Im Spiegel der Sprachlosigkeit - Werner Leichtle - E-Book

Im Spiegel der Sprachlosigkeit E-Book

Werner Leichtle

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Beschreibung

Drei Menschen sind seit ihrer Jugend schicksalhaft miteinander verwoben. Paul, ein autistischer Außenseiter, der schweigt und trotzdem die anderen in seinen Bann zieht, Lukas, ein aufgeweckter Gymnasiast, der die Welt Pauls aus Neugier erkunden will, und Karla, die Paul aus seiner Isolation herauslocken möchte. Paul verbringt seine Zeit, wann immer er kann, in einer Hütte im Gebirgswald, wo er verletzte Tiere versorgt und bedrohliche Masken schnitzt. Lukas ist von dieser schweigenden Welt, die nur ihre eigenen Regeln kennt, magisch angezogen. Und Karla scheint auch schon in den Bann des Einzelgängers geraten zu sein, sowie Lukas ihrem Bann verfällt, bevor sie überhaupt von seiner Existenz weiß. Noch bevor das geschehen kann, zerstört ein Feuer den geheimnisvollen Ort im Bergwald. Karla und Lucas fliehen, ohne sich zu begegnen. Paul bleibt zurück, um seine Tiere zu retten, wird von der Feuerwehr ins Krankenhaus gebracht, wegen Brandstiftung angeklagt und als gefährlicher, psychisch kranker Strafftäter im Krankenhaus weggesperrt. Jeder der Drei geht in den folgenden 20 Jahren eigene Wege, und doch bleibt ihnen ihre Erinnerung; und ihre Wege kreuzen sich gewollt und ungewollt und bestimmen ihr weiteres Schicksal: Karla hält an ihrem Ziel fest, Menschen mithilfe der Sprache aus ihrer Isolation heraus zu führen und Paul bleibt ihre Herausforderung. Lukas wird ein angesehener und sprachgewandter Rechtsanwalt, der durch einen Unfall seiner Sprache beraubt wird und einer Selbstzerstörung kaum entkommen kann, und Paul erinnert sich an seinen Jugendfreund, der in seinem Erleben die zweitwichtigste Person für ihn war. Das Schicksal hat ihnen andere Rollen zugeteilt als es die Experimente vorsahen, die sie mit sich und den anderen machen wollten.

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Seitenzahl: 319

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Für meine Enkel:

Elias, Niklas, Sophie,

Charlotte, Constantin, Theresa,

Leon, Ben, Laura.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 1

Die Hitzewelle Anfang Mai war ungewöhnlich. Auf dem mit alten Betonplatten gepflasterten Pausenhof des Gymnasiums in Sonthofen im Allgäu verlief das Leben in Zeitlupe. Lukas, sonst einer der wildesten Schüler, hatte sich in den Schatten der großen, alten Linde zurückgezogen und überlegte, wie er das attraktive Mädchen ansprechen konnte, das es sich, abgeschieden von den anderen ihres Alters, auf einer der Bänke vor dem Schulgebäude in der prallen Sonne gemütlich gemacht hatte. Er kannte das Mädchen nur vom Sehen. Eine Gelegenheit, mit ihr in Kontakt zu treten, hatte sich einfach noch nicht ergeben. Dass sie in ihrer schlichten, unauffälligen, fast ärmlichen Kleidung, die sie üblicherweise trug, ohne Weiteres übersehen werden konnte, war für Lukas lange Zeit auch der Grund, sie zu ignorieren. Heute hatte die Hitze dafür gesorgt, dass nur wenig Stoff ihre reizvolle Figur verbarg. Sie war groß, hatte lange, mittelbraune Haare, die sie aber nur selten offen trug. Meistens hatte sie ihre Haarpracht zu einem Pferdeschwanz gebunden. Da er mit seinen Freunden heute nichts vorhatte und es ihm langweilig war, fasste er den Entschluss, dieses Mädchen näher kennenzulernen.

«Hey, ist es dir nicht zu heiß in der prallen Sonne? Setz dich doch mit in den Schatten, dann können wir miteinander quatschen, wenn du willst. Ich bin übrigens der Lukas.»

Das Mädchen drehte sich gemächlich um und neigte kaum merklich ihren Kopf zur Seite und blinzelte, von der Sonne geblendet, in Lukas Richtung. Sie machte nicht den Eindruck, dass sie von dieser Anmache begeistert war. Sie wirkte eher gelangweilt. Immerhin antwortete sie ihm:

«Hey Lukas, bevor du mich weiter nervst, ich bin die Lea.»

«Ich will dich ganz bestimmt nicht nerven, Lea. Komm doch mit in den Schatten. Mir ist es in der Sonne zu heiß.»

«Bist auch einer von den verwöhnten Herren, die nichts mehr aushalten. Hast Glück, hab heute einen guten Tag. Ich komme zu dir in den Schatten.»

«Was für eine Fügung des Schicksals, dass die Gnädigste ein offenes Ohr für das gemeine Volk hat.»

Kaum hatten sich beide im Schatten der Linde niedergelassen, löcherte Lukas das Mädchen mit Fragen:

«Du bist mir noch nie so richtig aufgefallen. Bist du neu hier in der Schule? Von Sonthofen bist du auch nicht, sonst würde ich dich kennen.»

«Erst einmal, mit mir kannst du ganz normal reden. Musst nicht so gestelzt daher kommen. Zu deiner Frage: Die Mama, meine kleine Schwester und mein Bruder sind schon vor ein paar Jahren nach Burgberg gezogen. Die Mama hat damals eine Stelle als Näherin in einer Schneiderei bekommen. An diesem Gymnasium bin ich erst seit einem Jahr.»

«Einen Papa gibts nicht?»

«Du bist ganz schön neugierig für einen Jungen. Keine Angst, bekommst schon deine Antwort. Tut mir auch mal gut, über den ganzen Mist mit meinem Papa zu reden. Über den sprech ich nicht gerne. Ohne ihn ginge es uns um einiges besser, besonders meinem Bruder. Der musste am meisten unter ihm leiden. Paul wollte sich ihm nicht unterordnen. Das brachte den Vater jedes Mal so auf die Palme, dass er ihn fürchterlich verprügelte. Seinen wilden Zorn lud er nicht nur bei Paul ab, sondern auch bei uns. Er schlug dann grundlos die Mama und wenn ich in der Nähe war, auch mich.»

«Hat sich dein Bruder nicht gewehrt?»

«Das ist es ja, er hat den Vater ignoriert und ihn dadurch noch wütender gemacht. Du musst wissen, der Paul ist anders als wir, er ist sehr seltsam. Bei Leuten, die er kennt, ist er einigermaßen normal. Es kann aber passieren, dass er dann auf einen Schlag so tut, als kenne er dich nicht. Bei Fremden ist es besonders schlimm. Und was ich ganz blöd finde, er spricht nicht, mit keinem, nicht mal mit mir. Dabei hab ich mit ihm die engste Verbindung. Wir sind Zwillinge. Ich denke, dass ich nur deshalb so gut mit ihm zurechtkomme, weil ich ihm sein eigenartiges Leben lasse. Das Beste ist, wenn man ihm nicht zu nahe auf den Pelz rückt.»

Lukas merkte Lea an, wie gut es ihr tat, über Dinge zu reden, die sie belasteten. Es war also kein leeres Gerede vorher. Sie hatte wohl sonst niemanden, mit dem sie reden konnte.

«Ich frag auch nie nach, wenn er tagelang in den Wäldern am Grünten herumrennt und was er da so alles anstellt. Seit der Vater aus dem Haus ist, treibt er sich nur noch in den Bergen herum. Früher hätte er sich das nie getraut, so sehr hatte er vom Vater Angst. Der Arzt sagt, er hat Autismus. Schon mal was davon gehört? Scheint nicht so oft vorzukommen. Schon nervig, dass er so seltsam ist.»

Erschrocken über ihr reges Mitteilungsbedürfnis stoppte Lea und starrte auf ihre Füße. Es war ihr nun auf einmal doch peinlich, vor ihrem Mitschüler, den sie kaum kannte, diese Familienprobleme auszubreiten. So mitteilungsbedürftig kannte sie sich sonst nicht. Warum war sie bei Lukas so vertrauensselig? Es hatte ihr gerade noch gefehlt, wenn dieser Junge seinen Freunden alles brühwarm weiter erzählte. Wie peinlich wäre das denn? Sie nahm sich fest vor, künftig etwas zurückhaltender zu sein.

Lukas dagegen genoss das vertraute Gespräch mit Lea. Es hörte sich aufregend an, was mit Paul los war. Er war voller Neugier und wollte das herausfinden. Anscheinend mochte sie ihn, sonst würde sie ihm nicht so viel über ihre sonderbare Familie erzählen. Er nahm sich vor, rücksichtsvoll mit ihr umzugehen. Was er, wenn er nachdachte, mit anderen Mädchen nicht immer tat. Lea schwieg weiter und Lukas fand diese plötzliche Stille nicht einmal unangenehm. Trotzdem überlegte er, wie er die unterbrochene Unterhaltung wieder aufnehmen könnte. So vor sich hin schweigen, war nicht seine Sache. Sollte er von sich zu Hause erzählen? Warum nicht? Auch seine Probleme? Dieses Mädchen war es wert:

«Bei mir daheim läuft auch nicht alles glatt. Meine Eltern sind beide Lehrer. Kannst dir vorstellen, was das für mich bedeutet. Ich soll rund um die Uhr funktionieren. Das kann ich aber nicht. Meine jüngere Schwester eher. Die ist meistens zu Hause und lernt regelmäßig für die Schule. Sie ist natürlich der Augenstern meiner Eltern. Ich bin lieber mit Freunden zusammen und mache zum Ärger meiner Eltern nur das Nötigste für den Unterricht. Ich bin der Ansicht, solange ich passable Noten heimbringe, passt es für mich. Mir sind Freunde einfach wichtiger, als zu Hause bei den Eltern rumzusitzen, um darauf zu warten, was ich als Nächstes machen sollte oder zu erfahren, dass der Nachbar sich schon wieder über mich ausgelassen hatte, ob mein Umgang in letzter Zeit das Richtige sei.»

Lea atmete tief durch. Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Wenn dieser Junge von sich so viel preisgab, plauderte er auch nicht aus, was sie ihm vorher anvertraut hatte. Bahnte sich hier etwa eine neue Freundschaft an? Lukas fuhr fort:

«Hat denn dein Bruder keine Freunde, mit denen er abhängt? Ohne einen Kumpel und nur auf dem Sofa rumzuliegen ist auf Dauer doch auch langweilig.»

«Das ist ja das Problem. Er ist immer alleine, soweit ich das mitbekomme. Früher, so mit neun Jahren, hatte er einen Freund. Mit dem hat er seine ganze Zeit verbracht. Wenn der Freund bei uns zu Hause war, schafften es auch keine zehn Pferde, Paul aus dem Haus zu bringen. Seit wir hierher gezogen sind, hat er keinen Freund mehr. Mir ist auf jeden Fall keiner bekannt.»

Mitten in ihr Gespräch läutete schrill die Schulglocke, die das Ende der großen Pause ankündigte. Lea und Lukas verabredeten, sich am nächsten Tag mittags in der Eisdiele in Sonthofen wieder zu treffen. Vielleicht konnte Lea ihren Bruder überreden, mitzukommen, falls er überhaupt zu Hause in Burgberg aufkreuzte. Lukas war begeistert. Er wollte Paul unbedingt kennenlernen. Auf dem Weg ins Klassenzimmer flüsterte ihm Lea noch ins Ohr:

«Falls Paul mitkommt, verhalte dich bitte ganz passiv. Keine Berührungen und am besten, du sprichst ihn erst gar nicht an. Wenn er nichts gegen dich hat, merkst du das daran, dass er dich nicht ablehnt, dass ihn deine Anwesenheit nicht stört. Das ist etwas schwierig, am Anfang jedenfalls. Später merkt man das gleich. Halte Abstand, komm ihm auf keinen Fall zu nahe.»

Lukas nickte und begab sich auf den Weg zu seinem Platz im Klassenzimmer. Konzentrieren konnte er sich auf den Unterricht heute nicht mehr. Seine Gedanken kreisten nur noch um Leas Bruder.

Die Eisdiele war das zweite Zuhause von Lukas. Hier verabredete er sich mit seinen Eroberungen oder seinen Freunden. Dieser Ort gab ihm Sicherheit. Jeder Tisch und jeder Stuhl hatte seine eigene Geschichte für ihn. Er freute sich auf das Zusammentreffen mit Paul, aber gleichzeitig spürte er ein leichtes Unbehagen in der Magengegend. Bei einem Treffen mit einem begehrten Mädchen hätte er das ja noch verstanden, aber bei einem Jungen leuchtete ihm das absolut nicht ein. Mitten in seinen Überlegungen entdeckte er Lea, wie sie auf seinen Tisch zusteuerte. Alleine. Ohne Bruder. Sicher hatte der keine Lust verspürt, mit seiner Schwester in ein Eiscafé zu gehen.

«Ganz alleine, ohne Bruder?»

Lea merkte sofort die Enttäuschung in den Worten von Lukas und beschwichtigte ihn:

«Ich denke, dass Paul noch kommt. Gesagt hab ich es ihm auf jeden Fall. Du wirst dich daran gewöhnen müssen, dass er immer nur das macht, was ihm gerade passt. Ich bin zuversichtlich, dass er bald auf der Bildfläche erscheint. Meistens dann, wenn keiner mehr mit ihm rechnet. So ist er halt, der Paul. Wir können uns ja schon einmal eine Kugel Eis holen, du magst doch Eis?»

«Klar! Ich bring dir eins mit. Lade dich ein. Was ist deine Lieblingssorte?»

«Schokolade!»

Als Lukas an der Theke die Eistüten in Empfang nahm, beobachtete er einen eher schmächtigen Jungen in seinem Alter, der auf den Tisch von Lea zusteuerte. Ohne Begrüßung, wie ein Fremder, setzte er sich auf einen freien Stuhl und blickte zur Eistheke. Lukas ging auf seinem Rückweg in Gedanken nochmals die Empfehlungen durch, wie er sich Paul gegenüber verhalten sollte. Am Tisch angekommen, reichte er Lea die Eiswaffel. Dann setzte er sich wortlos neben sie auf seinen Stuhl.

«Dank dir, Lukas. Das hier ist übrigens Paul».

Sie drehte dabei nur kurz ihren Kopf in Richtung des Zwillingsbruders.

«Paul, das ist mein Schulfreund Lukas.»

Nach dieser kurzen Vorstellung beachtete sie ihren Bruder nicht weiter, keine Begrüßung. Sie verhielt sich ihm gegenüber wie zu einem Fremden. Niemand hätte auf die Idee kommen können, dass sie Geschwister, erst recht nicht Zwillinge waren.

Lukas war verwirrt. So sehr, dass er vergaß, seine Eiskugel abzuschlecken. Dass dabei sein Hemd sich rot vom Erdbeereis färbte, registrierte er erst, als Lea ihn ansprach:

«Pass auf, Lukas, du bekleckerst dein T-Shirt.»

Hastig schleckte er das tropfende Eis ab. Dann stand er auf und begab sich in Richtung der Eistheke, um mit einem feuchten Tuch den Schaden in Grenzen zu halten. Als er etwas linkisch an seinem Hemd herumhantierte, bemerkte er, wie Paul direkt auf ihn zukam. Doch er beachtete ihn nicht, sondern steuerte die verschiedenen Eistöpfe der Kühltheke an. Als die Eisverkäuferin ihn fragte, welche Eissorte er wünschte, reagierte er nicht. Dann, nachdem er einige Male die Theke auf und abgegangen war, deutete er auf das Schokoladeneis. Zwillinge, dachte Lukas sofort. Danach kehrten beide zum Tisch zurück, nicht zusammen, sondern in gebührendem Abstand.

Die Unterhaltung zwischen Lea und Lukas kam nicht so richtig in die Gänge. Lukas schielte permanent zu Paul, um irgendeine Regung von ihm zu erhaschen. Lea kam sich dabei irgendwie überflüssig vor. Nachdem Paul sein Eis verspeist hatte, stand er plötzlich auf, nickte Lukas im Vorbeigehen wie beiläufig zu und verschwand durch die Glastür der Eisdiele. Nicht nur Lukas, auch Lea war verwundert, dass Paul ihn mit einem Mal beachtet hatte. Auch sie hatte die Reaktion ihres Bruders auf Lukas nach so dieser kurzen Zeit des Beisammenseins nicht erwartet. Sie bemerkte sofort, dass Lukas die Geste ihres Bruders nicht verstanden hatte, und flüsterte ihm zu:

«Paul will, dass du ihm folgst. Mach schnell, bevor du ihn aus den Augen verlierst. Es ist ein gutes Zeichen, dass er dich so schnell akzeptiert. Er sieht dich nun als Freund. Du kannst jetzt mit ihm ganz normal sprechen. Wenn er etwas von dir will, macht er Zeichen. Musst halt aufpassen, damit du sie auch mitbekommst. Wenns wichtig ist, schreibt er dir eine kurze Notiz auf einen Zettel. Jetzt ab mit dir! Sonst holst du ihn nicht mehr ein. Mein Bruder hat eine unheimliche Kondition. Ich habe immer das Gefühl, als wäre er ständig auf der Flucht.»

Dieser Tag mit Paul blieb Lukas noch lange im Gedächtnis. Er war sich recht dämlich vorgekommen, als er Leas Bruder hinterhergetrottet war. Wortlos. Sehr ungewöhnlich für den jungen Burschen, dessen Markenzeichen in der Schule war, ohne Punkt und Komma seine Mitschüler zu beschwatzen. Die gaben selten Widerpart, was Lukas wiederum erfreute. Er war der uneingeschränkte Macher.

Bereits nach kurzer Zeit kam seine fehlende Kondition zum Vorschein, er konnte dem flotten Schritt von Paul kaum mehr folgen. Dass er ihn später, als es auf die Berge zuging, bitten musste, doch etwas langsamer zu laufen, wurmte ihn gewaltig. Lukas war es gewohnt, den Takt anzugeben und nicht anderen nachzurennen. Er machte sich bereits Gedanken, ohne Erklärung Paul gegenüber umzukehren und das Experiment Paul, wie er es insgeheim für sich nannte, frühzeitig zu beenden. Aber schon beim Gedanken daran regte sich in ihm heftigster Widerstand, bereits am Anfang aufzugeben. Das vertrug sich nicht mit seinem Ego. So blieb ihm nichts anderes übrig als mächtig schwitzend hinter Paul den Berg hinaufzustapfen. Er wollte sich gar nicht ausmalen, wie anstrengend es in der prallen Sonne gewesen wäre. Jetzt, im kühlenden Schatten der Fichtenwälder, war es ihm schon heiß genug. Das alles konnte er nur ertragen, weil er die Welt des Autisten näher kennenlernen wollte.

Fast beklemmend empfand er es, als Paul plötzlich vom befestigten Weg abbog und sich rechts in den dichten Wald schlug. Er schien nicht darauf zu achten, ob Lukas hinter ihm war und ob er ihm überhaupt noch folgen konnte. Lukas musste über bemooste und entwurzelte Stämme klettern, kleine Gräben überspringen und sich in dicht gewachsenen Fichtenschonungen zwischen dürren Zweigen hindurchkämpfen. Dabei schlug ihm der eine oder andere Ast schmerzhaft ins Gesicht. Den Gedanken, warum er sich wegen eines ihm nahezu fremden Jungen sich so abmühte, konnte er nicht abschütteln. Dass er wegen Lea diese Tortur auf sich nahm, verwarf er sofort. So besonders fand er sie auch nicht. Sicher, er empfand das Mädchen anziehend, aber er vermisste das elektrisierende Gefühl bei ihr.

«Autsch»

Erneut traf ihn ein Fichtenzweig im Gesicht und riss ihn aus seinen Gedanken. Er nahm sich fest vor, von nun an mehr auf den Weg zu schauen. Das war nicht einfach bei dem Tempo, das Paul weiterhin anschlug. Er schrie ihn an:

«Hast du einen Vogel? Was wird das jetzt, musst du die Bahn kriegen? Wenn du weiter so hetzt, kannst du mich den Rest tragen.»

Von Paul kam keine Reaktion. Er rannte weiter, als wäre er nie angesprochen worden. Dann endlich waren sie am Ziel. Eine alte, halb eingestürzte Hütte auf einer Lichtung, von Wacholder und Brennnesseln umwuchert, schien das Refugium von Paul zu sein. Das hatte er nicht erwartet. War es ein Signal für Vertrauen, dass er an diesen Ort mitgenommen wurde? Für Lukas fühlte es sich eher wie eine Prüfung an, ob er das Vertrauens wert und den Ansprüchen von Paul gewachsen war? Paul schien das Heft des Handelns weiterhin in der Hand zu behalten. Er bestimmte, wie er mit Lukas, dem Großmaul, umging.

Das war also Pauls Rückzugsort, von dem Lea gesprochen hatte. Dieser Ort schützte ihn vor den Anfeindungen seiner Mitmenschen. Er musste sich niemandem erklären. Keiner konnte ihm zu nahe kommen, wenn er es nicht wollte. Hier musste er keine Anweisungen und Belästigungen befürchten. Hier war er sein eigener Herr. Dieser Ort war sein Reich.

Auch für Lukas gab es keine Ausnahme. Er musste nun nach der Pfeife von Paul tanzen. Hoffentlich konnte sich Lukas soweit zurücknehmen. Er musste es versuchen. Er war selbst neugierig, wie weit er mit seinem Experiment vorankam. Oder musste er befürchten, selber Teil von ihm zu werden. Unabhängig davon, hier herrschte Ruhe. Geräusche lieferte einzig die Natur.

Lukas fand sich in dieser Umgebung nicht wohl, er fühlte eher Unbehagen. Zuerst dieser düstere Wald, der ihn an einen Urwald erinnerte, dann dieses nahezu undurchdringliche Gestrüpp auf dieser Waldlichtung. Wie konnte sich ein Mensch hier nur wohlfühlen und freiwillig seine gesamte freie Zeit verbringen? Es musste an seinem Autismus liegen, dass dieser Ort Paul hier mit Leib und Seele anzog. Was sollte es sonst sein? War es diese Stille? Er suchte ja auch nach einem friedlichen Ort ohne Gezänk. Aber dies hier war schon eine Schippe zu viel der Einsamkeit. Er würde es noch erfahren.

Paul ging nicht in die Hütte. Ein Bretterverschlag, der an sie angebaut war, wurde sein Ziel. Er öffnete eine notdürftig mit alten Latten zusammengenagelte Tür und verschwand im Inneren. Voller Neugier folgte ihm Lukas. Was ihn hier erwartete, übertraf alle seine kühnsten Vorstellungen.

«Hier stinkt`s ja schlimmer als am Scheißhaus auf der Alm. Wenn du da noch einen fahren lässt, ist das wie Frischluft. Allmächtiger, wie hältst du das bloß aus? Lang bleib ich nicht in diesem Kabuff!»

Paul schien davon nicht berührt zu sein. Von ihm kam keine Reaktion. Lukas erkannte im schummrigen Licht einige Tiere, die in dem fürchterlichen Bretterverschlag gefangen gehalten wurden. Zwei Vögel krächzten um die Wette, wobei der Größere von beiden am Flügel verletzt in seinem Gefängnis herumhopste. In einer Holzkiste daneben warteten Dutzende verschiedene Käfer darauf, von den Vögeln verspeist zu werden. Damit sie nicht flüchten konnten, war die Kiste mit einem dichten Drahtgeflecht akribisch verschlossen. In der Ecke hatte Paul einen kleinen Verschlag mit dünnen Fichtenstämmen gebaut, in dem ein junges Rehkitz apathisch in der Ecke kauerte. Bei genauerem Betrachten fiel auf, dass es nur noch drei Beine besaß.

«Was ist denn mit dem Kitz passiert? Das hat ja nur noch drei Beine. War das der Fuchs oder ist das Reh in eine Falle geraten?»

Paul zuckte teilnahmslos mit den Schultern, ohne die Fütterung der Tiere zu unterbrechen. Lukas überwand sich schließlich, weiter ins Innere vorzudringen. Er entdeckte einen Käfig mit Mäusen, die sich bei seinem Erscheinen flugs in die Ecke ihres Gefängnisses unter einem Heuhaufen verkrochen. Was Paul mit ihnen vorhatte, ahnte er. Wahrscheinlich waren sie die Nahrung für ein Wildtier, das er aber erst noch fangen musste.

Lukas schwitzte. Sein Hemd klebte an seinem Körper. Er fand das alles unerträglich. Er machte kehrt und stürmte ins Freie. Aus der Entfernung betrachtete er Paul durch die offene Türe, wie er sich um seine gefangenen Tiere kümmerte. Sie schienen keine Angst vor ihm zu haben. Unaufgeregt, fast in Zeitlupe berührte er sie. Ohne jede Aufgeregtheit griff er in eine Holzkiste und fütterte seine Vögel mit den Käfern. Dem Rehkitz streckte er mit der flachen Hand Blätter von Himbeer- und Brombeersträuchern entgegen, die das Tier überraschend für Lukas ohne Scheu gierig ableckte. Mit dem Abstand zu dem Verschlag verringerte sich auch sein Ekel. Er erkannte, dass Paul hier seine Erfüllung gefunden hatte. Er war beschäftigt, ohne sich mit irgendjemandem unterhalten zu müssen. Alles geschah nach seinem Willen und er musste sich niemandem unterordnen. Auch keinem Vorgesetzten Rechenschaft ablegen. Erstaunlicherweise gewährte er Lukas Einblick in sein eigenartiges Leben. Könnte die Freundschaft mit seiner Schwester Lea der Grund dafür sein?

Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, erschien Paul mit einem alten, verbeulten Eimer und stapfte ein paar Meter den Berg hinauf. Er machte mit einem Mal Halt und füllte ihn mit Wasser aus einem winzigen Rinnsal, das er hier entdeckt hatte. Damit versorgte er seine gefangenen Tiere. Hier fand er auch den Klee, die Waldblumen, die junge Fichten- und Buchenzweige sowie viele Himbeer- und Brombeerblätter, die er für die Nahrung seiner Tiere benötigte. Nachdem er seine Tiere getränkt und gefüttert hatte, begab er sich zur Hütte und verschwand darin. Auch jetzt nahm er keinerlei Notiz von seinem neuen Begleiter. Lukas folgte ihm unaufgefordert, er wollte unbedingt wissen, welche Überraschung noch auf ihn wartete.

Er war verblüfft. An den Wänden der alten Holzhütte hing ein halbes Dutzend Allgäuer Masken. Eine war wilder als die andere. Lukas wähnte sich in einem wahren Gruselkabinett. Ihm lief es eiskalt den Rücken herunter. Diese Masken zeigten furchterregenden Grimassen. Eine davon fiel mit einer überproportional großen Hakennase auf. Dazu streckte die Maske ihre überlange Zunge aus dem gruseligen Maul. Die wild funkelnden Glasaugen, die aus demMaskengesicht herauszufallen drohten, ließen die gewaltigen, spitz zulaufenden Ohren gar nicht mehr so unheimlich erscheinen. Unterhalb dieser Larven, wie sie im Allgäu genannt wurden, befanden sich verschiedene Schnitzmesser, die penibel in einer Linie auf einem wackeligen Tisch aus Fichtenholz aufgereiht waren. Seine Sprachlosigkeit hielt nicht lange an:

«Wow, wo hast du denn diese Masken her? Die hast du doch nicht selbst geschnitzt?»

Paul nickte ganz aufgeregt mit dem Kopf und pochte mit der rechten Faust gegen seine Brust. Dabei errötete er unmerklich.

«Wo hast du denn das gelernt. So was kann man ja nicht aus dem Handgelenk heraus schnitzen. Diese Schnitzmesser haben sicher ein Vermögen gekostet. Hast du im Lotto gewonnen? Oder alles geklaut? Das gibt es doch gar nicht!»

Paul stand so abrupt auf, dass sogar der Hocker umfiel. Er verharrte erstarrt vor Lukas und stierte an ihm vorbei ins Leere. Seine Gesichtszüge mutierten zu einer Maske. Ähnlich einer, die er selbst geschnitzt hatte.

Lukas dagegen stand sprachlos vor Paul. Hatte er ihn beleidigt? Hatte er es ihm übel genommen, dass er ihn des Diebstahls bezichtigt hatte. Aber das war doch nur so dahergesagt und nicht ernst gemeint. Nach einer Weile hatte sich Lukas wieder im Griff. Er versuchte, Paul zu besänftigen:

«Das war doch nicht so gemeint. Stell dich nicht so an und spiele die beleidigte Leberwurst. Verstehst du den überhaupt keinen Spaß?»

Die Reaktion war heftig und nicht vorhersehbar. Paul trat mit seinem Fuß gegen die halb geöffnete Tür. Er beruhigte sich nicht. Immer wieder donnerte er dagegen. Dann herrschte beängstigende Ruhe. Beide Burschen standen sich wortlos gegenüber. Paul blickte erneut an seinem Freund vorbei durch das Fenster in den Wald. Lukas schaute fest in dessen Augen, um irgendeine Regung in ihnen abzulesen. Plötzlich entspannte sich die Miene von Paul, das Maskenhafte verschwand. Er verließ die Hütte. Ohne sich umzudrehen, winkte er an Lukas gewandt, ihm hinterherzukommen. Der war sichtlich von dieser Reaktion überrumpelt und gespannt, was jetzt wohl folgen würde. Fragen war ganz sicher zwecklos, er würde eh keine Antwort bekommen.

Und so trottete er hinter Paul her, darauf achtend, nicht über Wurzeln oder morsche Äste zu stolpern. Paul würde nach diesem Theater in der Hütte sicher nicht auf ihn warten, sollte er stürzen und sich verletzen. So gut glaubte er sein neuen Freund einschätzen zu können. Aber dieser Kontrast beschäftigte ihn. Vor ein paar Minuten der Wutanfall und die starre Mimik, davor diese liebevolle Hingabe zu seinen Tieren und seine entspannten Gesichtszüge. Anscheinend kam er mit Tieren besser zurecht als mit Menschen. Aber was könnte der Grund dafür sein? Waren die Reaktionen von Tieren vorhersehbarer, übersichtlicher? War der Mensch in seinem Verhalten zu kompliziert für Paul? Wenn das zuträfe, würde dies sein unerklärliches Benehmen in ein anderes Licht rücken.

Als sie wieder den Forstweg erreichten, war Lukas erleichtert. Nun konnte er Paul problemloser folgen. Dafür war die Einsamkeit dahin. Ihnen begegneten jetzt Wanderer, die von den Wasserfällen kamen, die oberhalb von Pauls Hütte lagen. Lukas erwiderte die zahlreichen «Servus» und «Grüß Gott» mit einem Schmunzeln. Paul dagegen ignorierte die Wanderer, die sie überholten. Lukas bekam danach die enttäuschten und empörten Reaktionen zu hören. «So ein Stoffel» war noch eine von den harmloseren Kommentaren. Lukas fand es unterhaltsam, zu beobachten, wer ihnen da begegnete: Es fehlte weder das japanische Pärchen in Lederhose, Dirndl und zünftigem Filzhut noch der norddeutsche Wanderer in Bundhose, Wanderstock und getupftem roten Halstuch, der ununterbrochen redete.

Als sie das Tal erreicht hatten, blieb Paul abrupt vor einem unscheinbaren Bauernhaus stehen und deutete darauf. Lukas schloss zu ihm auf und entdeckte eine beachtliche Anzahl an Masken am Eingang, die denen seines Freundes auffällig glichen. Er ahnte sofort, warum ihn Paul hierher geführt hatte. Kaum betraten sie den Hof, kam ein alter, aber noch rüstiger Allgäuer auf sie zu. Er war nicht groß und machte einen wachen, lebensfrohen Eindruck. Sein gebräuntes, tief zerfurchtes Gesicht beeindruckte Lukas sofort.

«Das ist ja eine Überraschung Paul! Hast einen Freund mitgebracht?»

Da von Paul keine Antwort zu erwarten war, antwortete Lukas an dessen Stelle dem Maskenschnitzer:

«Ich bin der Lukas. Ich habe heute die Masken bei Paul gesehen und da war ich neugierig, wo er dieses Schnitzen gelernt hat. Zudem wollte mich unser junger Riemenschneider mal mit seinem Meister bekannt machen.»

Der Alte lächelte in sich hinein und klopfte Paul dabei auf die Schultern. Dieser drehte sich erschrocken ab und stand dann wie angewurzelt am Zaun. Der Alte mochte Paul, das spürte Lukas. Nur hatte er vergessen, wie empfindlich sein Schützling auf Berührungen reagierte. Er begutachtete Lukas und murmelte kaum hörbar, mehr zu sich selbst:

«Ja, ja, das ist ein Guter.»

Zu mehr ließ sich der alte Holzschnitzer nicht hinreißen. Als Lukas ihn genauer anschaute, konnte er in seinen Augen ein Leuchten erkennen. Dieses tief gebräunte, zerfurchte Gesicht drückte Stolz aus. Für seine Verhältnisse war dieser einzige, kurze Satz bereits das höchste Lob, zu dem er fähig war. Lukas war klar, dass er nicht mehr über die Geschichte der beiden erfahren würde. Er wollte sich gerade verabschieden, als der Alte die jungen Burschen wie beiläufig anknurrte:

«Schnaps?»

Paul wandte sich abrupt ab. Lukas dagegen nahm die Einladung, ohne lange zu überlegen, gerne an:

«Da sag ich nicht nein. Vielen Dank!»

Der Holzschnitzer hatte eine Flasche Obstler und zwei Stamperl in Griffweite am Fensterrahmen stehen. Die Gläser waren alles andere als sauber und sicher schon des Öfteren in Gebrauch, ohne gesäubert worden zu sein. Der Alte war wohl der Meinung, dass der Alkohol seine Schnapsgläser schon desinfizieren würde und eine Säuberung nach jedem Gebrauch unnötig wäre. War er vorher etwas bedächtig in seinen Bewegungen, jetzt hatte er es eilig, beide Gläser mit dem Obstler zu füllen und eines an Lukas weiterzureichen. Angesichts der schmutzigen Gläser war es Lukas schon etwas mulmig zumute. Bevor er das Glas zum Mund führte, frotzelte er, halb zu sich, halb zu dem Holzschnitzer:

«Das Glas hat schon lange kein Wasser mehr gesehen.»

Der Alte lächelte müde und erwiderte dem jungen, aufmüpfigen Burschen:

«Wasser desinfiziert auch nicht! Merk dir das für Dein späteres Leben.»

Mit der Ruhe eines gestandenen Allgäuers nahm er sein Glas und leerte es in einem Zug. Es blieb nicht das einzige Glas.

Dieses Schnapstrinken hätte ein böses Ende nehmen können. Zum Glück begann es zu dämmern. So verabschiedeten sich die beiden Freunde rechtzeitig von dem Holzschnitzer. Der konnte es sich nicht verkneifen, Lukas hinterherzurufen:

«Vergiss nicht, Schnaps desinfiziert, Wasser nicht!»

Auf dem Heimweg betrachtete Lukas Paul, wie er neben ihm daher trottete. Bis auf das abrupte Zurückweichen bei der Begrüßung durch den alten Maskenschnitzer hatte er die ganze Zeit keine Regung gezeigt. Dabei war er doch freundschaftlich mit ihm verbunden. Aber war eine Freundschaft mit Paul überhaupt möglich?

Lukas wollte es versuchen und war sich sicher, es zu schaffen. Dieses Anderssein zeigte bei ihm, dem Gesunden, eine enorme Wirkung. Er war beeindruckt. Lea verblasste hinter ihrem Bruder. Mit ihr kam er nur noch in Kontakt, wenn es sich um Belange von Paul handelte. Ihr schien das nichts auszumachen. Trafen sie sich doch einmal, begegnete sie ihm ausgesprochen freundschaftlich.

Dann erfuhr Lukas von ihr, dass Paul damals in einer Behinderteneinrichtung etwas Lesen und Schreiben gelernt hatte. Zu Hause bemühte er sich dann unermüdlich, die erworbenen Kenntnisse weiter zu vertiefen. Er war ein fleißiger Junge. Zuletzt las er sogar Bücher und schrieb für ihn Wichtiges auf Notizblätter, die er immer bei sich trug. Bei seiner Mutter und seiner Schwester fühlte er sich sicher und geborgen. Wäre da nicht der Vater gewesen. Mit ihm gab es andauernd Streitereien. Von klein an bezog er Prügel, oft täglich, weil er sich seinem jähzornigen Vater nicht unterordnen wollte. Für diesen Tyrannen war es einfach nicht akzeptabel, dass sein eigenes Fleisch und Blut andersartig war. Er schämte sich zutiefst für diesen Makel und ließ seine Frustration an seinem Sohn aus. Lea konnte sich nicht daran erinnern, dass ein Tag vergangen war, an dem sie ihren Bruder ohne blaue Flecken erlebt hätte.

Diese schwer zu ertragenden Erniedrigungen vom Vater, der zum Glück nicht mehr bei der Familie wohnte, hatten Paul damals sehr zugesetzt und ihn jetzt, lange Zeit danach, in die Wälder, in die Einsamkeit getrieben. Hier war er sicher vor seinen Schlägen und Demütigungen. Dafür waren nun die Tiere seine Gefährten. Ihnen schenkte er jetzt seine Zuneigung. Es offenbarte sich aber auch noch eine andere Seite von ihm. Er zeigte seinen Tieren, dass in seinem Reich er der Herr war und er jetzt Gewalt über sie besaß.

Und keiner verlangte hier von ihm, dass er sprach. Niemand forderte ihn auf, sich zu rechtfertigen. Nicht einer beschimpfte ihn. Er fand hier Ruhe, die er zeit seines noch jungen Lebens immer gesucht hatte. Lea meinte, dass er hier auf dem besten Weg zu einem unbeschwerten Dasein sei, fügte aber gleich an, dass man das bei Paul nie wirklich wisse.

Paul und Lukas trotteten gerade am Friedhof in Sonthofen vorbei, als Paul unvermittelt abbog und Lukas zuwinkte, ihm zu folgen. In der entlegensten Ecke, hinter dem Denkmal der Opfer der Fliegerangriffe, machte er Halt und zeigte auf einen Mauerspalt. Danach setzt er sich auf eine Bank, die sich gegenüber befand, und beschrieb ein Blatt Papier:

«Für dich. Unser Briefkasten. Geheim. Erste Nachricht: Treffen in der Waldhütte in 2 Tagen am Nachmittag.»

Diese Aktion hatte Lukas nicht erwartet:

«Das ist eine ausgezeichnete Idee. Das geht klar. Es kann bei mir später werden, wir haben Sport am Nachmittag. Bis ich dann geduscht habe, dauert es noch etwas. Aber ich beeile mich.»

Paul nickte und zeigte sich zufrieden. Ohne Abschiedsgruß trottete er nach Hause.

Lukas fieberte ungeduldig dem Treffen in der Waldhütte entgegen. Er war voller Neugier. Was Paul wohl vorhatte? Auf dem Zettel hatte er nur das Notwendigste vermerkt. Das war nachvollziehbar. Er konnte ja nicht jedes Mal einen halben Roman schreiben, nur um eine kurze Nachricht zu übermitteln.

In der Schule war der Sportunterricht ausgefallen. Deshalb machte Lukas sich früher als vereinbart bereits zur Mittagszeit auf den Weg zu ihrem Treffpunkt. Wohl war ihm nicht dabei. Hatte er sich doch zu einem späteren Zeitpunkt angekündigt und Pünktlichkeit war für ihn ganz wichtig. Um Paul nicht zu erschrecken, näherte er sich unauffällig der Waldhütte.

Er wollte zuerst nicht glauben, was er sah: Vor der Hütte stand Paul einfach nur da, regungslos mit verschränkten Armen. Er war nicht allein. Vor ihm stand im Abstand von vielleicht zwei Meter ein Mädchen mit langen, schwarzen Haaren, bildhübsch wie Lukas registrierte. Sie war höchstens 16 Jahre alt. Er war sofort von ihr eingenommen. So stellte er sich seine Traumfrau vor.

Aber was ging da vor sich. Wie kam Paul zu solch einer Bekanntschaft. Wie konnte er ein Mädchen kennenlernen, wenn er sich nicht in Kneipen und bei den bekannten Treffs sehen ließ? Hier in den Wald verirrte sich doch kein Mädchen. Freiwillig schon gar nicht. Er schüttelte ratlos den Kopf.

Keiner von beiden vor der Hütte sprach ein Wort. Es war aus der Ferne nur das Rufen eines Kuckucks zu vernehmen und ein paar Mücken surrten. Sonst herrschte Totenstille. Das Mädchen, das bisher ebenso regungslos dagestanden hatte, begann plötzlich, unaufgeregt und mit ruhiger Hand, die Knöpfe ihre Bluse zu öffnen. Ganz bedächtig. Wie in Zeitlupe. Sie schien keine Eile zu haben und blickte dabei Paul direkt in die Augen. Beide waren völlig entspannt. Dafür pochte bei Lukas das Herz bis zum Hals. Das Mädchen öffnete auch noch den letzten Knopf ihres weißen Hemds und gab Paul den Blick auf ihre kleinen Brüste frei. Achtlos ließ sie die Bluse auf den Waldboden gleiten. Auch jetzt zeigte Paul immer noch keine Reaktion. Er machte keine Anstalten, das mit bloßem Oberkörper dastehende Mädchen zu berühren. Lukas konnte diese Zurschaustellung der Brüste und dieses emotionslose Gegenüberstehen nicht begreifen. Er war verwirrt. Er würde anders handeln und diese Situation ausnützen. Hatte er in seinem Leben etwas verpasst? Was trieb ein so schönes Mädchen dazu, sich so zu verhalten? Noch dazu vor einem jungen Burschen, der sich von den Menschen abkapselte und nicht sprach. Der womöglich gar nicht begriff, was Liebe bedeutet. Auch jetzt kam keine Reaktion von ihm, absolut nichts. Bezahlte er sie am Ende noch für ihre Freizügigkeit. Und berührt hatte er sie auch nicht, Lukas wäre das nicht passiert. Was wollte sie damit erreichen? Wollte sie Gefühle erwecken, die Paul bisher nicht zugelassen hatte? War sie eine von diesen Frauen, die solche Aktionen zur eigenen Selbstbestätigung brauchten? Oder war es nur ein Spiel, das sich die beiden aus lauter Langeweile ausgedacht hatten?

Lukas plante, sich demnächst ausgiebig um dieses Mädchen zu kümmern. Er musste sie einfach näher kennenlernen. Sie strahlte so etwas unheimlich Erotisches aus. Zart und verletzlich und doch selbstbewusst und eigenständig. Und so hübsch! Diese warmen, dunklen Augen, die einen sofort in seinen Bann zogen. Die zerzausten Haare, die ihn an eine kämpfende Amazone erinnerten. Die schlanke Figur, die fast zerbrechlich anmutete. Die wohlgeformten, festen Brüste, die eine frappierende Ähnlichkeit mit der antiken Büste der Venus von Milo besaßen! Lukas spürte deutliche Erregung, die er krampfhaft zu unterdrücken suchte.

Er verstand die Welt nicht mehr. In seinem Kopf ging nun alles durcheinander. Denn das Mädchen hatte nicht nur seine Neugierde geweckt. Er wollte mehr. Dabei kam es Lukas gar nicht in den Sinn, dass Paul ein Rivale für ihn sein könnte. Wie auch, bei diesen zahlreichen Beeinträchtigungen, mit denen er behaftet war. Und dazu war er ohne Schulabschluss.

Aber was würde Paul dann von ihm denken, wenn er ihm dieses Mädchen ausspannte?

Die Unbekannte hob die Bluse wieder vom Boden auf, schlüpfte hinein, knöpfte sie zu und verabschiedete sich mit einem kurzen Winken von Paul. Der stand immer noch wie versteinert vor der Hütte. Bezahlt hatte er auch nicht.

Auf dem Rückweg bemerkte Karla, so hieß das Mädchen, das sich eben so spontan vor Paul entblößt hatte, dass sie ihre Bluse falsch zugeknöpft hatte. Sie versicherte sich, dass sich niemand in der Nähe aufhielt, und brachte die Kleidung wieder in Ordnung.

Lukas wartete noch ein paar Minuten ab, bevor er sich zur Hütte aufmachte. Sollte er Paul auf diese Szene ansprechen? Er entschied sich, darüber zu schweigen. Aber er würde fragen, wer dieses Mädchen war und ob er mit ihr befreundet sei.

Als Paul seinen Freund erblickte, löste sich seine Starre und er verschwand im Inneren seiner Hütte. Eigenartig, dachte sich Lukas. Aber er kannte diese Reaktionen bereits von Leas Erzählungen. Paul war halt anders.

Voller Neugierde betrat er die Hütte und traf einen völlig teilnahmslos an der Werkbank sitzenden Paul. Umrahmt von den selbstgeschnitzten Allgäuer Masken starrte er Lukas an. Man hätte meinen können, er wollte sich seinen Masken angleichen. Schließlich schrieb er auf einen Zettel eine Nachricht, die er seinem Freund reichte:

«Futter für die Tiere!»

Während der Futtersuche herrsche unter den beiden Burschen eine gedrückte Stimmung. Lukas entschloss sich, etwas dagegen zu unternehmen, und sprach Paul an:

«Wo ist dir die heiße Braut zugelaufen, die gerade weggegangen ist. Oder hast du sie im Wald gefunden?»

Paul kramte erneut seinen Zettel hervor und schrieb unwirsch: «Nicht zugelaufen, kein Tier!»

«So war das doch nicht gemeint! Ich wollte nur wissen, wie du zu einem so klasse Mädchen gekommen bist?»

Jetzt zog er aus seiner Hosentasche einen kleinen Schreibblock und notierte aufgeregt: «Beim Schnitzer. Ist Verwandtschaft. Meine Freundin.»

«Gratuliere!»

Paul, der gerade Birkenblätter in seinen Korb füllte, hielt kurz inne und nickte. Dann sammelte er seine Blätter weiter ein.

«Die habe ich noch nie bei dir gesehen. Kennst du sie schon lange?»

Erneut folgte ein kurzes Nicken. Lukas ließ nicht locker:

«Hat sie auch einen Namen?»

Jetzt unterbrach Paul seine Tätigkeit, brach einen dürren Ast ab und schrieb in den feuchten Waldboden:

«Karla»

Danach warf er den Zweig in hohem Bogen in das Brombeergestrüpp, drehte sich abrupt um und machte sich auf den Rückweg zur Hütte.

Mit dieser Reaktion hatte Lukas nicht gerechnet. War er seinem Freund zu nahe gekommen? Was hatte er falsch gemacht? Zu Hause würde er Lea um Rat fragen. Sicher konnte sie ihn aufklären. Paul nachzulaufen, war keine gute Idee. Deshalb machte er sich auf den Heimweg.

Im ging diese Verhaltensweise nicht mehr aus dem Sinn. Vage erinnerte er sich daran, dass Lea ihm erzählt hatte, dass Paul viel Ruhe benötigte, wenn etwas nicht so lief, wie er es sich vorstellte. Dass er dann andere Menschen mied, weil er sie nicht ertragen konnte.

Vielleicht sollte er das alles nicht so wichtig nehmen und beim nächsten Treffen sich verhalten, als wäre nichts gewesen. Laut Aussage von Lea vergaß Paul eh alles recht schnell. Sie hatte auch erwähnt, dass er wegen dieser Vergesslichkeit kaum Freunde besaß. Wer wollte sich schon mit ihm verabreden, wenn er sich an ein Treffen nicht mehr erinnern konnte. Er musste nochmals bei Lea nachfragen, nicht, dass er etwas falsch verstanden hatte. Jetzt ärgerte er sich, dass er das letzte Mal nicht richtig zugehört hatte.

Aber brauchte Paul überhaupt Freunde? Und war er wirklich ein Freund? Oder blieb es bei dem Experiment, auf das sich Lukas eingelassen hatte? Und wer war eigentlich jetzt das Experiment? Paul oder benutzte Paul ihn? Sein Grübeln wollte gar nicht enden und drohte einen misslichen Verlauf zu nehmen. Bis er sich zusammenraffte. «Stop», sagte er sich, «du musst das Heft in der Hand behalten.»

Kapitel 2

Lukas rutschte auf der Parkbank unruhig von einer Seite zur anderen. Er wartete auf Lea, mit der er in der großen Pause ein Treffen für den Nachmittag vereinbart hatte. Anfangs war sie überhaupt nicht begeistert, da sie sich vorgenommen hatte, sich mit einer Freundin in Kempten einen entspannten Tag zu machen und bummeln zu gehen. Als Lukas aber andeutete, dass es um ihren Bruder ging und es wichtig wäre, lenkte sie auf der Stelle ein. Jetzt stand sie ungeduldig vor ihm.