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Das zwanzigste Jahrhundert. Zwei Weltkriege erschüttern Europa. Hilde Niggetiet, 1910 geboren, erzählt in ihrer Biografie von dem Versuch, in den Wirren der Kriege ein normales Familienleben zu führen. Bombenangriffen, Kinderlandverschickung und persönlicher Schicksalsschläge zum Trotz lässt sie sich nie entmutigen. Als sie aber gegen den Willen ihrer Familie mit ihrem Geliebten Erwin durchbrennt, scheint für sie die Chance auf ein glückliches Familienleben endgültig gescheitert.
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Seitenzahl: 282
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www.net-verlag.deErste Auflage 2018© Coverbild: Detlef KlewerCovergestaltung, Layout & Lektorat: net-Verlag© net-Verlag, 39517 Tangerhütteprinted in the EUeISBN: 978-3-95720-227-7
Für meine Mutter Edith Krämer und meine Großmutter Hilde Niggetiet.
Für beide stand immer, ganz in der Tradition ihrer Urahnin Wilhelmine Biel, die Familie an erster Stelle.
Elisabeths Hochzeit
Die ersten Ehejahre
Familienzuwachs
Karneval
Hilde kündigt sich an
Kinderjahre
Schulzeit – aus Hildes Sicht
Ein Brüderchen
Aus Kindern werden Leute
Der neue Job
Heini wird Vater?
Die Katastrophe
Einsame Entscheidung
Vergebung
Wieder zu Hause
Edith kommt
Vorkriegsjahre
Eine kleine Episode mit Edith
Erich wird krank
Weihnachten im Krieg
Mutter-und-Kind-Landverschickung
Papas Besuch
Erwin wird eingezogen
Zurück in die Eifel
Bruch mit Familie Pias
Flucht nach Hause
Erneute Landverschickung
Erichs Sanatoriumszeit
Besuch von der Front
Enttäuschung
Die letzten Kriegsjahre
Kriegsende
Hamstern
Schicksalsschlag
Edith wird erwachsen
Heini heiratet
Karl
Karl in der Meisterschule
Edith heiratet
Ediths neues Leben
Ein bisschen Freizeit
Heike
Karl ändert sein Leben
Jörg
Der neue Laden
Die ruhigen Jahre
Borkum
Ein Rat
Heikes Konfirmation
Gedicht
DRAMATIS PERSONAE
Autorenbiografie
Buchempfehlungen
Emma kehrte das Unterste nach oben. »Sieh nur, Elisabeth, die hübsche Bettwäsche und die Tischdecken! Eine noch schöner als die andere.«
Auch Haushaltssachen und Besteck waren unter den Geschenken. Elisabeth und Heinrich bedankten sich bei all ihren Gästen ganz herzlich.
Emma entdeckte noch ein Geschenk: eine herrliche Blumenvase mit siebzehn Rosen.
»Sieh nur, Elisabeth, du hast doch keinen heimlichen Freund?«
»Rede nur nicht so einen Blödsinn! Mach schon, lies vor!«, drängte Elisabeth.
Emma las ganz langsam: »Alles Glück der Welt für dich und deinen Mann.« Sonst nichts.
Elisabeth war so gerührt, dass Heinrich ihr ein paar Tränen abwischen musste. »Mein Mädel, er muss dich sehr liebgehabt haben, aber mit der Zeit wird er dich vergessen.«
»Ja«, meinte Elisabeth, »es bleibt ihm ja nichts anderes übrig.«
Emma entschuldigte sich. »Schwägerin, nicht traurig sein! Ich habe mal wieder meine vorlaute Klappe nicht halten können.«
»Aber Emma, ich weiß doch, was du für ein Spaßvogel bist. Ohne dich wäre unsere Hochzeit nur halb so schön.«
Elisabeth hatte sich schon wieder gefangen. »Wenn du das meinst, dann los! Kinder, zeigt, was ihr könnt! Jeder muss sein Bestes geben. Ich mache den Anfang. Aber dass sich keiner drückt …«
»Los, Emma, fang schon an!«
Das war das Stichwort. Sie war nicht mehr zu bremsen und riss einfach alle mit.
Heinrichs Schwester Elfriede übertraf Emma noch mit ihrem trockenen Humor. Sie hatte sich einen alten Arbeitsanzug angezogen. Das Hemd hing aus der Hose raus. Dann holte sie sich Vaters lange Pfeife und ging zu jedem und bat um Feuer.
Mutter war begeistert von dieser Familie. Wie ernst die ihre war, außer Anna und August. Die beiden machten auch ihre Kunststückchen.
Bald hatten alle Gäste Bauchweh vor Lachen. Es war furchtbar mit Emma und Elfriede. Was die alles für Schnaken drauf hatten.
Da platzten noch zwei Gäste in die Gesellschaft rein. Elfriede ließ ihre Pfeife verschwinden und zog ihren Anzug aus.
Sofort wurde es leiser.
»Oh, Mutter, was sagst du dazu? Frau Weber und Maria.«
»Kind, ich bin genauso überrascht wie du.«
Aber die frohe Stimmung war ein bisschen hin.
Mutter kümmerte sich sofort um die beiden. »Frau Weber, ist das eine Freude! Nehmen Sie Platz.«
Anna brachte schnell zwei Gedecke, Kuchen und Torte. Ach, hatten Maria und Elisabeth sich viel zu erzählen.
»Aber Maria, wir wollen erst die herrlichen Blumen in eine Vase stellen. Hoffentlich finden wir auch eine.« Elisabeth wollte gleich losstürmen.
»Aber, Elisabeth, die habe ich gleich mitgebracht.«
»Die ist doch viel zu wertvoll!« Lisbeth war platt.
»Hier ist noch ein kleines Geschenk von Frau Michels und ihren Töchtern. Sie lassen alles Gute wünschen.«
Elisabeth strahlte. »Oh, Mutter, sieh nur, habe ich wirklich so viel Gutes verdient?«
»Es wird schon so sein. Alle haben dich gern.«
»Elisabeth, ein Kompliment muss ich dir noch machen«, meinte Frau Weber, »du bist eine wunderschöne Braut.«
»Ja, das verdanke ich nur meiner lieben Mutter. Sie hat für alles gesorgt. Nichts war ihr zu teuer. Bei ihrer Bescheidenheit kann man das kaum verstehen. Jetzt geht tanzen, ihr zwei, und amüsiert euch!«
Mutter unterhielt sich noch mit Frau Weber. »Frau Biel, sehen Sie nur, wie man die junge Braut umschwärmt. Hoffentlich nicht nur ihrer Schönheit wegen.«
»Oh nein, das wissen Sie doch am besten.«
»Hoffentlich bekommt sie einen guten Mann.«
Frau Weber war da guter Hoffnung. »Oh ja, das glaube ich bestimmt. Aber vorher kann man das nie wissen.«
Heinrich steuerte direkt auf den Tisch von Frau Weber zu. Er begrüßte sie besonders herzlich und sagte: »Das ist aber eine Überraschung! Elisabeth hat es sich so sehr gewünscht, aber nicht mehr daran geglaubt, wo Sie doch so viele Verpflichtungen haben.« Er setzte sich einen Augenblick zu den beiden.
Als die Musik spielte, bat er Frau Weber, mit ihm den Walzer zu tanzen.
Sie tat es nur zu gerne.
Heinrich wirbelte sie über die Tanzfläche. Er war so glücklich und übertrug seine Freude auf all seine anderen Gäste. Frau Weber war schon etwas gewöhnt, aber hier war doch alles anders, viel natürlicher. Sie war von Heinrichs Charme begeistert.
Zu Mutter meinte sie später: »Frau Biel, ich glaube, Ihr Schwiegersohn könnte eine ganze Gesellschaft alleine unterhalten.«
»Nicht nur das, er ist auch fleißig und zuverlässig. Und dann will ich Ihnen noch eines verraten: Sie müssten ihn mal auf der Bühne sehen. Er spielt die schönsten Mädchenrollen.«
»Was sagen Sie da? Davon hat uns Elisabeth nie etwas erzählt.«
»Es war ihr wohl nicht wichtig genug.«
Langsam wurde es zwölf Uhr. Die Gäste bildeten einen großen Kreis. In der Mitte stand der Sessel von Elisabeth. Jetzt musste sie sich hinsetzen. Die Brautführer nahmen ihr den Schleier ab. Dabei sangen sie »Wir winden jetzt den Jungfernkranz mit veilchenblauer Seide«. Dann setzte sich Emma vor Elisabeth und sagte: »Ich habe noch ein schönes Gedichtchen für dich, Elisabeth.«
»Ja, dann los!« Da fing Emma ganze leise an: »Ach, dieser Mensch, der hat mich gar und ganz betrogen, als Braut war er mir sehr gewogen und ging in Liebe mit mir um. Doch heute schimpfet er wie dumm …«
Lisbeth wurde ganz blass.
»Elisabeth, du musst nicht erschrecken, es ist ja nur Spaß.«
Langsam wurde der Kreis aufgelöst. Der Schleier war abgenommen, und jeder bekam ein Andenken davon. Er wurde kurz und klein gerissen. Wer kein Stückchen abbekommen hatte, versuchte, es den anderen wegzunehmen. Es war ein Getöse und ein Trubel. Frau Weber und Maria wurden richtig mitgerissen.
Später meinte Frau Weber: »Ja, Frau Biel, jetzt wird es aber langsam Zeit, dass wir nach Hause gehen.«
Maria musste Elisabeth versprechen, sie bald zu besuchen. »Mache ich. Bis dahin alles, alles Gute!«
»Lass nicht so lange auf dich warten!«, bat Elisabeth.
Das Fest ging langsam zu Ende. Die Reserven waren ausgegangen. Nach und nach verabschiedete sich einer nach dem anderen. Der Saal leerte sich bis auf ein paar Unentwegte. Sie wollten das Brautpaar bis zur Wohnung begleiten, hatten draußen vor der Saaltür einen großen Handwagen. Darauf wurde das Brautpaar nach Hause gebracht. Ein Bandoneon-Spieler sorgte für Musik. Der Rest ging singend, mehr grölend, hinter dem Wagen her. Alle waren der gleichen Meinung: »Heinrich, es war einmalig! Macht’s gut, ihr zwei!«
Der nahm seine Elisabeth und ging mit ihr ins Haus. Sie war so müde und erschöpft, sie sagte nur immer wieder: »Es war ganz herrlich. Aber jetzt kann ich nicht mehr. Ich bin froh, dass alles vorbei ist.«
»Mir geht es genauso, Elisabeth. Ich glaube, wir machen ein paar Tage nicht auf. Das haben wir uns wirklich verdient.«
Aber daraus wurde nichts. Elisabeth war schon in aller Frühe wach. »Heinrich, ich kann nicht schlafen. Geht es dir auch so?«
Doch der schlief wie ein Baum. Sie stand ganz leise auf und machte das Frühstück. Elisabeth konnte es gar nicht erwarten, bis sie all ihre Geschenke auspacken konnte. Zuerst ging sie in die Küche und bestaunte all die Sachen. Dazu hatte sie ja bis jetzt ganz wenig Zeit gehabt.
Heinrich war erstaunt: Als er neben sich fasste, war seine Elisabeth nicht da. Er sprang aus dem Bett: »Kleines, du solltest doch schlafen, du warst doch so müde.«
»Oh nein, Heinrich, erst muss ich Ordnung haben. Und ich bin so begeistert von unserer schönen Wohnung. Das ließ mir keine Ruhe.«
Sie hatte sich noch nicht gewaschen und frisiert. Aber heute fiel das gar nicht auf. Ihre Locken hingen nur so über die Schultern. Heinrich nahm sie immer wieder in die Arme und drückte sie fest. Dann setzten sie sich an den Tisch und frühstückten gemeinsam. Man kann nicht beschreiben, wie glücklich und stolz Elisabeth war. Heinrich nicht weniger. Beide hofften, dass es immer so bliebe.
Aber die Flitterwochen gingen schnell vorbei, und der Ernst des Lebens begann. Elisabeth war trotz ihrer siebzehn Jahre eine tüchtige Hausfrau. Heinrich und auch seine Eltern staunten oft, wie fleißig sie war. Außerdem erwartete sie ein Baby.
Die Mutter machte sich große Sorgen.
»Aber, Mutter«, sagte der Vater, »du warst doch auch nicht älter und hast es geschafft, acht Kinder großzuziehen.«
»Oh, Vater, das war aber oft sehr schwer. Ich möchte doch, dass es Elisabeth besser geht.«
»Heinrich ist doch vernünftig und steht ihr zur Seite.«
»Das hoffe ich auch. Aber erst muss er ja mal zwölf Stunden in der Zeche arbeiten.«
Dann war er ein leidenschaftlicher Taubenzüchter, und samstags hatte er seinen Skat-Abend. Da blieb nicht mehr allzu viel Zeit für Elisabeth übrig. Doch er war ein sehr gütiger und lieber Mensch. Aber was baut man sich mit siebzehn nicht alles für Luftschlösser!
Wie oft saß Heinrich lange bei seinen Tauben. Dann kam sich Elisabeth ganz verloren vor. Sie musste sich doch erst einmal an die neue Umgebung gewöhnen. Es war alles viel, viel schwerer, als sie es sich vorgestellt hatte, und es flossen schon hin und wieder ein paar Tränen.
Dann nahm Heinrich sie in die Arme: »Was ist denn los?«
»Weißt du, ich fühle mich oft so einsam.«
»Lisbeth, warte erst mal, bis du da Baby hast. Und ich bin doch auch bei dir.«
Jetzt hatte Heinrich auch noch Nachtdienst. Das war besonders schlimm. Elisabeth konnte dann vor Angst kaum einschlafen.
Einmal in der Woche besuchte sie ihre Eltern. Das waren die schönsten Stunden. Sie war ja immer der Liebling gewesen.
Abends gingen ihre Eltern dann ein Stück mit. »Elisabeth, grüß deinen Heinrich. Denke immer, du hast einen sehr fleißigen und gütigen Mann. Eine Ehe hat ja nicht bloß Sonntage, das hast du doch bei uns gesehen. Da geht es dir doch schon viel besser.«
»Du hast recht, Mutter. Aber weißt du, zu Hause war immer was los.«
»Warte ab, das kommt bei euch auch noch! Aber so viele Kinder wie wir willst du doch bestimmt nicht?«
»Warum nicht, Mutter? Es war herrlich!«
Mutter drückte Elisabeth fest an sich und sagte: »Wenn du einsam bist, Kleines, besuche deine Geschwister. Sie haben dich alle sehr lieb. Und Kopf hoch, du hast alles, was du brauchst. Und dein Heinrich tut für dich, was er kann. Darum gönne ihm auch ein bisschen Freude.«
»Du hast recht, Mutter.«
Auf dem Heimweg sprach Vater: »Unsere Kleine kommt mir so ernst vor.«
Die Mutter war da ein bisschen rauer. »Sie hat einen sehr guten Mann. Was will sie noch mehr?«
»Mutter, du hast gut reden, ich war, außer wenn ich auf der Zeche war, immer bei dir. Heinrich könnte ja auch auf eines seiner Hobbys verzichten, dann wäre Elisabeth glücklich. Besonders jetzt in ihrem Zustand. Ich werde ihn mir mal vorknöpfen.«
»Vater, halte dich da lieber raus!«
»Wenn du meinst, Mutter.« Manchmal gab Vater zu schnell nach.
Elisabeth putzte und wienerte den halben Tag. Jede Woche machte sie Wäsche und bügelte. Alles wurde sofort gestopft. Es kam nichts in den Schrank, was nicht in Ordnung war.
Nach und nach kaufte sie die Babywäsche. Das machte ihr Freude. Und Heinrich war begeistert, mit wie viel Liebe sie alles verrichtete. Seine Taubenfreunde beneideten ihn um seine hübsche Frau.
»Weißt du, Heinrich, sie sticht alle aus. Aber sie ist ja auch noch ein halbes Kind.«
Heinrich war dann stolz wie Oskar. Aber er hatte einfach zu wenig Zeit für seine Frau.
Elisabeth nahm es nicht mehr ganz so ernst. Sie unterhielt sich oft mit den Nachbarn. Im Sommer saßen sie sogar zusammen in der Laube und strickten Strümpfe für ihre Männer.
Am 24. Mai 1908 sagte Lisbeth: »Heinrich, ich glaube, du musst die Hebamme holen.« Sie krümmte sich vor Schmerzen.
Er lief gleich zum Nachbarn. Der nahm ihm den Weg ab, damit er bei Elisabeth bleiben konnte. Heinrich tröstete sie, aber helfen konnte er nicht.
Nach ein paar Stunden hatte sie es überstanden.
»Ein kleiner Sohn«, sagte die Hebamme.
Heinrich drückte und küsste seine Elisabeth und strahlte übers ganze Gesicht.
Sie war glücklich, dass sie es hinter sich gebracht hatte.
Als Heinrich die Eltern sah, rief er schon von Weitem: »Ein Sohn!«
Die Mutter zog sich nur den Mantel über und rannte los. Elisabeth erzählte so oft, dass ihre Mutter ganz außer Atem ankam.
»Oh, Lisbeth, bin ich froh.«
»Mutter, setz dich erst mal!«
»Nun zeig ihn mir schon, deinen kleinen Stammhalter! Mensch, was für ein kräftiger Bursche!«
Heinrich hatte mit seinem Schwiegervater anständig einen gehoben. Das war früher so Sitte, und Heinrich spuckte ja nicht ins Glas. Dafür war er bekannt. Lisbeth nahm es ihm heute nicht übel. Es war ja etwas Besonderes.
Die Mutter hatte ihren Schwiegersohn mit all seinen Fehlern ins Herz geschlossen. Die beiden waren ein Herz und eine Seele.
Wilhelmine blieb die ersten Tage bei Elisabeth und verwöhnte sie.
Heinrich hielt sich jetzt nicht so lange bei seinen Tauben auf. Es hatte doch geholfen, dass der Vater ihm ins Gewissen geredet hatte. Doch davon wusste Mutter nichts. Aber böse konnte Vater ihm auch nicht sein. Er hatte so viel Humor, und an Güte fehlte es ihm auch nicht. Außer an seinem Karten-Abend ging er auch nicht in die Wirtschaft. Dann aber ausgiebig.
Die Mutter sagte: »Lisbeth, jetzt hast du dein Baby, da kann dein Heinrich ruhig mal ein bisschen länger bei seinen Tauben bleiben.«
»Bitte, Mutter, lass ihn das nicht hören! Dann übertreibt er wieder. Du kannst das nie verstehen, hast nie auf Vater warten brauchen. Aber du hast recht, er ist ein lieber Kerl und bei allen so beliebt. Das macht es so schwer. Sie lassen ihn nicht weg. Und wenn er so richtig in seinem Element ist, vergisst er die Zeit.«
»Kind, das ist doch nicht so schlimm! Jeder Mensch hat seine Fehler. Die muss man in Kauf nehmen. Mit der Zeit gewöhnst du dich daran.«
»Oh, Mutter, schade, dass du schon wieder weg musst. Es war herrlich, mal so richtig verwöhnt zu werden«, meinte Elisabeth traurig.
»Lisbeth, jetzt hast du dein Baby, das du verwöhnen kannst; da ist der Tag schön ausgefüllt. Wie soll euer Sohn denn heißen?«
Stolz erklärte Elisabeth: »Natürlich wie sein Vater. Wir rufen ihn Heini, sonst weiß niemand, wer gemeint ist.«
Die ganzen Geschwister kamen, um den jungen Eltern zu gratulieren.
Anna war Lisbeths Lieblingsschwester. Sie war unverheiratet und blieb ein paar Tage bei Lisbeth. Als Schürzennäherin konnte sie sich ihre Arbeit selbst einteilen.
Heinrich war so stolz. Er kaufte den schönsten Kinderwagen. Da konnte Lisbeth nachmittags spazierenfahren.
Die Tage gingen viel schneller um. Heini war ein ganz artiger Junge. Doch als er erst einmal laufen konnte, das war mit zehn Monaten, da entwickelte er sich zu einem richtigen Lausbuben. Aber seine Mutter wurde schon mit ihm fertig.
Jetzt kam langsam die Karnevalszeit. Die beiden jungen Eltern hatten sich eine hübsche Standmaske ausgedacht. Lisbeth musste dabei eine Stunde stillstehen, sie durfte sich nicht rühren. Heini wurde zu seinen Großeltern gebracht. Lisbeth freute sich schon seit Wochen darauf.
Endlich war es so weit. Der Saal war proppenvoll. Die besten Masken wurden prämiert. Es waren schöne Preise ausgesetzt. Das nur so nebenbei.
War das eine Spannung!
Lisbeth wurde an einen Baum gefesselt. Ihre blonden Locken hingen bis auf die Schultern. Sie trug ein langes weißes Kleid und eine rosa Maske. Sie spielte Königin Elsa, dem Hungertode preisgegeben.
Die Schiedsrichter hatten genug zu tun. Es waren hundert Masken gemeldet.
Alle schlichen um Elisabeth herum. Heinrich beobachtete alles von Weitem, sonst hätten sie Verdacht geschöpft. Es war ein herrlicher Anblick! Aber Elisabeth wurde fast ohnmächtig. Die Stunde wollte nicht umgehen. Sie durfte sich ja nicht rühren. Kein Mensch hatte sie erkannt, aber alle waren von dem Anblick begeistert.
Jetzt wurden die Preise verteilt und an die Masken gehängt. Das war ein Trubel! Lisbeth hatte den ersten Preis bekommen. Alle gratulierten.
Heinrich drückte und küsste seine Frau: »Du bist die Schönste im Saal. Sieh nur, wie sie dich alle anstarren. Schade, dass du dein Haar nicht immer so offen tragen kannst.«
Es wurde noch getanzt bis zum nächsten Morgen. Lisbeth konnte sich kaum noch rühren. Die beiden holten noch so manchen Preis. Aber Fastnacht war ja nur ein paar Wochen, dann zog der Alltag wieder ein.
Die Großeltern kamen oft am Sonntag zu Besuch. Dann spielten die Männer Schafskopf und tranken einen Krug Bier.
Lisbeth erzählte der Mutter, dass sie wieder ein Baby bekäme.
Die Mutter war erschüttert: »Mein Gott, ihr wollt uns doch nicht überholen?«
Später sagte Mutter zu Heinrich: »Hätte das nicht noch ein bisschen Zeit gehabt? Heini ist doch noch so klein.«
»Oh, Mutter, es ist ja nicht mit Absicht geschehen. Du weißt ja, wie es früher bei euch war.«
Lisbeth war es ein bisschen viel, aber sie freute sich schon. »Dann werden die Kinder zusammen groß. Vielleicht ist es ein Mädchen. Hoffentlich.«
Heinrich war sehr besorgt. Er blieb nicht mehr so lange bei seinen Tauben. Darüber war seine Frau sehr glücklich.
Sie bekamen einen schönen Garten und Heinrich die Aufsicht über die Mieter. Der Hausbesitzer wohnte auswärts. Damit gab es aber für die beiden noch ein ganzes Stück Arbeit mehr. Der komplette Tag war ausgefüllt. Sie mussten ja alles in Ordnung halten und die Asche von den Mietern sieben und mit der Schubkarre wegfahren. Aber den beiden machte das nichts aus. Ihnen machte die Arbeit Spaß.
Heinrich war ein starker Mann.
Er trank jeden Tag einen Liter Milch. Auch wurde nicht am Essen gespart, sonst hätten die beiden das niemals geschafft.
Heinrich meinte: »Lisbeth, wie wäre es, wenn wir uns ein kleines Ferkel anschaffen? Dann haben wir Fleisch, Wurst, Fett. Kartoffeln und Gemüse haben wir ja im Garten. Da könnten wir schön sparen.«
»Da hast du recht. Aber schaffen wir das auch?«
»Sicher. Wir sind doch noch so jung. Stuckmanns haben mir erlaubt, einen Taubenschlag auf dem Boden zu bauen, dann brauche ich nicht mehr zweimal am Tag erst ein ganzes Stück zu laufen.«
»Oh, Heinrich, bin ich froh, dann bist du jeden Tag eine Stunde mehr zu Hause.«
So glücklich hatte Heinrich seine Frau lange nicht gesehen. »Du weißt doch, Lisbeth, dass ich alles tue, was dir Freude macht. Und wenn ich am Samstag mal einen trinke, das musst du nicht so genau nehmen.«
Heinrichs Vater hatte Lisbeth ganz besonders ins Herz geschlossen. Sie war so richtig nach seinem Geschmack: hübsch, fleißig und sparsam. Wenn er mittags von der Arbeit kam, schaute er meistens kurz bei ihr rein. Sie hatte dann oft ein Schnittchen für ihn. Obwohl er viel mehr Geld hatte, freute er sich wie ein Kind darüber. Wenn sie ihn brauchte, war er immer für sie da. Und das war schon recht oft.
Er schaute auch jeden Tag, wie sich das Ferkel machte. »Lisbeth, bis September wird es seine drei Zentner haben.«
Die Monate gingen schnell herum. Aber zuletzt wollte die Arbeit nicht mehr so recht klappen. Da legte sie sich einen Sack unter die Knie und machte die Beete sauber. Wenn es ihr mal zu viel wurde, dachte sie: Mutter musste noch das ganze Wasser holen. Ich habe eine Wasserleitung. Ich habe das Klo im Haus. Zu Hause mussten wir immer ganz ums Haus herumrennen. Und da haben wir oft eine Angst ausgestanden!
Es gab doch schon so viel Erleichterung. Sie wohnten ja in einem Neubau. Wer konnte sich das schon erlauben? Wie oft machte Heinrich Überstunden. Das brachte viel Geld.
Der Bäcker Brautkuh, der ihnen jede Woche das Brot brachte, erzählte überall: »Der Haken Heinrich hat den schönsten Haushalt und die hübscheste und fleißigste Frau. Er hat wirklich das große Los gezogen, was wir ihm alle von Herzen gönnen.«
Im Dezember wurde das Schwein geschlachtet. Als es auf der Leine hing, wurde zuerst der Speck gemessen. Waren die beiden stolz! Lisbeth tat es ein bisschen leid, sie hatte es doch dreimal am Tag gefüttert und es oft hinter den Ohren gekrault und richtig mit ihm gesprochen. Da tat es schon ein bisschen weh, wenn es getötet wurde.
Die Mutter blieb so lange, bis alle Würste unter der Decke hingen und die Schinken und das übrige Fleisch in einer großen Tonne eingepökelt waren. Sie machte noch schnell alles sauber.
»Heinrich, sag, wo schlingst du das Essen hin? Verdirb dir nur nicht den Magen!« Lisbeth war schlecht nur vom Zusehen.
Mutter sagte: »Mein Kind, ich bleibe so lange, bis alles in Ordnung ist. Vater weiß ja Bescheid.«
Bald war Weihnachten. Die beiden freuten sich schon auf die Augen von Heini. Sicher, er war noch nicht allzu groß, aber die Lichter würden ihn schon begeistern.
Als alles so weit war, nahm Heinrich Elisabeth an die Hand. Er sagte: »Hier, das habe ich für dich mitgebracht. Hoffentlich gefällt es dir.« Er hatte ihr ein paar schöne warme Pantoffeln gekauft, eine Nachtjacke und ein kleines Kästchen. »Elisabeth, mach es schon auf!«, drängte er.
»Oh, Heinrich, ein echtes goldenes Kettchen mit einem Anhänger …«
»Aber schau erst mal nach, was da drin ist!«
»Oh Gott, ein Bild von meinen zwei Männern! Das werde ich immer tragen.« Gerührt fiel sie Heinrich um den Hals. Sie hatte für ihn Strümpfe gestrickt und ein paar Hemden genäht.
Heini verstand noch nichts. Selbst der Tannenbaum gefiel ihm nicht besonders. Das Spielzeug reizte ihn auch nicht sehr, aber die leckeren Sachen auf dem Teller.
Heinrich war glücklich, dass er ein paar Tage frei hatte. »Elisabeth, die werden wir so richtig genießen. Was meinst du?«
»Und ob.«
Aber die Tage gingen so schnell um. Das Schönste geht ja immer schnell zu Ende. Das ist nun einmal so im Leben.
Im Sommer hatte die Mutter wenig Zeit für ihren Heini. Aber jetzt im Winter war er ja der Mittelpunkt. Das gefiel ihm. Lisbeth dachte: Ich will dich noch ein bisschen verwöhnen. Wenn erst das Baby da ist, habe ich noch weniger Zeit. Aber du bist ja ein kräftiger Bursche und jetzt schon ein bisschen selbständig.
Heinrich half ihr, wo er nur konnte. Er schälte Kartoffeln, holte Porree aus dem Garten. Zwei Tage nicht zur Arbeit müssen, das war schon etwas Feines. Das Jahr war ja so lang. Aber Neujahr hatte er auch zwei Tage frei. Was sich die beiden alles vornahmen! Dabei war die Zeit so schnell vorbei, und der alte Trott ging wieder weiter.
Maria hatte Elisabeth eine Karte geschrieben. Sie fragte an, wann sie mal kommen sollte. Elisabeth antwortete gleich und lud sie zu Silvester ein.
Jetzt freute sie sich. Alles wurde geputzt.
Sie hatten auch noch ein großes Zimmer dazubekommen und nun schon drei Zimmer. Das Wohnzimmer war fünfunddreißig Quadratmeter groß. Da konnte sie allerhand drin lassen. Es wurde ganz wunderbar eingerichtet. Sie hatte das Büffet, das sie für die Küche gekauft hatte, mit in das Zimmer gestellt. Es war ein Schmuckstück.
Heinrich meinte: »Elisabeth, wir gehen noch schnell und kaufen einen Tisch, vier Stühle und ein kleines Sofa dazu. Das Geld dafür haben wir doch schon zusammen.«
Ach, wie Elisabeth strahlte! So froh hatte er sie lange nicht gesehen. Selbst er freute sich auf Maria.
»Weißt du, Heinrich, da nehmen wir so einen Tisch, auf den die Decke von Frau Weber draufpasst. Dann kaufe ich noch eine weiße Serviette dazu, und wir besorgen einen schönen Blumenstrauß.«
»Wird alles gemacht, Elisabeth. Ich möchte, dass du immer so glücklich aussiehst wie heute. Es ist doch schon etwas Schönes, wenn mal ein bisschen Abwechslung ins Haus kommt.«
»Das kann man wohl sagen, Heinrich.«
Als Maria anreiste, war sie sprachlos, wie herrlich Elisabeth eingerichtet war. Und als sie erst das Wohnzimmer sah! »Elisabeth, wie habt ihr zwei das alles geschafft? Mit eurer Hände Arbeit? Das ist schon wirklich etwas Großes. Und dieses Büffet, so etwas Schönes habe ich noch nie gesehen. Mein Gott, Elisabeth, das ist ja dreistöckig! Es ragt fast bis unter die Decke … Und die Blätter, die alle reingeschnitzt sind, und die Säulen, worauf das Oberteil ist … Diese herrliche Krone!«
»Ja«, sagte Elisabeth, »und die Bowle, die oben in der Öffnung steht, die hat mein Heinrich beim Theaterspielen gewonnen. Sieh nur das schöne Essservice und das schöne Kaffeeservice, die ich von deinen Eltern bekommen habe. Sie schmücken den ganzen Schrank.« Elisabeth war sehr stolz.
»Oh, Elisabeth, die Bowle aber ganz besonders. Und all die anderen Sachen, die du alle bekommen hast. Das ist wunder-, wunderschön. Hier kannst du es aushalten. Und du siehst so zufrieden und glücklich aus.« Maria freute sich für ihre Freundin.
»Das bin ich auch, Maria. Und bald bekomme ich das zweite Baby.«
»Freust du dich?«
»Oh ja, ein bisschen schon. Es gibt nur ein wenig mehr Arbeit. Aber das macht mir nichts aus.«
»Das weiß ich, Elisabeth, dafür kenne ich dich doch.«
Die beiden verabschiedeten sich spät am Abend. Heinrich begleitete Maria noch ein Stück.
Als er zurückkam, sagte er: »Es ist doch nett, dass sie dich besucht.«
Lisbeth war derselben Meinung.
Nach ein paar Tagen sagte Lisbeth: »Heinrich, ich glaube, du musst die Hebamme holen, es ist so weit.«
Es war der 8. Januar 1910. Sie bekamen eine kleine Tochter und gaben ihr den Namen Hildegard.
Lisbeth meinte: »Der Name ist ein bisschen sehr lang. Wir rufen sie einfach Hilde.«
Es war ein lebhaftes und sehr fröhliches Kind.
Mutter meinte: »Das hat sie von dir geerbt.«
Heinrich war dagegen sehr, sehr still.
Die Jahre gingen dahin. Lisbeth erzog ihre Kinder, wie sie es zu Hause gelernt hatte. Die Großeltern und die Tanten waren begeistert, wenn sie sie besuchte. Wenn sie sich abends auszogen, hingen sie alles ordentlich an seinen Platz.
Der Großvater sagte oft: »Lisbeth, wie schaffst du das alles?«
Da war Heinrich stolz und sagte: »Gelernt ist gelernt.«
Lisbeth dachte: Wenn ihr wüsstet, was mich die zwei schon für Nerven gekostet haben.
Aber sie klagte nie, obwohl sie oft Grund dazu gehabt hätte.
Heini kam Ostern in die Schule, dann ging es ein bisschen besser. Er lernte auch ganz gut. Aber er kam selten nach Hause, ohne dass er sich geprügelt hatte und seine Hosen zerrissen waren.
Am Anfang bekam er dann von Mutter auch noch einen hinter die Ohren. Dabei lag es gar nicht an Heini. Er fand keinen Kontakt zu den Kindern. Er war zu still – und das legte man ihm als Dummheit aus und gab ihm allerlei Schimpfnamen. Es hatte lange gedauert, bis Mutter dahinterkam. Heinrich hatte sie aufgeklärt: »Lisbeth, er ist doch noch ein kleiner Bub. Versuch es doch mit ein bisschen mehr Liebe! Du wirst sehen, das wirkt Wunder. Denn unser Sohn ist bestimmt nicht alleine schuld an den Prügeleien. Ich werde einmal zu dem Lehrer gehen. Der kann sich die Bengels mal vorknöpfen. Unser Bub ist ja richtig eingeschüchtert. Und ich glaube, dass du daran auch ein bisschen Schuld hast. Stell dein Putzen mal ein, dann bist du nicht mehr so gereizt.«
»So, mein Mann, jetzt will ich dir mal was sagen: Wenn du ein bisschen Zeit hast, dann kommt Hilde auf deinen Schoß. Das ist ein Geschmuse! Heini steht daneben. Du siehst ihn gar nicht. Was mag dann in dem Jungen vorgehen?«
»Oh, Lisbeth, gut, dass du das sagst. Hoffentlich ist es nicht schon zu spät. Der Kleine ist ja furchtbar verschlossen«, antwortete Heinrich schuldbewusst.
»Weißt du, so geht es auch bei den Tanten und Onkeln: Hilde, sing ein Lied. Hilde hier und Hilde da. Hier ein Küsschen und da noch eines. Und Heini hat immer nur zusehen dürfen.« Elisabeth war jetzt richtig in Fahrt.
»Der arme kleine Kerl. Jetzt wollen wir aber aufpassen und die beiden gleich behandeln. Denn Hilde ist ja jetzt auch groß genug.«
Im Winter hatte Mutter ja mehr Zeit, nur Vater hatte nach wie vor zu tun. Wenn er mittags nach Hause kam, holten die Kinder ihn ab. Da gab es immer ein Hasenbutterbrot. Es wurde erst gegessen, wenn Vater um drei nach Hause kam. Er brauchte hin und zurück zwei Stunden. Alles schön auf Schusters Rappen. Danach schmeckte das Essen erst richtig gut.
Heini dachte: Was ist los? Vater und Mutter fragten dauernd: »Willst du dieses noch? Oder das?«
Hilde merkte es und zog eine krumme Schnute.
Als Vater Heini an sich zog, meinte dieser ganz treu: »Bin ich nicht schon ein bisschen groß?«
Da war Vater ganz verlegen und meinte: »Mutter, was sagst du zu dem Knirps?«
Da stellte Heini sich auf die Zehenspitzen: »Sieh nur, ich bin schon fast so groß wie Mutter.«
»Ja, mein Junge, das habe ich noch gar nicht gemerkt.«
Der strahlte übers ganze Gesicht.
Familie Förster hatte auch wieder ein Baby bekommen. Es war das dritte Kind. Lisbeth übernahm die Pflege und versorgte die Kinder mit. Aber sie war glücklich, als die Tage herum waren.
Hilde war ganz verrückt auf das Baby, Erna hieß es. Frühmorgens klopfte sie schon an die Tür und rief: »Tante Förster, ich möchte das Baby ausfahren.«
Frau Förster kannte Hilde nur zu gut: »Komm schon, ich weiß doch, was du willst: nur mit mir frühstücken.«
»Aber dann möchte ich Erna bestimmt ausfahren.«
»Gut, setz dich auf die Knie.«
Dann bekam Hilde noch ein Stück Würfelzucker. Lisbeth und Frau Förster waren ein Herz und eine Seele. Eine half der anderen, wenn es nötig war.
Ich kam in die Schule.
Von da an kann ich mich an alles genau erinnern. Ich hatte eine Tafel, einen Griffelkasten, und Mutter hatte schöne weiße Tafellappen gehäkelt. Die wurden an den Tornister gehängt. Ich war ein bisschen ängstlich, denn Heini hatte ja schon oft Prügel bekommen. Aber es war halb so schlimm. Nach ein paar Tagen hatte ich meine Lehrerin schon richtig gern. Fräulein Niste hieß sie.
Auch mit den Kindern freundete ich mich schnell an. Mutter war froh, dass sie uns für ein paar Stunden los war. Da kam sie mit ihrer Arbeit schön voran. Sie war ja auch schon fünfundzwanzig.
Mittags machte sie mit uns Kindern Schularbeiten. Wir beide erledigten sie spielend.
Später holte ich mein Püppchen, da konnte ich mich stundenlang mit beschäftigen.
Aber Heini stromerte lieber draußen herum. Er war selten pünktlich zu Hause. Vater sagte dann: »Lisbeth, sei doch nicht so böse, das kommt schon noch!«
Da gab Mutter auf und antwortete: »Hoffentlich hast du recht. Meine Mutter meinte immer: »Ein kleines Bäumchen kann man biegen, Heinrich, aber einen starken Baum nicht mehr. Ich finde, sie hatte nicht so viel Arbeit mit ihren acht Kindern.«
»Lisbeth, du bist ja auch zu pingelig. Musst du das Stochereisen bis in die Spitze weiß haben und nach jedem Stochern abputzen? So machst du es mit allem. Die Kinder jeden Tag eine saubere Schürze, saubere Tafeln. Ich jede Woche sauberes Arbeitszeug. Meine Kumpels haben es oft 14 Tage, einige sogar drei Wochen an, und sie leben genauso wie ich.
Gönn dir doch ein bisschen Ruhe! Sicher, im Winter kannst du Strümpfe stricken für vier Personen. Das ist schon eine Menge. Die langen Enden. Leg lieber mal deine Hände in den Schoß! Du siehst doch, im Winter, wenn die Gartenarbeit vorbei ist, lege ich mich jeden Mittag eine Stunde hin. Mach es auch so, und du wirst sehen, wie gut es dir tut, und wir alle profitieren davon.«
»Heinrich, das sagt sich alles so leicht, aber ich habe noch ein paar Hemden zu nähen, und Heini hat fast jeden Tag eine Hose kaputt. Das ganze Schimpfen und Schlagen hilft nichts. Ich habe aufgegeben.«
»Hast recht, Lisbeth. Versuch es mit ein bisschen mehr Liebe, und du wirst sehen, es klappt.«
Am nächsten Morgen mussten wir zwei zur selben Zeit in die Schule.
»Mutter, gib uns einen Kuss!«
»Seid schön brav und passt gut auf!«
Wir waren erst ein paar Minuten unterwegs, da riefen die Bengels: »Na, Tünnes, hast du dir Hilfe mitgebracht?«
Wenn Heini das Schimpfwort hörte, sah er rot. Ich wollte ihn zurückhalten, aber da ging die Prügelei schon los. Ich schlug mit meinen kleinen Fäusten auf die Bengels ein.
Die wollten sich kaputtlachen. »Was willst denn du kleiner Fratz?«
Ich war nie vorher so böse gewesen.
»Verschwinde bloß! Wir werden uns doch nicht an so kleinen Mädchen vergreifen.«
Ich bettelte und bat: »Lasst ihn in Ruhe! Er hat euch nichts getan. Ich werde es dem Lehrer erzählen.«
Da riefen die Jungen: »Petzliese! Petzliese!«
Ich rannte wie verrückt zum Schulhof.
Da kam Heinrichs Lehrer mit mir.
Die Bande lief auseinander. Daraufhin mussten sie alle eine Strafarbeit machen.
Gott, hätte ich nur nicht gepetzt! Ich hatte alles noch viel, viel schlimmer gemacht.
Zu Hause erzählte ich gleich, was geschehen war.
Mutter meinte: »Junge, sei doch vernünftig und höre einfach nicht hin!«
»Ich kann nicht! Ich kann nicht! Selbst wenn ich es mir noch so vornehme.«
Da wurde Mutter traurig und dachte: Wie oft habe ich dir wohl schon Unrecht getan? Sie sah Heini das erste Mal weinen. Sein kleines Herzchen musste wohl überlaufen. Niemand hatte, selbst wenn er Schläge bekam, eine Träne bei ihm gesehen.
Schnell sagte ich: »Heini, du bekommst auch einen schönen Tannenbaum.«
Mutter gab ihm ein paar Stückchen Zucker. Aber er konnte sich nicht beruhigen.