: »Wie die Leute das schaffen, sechs Kinder.«
Auch der Pastor dachte mitfühlend: Auf wie viel haben die Eltern wohl verzichtet, um ihre Jungen so zu kleiden?
Großvater hatte große Achtung vor seinem Schwiegersohn. Vielleicht hatte die Tochter doch die richtige Wahl getroffen. Er freute sich schon auf die Gesichter, wenn seine Enkel die Sparbücher bekamen.
Die Feier war wunderschön, da waren sich alle einig. Als sie nach Hause kamen, war der Tisch hübsch gedeckt. Oma hatte sogar einen Blumenstrauß spendiert. Sie hatte die leckersten Kuchen gebacken. Nur der Tisch war zu klein, sie mussten ganz dicht zusammenrücken, damit alle Platz hatten.
Mutter bremste die Kinder. »Jungens, esst langsam, es nimmt euch niemand was weg!«
Die Jungen lachten. »Man kann’s nicht wissen, da alles so gut schmeckt.«
Heute drehte sich alles um die beiden. Vater zog sich um, er musste das Vieh füttern. Mimmi und Elisabeth gingen nach dem Abendbrot ins Bett.
Die Jungen durften heute aufbleiben. Es war ja ihr Fest.
Vater setzte sich später wieder zu seinen Gästen. Es gab auch noch ein bisschen Alkohol. Oma und Wilhelmine spülten noch das Geschirr.
Wilhelmine war in Plauderlaune. »Weißt du, Mutter, es ist doch gar nicht so leicht, wenn die Kinder aus der Schule kommen.«
»Ja, mein Kind, das ist bei allen das Gleiche, daran gewöhnt man sich schnell.«
Als alles in Ordnung war, sagte Oma zu ihrem Mann: »Na, Alter, ich glaube, es wird langsam Zeit, dass wir Heim gehen. Johannes muss morgen wieder fit sein.«
Johannes beruhigte sie: »Nein, Oma, ich habe mir einen Tag Urlaub genommen.«
Sie waren alle in guter Stimmung. Langsam stand Opa auf.
Vater grinste. »Na, na, du hast doch wohl keinen Schwipps? Du kannst ja nicht mehr gerade stehen.«
»Was sagt ihr dazu? Dabei habe ich doch gar keinen getrunken. Nach Hause schaff ich es noch. Was meint ihr, Jungens?«
»Klar, Opa!«
Er kramte in seinen Taschen herum.
Fritz fragte Opa: »Suchst du was?«
»Ja, mein Junge, und zwar dieses!« Er gab jedem ein Sparbuch mit fünfzig Mark.
Die Jungen waren baff. »Opa, Opa, das ist doch viel zu viel.«
»Oh nein, ihr müsst mir nur versprechen, jeden Monat ein paar Mark zu sparen.«
Die beiden strahlten. »Das machen wir!«
»Na gut, ich verlass mich auf euch. Später könnt ihr jeden Pfennig gebrauchen.«
Es war schon ein komisches Bild, als die Großen ihrem Opa um den Hals fielen. Es hatte sie ein bisschen aus der Fassung gebracht. Für Großvater war es der schönste Dank. Er wünschte allen von Herzen, dass es weiter so harmonisch blieb wie bisher. »So, Mutter, jetzt wird es aber Zeit«, sagte er dann zu seiner Frau.
Fritz begleitete die Großeltern noch ein Stück. Er fragte: »Hat es euch auch gefallen?«
Opa war glücklich. »Ja, mein Junge, es war lange nicht mehr so schön.«
»Opa und Oma, ihr beide habt am meisten dazu beigetragen.«
»Jetzt geh zurück, Junge, wir sind ja zu zweit!«
Wilhelmine und Johannes saßen noch lange zusammen und ließen den Tag in aller Ruhe noch einmal vorbeiziehen.
»Weißt du, Johannes, wir werden langsam alt. Sieh nur, bei mir kommen schon die ersten Fältchen.«
Johannes schaute seiner Frau in die Augen. »Du wirst für mich immer jung bleiben, deshalb bin ich auch oft so eifersüchtig.«
»Ja, Johannes, ich weiß es und bin dir nicht böse deswegen.«
Noch hatten die Jungen acht Tage frei, da durften sie sich nach Herzenslust austoben, aber die Tage gingen zu schnell vorbei.
Mutter war ganz traurig, als sie die Söhne morgens früh um vier Uhr wecken musste. Die Jungens waren gut aufgelegt und nahmen es gar nicht schwer. Sie hatten ja gar keine Ahnung, was auf sie zukam. Sie frühstückten wie immer. Mutter packte Wurstbrote ein, und jeder bekam eine Flasche Kaffee mit.
Das Arbeitszeug hatte sie schon am Abend in ein blaues Handtuch gepackt, man nannte es auch Puck.
»Kinder, es wird Zeit, sonst kommt ihr schon am ersten Tag zu spät!« Sie ließ sich nichts anmerken, Vater wusste, wie es ihr zumute war.
Alle drei gaben Mutter die Hand und einen Kuss. »Bis heute Mittag.«
»Ja, ihr Männer, bis heute Mittag, passt gut auf euch auf!«
»Wird gemacht«, antworteten sie gut gelaunt.
Als sie die Tür geschlossen hatte, war es mit Mutters Beherrschung vorbei. Sie ließ ihren Tränen freien Lauf. Dann kochte sie sich erst einmal eine Tasse Kaffee. Sie war so mit sich beschäftigt, dass sie vergaß, die Kinder zu wecken. Heinrich, Wilhelm und Mimmi kamen in die Küche. Da wurde Mutter lebendig.
»Kinder, ich hatte euch ganz vergessen. Ich mach euch schnell die Butterbrote, heute muss es einmal ohne Milch gehen. Ich habe noch nicht gemolken.«
»Mutter, das macht doch nichts, wir trinken gerade so gerne Kaffee.«
Mutter machte Tempo. »Beeilt euch, es wird höchste Zeit! Gott, ist das still, wie oft habe ich mich danach gesehnt, und jetzt gefällt es mir nicht.«
Da schallte auch schon Elisabeths helle Stimme durchs Haus: »Mutter, Mutter, fein, jetzt hab ich dich ganz für mich allein!«
»Oh ja, mein Kleines, komm her, setz dich zu mir! Hör mal, Elisabeth, hilfst du mir ein bisschen nach dem Frühstück?«
Elisabeth war unsicher. »Ich weiß nicht, ob ich das kann.«
»Aber sicher, du musst nur wollen«, machte Mutter ihr Mut.
»Was soll ich denn machen?«
Mutter erklärte es ihr. »Elisabeth, zuerst stellst du das Geschirr zusammen, aber jedes Teil einzeln, sonst zerbricht die Hälfte.«
»Ja, mach ich!«
Mutter staunte, wie vorsichtig und geschickt sie das machte. »Jetzt kannst du mit mir in den Stall gehen. Ich melke, und du streust den Hühnern ihr Futter hin. Dafür darfst du dann heute Mittag die Eier aus den Nestern holen.«
Elisabeth war stolz. »Oh fein, Mutter, sag, bin ich jetzt auch groß?«
»Sicher, Elisabeth.«
»Mutter, ich möchte noch mehr helfen, wie Mimmi«, meinte Elisabeth eifrig.
»Da musst du erst noch ein bisschen größer werden. Wir müssen uns beeilen, sonst werden wir nicht fertig. Ich muss noch das ganze Haus sauber machen, Essen kochen und habe noch zu bügeln.«
»Mutter, ich wisch schon Staub.«
»Gut, Elisabeth, versuch es, aber mache alles langsam und ordentlich.«
Ehe sich die beiden versahen, kamen die Jungen schon wieder aus der Schule. Johann, Fritz und Vater trudelten kurz darauf auch ein.
Mutter fragte gleich: »Jungens, war es sehr schwer?«
»Bis jetzt nicht, Mutter, wir sind ja auch groß und kräftig.«
Mutter lachte. »Das will ich meinen. Ich habe euch ja gut gefüttert.«
Heute hatten alle einen Appetit! Jeder wollte den anderen übertreffen.
»Nun erzählt mal!«
Mimmi und Elisabeth sperrten Nase und Mund auf. Unter die Erde fahren, das konnten sie sich gar nicht vorstellen.
Fritz sagte: »Es ist dort ganz dunkel, wie in der Nacht. Aber wir bekommen jeder eine Lampe, dann können wir sehen. Fenster gibt es unter der Erde nicht.«
Elisabeth machte ganz große Augen. »Ich würde mich fürchten.«
»Oh nein, das braucht man nicht. Stellt euch vor, es sind sogar Pferde da unten. Die müssen die Teckel mit Kohlen ziehen. Die sind am ärmsten dran. Sie kommen jahrelang nicht ans Tageslicht, für sie ist immer Nacht. Nur wenn sie alt und verbraucht sind, kommen sie nach oben. Das ist meistens ihr Ende.«
»Oh Gott, wie traurig«, sagte Mutter. Sie war genauso platt wie die Kinder.
Vater hatte ja nie von seiner Arbeit erzählt, um Wilhelmine nicht zu beunruhigen. Jetzt wusste sie erst richtig, was ihr Mann in all den Jahren geleistet hatte.
Fritz grinste. »Mimmi, jetzt kannst du deinen Mund zumachen, unsere Geschichte ist zu Ende.«
Mutter war ganz aufgeregt. »Passt bloß immer gut auf, dass nichts passiert! Ich glaube, ich würde verrückt werden.«
Vater hatte Elisabeth beobachtet, sie rührte sich nicht. Er dachte stolz: Sie ist in ihrer Schönheit nicht mehr zu übertreffen. Die Augen sind groß und klar wie ein See. Ihre Haut wie Milch und Blut. Das Haar blond wie der reife Weizen.
»Vater, woran denkst du?«, unterbrach Mutter seine Gedanken.
»Das sag ich dir ein andermal.«
Mimmi war nicht ganz so hübsch, aber sie hatte andere Werte. Vielleicht kommt sie damit im Leben weiter.
Die Jungen waren fertig mit dem Essen. »Mutter, können wir was für dich tun?«
»Um Gottes Willen, ihr legt euch erst mal eine Stunde hin und ruht euch aus.«
Mimmi spülte das Geschirr, Elisabeth trocknete ab.
Sie meinte: »Ich bin bald so groß wie du, da will ich auch helfen.«
»Prima, von mir aus kannst du auch spülen.«
Mutter griff ein. »Nein, Mimmi, so geht das nicht. Du willst doch nicht, dass Elisabeth alles allein macht.«
Mimmi hatte schon länger über eine Idee nachgedacht. »Weißt du, Mutter, dann könnte ich doch die Topflappen für Frau Krüger fertig häkeln. Dafür bekomme ich bestimmt fünfzig Pfennig. Ich würde das Geld mit ihr teilen.«
»Fein!«, rief Elisabeth. »Ich mache alles allein. Ich räum auch noch das Geschirr weg und scheuer den Tisch.«
»Wenn ihr zwei euch einig seid, bin ich einverstanden«, sagte Mutter. Sie lobte die beiden: »Zwei so große und fleißige Töchter, das ist doch was Feines. Bald brauche ich ja selber gar nichts mehr tun.«
Mutter dachte schon an Samstag, wenn ihre drei Männer das Arbeitszeug mitbringen würden. »Das wird eine schöne Quälerei. Am Sonntag wäre es leichter, da könnten alle ein bisschen helfen, aber es ist dann so ungemütlich, und das will ich nicht. Ich werde es schon schaffen. Wenn sie aus der Kirche kamen, war es ja schon Mittag, da war der Tag schon halb herum, und die Jungen mussten wenigstens einen freien Tag in der Woche haben. Sie mussten doch einmal richtig ausruhen, das war nur am Sonntag möglich. Also werde ich am Montag waschen.
Wilhelm und Heinrich könnten nach der Schule das Wasser schleppen, dann haben sie immer noch ein paar Stunden frei. Einmal in der Woche geht das. Die anderen Nachmittage haben sie ja für sich.«
Für Mutter wurde es immer schwerer, es allen recht zu machen, je größer die Kinder wurden. Sie dachte schon oft an das, was Oma gesagt hatte: Kleine Kinder, kleine Sorgen. Große Kinder, große Sorgen.
»Vater«, sagte sie oft, »dir wird die Arbeit auch zu viel. Du siehst jetzt immer so abgespannt aus. Du solltest dir ein bisschen mehr Ruhe gönnen.«
»Aber wie, Wilhelmine? Bei sechs Kindern muss man etwas leisten. Solange ich gesund bin, wollen wir nicht klagen.«
»Weißt du, Johannes, Oma war lange nicht hier, ich glaube, ich schick morgen mal Wilhelm hin. Sie wird doch nicht krank sein?« Mutter war besorgt.
»Ach, Wilhelmine, da würde ich an deiner Stelle lieber selbst gehen. Du kannst doch das Essen heute kochen, wir haben es dann schnell warm gemacht. Elisabeth und Mimmi kannst du mitnehmen.«
Wilhelmine freute sich über den Vorschlag. »Oh ja, Johannes, ich freu mich schon, es wäre auch mal was anderes. Was denkst du, wie die Eltern sich freuen, sie tun so viel für uns. Johannes, wenn die Kinder mal alle groß sind, machen wir uns ein schönes Leben.«
Vater musste lachen. »Wilhelmine, bis dahin bin ich alt und grau. Bei dir ist das anders. Du wirst immer hübsch bleiben.«
Mutter wurde richtig rot. »Johannes, du machst mir ja Komplimente. Aber warum soll das bei mir anders sein? Wir werden beide älter, nicht einer allein. Das ist gar nicht so wichtig. Die Hauptsache ist doch, wir haben uns weiterhin lieb. Alles andere zählt für mich nicht.«
»Ja, Wilhelmine, da hast du recht. Du bist mein Goldstück.«
»Jetzt hör aber auf, sonst werde ich noch eitel.« Im Stillen fühlte sie sich geschmeichelt. Sie waren ja auch so selten mal ganz allein.
»Weißt du was, Johannes, ich mache uns noch eine Tasse Tee, es ist heute Abend so richtig gemütlich. Ich habe auch noch ein bisschen Gebäck.«
»Wilhelmine, das heb für die Kinder auf.«
Da wurde Mutter energisch. »Nichts da, die kommen schon nicht zu kurz! Du bist doch nicht nur zum Arbeiten da.«
»Ich wollte doch noch ein Paar Schuhe besohlen.«
»Und ich den einen Socken fertig stricken. Das läuft uns aber nicht weg, wir verschieben es auf morgen.«
Das tat Vater gut, Mutter hatte so selten mal Zeit für ihn; immer die Kinder. Er rückte ganz nah an sie heran und nahm sie fest in den Arm. »Wilhelminchen, mit dir habe ich das große Los gezogen.«
»Und ich mit dir, darum schaffen wir auch alles, was wir uns vornehmen. Über die Kinder können wir uns auch nicht beklagen, nur Wilhelm ist ein bisschen schwierig, aber er ist ja noch jung, kann noch der Beste werden.«
Johannes fühlte sich rundum wohl. »Ja, Mutter, hoffentlich hast du recht.«
»Johannes, schau mal auf die Uhr, es ist gleich zwölf. Es wird Zeit, ins Bett zu gehen.«
Vater erzählte noch, er war lange nicht so glücklich gewesen. Doch Mutter war längst eingeschlafen. Sie war so froh, dass sie morgen mit den Mädchen zu Oma gehen konnte. Da durfte sie nichts tun und wurde mal richtig verwöhnt.
Als der Wecker rappelte, sprang sie gleich aus dem Bett. Bei den Jungens brauchte sie nur an der Bettdecke ziehen, bei Vater dauerte es heute Morgen ein bisschen länger.
»Ja, Johannes, so ist das, wenn man abends so lange quatscht.«
Er war noch nicht ganz wach. »Ist schon gut, Mutter, ich komme sofort.«
Es wurde ausgiebig gefrühstückt, dann zogen die drei los. Mutter winkte, bis sie hinter der Hecke verschwunden waren. Sie half Wilhelm, Heinrich und Mimmi in die Schule. Daran hatten sie beide nicht gedacht. Also konnte sie nur Elisabeth mit zur Oma nehmen.
»Mimmi, du kommst dann heute Mittag nach.«
Mimmi freute sich. »Prima, Mutter, ich beeil mich.«
Oma war ganz erstaunt, als sie die beiden begrüßte. »Das ist ja wunderbar, Wilhelmine, das werden wir richtig feiern. Opa ist mit dem Vieh unterwegs. Da sind wir mal so ganz allein. Zieh dich aus, komm, Elisabeth, für dich habe ich etwas Hübsches zum Spielen. Aber erst musst du mit uns Kaffee trinken. Wilhelmine, du setzt dich aufs Sofa und rührst dich nicht! Heute bediene ich dich, das macht mir richtig Spaß. Ich bin doch sonst immer allein und kann mich ausruhen.«
Wilhelmine war ganz entspannt. »Schon gut, Mutter, ich lass mich gern mal verwöhnen, kommt ja nicht so oft vor.«
Oma sagte: »Elisabeth, lass dich mal ansehen!«
Wilhelmine wusste, was kommen würde, und sagte schnell: »Du staunst, wie groß Elisabeth geworden ist, nicht wahr?« Sie wollte vermeiden, dass Oma ihre Schönheit hervorhob. Sie könnte einmal zu eitel werden.
Oma hatte das gleich kapiert.
»Weißt du, sie kann mir schon schön bei der Arbeit helfen, du würdest staunen. Aber sie kommt ja auch Ostern schon in die Schule, und Heinrich und Wilhelm kommen raus.«
Oma wurde ganz melancholisch. »Kind, wie schnell doch die Zeit vergeht. Großvater und ich werden langsam alt.«
Die beiden hatten sich so viel zu erzählen.
Am Nachmittag kam Mimmi. Sie war außer Atem. »Oma, hab ich mich beeilt?«
»Das kann man wohl sagen.«
»Ich habe auch noch erst die Schulaufgaben gemacht«, meinte sie stolz.
»Ja, Mimmi, deine Mutter erzählte mir schon, wie fleißig ihr beide seid. Aber jetzt musst du erst mal zünftig essen. Ich finde, du bist schmal geworden.«
»Oma, ich glaube, sie handarbeitet zu viel. Für alle Nachbarn häkelt sie Topflappen, damit verdient sie sich ein schönes Taschengeld«, erklärte Mutter.
Oma war besorgt. »Aber, Wilhelmine, ist sie nicht noch ein bisschen zu klein? Achte ja darauf, dass sie es nicht übertreibt, es könnte ihrer Gesundheit schaden!«
»Da hast du recht, Oma, daran habe ich überhaupt noch nicht gedacht.«
Mimmi sagte: »Aber es macht mir so viel Spaß!«
Ehe man sich’s versah, war der Nachmittag vorbei. Oma packte noch allerlei ein. »Das nimmst du den anderen mit!«
»Das ist doch nicht nötig.« Elisabeth wollte den Großeltern nichts wegnehmen.
Mutter meinte: »Elisabeth, die Jungen werden sich freuen.«
Vater wurde schon unruhig. »Fritz, hol die Mutter ab, es wird schon dunkel! Die beiden haben sich bestimmt verplaudert.«
So war es auch. Oma war glücklich, dass Fritz noch auf einen Sprung reinkam. Er musste schnell einen Happen essen, er war doch Omas und Mutters Liebling.
Dann drückte Fritz aufs Tempo. »Jetzt müssen wir aber gehen, Vater macht sich schon Sorgen! Mutter, du kennst ihn ja.«
Alle verabschiedeten sich herzlich. Oma stand noch lange in der offenen Tür und schaute ihnen nach.
Da rief Wilhelmine: »Grüß Vater, das hätte ich beinah vergessen!«
Als Opa am Abend nach Hause kam und hörte, dass Besuch da war, tat es ihm leid, dass er gerade heute nicht zu Hause gewesen war.
Elisabeth und Mimmi machten einen Dauerlauf, sie kamen direkt ins Haus gestürzt. »Vater, es war herrlich bei Oma! Sie hat uns auch was Schönes für euch eingepackt.«
Die Jungen packten gleich aus. »Ja, Oma weiß, was uns Freude macht.«
Mimmi sagte: »Das Geld solltet ihr ehrlich teilen. Vater, das machst du am besten.«
Johann und Fritz meinten: »Wir zwei scheiden aus, wir verdienen ja selbst unser Geld. Und so bekommt ihr jeder ein bisschen mehr.«
Vater staunte, wie vernünftig seine Kinder erzogen waren. Sie sind wie ihre Mutter.
Das Jahr ging langsam zu Ende. Weihnachten stand vor der Tür.
»Mimmi, denkst du auch daran, die Spitzen für den Kirchenaltar zu häkeln? Du hast es unserem Pastor versprochen.«
»Mutter, die habe ich schon bald fertig.«
Wilhelmine war erstaunt. »Ich habe ja nichts davon gesehen, es ist doch unheimlich viel Arbeit.«
»Weißt du, Mutter, ich habe jeden Abend im Bett gehäkelt.«
»Dass Elisabeth aber nichts verraten hat…«
Mimmi kicherte. »Die schlief doch längst.«
»Mimmi, das möchte ich aber nicht, du brauchst deine Ruhe, sonst bist du Weihnachten krank. In Zukunft wird nachts geschlafen und nicht gearbeitet.«
»Gut, Mutter, ich verspreche es dir. Ich wollte dich nur überraschen«, lenkte Mimmi ein.
»Mimmi, du brauchst ab morgen nichts mehr im Haushalt helfen, da kannst du manche Stunde häkeln«, schlug Mutter vor.
»Mutter, ich möchte doch auch für Oma noch ein paar Topflappen häkeln, sie ist immer so gut zu uns allen.«
Das überzeugte Mutter. »Das sehe ich ein, Mimmi, und ich freue mich, dass du daran denkst, aber du darfst es nicht übertreiben. Ich kann dir ein bisschen helfen.«
Da kam Elisabeth ins Zimmer. Sie hatte an der Tür gelauscht. »Mimmi!«, rief sie. »Du häkelst einen Topflappen und ich einen, einverstanden?«
»Ja«, sagte Mimmi, »das ist eine gute Lösung.«
Elisabeth kramte gleich in dem Handarbeitskorb herum. »Ich finde keine Häkelnadel.«
Wilhelmine verdrehte die Augen. »Sei nicht so ungeduldig und sieh richtig nach!«
»Hurra, ich hab eine. Mutter, zeig mir, wie ich es machen muss!«
Die war ganz erstaunt, wie schnell Elisabeth begriff. Sie sagte: »Was ich doch für fleißige Kinder habe.«
Die beiden waren glücklich, wenn sie von der Mutter gelobt wurden.
Elisabeth drängte sich von Tag zu Tag mehr in den Mittelpunkt, aber bei Mutter kam sie damit nicht durch. Sie hatte ein Kind so lieb wie das andere. Mimmi war oft traurig, sie fühlte sich zurückgestoßen.