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Immanuel Kant: 300. Geburtstag am 22. April 2024 Die Einführung erschließt Kants monumentale Leistung sowohl biographisch als auch systematisch: Am Leitfaden der vier von Kant herausgestellten Hauptfragen der Philosophie: Was kann ich wissen?,Was soll ich tun?, Was darf ich hoffen? und Was ist der Mensch? wird eine schlüssige Vorstellung von Kants Denken entwickelt. Diskutiert werden auch die globale Aktualität von Kants politischer Theorie unter den Bedingungen eines erneuten europäischen Krieges und das Missverständnis von Kants angeblicher Frauenfeindlichkeit sowie Rassismus-Vorwürfe – eine vollständig überarbeitete, für Schule, Studium und Selbststudium bestens geeignete Einführung in Leben und Werk dieses großen Denkers. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.
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Seitenzahl: 534
Volker Gerhardt
Vernunft und Leben
Reclam
Birgit Recki gewidmet
3., vollständig durchgesehene und ergänzte Ausgabe
RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 962249
2002, 2024 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman
Coverabbildung: Immanuel Kant – Granger – Historical Picture Archive / Alamy Stock Photo
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2024
RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN978-3-15-962249-1
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014228-8
www.reclam.de
Vorwort
Einleitung Wissenschaft und Weltweisheit
1 Programmatik des Philosophierens
2 Ein Leben für das Werk
3 Was kann ich wissen?
4 Was soll ich tun?
5 Was darf ich hoffen?
6 Was ist der Mensch?
Abkürzungen
Literaturhinweise
Kants Schriften
Gesamtdarstellungen
Kants Leben
Vorkritische Philosophie
Theoretische Philosophie
Praktische Philosophie / Ethik
Recht, Politik, Gesellschaft
Philosophische Ästhetik
Religionsphilosophie
Theorie des Lebens / Anthropologie
Naturphilosophie und Opus postumum
Vor- und Wirkungsgeschichte
Weiterführende Literatur
Zum Autor
Es ist niemals zu spät, vernünftig und weise zu werden; es ist aber jederzeit schwerer, wenn die Einsicht spät kommt, sie in Gang zu bringen.
(Kant, 4,256)
Die kritische Philosophie Immanuel Kants ist eine Philosophie der menschlichen Welt. Das Besondere dieser Welt liegt darin, dass sie den Menschen nur unter der Bedingung seiner eigenen Leistung möglich macht. Wenn aber diese Einsicht dem Menschen selbst etwas bedeuten können soll, muss sie auch individuell zurechenbar sein: Jeder sollte in der eigenen Leistung einen Beitrag zur Entwicklung der menschlichen Kultur und damit zur Bedingung seines eigenen Daseins erkennen können.
Trotz seiner Konzentration auf die sachhaltigen philosophischen Fragen kann man Kants philosophisches Werk nicht unabhängig von der persönlichen Disposition dieses Denkers bewerten. Ihm geht es immer auch um die Erörterung der existentiellen Probleme, die sich dem Menschen stellen. Deshalb sind auch die individuellen Konditionen seiner schier unglaublichen Lebensleistung von philosophischem Interesse. Stellt man dies in Rechnung, kommt es zu neuen Einsichten in sein seit Generationen unablässig interpretiertes Werk. Es tritt etwas hervor, für das lange Zeit nur Sokrates zu stehen schien und für das sich erst mit der seit Montaigne, Pascal und Rousseau anbahnenden existentiellen Wende ein grundsätzliches Verständnis eröffnet. Erst wenn man erkennt, dass auch Kant, vor Kierkegaard, Nietzsche und Camus, diese Wende vollzieht, [8]versteht man, warum die dem modernen Wissen so stark verpflichtete kritische Philosophie Kants nie darauf verzichtet hat, eine »Weltweisheit« zu sein.
Der Untertitel des vorliegenden Buches zielt auf den systematischen Zusammenhang von Vernunft und Leben. Hier geht es nicht um einen Gegensatz, wie manche Kantianer meinen, sondern um ein Bedingungsverhältnis, in dem der Mensch überhaupt erst zum Menschen geworden ist. Kant benötigt den Begriff des Lebens, um die Leistungen der Vernunft verständlich zu machen. Und wenn er daran geht, seine umwälzende und bis heute nicht angemessen gewürdigte Theorie des Lebens zu entwickeln, braucht er den Begriff der Vernunft, um dem menschlichen Leben einen Grund in sich selbst zu geben.
Dieser Zusammenhang versteht sich nicht von selbst. Aber mit Blick auf Kant bietet sich die Chance, an seinem Beispiel zu zeigen, wie sich Vernunft und Leben wechselseitig konturieren können. In Kant haben wir einen Denker, der sich in einzigartiger Weise mit den Bedingungen und Leistungen der Vernunft befasst und sich zugleich als Person deren Anspruch unterstellt. Trotz einer denkbar schlechten sozialen Ausgangslage und einer schwachen physischen Konstitution, trotz zahlloser persönlicher Widerstände, schwerer Rückschläge und einer wachsenden Zahl von Gegnern ist es Kant gelungen, seinem Leben ein Werk von monumentaler Größe abzuringen. Er war noch keine 25 Jahre alt, als er sich die Ziele setzte, die er als 60-Jähriger planmäßig zu erreichen schien. Verständlich, dass später der Eindruck entstand, in Kant komme die Vernunft mit solcher Automatik zu sich selbst, dass er es nicht mehr nötig gehabt habe, wirklich zu leben.
[9]Doch man braucht nur zu wissen, dass die kühne Behauptung in der Vorrede zum ersten Buch: »Ich habe mir die Bahn schon vorgezeichnet […]« eine trotzige Behauptung gegen seinen Lehrer ist, der gerade dabei ist, ihm den wissenschaftlichen Weg zu verstellen – und man sieht, wie viel Wagnis und Verwegenheit dieses Leben bestimmt. Kants Biographie ist ein Beispiel dafür, wie sich Vernunft und Leben wechselseitig durchdringen und erst dadurch die singuläre Lebensleitung dieses Denkers möglich machen.
Um die Doppelbindung zwischen Vernunft und Leben zu verstehen, bedarf es tatsächlich der systematischen Doppelperspektive auf das allgemeine Verhältnis von Vernunft und Leben und ihrer besonderen Konstellation im Dasein Immanuel Kants. In ihm haben wir das Exempel eines Menschen, der nicht nur durch seine Theorie, sondern auch durch die ihr entsprechende epistemische, ethische und politische Lebenshaltung überzeugt. Auch im Aufweis der natürlichen und geschichtlichen Bedingungen und Grenzen der menschlichen Vernunft gibt Kant ein Beispiel für das, was sie uns in ihren Einsichten bedeutet.
Selbstbewusste Individualität und ins Werk gesetzte Universalität sind die Elemente der menschlichen Kultur. Erst in ihrer polaren Spannung können die Gestalten des humanen Daseins entstehen. Deren Einheit stammt aus Gegensätzen, die es praktisch immer wieder neu zu überwinden gilt. Auf ihr Verständnis sind meine systematischen Interessen bezogen. Um ihretwillen wende ich mich den historischen Fragen zu.
Im Fall Kants geschieht dies freilich auch mit der Absicht, Rechenschaft darüber abzugeben, wie viel ich für meine [10]systematischen Arbeiten von ihm gelernt habe. Anfang der 1970er Jahre schrieb ich an einem Text, der eigentlich eine Kant-Interpretation werden sollte. Da ich mich aber mehr als 400 Seiten lang im Vorfeld aufhielt und für Kant am Ende nur noch 50 Seiten übrig blieben, musste ich den Anspruch zurücknehmen und sprach im Untertitel lediglich von der Vorbereitung auf eine Interpretation Kants. Nun kann ich das vorlegen, was ich damals unter dem Titel Vernunft und Interesse angekündigt, aber nicht zu Ende gebracht habe. Wenn ich heute von Leben statt, wie damals, von Interesse spreche, sehe ich darin einen Zugewinn in der philosophischen Reichweite der Erkenntnis des naheliegenden Zusammenhangs.
Es bedurfte freilich der Ermahnung, den Vorsatz wirklich auszuführen. Dafür habe ich meiner Frau zu danken. Ohne ihre unbeirrte Erinnerung an ein gegebenes Versprechen wäre das Buch jetzt gewiss nicht geschrieben worden. Ich widme es ihr, obgleich ich dadurch nicht sicherstellen kann, dass sie mir in allem zustimmt.
Mein Dank gilt den Mitarbeitern, die mir bei der Korrektur des Textes geholfen haben, namentlich Jacqueline Karl, Nicole Krull, Reinhard Mehring, Holger Sederström, Jana Swiderski und Héctor Wittwer.
Das vorliegende Buch erschien erstmals 2002 und folgt dem Text der ersten Auflage mit Veränderungen, die vornehmlich der Korrektur von Fehlern und der Verdeutlichung meiner These von der Entsprechung von Vernunft und Leben dienen. Auch bei den Literaturangaben habe ich es bei den Belegen für die Aussagen belassen, die meine gleichermaßen historische wie systematische Analyse stützen. Am Ende folgt eine Auswahl neuerer Schriften, die zur [11]Ergänzung und Überprüfung der mit Blick auf Vernunft und Leben vorgetragenen Überlegungen dienen können.
Im vierten Kapitel habe ich zwischen den Punkten 24 und 25 einen Exkurs eingefügt, der die Aktualität der innovativen politischen Philosophie Immanuel Kants kenntlich machen soll, die er im letzten Jahrzehnt seines Schaffens entwirft. In diesem Zusammenhang erörtere ich auch, was von den politischen Vorwürfen zu halten ist, die in jüngerer Zeit gegen Kant erhoben worden sind.
Hamburg/Berlin, am 21. Juli 2023
Volker Gerhardt
Ein neuer Zugang zu Kant
Ich nenne einen solchen Gelehrten einen Cyclopen. Er ist ein egoist der Wissenschaft, und es ist ihm noch ein Auge nöthig, welches macht, daß er seinen Gegenstand noch aus dem Gesichtspunkte anderer Menschen ansieht. […] Das zweyte Auge ist also das der Selbsterkenntnis der Menschlichen Vernunft.
(Kant, R 903; 15,395)
1. Präsenz im Vorder- und im Hintergrund. Die Philosophie der letzten beiden Jahrhunderte stand im Zeichen Kants. Zwar hat es, innerhalb wie außerhalb der Philosophie, bemerkenswerten Widerstand gegen sein kritisches Philosophieren gegeben. Doch im Abstand von sieben oder acht Generationen wird deutlich, dass eigentlich nur die Romantik eine bleibende Opposition zu erzeugen vermochte. An ihr haben sich die Geister, nicht aber der Geist geschieden, so dass Kant sogar bei seinen romantisch inspirierten Gegnern wie Hegel und Schopenhauer, Emerson und Nietzsche, Dilthey, James oder Heidegger wirksam bleiben konnte. Auch wenn Wissenschaft und Zeitgeist aus verständlichen Gründen immer wieder andere Akzente setzten, so ist Kant dennoch die bestimmende Figur im Hintergrund geblieben. Zur Selbstverständigung über die Gegenwart ist es unerlässlich, ihn immer wieder in den Vordergrund zu rücken.
[14]Die philosophische Präsenz dieses Denkers ist vergleichbar nur mit der Wirkung eines Platon oder Aristoteles, die über Jahrtausende hinweg gegenwärtig geblieben sind. Dabei bleibt Kant Platon im Ansatz und Aristoteles im Verfahren treu. Schon Platons Schüler Aristoteles hatte die Notwendigkeit gesehen, die Einsichten seines Lehrers unter dem – damals neuen – Anspruch der Wissenschaft zu präzisieren. Kants eigener Einsatz ist ganz analog: Obgleich er weiß, wie sehr er dem sokratisch-platonischen Anfang des Philosophierens verpflichtet ist, vollzieht er die kritische Innovation ausdrücklich unter den Bedingungen der neuzeitlichen Wissenschaft. Das kommt in seiner zentralen Frage Wie istMetaphysik als Wissenschaft möglich? zum Ausdruck.
2. Ein Philosoph der Wissenschaft. Der radikal ansetzende Versuch, die Philosophie auf das methodologische Erkenntnisniveau der modernen Wissenschaft zu heben, erklärt die fortdauernde Modernität Immanuel Kants. Sie hat seinem Werk über zwei Jahrhunderte hinweg eine breite Aufmerksamkeit gesichert und ist keineswegs auf die Kantianismen und Neokantianismen beschränkt geblieben. Sie hat unablässig Neugierige aus anderen Schulen angezogen oder erklärte Gegner hervorgebracht. Vor allem durch die Gegnerschaft jener, die ihm, wie Hegel, Schopenhauer und Nietzsche, nahestehen, ist die Wirkung Kants so lebendig geblieben. Auch im Übergang ins 21. Jahrhundert scheint es nicht möglich zu sein, die eigene philosophische Position ohne Rückgriff auf Kant zu beschreiben.
Entsprechend umfangreich ist die Sekundärliteratur. Wer nach einer Deutung der kantischen Schriften sucht, [15]braucht längst eine Schrift über die Deuter.1 Aus der Masse der Publikationen ragen aber noch immer die Gesamtdarstellungen von Kuno Fischer, Karl Vorländer und Ernst Cassirer hervor. Souveränen Zugang zu einzelnen Fragen eröffnen die Arbeiten von Erich Adickes, Paul Menzer, Julius Ebbinghaus, Klaus Reich, Heinz Heimsoeth, Friedrich Kaulbach und Dieter Henrich. Wichtige Impulse haben Hermann Krings, Johannes Schwartländer, Gerold Prauss, Peter Rohs, Wolfgang Bartuschat, Otfried Höffe, Klaus Düsing, Rüdiger Bittner und Wolfgang Kersting gegeben. In jüngerer Zeit sind Eckhard Förster, Marcus Willaschek und Tobias Rosefeldt hinzugekommen. Im englischen Sprachraum wären die Interpretationen von H. J. Paton, Lewis White Beck, Peter f. Strawson, Jonathan Bennett, Susan M. Shell, Henry E. Allison, Michael Friedman, Paul Guyer, Karl Ameriks, Onora O’Neill, Allen Wood und Patricia Kitcher zu nennen; in Frankreich haben George Vlachos, George Lebrun, François Marty, Susanne GonnardFabre und Béatrice Longuenesse wichtige Arbeiten beigesteuert; aus Italien sind die minutiösen Studien von Giorgio Tonelli in bester Erinnerung, der zusammen mit [16]Vittorio Mathieu wesentlich zum Ansehen der italienischen Kant-Philologie beigetragen hat.
3. Ein Gegenstand der Forschung. Die Schwierigkeiten im Vergleich der ersten beiden Auflagen der Kritik der reinen Vernunft, die Probleme mit dem Übergang von der vorkritischen zur kritischen Philosophie sowie die Bemühungen um die Sicherung von Kants Nachlass haben schon im 19. Jahrhundert eine Kant-Philologie entstehen lassen, die in Verbindung mit der noch immer nicht abgeschlossenen Akademie-Ausgabe der Werke Kants zu einem autochthonen Arbeitsfeld geworden ist. Aus der jüngeren Forschung sind Rudolf Malter, Norbert Hinske, Reinhard Brandt, Lothar Kreimendahl und Werner Stark zu nennen. Ohne ihre Ergebnisse wäre die neue Maßstäbe setzende Biographie von Manfred Kuehn nicht möglich gewesen.
Mit einem Wort: Der Philosoph der Wissenschaft, der niemals bloß auf Wissenschaft zielte, ist zum Gegenstand einer eigenen Wissenschaft, der Kant-Forschung, geworden. Von deren Erträgen kann hier bestenfalls nur im Ergebnis die Rede sein. Der Text müsste durchgängig auf hohen Fußnoten stehen, wenn man auch nur die wichtigsten Autoren gebührend berücksichtigen würde. Ich belasse es bei dem Hinweis auf die verlässlichen Einführungen von Ernst Cassirer, Friedrich Kaulbach, Otfried Höffe und – auch hier – Manfred Kuehn. Dessen Biographie kann man durchaus auch als Einführung in Kants Denken lesen.
4. Das Individuum hinter allen Fragen. Wenn im Folgenden ein weiterer Versuch einer Gesamtdarstellung gemacht wird, dann geschieht das in der Hoffnung, der [17]Philosophie Immanuel Kants im Ganzen einige neue Einsichten abzugewinnen. Sie richten sich auf die enge Beziehung zur Tradition (hier vor allem zur Antike), auf die Verbindung zwischen Person und Werk, auf den fließenden Übergang zwischen vorkritischem Entwurf und kritischer Antwort, auf den existentiell-pragmatischen Ausgangspunkt, die tragende und treibende Achse zwischen Anthropologie und Transzendentalphilosophie, den lebensphilosophischen Grundzug, die basale Funktion der alltäglichen Verständigung, die Vereinbarkeit von Kritik und Metaphysik sowie auf die komplementäre Stellung von Glauben und Wissen. Gott steht im Hintergrund aller ernstzunehmenden philosophischen Fragen Immanuel Kants. Daran ändert die kritische Einsicht in die Unmöglichkeit der Gottesbeweise nichts.
Wer diese Einsichten in ihrem Zusammenhang zu fassen sucht und dabei nicht vergisst, nach den Motiven zu fragen, deren Impuls ihnen allererst Bedeutung verleiht, steht an der Schwelle von der Wissenschaft zur Weisheit. Da dieser Übergang nicht anders als individuell sein kann, dürfen wir das Individuum nicht aus dem Auge verlieren, das die schier unglaubliche Energie aufbringt, sich diesen Zusammenhang durch eigene Anstrengung zu erschließen. Nur wenn wir das Denken nicht vom Denkenden trennen, bleibt sein genuin philosophischer Charakter gewahrt. Und nur dann haben wir selbst die Chance, das allgemeine Wissen in einen existentiellen Fundus zu überführen, aus dem sich selbstbestimmt leben lässt.
5. Der personale Kern des philosophischen Wissens. Wer aus Kants Denken eine von der Person abgelöste Lehre [18]macht, kann viel, ja sogar sehr viel lernen. Die Philosophie hat sachliche Bestände, die man wie eine Erkenntnis aus Alltag, Technik oder Wissenschaft aufzeichnen, überprüfen, anwenden und unter Umständen auch weiterentwickeln kann. Ihr Charakter als Wissenschaft hängt daran, dass sie die Objektivität des Wissens kultiviert. Aber, und darin liegt ihr Pathos, sie individualisiert es auch! Wer in der allgemeingültigen Aufklärung über eine Sache, heiße sie nun »Handlung«, »Erkenntnis«, »Wissenschaft«, »Geist«, »Moral« oder »Recht«, bereits alles sieht, was philosophische Einsicht bieten kann, der hat ihren philosophischen Charakter verfehlt. Die Philosophie sucht nach dem Zusammenhang der Phänomene – einschließlich ihres Zusammenhangs mit uns selbst. Ihr geht es sogar vornehmlich um die Beziehung des Wissens zum Träger des Wissens. Die philosophische Erkenntnis hat einen personalen Kern, der unverzichtbar ist. Kant sucht ihn insbesondere im Begriff der Metaphysik zu wahren.
Die Metaphysik konzentriert alle Probleme der Philosophie auf die ausdrückliche Frage nach dem Zusammenhang von Mensch und Welt. Wer glaubt, diese Frage könne veralten, sollte so folgerichtig sein, auch von der Philosophie Abschied zu nehmen.
6. Kein Zurück zu Kant. Der vorliegende Text ist so geschrieben, dass er wie eine Einführung gelesen werden kann. Er soll auch von jenen verstanden werden, die Kant noch nicht aus eigener Lektüre kennen. Gleichwohl ist ein Buch entstanden, das sich nicht ausschließlich an Laien und Anfänger richtet. Die Ausarbeitung erfolgte in ständiger Auseinandersetzung mit vorherrschenden [19]Interpretationen. Deshalb kann es nicht schaden, wenn auch Kant-Kenner und Kant-Gegner den Text zur Kenntnis nehmen. Das gilt insbesondere für jene, die in Verteidigung und Angriff aus Kant einen »Schulphilosophen« zu machen suchen.
Die Kant-Forschung hat wiederholt den Charakter einer Scholastik angenommen. Unter dem Titel des »Neukantianismus« ist daraus zeitweilig sogar ein Programm geworden, das zu folgenreichen Reputationsverlusten führte, so bedeutend einzelne Vertreter auch gewesen sind. Überragend sind die spekulative Kraft Hermann Cohens, das individuelle Gespür Wilhelm Windelbands, der Einfallsreichtum Paul Natorps, der historische Universalismus Ernst Cassirers, die methodologische Beharrlichkeit Heinrich Rickerts oder der Scharfsinn im Werk von Julius Ebbinghaus und Klaus Reich. Die damit verbundenen systematischen Impulse haben Phänomenologie, Anthropologie, Existentialismus und Kritische Theorie stärker geprägt, als den Chronisten bewusst ist. Sie haben aber auch die Aufmerksamkeit für die überlieferten Texte der kritischen Philosophie verstärkt. So konnte sich eine akribische Philologie entfalten, die Kants Werk gesichert und seinen Nachlass weitgehend erschlossen hat.
Doch so wichtig und unverzichtbar die philologische Prüfung der Textgrundlage und die Aufklärung des historischen Umfelds auch sind: Man sollte nicht noch einmal in die Stimmung verfallen, in der sich nach Otto LiebmannsKant und die Epigonen (1865) die Aufforderung Zurück zu Kant! verbreiten konnte. Der immer gebotene und immer richtige Einsatz für die Vernunft hat emphatisch von der Gegenwart auszugehen; er schwächt sich selbst, wenn er sich aus der Tradition motiviert, so unverzichtbar sie auch [20]ist. Kant hat von seinen großen Vorläufern, heißen sie nun Platon, Aristoteles, Cicero oder Seneca, Newton, Leibniz, Hume oder Rousseau, wenig Aufhebens gemacht, auch wenn sie ihm ständig gegenwärtig waren. Und als er sich die Frage stellte, welches Zeitalter in der Geschichte der Menschen wohl das wichtigste sei, zögerte er keinen Augenblick, »das gegenwärtige« zu nennen.
7. Denken im Gegensatz. In Schulen lassen sich Traditionen pflegen und grundlegende Kenntnisse vermitteln; folglich sind sie für die Kultivierung des Denkens unerlässlich. Aber das Philosophieren als selbständiges Denken aus eigenständigerExistenz bricht schon im Ansatz mit dem Reglement. Produktiv wird es erst, wenn es sich gegen die Schule richtet. Der Geist der Kritik, in dem sich das Philosophieren entfaltet, entsteht mit jedem Individuum neu. Deshalb darf auch Kant nicht nur zum Schulgebrauch gelesen werden. Wir haben vielmehr zu sehen, wie sich ein Menschseinen Weg zur Wahrheit bahnt, die als Wahrheit nur gelten kann, wenn sie die Wahrheitallerdenkenden Wesen zu sein beansprucht, und die dennoch nur vonIndividuen unter ihren jeweils gegebenen Bedingungen erfasst werden kann.
Im vorliegenden Buch versuche ich, die Spannung zwischen schulischer Vermittlung und individueller Aneignung produktiv zu machen, indem ich mich an den Duktus des kantischen Denkens halte und ihm gerade dadurch neue Einsichten abgewinne. Ich interpretiere die zentralen Lehrstücke der theoretischen und praktischen Philosophie auf neue Art und glaube zeigen zu können, dass sie konsequenter sind, als es die analytischen Rekonstruktionen der [21]letzten vier Jahrzehnte vermuten lassen. So kommt es zur Konzentration auf die tragenden Beweisstücke in Kants Werk, die ich einer um Anschaulichkeit bemühten Prüfung unterziehe.
8. Narrative Rekonstruktion und exemplarische Verdichtung. Mein Verfahren ist das einer argumentierenden Nacherzählung, das man auch unter den klingenden Titel einer narrativen Rekonstruktion bringen könnte. Ich versuche, Kants Einsichten aus ihrem historischen und systematischen Umfeld verständlich zu machen. Das schließt die freie Variation von Kants Sprachgebrauch ein und ist von der Bemühung getragen, dem alltäglichen Sprechen nahezubleiben. Die Verbindung von Vernunft und Leben sollte sich auch in der Sprache zeigen. So hat die Darstellung das ehrgeizige Ziel, gerade auch die schwierigen Passagen der Vernunftkritik verständlich zu machen. Mancher Beweisgang kann freilich nur in exemplarischer Verdichtung vorgetragen werden, weil anders das Buch nicht mehr handlich geblieben wäre.
Dem Ziel der Anschaulichkeit und Verständlichkeit kommt Kants Philosophie, so überraschend das nach dem landläufigen Vorurteil auch erscheinen mag, entgegen. Das schwierigste Lehrstück der ersten Vernunftkritik, die transzendentaleDeduktion der reinen Verstandesbegriffe enthält mehr gesunden Menschenverstand als gemeinhin angenommen wird. Die Deduktion setzt nämlich das voraus, worum wir uns üblicherweise alle bemühen: Das ist die gelingende »Mittheilung«. Und das heißt: Man muss bereits erfolgreich sprechen können, ehe der Zweifel möglich ist, der durch das Ich denke ausgeräumt werden kann.
[22]9. Auf der Suche nach Weisheit unter den Bedingungen der modernen Welt. Mit der schulmäßigen Eingrenzung droht in Vergessenheit zu geraten, dass Kant, nach eigenem Anspruch, immer auch ein »Weltweiser« zu sein versuchte. Würden sich »Schulphilosophie« und »Weltweisheit« zueinander verhalten wie Arbeit und Freizeit, wäre gegen ihre Trennung nichts einzuwenden. Sie ergänzen sich aber nicht wie Produktion und Regeneration. Sie bilden eine Einheit, bei der die Weisheit das umfassende Ziel und das Denken der Schule eine der Arbeitsteilung unterworfene Tätigkeit ist. Die Philosophie der Schule geht aus den Lebensfragen hervor, und ihre spezialisierten Antworten können nur so lange als philosophisch gelten, wie sie den Bezug zum Leben nicht verlieren. Philosophisch ist ein Wissen erst dann, wenn es auf Weisheit hin angelegt ist.
Niemand wird in Abrede stellen wollen, dass sich in Schulen auch ein Eigenleben entfalten kann. Es kann gute Gründe für sich haben, wenn sie eigene Traditionen und Terminologien ausbilden, vor allem dann, wenn sie mit den übrigen Wissenschaften in produktivem Austausch stehen. Eine Philosophie, die nicht auch Wissenschaft sein will, nimmt sich selbst aus dem Arbeitszusammenhang der Erkenntnis heraus. Aber ihre Bedeutung als Philosophie hat sie nur, sofern sie in der Lage ist, aus ihren spezialisierten Abstraktionen zu den Wert- und Sinnfragen der Menschen zurückzufinden. Ein Denken, dem das nicht gelingt, wird dem stets wachen Ressentiment gegen Logik, Vernunft und System hilflos ausgeliefert sein.
10. Tragik auf beiden Seiten. Nach Lage der menschlichen Dinge ist das Streben nach Weisheit stets ein riskantes und [23]prekäres Unterfangen. Wem es dennoch glückt, dem Stand des Weisen nahezukommen, der hat nicht nur zahllose Zumutungen des Alltags abzuwehren, sondern wird, je mehr ihm dies gelingt, als Ausnahme beargwöhnt. Zu Kants Lebzeiten aber kommt ein epochaler Widerstand hinzu, der in nie zuvor geäußerter Grundsätzlichkeit das Element ablehnt, in dem die Weisheit sich bildet: Zeitgleich mit Kants Arbeit an seiner Vernunftkritik (und überdies in seiner nächsten Königsberger Nachbarschaft) wächst der Widerstand gegen die Vernunft als solche. Hamann und Herder leiten eine Gegenbewegung ein, die noch vor Ablauf des Jahrhunderts zur »Romantik«, zur mächtigsten, bis heute wirksamen Opposition gegen die Aufklärung anschwillt.
Das ist nicht ohne Tragik: Denn es ist Kant, der die von Shaftesbury, Rousseau und Hume geäußerten Bedenken gegen die Allmachtsphantasien der Vernunft in deren Selbstkritik überführt. Gerade weil er entdeckt, dass die Vernunft an ihre begrifflichen Opponenten, an Natur, Gefühl und Anschauung gebunden ist, unternimmt er das schwere Geschäft einer »Grenzbestimmung« der Vernunft. Seinen frühromantischen Widersachern geht das nicht weit genug. Sie wollen die leitende Funktion, die der Vernunft in der Kritik ihrer eigenen Maßlosigkeit immer noch bleibt, durch Gefühl und Glauben ersetzen. Ihre Tragik liegt darin, dass sie dies nicht einfach tun – was ihnen niemand verwehren würde; sie fühlen sich vielmehr ständig veranlasst, ihre Ansicht zu begründen. Und allein damit setzen sie die Vernunft, oft ohne es zu merken, wieder in ihr Recht.
11. Die Einheit von Welt- und Selbstvertrauen. Schon der vorkritische Kant geht von der Auffassung aus, »daß […] [24]es nur auf mich ankommt«. Sein Philosophieren ist auf das Selbst des einzelnen Menschen gegründet. Alles theoretische und praktische Wissen bleibt notwendig an das Ich gebunden, und dies so sehr, dass er sich nicht scheut, seine kritische Philosophie als »transzendentalen Egoismus« zu bezeichnen. Nun kann man in noch so gründlichen Studien zeigen, dass alles, was immer im Ich sein kann, sich auf Dinge bezieht, über die man mit seinesgleichen sprechen kann; tatsächlich lässt sich dartun, dass ein Ich nur Bedeutung hat, sofern es sich auf die Welt bezieht. Und dennoch hatten schon die ersten Leser Kants mit dem Verdacht zu kämpfen, dass sich das Ich in seiner von Kant erwiesenen Autonomie überschätzt, überhebt und letztlich im Ganzen vom Ganzen isoliert.
Wann immer es misslingt, diesen Verdacht durch Hinweis auf den realen Zusammenhang der Dinge zu zerstreuen, tritt die Weisheit in ihr Recht. Sie ist nach Kant auf das Engste mit dem Glauben verschwistert. Wenn es anders nicht möglich ist, kann nur sie dem Individuum das Weltvertrauen retten, das es für sein Selbstvertrauen braucht. Das Dramatische dieser Denkfigur liegt darin, dass sie auch einer Menschheit, die sich selbst nicht mehr geheuer ist, ein reflektiertes Selbst- und Weltvertrauen sichern kann.
12. Die Programmatik des Philosophierens: selber denken. Eine Kant-Interpretation, die sich lediglich auf die schulphilosophischen Elemente des kritischen Denkens bezieht, mag zu einem genaueren Verständnis transzendentaler Argumente, hypothetischer Imperative oder rechtstheoretischer Deduktionen gelangen. Sie vermag aber in der Regel schon nicht mehr zu sagen, was ein Argument, ein [25]Imperativ oder die Tatsache des Rechts für das Selbstverständnis des Menschen eigentlich bedeuten. Sie kann vor allem nicht erklären, warum die Philosophie nach wie vor als Orientierung für das eigene Dasein gesucht wird.
Die Philosophie kann solche Orientierung natürlich nicht in Form einer Handreichung geben. Sie kann sie nur in Aussicht stellen – und dies nur für den Fall, dass sich jeder selbst um sie bemüht. Deshalb lebt die Philosophie von der Emphase des Weiterdenkens. Kant hat das auf eine programmatische Formel gebracht, die keineswegs nur für die Aufklärung, sondern für das menschliche Leben im Allgemeinen und für die Philosophie im Besonderen gilt: Jeder habe sich, so sagt er, »seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen« (8,35). »Selbstdenken« ist der Weg und das Ziel in Philosophie und menschlichem Leben.
13. Abweichung vom Schema. Ohne viel Aufhebens wird im vorliegenden Buch von der üblichen Trennung zwischen vorkritischem und kritischem Denken abgewichen. Gewiss, die Unterscheidung ist wichtig, weil sie für Kant selbst bedeutsam war. Sie half ihm eine Wende kenntlich zu machen, die ihn Kraft gekostet hat und mit deren Folgen er bis zum Lebensende beschäftigt war. Er brauchte Mitstreiter für ein aufwendiges Vorhaben, das er selber nur im Umriss vortragen konnte. Diese Mitstreiter bedurften der Motivation im Geist einer neuen, einer »kritischen« Philosophie. Da Kant nicht auf das Verständnis von Kollegen rechnen konnte, hatte er der Jugend Ziele zu setzen. Das geschah mit dem Versprechen von etwas grundstürzend Neuem, im Vollzug einer radikalen Wende. Die kann man zwar programmatisch auf ein Buch oder einen [26]dominierenden Einfluss beziehen, im Rückblick aber hat selbst das Plötzliche eine historische Dimension.
Es gibt viele Anzeichen dafür, dass Kant schon in seinen frühen Schriften »kritisch« gedacht hat. Wir finden tragende Gedanken der späten Jahre bereits in den vorkritischen Schriften entwickelt. Deshalb kommt es heute, da vielen das kritische Denken als unvermittelt, ja sogar gewaltsam erscheint, darauf an, die weit in die Biographie und damit auch ins 18. Jahrhundert reichende Vorgeschichte bewusstzumachen. Damit kann auch klarer werden, wie viele bis in die Antike zurückreichende Impulse Kants Philosophieren bestimmen. Wir deuten das im vorliegenden Buch nur an, ohne den Einflüssen im Einzelnen nachgehen zu können.
14. Kant überholt seine Kritiker. Wir brauchen, wie gesagt, kein »Zurück zu Kant« – dies schon deshalb nicht, weil wir so viel weiter gar nicht sind. Gleichwohl scheint der Abstand zu 1781, dem Erscheinungsjahr der Kritik der reinen Vernunft, gewaltig zu sein. Kant hat schon seinen Zeitgenossen Hamann und Herder, dann seinen zahlreichen romantischen Lesern den Anlass für abgründige Missverständnisse gegeben. Die geniale Überbietung seines Denkens durch Fichte, Schelling, Hegel und Schopenhauer hat das Verständnis seiner Werke nicht erleichtert. Die bis heute andauernden nachromantischen Eskapaden der philosophischen Schriftstellerei lassen den Eindruck entstehen, zwischen Kant auf der einen und Nietzsche, Husserl, Heidegger, Adorno, Derrida, Foucault, Rorty oder Hermann Schmitz auf der anderen Seite lägen Welten.
Doch wenn man entdeckt, dass die revolutionäre Selbstauszeichnung der nachromantischen Denker durch ein und [27]dieselbe Obsession veranlasst ist, nämlich durch ein Verlangen nach Überbietung der gesamten Überlieferung, erkennt man das Theatralische ihrer Sendung: Sie versuchen allesamt, die von Kant inaugurierte Revolution der Denkart noch ein Stück weiterzudrehen. Sie imitieren den Gestus des Paradigmenwechsels, so als ließe sich die kopernikanische Wende immer weiter steigern. Das hat zu beachtlichen formalen Veränderungen geführt, hat die individuellen Freiheitsgrade des Denkens erhöht und die Anarchie des Denkens zu einer neuen Konvention werden lassen. Wenn wir aber nach Fortschritten in der Sache suchen, hätten wir ganz andere Namen zu nennen. Dann müsste von Dilthey, Simmel oder Max Weber, von Peirce, Dewey oder Cassirer, von Russell, Wittgenstein, Whitehead oder Popper, von Quine, Strawson, Davidson oder Henrich die Rede sein. Ich meine, dass man auch Bergson, Merleau-Ponty, Jaspers, Löwith oder Blumenberg nennen sollte, denen wir neue Zugänge zum Leben, zum Leib, zur Existenz und zum Mitmenschen verdanken. Achten wir auf den unter ihrem Einfluss neu formulierten Problembestand des Denkens, steht Kant unverändert auf der philosophiegeschichtlichen Tagesordnung.
15. »Philosophieren lernen«. Kant hat im Alter von 40 Jahren ein Programm des Philosophierens aufgestellt, das jede Philosophie überflüssig machen könnte – auch seine eigene. Es ist das Programm eines entschiedenen philosophischen Individualismus, der nur durch den sachlichen Gehalt der Einsichten und durch die existentielle Verbindlichkeit des Lebens gezügelt werden kann. Alles, was Kant in der Sache vorträgt, steht unter dem Vorbehalt der [28]Prüfung durch den Einzelnen. Ob etwas als Philosophieren gelten kann, hängt ganz allein an der gedanklichen Konsequenz, die ein Individuum darin für sich selber findet.
Mit Blick auf die Epigonen, die Kant an revolutionärer Dramatik überbieten wollen, ließe sich sagen, dass er sich hier schon selber überboten hat, noch ehe er mit der »kopernikanischen Wende« Aufsehen erregte. Tatsächlich ist die unscheinbare Aufforderung, nicht »Philosophie«, sondern »Philosophieren« zu lernen, bereits um einiges radikaler als der Neuansatz der Transzendentalphilosophie. Alle Unterweisung in den überlieferten Lehren des Denkens, so heißt es in der Vorlesungsankündigung zum Wintersemester 1765/66, diene nur dem Zweck, den Widerspruch gegen alles Überkommene einzuüben und es im »Selbstdenken« einer Revision zu unterziehen (2,306; vgl. unten 2.20). Davon kann auch das vorliegende Buch nicht ausgeschlossen sein.
Kritische Vorreden zu vorkritischen Texten
Ich habe gar nicht den Ehrgeiz ein Seraph seyn zu wollen mein stoltz ist nur dieser dass ich ein Mensch sey.
(Kant, 20,27)
1. Allein ich bilde mir ein. Schon in der ersten Zeile zur Vorrede zu seinem ersten Buch, das der Student der Mathematik und Naturwissenschaften, der klassischen Philologie und Philosophie – und beiläufig auch der Theologie – Immanuel Kant beziehungsreich mit dem Datum des 22. April 1747 versieht, dem Tag also, an dem er sein 23. Lebensjahr vollendet, ist vom »Urtheile der Welt« die Rede. Es ist, wie könnte es anders sein, das Urteil der Menschenwelt, das forum externum der Öffentlichkeit. Vor dieser allgemein menschlichen Instanz wird nichts Geringeres angerufen als die Wahrheit. Und der Drehpunkt zwischen Welt und Wahrheit ist nicht mehr und nicht weniger als das Ich, das sich hier in unübersehbarer Weise präsentiert:
Ich glaube, ich habe Ursache von dem Urtheile der Welt, dem ich diese Blätter überliefere, eine so gute Meinung zu fassen, daß diejenige Freiheit, die ich mir herausnehme, großen Männern zu widersprechen, mir für kein Verbrechen werde ausgelegt werden. Es war eine Zeit, da man bei einem solchen Unterfangen viel zu befürchten hatte, allein ich bilde mir ein, diese Zeit sei nunmehr [30]vorbei, und der menschliche Verstand habe sich schon der Fesseln glücklich entschlagen, die ihm Unwissenheit und Bewunderung ehemals angelegt hatten. Nunmehr kann man es kühnlich wagen das Ansehen der Newtons und Leibnize für nichts zu achten, wenn es sich der Entdeckung der Wahrheit entgegen setzen sollte, und keinen andern Überredungen als dem Zuge des Verstandes zu gehorchen. (1,7; Hervorhebung V. G.)
So weit der erste von 13 Absätzen, die Kant seinem ersten Buch voranstellt. Es ist üblich, diese Vorrede zu den Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte als ein typisches Dokument der deutschen Aufklärung zu lesen, der sich ein selbstbewusster junger Autor mit der ganzen Energie seiner 23 Jahre hingibt. Und da die »Wahrheit«, die er in Aussicht stellt, genau genommen schon drei Jahre zuvor als falsch erwiesen worden ist, kann diese Vorrede auch als Beispiel dafür dienen, dass da einer den Mund etwas zu voll nimmt und nicht nur sich, sondern auch die Aufklärung überschätzt. So sahen es die Zeitgenossen, sofern sie von dem Buch überhaupt Kenntnis nahmen. Wir haben heute Grund, es dennoch anders zu sehen.
2. Früher Spott und späte Erfüllung. Kants erstes Buch ist so gut wie ohne Resonanz geblieben. Das war sachlich kein Verlust. Denn der Vorschlag, den es zur Vermittlung einer großen Kontroverse vortrug, war bereits überholt. Der Autor hatte in seinem Eifer übersehen, dass es schon eine Lösung gab, die besser berechnet und überdies physikalisch ohne Einschränkung brauchbar war, freilich ohne annähernd so tiefsinnig begründet zu sein. Doch auch [31]unabhängig vom sachlichen Fehlschlag des ersten Buches erscheint der Spott, mit dem ein kritischer Leser die Selbstüberschätzung des jungen Autors bloßstellt, vollkommen berechtigt:
Kant unternimmt ein schwer Geschäfte,
der Welt zum Unterricht,
er schätzet die lebend’gen Kräfte,
nur seine [eignen] schätzt er nicht.
Der kritische Leser ist Gotthold Ephraim Lessing. Sein Spott ist durch die Lebensleistung Kants gründlich widerlegt.2 Doch man versteht Lessing gut. Denn was soll er von einem namenlosen Zeitgenossen halten, der sich anmaßt, Newton und Leibniz »für nichts« zu achten? Gewiss: Am Maßstab der Wahrheit müssen sich auch die größten Geister messen lassen. Ist es aber nötig, den Erkenntnisanspruch so eng mit dem Ich zu verbinden? Darf sich schon das Selbstbewusstsein eines Anfängers als Instanz der Wahrheit behaupten? Muss die Exposition eines Individuums noch vor jeder eigenen Leistung so maßlos sein? Selbst wenn das Erkennen strukturell nicht auf das Ich verzichten kann, hätte es doch Grund genug, ein wenig bescheidener aufzutreten.
Das mag Lessings kritische Option gewesen sein. Er konnte noch nicht wissen, dass im Fall des jungen Immanuel Kant die Präsentation des Ich nicht nur in einer reichen Begabung, sondern in biographisch unumgänglichen Zielen begründet war: Der junge Kant hätte zur [32]Rechtfertigung nicht nur darauf verweisen können, dass Wahrheit ohne Selbstbewusstsein nicht zu haben ist; er hätte nicht nur auf der ingeniösen Idee beharren können, der sich seine Schrift – trotz einer historischen Unachtsamkeit – gleichwohl verdankt; er hätte am Ende sagen müssen, dass er die Exposition des eigenen Ich angesichts seiner großen Aufgaben einfach nötig hatte. Wer Großes will, darf nicht kleinmütig sein. Und wenn er schwach, kränklich und wenig belastbar erscheint und dazu noch von seinem akademischen Lehrer (in Verkennung der offenkundigen Begabung) geringgeschätzt wird, hat er besonderen Anlass, sich vor seiner Aufgabe in eine maximale Position zu bringen.
3. Ein Individuum sucht seinen Weg. Aufschlussreich ist bereits das Motto des Buches, das Kant dem ersten Kapitel von SenecasDe vita beata (I,3) entnimmt: »Nichts also ist mehr zu beachten, als dass wir nicht nach Art des Viehs der vorangehenden Herde folgen, indem wir als Weg wählen nicht, wo man gehen soll, sondern wo man geht« (1,7). Wer meint, der Individualismus sei eine Errungenschaft (oder ein Fluch) der Moderne, der wird nicht glauben wollen, dass hier ein antiker Autor angerufen wird. Tatsächlich aber ist es Senecas vorrangige Empfehlung, dass jeder Denkende seinen eigenen Weg einschlägt: »An fremden Vorbildern gehen wir zugrunde; wir werden gesunden, wenn wir uns von der Masse fernhalten« (De vita beataI,4). Dies gilt vor allem für die Praxis der eigenen Lebensführung;3 es hat seine Gültigkeit aber auch für die Methode der [33]Wahrheitsfindung: »Die Masse ist der schlechteste Interpret der Wahrheit« (II,2).
Mit seinem Motto beruft sich Kant somit auf eine alte Tradition eigenständiger Daseinsbewältigung, die ohne individuelle Wahrheitssuche gar keinen Sinn ergibt. Die Tradition können wir bis auf Sokrates zurückverfolgen. Der Vorwitz des jungen Kant, der manchen Interpreten noch heute verdächtig erscheint, ist daher ein Ausdruck philosophischer Ernsthaftigkeit, die sich ohne entschiedenes Selbstbewusstsein gar nicht entwickeln kann:
Ich stehe in der Einbildung, es sei zuweilen nicht unnütze, ein gewisses edles Vertrauen in seine eigene Kräfte zu setzen. Eine Zuversicht von der Art belebt alle unsere Bemühungen und ertheilt ihnen einen gewissen Schwung, der der Untersuchung der Wahrheit sehr beförderlich ist.(1,10)
Es ist dieser Individualismus der Wahrheitsfindung, den Kant für sich in Anspruch nimmt. Und nachdem er betont hat, dass es für einen wahrhaft nach Erkenntnis strebenden Kopf weniger schlimm ist, sich »tausendmal bei einem Unterfangen verirrt« zu haben, als »nur immer die Heeresstraße« aller anderen einzuhalten, kommt er zu dem Bekenntnis:
Hierauf gründe ich mich. Ich habe mir die Bahn schon vorgezeichnet, die ich halten will. Ich werde meinen Lauf antreten, und nichts soll mich hindern ihn fortzusetzen. (1,10)
[34]4. Politiker der Theorie. Das klassische Pathos philosophischer Wahrheitssuche bezieht der junge Kant auf einen Streit, der die wissenschaftliche Welt seiner Zeit tatsächlich in zwei Lager gespalten hat. Es geht um das richtige Maß für die physikalische Kraft (m). Auf der einen Seite stehen die Cartesianer, die als Berechnungsformel K = m × v vorgeschlagen hatten. Auf der Gegenseite hat Leibniz mit seinen im deutschen Sprachraum tonangebenden Anhängern Position bezogen; sie halten die Formel K = m · v2 für zutreffend. Im zweiten Fall also steht die (mit der Masse m) multiplizierte Geschwindigkeit v im Quadrat.
Damit ist ein Unterschied gesetzt, den zu beseitigen (oder mindestens zu erklären) eine erstrangige Herausforderung für das Denken darstellt. Wenn wir uns mit ein und demselben Geist auf ein und dieselbe Natur beziehen, dann kann entweder nur eine Formel richtig sein, oder die Formeln beziehen sich jeweils auf unterschiedliche Kräfte.
Kants Lösungsvorschlag zielt darauf, Descartes und Leibniz jeweils in einer begrenzten Perspektive Recht zu geben: Das von Descartes genommene einfache Produkt aus Masse und Geschwindigkeit beziehe sich lediglich auf unselbständige, nicht aus sich heraus wirkende und somit »tote« Kräfte. Dagegen sei die von Leibniz vorgeschlagene Formel, in der die potenzierte Geschwindigkeit zum Maß erhoben wird, auf Körper bezogen, die sich »in wirklicher und freier Bewegung« befinden. Diese Kraft wird die »lebendige« – die aus sich selbst wirkende – Kraft genannt.
Kants »kühnlich« gewagte Wahrheit besteht somit in der Ausgrenzung zweier verschiedener Kräfte: der »toten«, der von außen bewegten Natur und der »lebendigen«, aller aus sich heraus bewegten Wesen. Descartes hat Recht, sofern [35]er seine Formel auf die rein äußerlich wirksamen mechanischen Kräfte beschränkt; hier gilt K = m · v.Leibniz’ Vorschlag hingegen hat nur für die Eigendynamik der Lebensvorgänge Gültigkeit; sie können, wie Kant meint, nach K = m · v2 berechnet werden. Der Streit, so könnte man sagen, soll durch einen »Kompromiss« geschlichtet werden, der beiden Seiten eine begrenzte Wahrheit zugesteht.
Der junge Kant versucht sich somit schon im ersten Auftritt als ein Politiker des Geistes, indem er jeder Theorie ihr eigenes Territorium zugesteht. Jede Wahrheit hat ihre Perspektive, die mit ihrem Standpunkt auch nur einen begrenzten Bereich umfasst. Wir erkennen schon hier die intellektuelle Strategie, mit der Kant später den Streit zwischen Empirismus und Rationalismus zu schlichten und die unlösbar erscheinende Dichotomie zwischen Natur und Freiheit zu klären versucht.
5. Auf dem Weg zu einer Philosophie des Lebens. Leider wissen wir inzwischen schon aus den Schulbüchern, dass weder Descartes noch Leibniz Recht behalten hat. Die Formel für die Berechnung der physikalischen Kraft lautet weder K = m · v noch K = m · v2, sondern K = ½ m · v2. (Heute spricht man freilich statt von der Kraft [K] von der kinetischen Energie [E]). Die korrekte Formel mit dem halbierten Wert der Masse stammt von d’Alembert, der sie bereits 1743, also drei Jahre vor der Abfassung von Kants Schrift, in Paris publiziert hatte. Das war der Aufmerksamkeit des Königsberger Studenten entgangen, und so war er dem Irrtum früher verfallen, als er sich hätte träumen lassen. Er kommt mit seinem Vorschlag zur Beilegung einer »der größten Spaltungen, die jetzt unter den Geometern von Europa [36]herrscht« (1,16), nicht nur zu spät, sondern verfehlt auch den physikalischen Sachverhalt.
Das kann man nur als misslich bezeichnen, so verständlich der Informationsrückstand angesichts des geringen zeitlichen Abstands und der räumlichen Entfernung auch gewesen sein mag. Und dennoch ist Kants Vorschlag bemerkenswert. Denn er versucht eine mathematische Konsequenz aus der Tatsache zu ziehen, dass wir die wirkenden Kräfte der Natur tatsächlich in zwei Kategorien einteilen können, nämlich in rein mechanisch angetriebene, »tote«, und in von sich aus bewegte, »lebendige Kräfte«. Die offenkundige, weil immer schon an uns selbst wahrgenommene Differenz zwischen der fremdbestimmten und der selbstbestimmten Bewegung soll bereits an den wirkenden Kräften selbst festgemacht werden. Kant sucht nach einem bereits physikalisch fassbaren Unterschied zwischen der (»von außen« erfahrenen) »toten« und der (nur »von innen« her zu begreifenden) »lebendigen Natur«.
Der 23-jährige Autor macht sich also auf den Weg zu einer Philosophie der natürlichen Kräfte, die in der Lage ist, auch noch das Leben in die Theorie einzubeziehen.. In Anerkennung der Eigentümlichkeit der mechanischen Kräfte sucht er nach den dynamischen Bedingungen der lebendigen Natur. Sein erstes Werk enthält den Keim zu dem, was die kritische Philosophie erst in der Kritik der Urteilskraft in Vorschlag bringen und woran sie sich bis ins Opuspostumum hinein abarbeiten wird.4 Das ist die Philosophie desLebens.
[37]6. Schätzung der eigenen Kräfte.Lessings spöttisches Wort wird damit in einem ganz anderen Sinne wahr: Kant sucht nach einer »Schätzung der lebendigen Kräfte«, ist aber nicht wirklich in der Lage, sie auch nur annähernd zu finden, weil er es noch nicht versteht, sich selbst in methodisch angemessener Weise zu erkennen. Denn die Erkenntnis des Lebens hat darin ihre größte Schwierigkeit, dass sie immer auch eine Selbsterkenntnis ist. Erst viel später wird Kant entdecken, dass der Unterschied, den er sucht, nicht in einer objektiven Differenz gegebener Kräfte, sondern in unserer Einstellung zu ihnen zu finden ist. Die wahrhaft »lebendigen Kräfte« lassen sich erst erkennen, wenn wir sie als Ausdruck einer Zwecktätigkeit beurteilen, die wir nur von uns selbst her kennen. Insofern ist die Erkenntnis des Lebens an die Selbstreflexion gebunden, die sich bereits im ersten Buch in der maßlos erscheinenden Exposition des forschenden Ich ankündigt.
Doch bis zum kritischen Begriff des Lebens ist der Weg noch weit. Der junge Kant sucht zunächst einen direkten Zugang zu den lebendigen Kräften, die er als gegebene Größen neben den mechanischen Kräften begreift. Gleichwohl scheint ihm der Anteil der Selbstreflexion an der adäquaten Erkenntnis des Lebens bewusst zu sein. Denn in der Vorrede beschäftigt er sich mit nichts anderem als mit sich selbst – genauer: mit seiner Aufgabe als Wissenschaftler und Philosoph. Vor der Lösung der strittigen Fragen der Erkenntnis unserer Welt steht das Nachdenken über uns [38]selbst. Man möchte schon aus der Kühnheit und dem alles mitreißenden Schwung, mit dem der 23-jährige Student das Programm der Erkenntnis umreißt, auf seine kommende Größe schließen. Die Dynamik – um nicht zu sagen: die Dramatik im Zusammenhang von Mensch, Welt und Wissenschaft – wird in der Vorrede zur Wahren Schätzung der lebendigen Kräfte bereits in vollem Umfang erkennbar.
7. Wahrheit als Vorteil für alle. Kants weitgesteckte Erwartungen an die Erkenntnis lassen sich auf zwölf Punkte bringen: Man braucht erstens und unter allen Bedingungen den Weltbezug, der uns die Orientierung in der von Menschen gebildeten Sphäre erlaubt (1,7). Dabei ist vorausgesetzt, dass die Welt des Menschen nicht von der Natur abgetrennt werden kann. Man benötigt zweitens das Streben nach Wahrheit als den zu gewinnenden und zu sichernden Ausdruck der verbindlichen Beziehung aller erkennenden Menschen auf die Tatsachen ihrer Welt (1,7 f. und 10). An dritter Stelle steht die Leistung des einzelnenMenschen, der Ich zu sich sagt und dem es obliegt, die Beziehung zwischen Welt und Wahrheit herzustellen (1,7). Viertens ist festzustellen, dass die einzelnen Menschen ihr Maß niemals bloß an der Welt und an sich selber, sondern immer auch an der Menschheit haben (1,9 und 12). Das »Ich«, auf das Kant später auch theoretisch so großen Nachdruck legt, wäre ohne den Bezug zum »Wir« bedeutungslos. Dieses »Wir« aber meint bei ihm – von der ersten bis zur letzten Schrift: – alleMenschen. Wie wichtig das ist, kann man später darin sehen, mit welcher Entschiedenheit der kritische Kant sich gegen die Zumutungen einer auf den Menschen angewandten Rassentheorie wendet. Die wird vom kritischen Kant mit [39]dem denkbar größten Nachdruck verworfen. Von ihr bleibt bei ihm letztlich nur ein Vorurteil. Und von ihm heißt es:
Das Vorurtheil ist recht für den Menschen gemacht, es thut der Bequemlichkeit und der Eigenliebe Vorschub, zweien Eigenschaften, die man nicht ohne die Menschheit ablegt. (1,8 f.; Hervorhebung V. G.)
Dass von »Menschheit« nur unter der Bedingung der prinzipiellen Gleichheit von Menschen gesprochen werden kann, versteht sich von selbst. Kant sieht es als eine Folge des »Vorurtheils« an, wenn der Unterschied zwischen einigen wenigen und der Menge übersteigert werde, wenn man »gewisse Männer […] zu einer unersteiglichen Höhe« erhebe (1,9). Der Nachteil einer solchen Unterscheidung zwischen einigen wenigen bedeutenden Exemplaren und der großen Masse liege auch darin, dass man die individuellen Unterschiede übersehe, die noch innerhalb der »Mittelmäßigkeit« bestehen (7,9). Wenn Kant also von Menschheit spricht, dann hat er die Differenzierung zwischen den Individuen im Blick, die er aber nicht so groß gemacht sehen will, dass sie wie eine Opposition erscheint. Das exponierte »Ich« hat sich somit – in aller gegebenen und gebotenen Unterscheidung – als Element unter seinesgleichen zu verstehen.
Die fünfte Prämisse, von der Kant in seiner ersten Vorrede ausgeht, ist am Nutzen der Wissenschaft orientiert. Es würde ihm nicht einfallen, die Erwartung auf einen praktischen Effekt der Erkenntnis als unwissenschaftlich anzusehen. »Erfolg« (1,8) ist das selbstverständliche Ziel der Wissenschaft; die »Entdeckung der Wahrheit« verspricht immer auch einen praktischen Gewinn, der allen zugutekommt:
[40]Nach so großen Bemühungen, die sich die größten Männer um die Freiheit des menschlichen Verstandes gegeben haben, sollte man da wohl Ursache haben zu befürchten, daß ihnen der Erfolg derselben mißfallen werde? (1,8)
8. Selbsterkenntnis und Öffentlichkeit. In der Menschheit sind die Individuen als gleich und frei verbunden. Das ist der sechste Punkt: Gleichheit und Freiheit sind Bedingungen nicht nur des Handelns, sondern auch der Individualität in einer sich zu sich selbst verhaltenden Gattung (1,8 und 1,10). Bedingung aber können sie nur sein, wenn eine Sphäre der Öffentlichkeit ausgebildet ist, in der die Menschenwelt allererst zu sich selber kommt (1,8 und 1,10 f.). Damit haben wir siebtens die Sphäre, in der die Suche nach Wahrheit erfolgt. Eine Trennung zwischen szientifischer und politischer Öffentlichkeit ist nicht erkennbar.
Verdienst und Ruhm sind achtens die Auszeichnungen, um die es im öffentlichen Leben geht (1,8); dabei spielt die Eitelkeit eine unübersehbare Rolle (1,10). Auch das unterstreicht die Funktion, welche die sich auszeichnende Individualität in der Erwartung auf ein menschheitliches Philosophieren hat.
Die Wirksamkeit in der Öffentlichkeit ist neuntens an Rhetorik gebunden (1,11); sie wird von Kant als legitimes Mittel zur Weckung von Aufmerksamkeit anerkannt und als das von ihm praktizierte Verfahren eingestanden. Von Bedeutung ist zehntens, dass Wahrheitssuche und praktische Anwendung zum Nutzen der Menschen im Medium der Geschichtlichkeit erfolgen (1,9). Kant ist sich über die historische Abfolge von Erkenntnissen und Theorien im [41]Klaren; er stellt sich bewusst in eine Geschichte der Erkenntnis und weiß von seinem epochalen Standpunkt. Die Geschichtlichkeit der Menschenwelt ist elftens ohne die Gesellschaftlichkeit der Bedingungen und Ereignisse der menschlichen Welt nicht zu denken (1,9).
Das Medium der Vermittlung aller dieser Faktoren ist schließlich zwölftens der reale Gegensatz der weltlichen Kräfte. Wahrheitsstreben, Theorieentwicklung und wissenschaftliche Arbeit überhaupt vollziehen sich in Oppositionen, in die Individuen und Schulen gleichermaßen eingebunden sind. Und um das Wichtigste am Ende noch einmal zu nennen: Die Verbindung zwischen alledem stiftet überall dort, wo etwas als Problem erfahren wird, nichts und niemand anderes als das Ich, in diesem Fall: Immanuel Kant.
9. Theorie des Himmels und der Erde. Das nächste Buch Immanuel Kants folgt acht Jahre später und wird noch weniger beachtet als das erste. Denn als es ausgeliefert wird, macht der Verleger Bankrott. So erreichen nur die Belegexemplare ihr Ziel – den Autor selbst. Die eigentliche Auflage verbleibt in der Konkursmasse, wird vergessen und vermutlich eingestampft. Wäre der Autor nicht 35 Jahre später zu einer Berühmtheit geworden, die ein Interesse an seinen frühen Schriften aufkommen lässt, wäre eines der bedeutendsten Bücher philosophischer Naturbetrachtung, die Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels von 1755, wohl auf ewig vergessen.
Die Thesen des Buches sind noch 1795, als die von einem Schüler Kants geschriebene Kurzfassung in Umlauf kommt, eine Sensation. Denn es stellt sich heraus, dass Kant schon [42]1755 eine Hypothese über die kosmische Natur der Galaxien vertreten hat, die man inzwischen als eine Entdeckung des französischen Astronomen Laplace feiert, obgleich 1761 auch der MathematikerLambert ähnliche Überlegungen entwickelt hat.5Laplace hatte 1775 seine Deutung der sogenannten Nebelsterne vorgetragen, konnte sie als riesige, spiralförmig angeordnete Sternhaufen deuten und damit die These verbinden, dass unser Sonnensystem selbst Teil eines solchen Spiralnebels ist, von dem wir lediglich einen Teil als »Milchstraße« am nächtlichen Himmel sehen. Diese »Nebularhypothese« hatte Laplace mit der Vermutung verbunden, dass unser Weltall vormals insgesamt aus rotierenden Gasnebeln bestanden hat, aus denen sich allmählich – durch das Zusammenspiel von zentripetalen und zentrifugalen Kräften – die um sich kreisenden Scheiben aus zahllosen Sonnensystemen gebildet haben.
Eben dies ist bereits die These des 30-jährigen Kant. Er setzt im »leeren Raum« des Alls nichts anderes als unendlich fein verteilte Materie voraus, die aus ihrer eigenen Gesetzlichkeit – und aus nichts sonst! – in eben den Zustand gelangt sind, in dem sich das Weltall zum Zeitpunkt der [43]Beobachtung befindet. Erst das Urknalltheorem hat diese Beschreibung Kants durch ein anderes Modell ersetzt, oder besser: ergänzt. Denn seine Darstellung trifft noch heute in wesentlichen Teilen zu. Gesetzt, sein Buch wäre bekannt geworden, ohne dass der Autor noch irgendetwas anderes geschrieben hätte, hätte er allein dadurch einen unverlierbaren Platz in der Geschichte der Astronomie.
10. Gebet mir Materie. In der Vorrede, die erneut mit »Ich« beginnt und am Anfang eine jedem Psychologen vermutlich höchst verdächtige Häufung des ersten Personalpronomens enthält, macht der 30-jährige Autor klar, dass er sich mit einer Aufgabe befasst, welche »die Kräfte der menschlichen Vernunft zu überschreiten« scheint (1,221). Kant bewegt sich also schon hier an den »Grenzen« menschlicher Erkenntnis. Sein Denken ist auf die Extreme aus; sein Philosophieren geht aufs Ganze. Das ist mehr, als nur einfach nach »dem Ganzen« wie nach einem großen Gegenstand zu fragen. Denn das Subjekt gehört dem Ganzen zu, und es weiß, dass es mit ihm steht und fällt. Daher wappnet sich der junge Autor für seine Unternehmung, als ziehe er wie ein allein auf sich gestellter Rittersmann in einen großen Kampf: »Ich empfinde die ganze Stärke der Hindernisse, die sich entgegensetzen, und verzage doch nicht« (1,221).
Bedenkt man, dass Kants Kosmologie schon am Anfang mit der Behauptung aufwartet, die Berufung auf Gott sei für die Erklärung der Bewegungen des Himmels und der Erde überflüssig, dann weiß man, dass die existentielle Zurüstung auf das Unternehmen nicht übertrieben ist. Ein Autor, der schon in der Vorrede erklärt: »Gebet mir Materie, [44]ich will eineWelt daraus bauen!« (1,230; im Original gesperrt), mag heute nur als größenwahnsinnig erscheinen. Damals musste er mit dem Vorwurf der Gotteslästerung rechnen. Deshalb erklärt er gleich zu Beginn, er habe sich auf seine »gefährliche Reise« erst begeben, als er sich »in Ansehung der Pflichten der Religion in Sicherheit gesehen habe« (1,221). Im Bewusstsein der Übereinstimmung einer rein mechanischen Erklärung des Weltbaus mit der redlichen Gesinnung des Glaubens aber gelange er zu der »unerschrockenen Gelassenheit«, mit der er sein »System« vorträgt:
Ich nehme die Materie aller Welt in einer allgemeinen Zerstreuung an und mache aus derselben ein vollkommenes Chaos. Ich sehe nach den ausgemachten Gesetzen der Attraction den Stoff sich bilden und durch die Zurückstoßung ihre Bewegung modificiren. Ich genieße das Vergnügen ohne Beihülfe willkürlicher Erdichtungen unter der Veranlassung ausgemachter Bewegungsgesetze sich ein wohlgeordnetes Ganze erzeugen zu sehen, welches demjenigen Weltsystem so ähnlich sieht, das wir vor Augen haben. (1,225 f.)
11. Die Eigenständigkeit der Welt. Attraktion und Repulsion, Anziehung und Zurückstoßung, sind die beiden mechanischen Kräfte, aus denen das gesamte Geschehen des Kosmos erklärt wird. Von Gott stammt lediglich die Materie, die sich, sobald es sie gibt, aus eigener Kraft bewegt. Sie braucht nur sich selber »frei überlassen« zu bleiben, dann entsteht aus dem Chaos alle Ordnung von selbst. Die schon das Chaos regierende »blinde Mechanik«, das ist [45]die noch heute jeden Ordnungsdenker provozierende These, bringt »anständige Folgen« (!) hervor.
Die Kühnheit dieses Entwurfs wird nur noch durch die Verwegenheit überboten, mit der Kant die Sachwalter des Glaubens ins Unrecht setzt: Sie unterschätzen die Größe Gottes, wenn sie ihm unterstellen, er müsse ständig – gleichsam mit »fremde[r] Hand«! – in das Weltgeschehen eingreifen (1,223). Die Theologen geraten, wie die griechischen Atomisten, in Gefahr, die Vernunft aus der Unvernunft herzuleiten (1,227). Überdies wäre es der Würde Gottes nicht angemessen, eine in sich gar nicht funktionsfähige Natur geschaffen zu haben. Es würde noch weniger zu ihm passen, wenn alles durch »Zufall und von ungefähr« (1,227) geschehe. Zur Ehre Gottes gereiche es vielmehr, dass er eine ganz auf das Gesetz gegründete Welt geschaffen hat, die seinen Ruhm vermehre, je »selbst genugsamer«, je eigenständiger sie ist. So ist es schon hier die Freiheit im Umgang mit der Notwendigkeit, die auf Gott verweist.
Und diese Freiheit nimmt sich der junge Kant heraus. Er tut dies in dem Bewusstsein, dass die Allgegenwart Gottes dort am deutlichsten hervortritt, wo ein freies Geschöpf sich seiner eigenen Kräfte bedient. Und in diesem durch das Selbstvertrauen gestärkten Gottvertrauen gesteht Kant dem großen Newton zu, die mathematische Hälfte der Naturerklärung vorgetragen zu haben. Wir dürfen ergänzen, dass der Magister Kant nun auch noch die ein wenig größere philosophische Hälfte hinzufügt.
12. Ein größeres Problem: die Geschichte und … Die Kühnheit Kants tritt noch in einem anderen Punkt hervor: Die Vorrede dient der Einleitung in eine Kosmologie, die [46]das Geschehen im All (die Erde und ihre Bewohner eingeschlossen) physikalisch zu erklären sucht. Dabei rückt sie alles, als sei dies schon selbstverständlich, in eine historische Perspektive. »Allgemeine Naturgeschichte« lautet der erste Teil des Titels, und der zweite – »Theorie des Himmels« – macht klar, dass kein Gegenstand ausgeschlossen ist. Der Autor hätte wahrlich allen Grund, seine Leser vor der unüberbietbaren Größe des Unternehmens erschauern zu lassen. Stattdessen redet er sein Thema klein, um eine größere Aufgabe ins Bewusstsein zu rücken. Denn die Bewegungsvorgänge der Sonnen und ihrer Planeten lassen sich aufgrund weniger Gesetze einfach erklären, sofern nur erst Materie vorhanden ist. Aber bei den unscheinbaren Vorgängen des Lebens sei dies ganz anders:
Kann man […] wohl von den geringsten Pflanzen oder Insect sich solcher Vortheile rühmen? Ist man im Stande zu sagen: Gebt mir Materie, ich will euch zeigen, wie eine Raupe erzeugt werden könne? (1,230)
Kant schließt nicht aus, dass man eines Tages auch zu einer positiven Auskunft kommt. Aber die Schwierigkeit einer Antwort ist ungleich größer. Er untersteht sich daher zu sagen:
[…] daß eher die Bildung aller Himmelskörper, die Ursache ihrer Bewegungen, kurz, der Ursprung der ganzen gegenwärtigen Verfassung des Weltbaues werde können eingesehen werden, ehe die Erzeugung eines einzigen Krauts oder einer Raupe aus mechanischen Gründen deutlich und vollständig kund werden wird. (1,230)
[47]13. …: das Leben. Die philosophische Auszeichnung einfacher Lebensformen vor der unendlichen Größe und Erhabenheit des Alls könnte man als gezielte Provokation verstehen. Kant spricht sowohl den Physikern wie auch den Theologen den Vorrang ab, wenn er die Probleme der Kosmologie als vergleichsweise gering ansieht und die weitaus größere Herausforderung in den unscheinbaren Vorgängen des Lebens behauptet. Man kann seine Aussage aber auch als Prognose über den mutmaßlichen Gang der Forschung ansehen: Auf die Physik hat die Biologie zu folgen. Heute fällt es uns leicht, Kant so zu deuten. Die Schwierigkeit ist nur, dass es zu seiner Zeit das Fach mit dem Namen »Biologie« noch gar nicht gibt. Wir müssen konzedieren, dass er seiner Zeit weit voraus gewesen ist. Er hatte freilich, wie wir dem Grundriss seiner naturtheoretischen Vorlesungen entnehmen können, seinen Plinius gelesen und war über die Histoire naturelleBuffons bestens informiert.6 Die Entwicklung der Chemie hat er, nach dem Urteil seiner medizinischen Universitätskollegen, sein Leben lang mit größter Aufmerksamkeit verfolgt.7
Doch wie immer die historischen Voraussetzungen sind: Auf die Erkenntnis der Kosmologie muss die Erkenntnis des Lebens folgen. Bedenken wir, dass Kant die erste Aufgabe durch sein Buch als im Prinzip erledigt ansieht,8 dann wissen wir, dass danach für den anspruchsvollen Denker [48]die Theorie desLebens auf der Tagesordnung steht. Dabei brauchen wir weder Naturgeschichte noch Himmelsmechanik geringzuschätzen: Die unendliche Weite des Alls und die unvorstellbare Masse der Himmelskörper versprechen gewaltige Abenteuer der Erkenntnis. Davon handelt das Buch, dessen Vorrede wir lesen. Doch Entfernung und schiere Größe bieten geringere Probleme als das, was in nächster Nähe des Menschen geschieht. Und am schwierigsten ist das zu entdecken, was im Menschen wirksam ist! Dies aber ist letztlich immer auch – das Leben. »Geist«, so wird Kant später sagen, »ist das belebende Princip im Gemüthe« (5,313).
14. Die NotwendigkeitGottes. Wenn Kant so großen Wert darauf legt, dass man durch die mechanische Erklärung des Weltbaus nicht zum »Atheisten« werden müsse (1,226), dann tritt neben die Erklärung des Weltalls und die Erkenntnis des Lebens noch ein drittes großes Thema, nämlich ein adäquates Verständnis Gottes.
Wir erfahren bereits in der Vorrede dreierlei: Erstens wird klargestellt, dass Gott kein innerkosmisches Wesen ist. Er kann schlechterdings nicht nach Art einer physikalischen Größe vorgestellt werden. Damit hat er auch keinen bestimmten Ort in Raum und Zeit. Folglich kann er auch nicht durch eine Wissenschaft, die nur auf empirische Dinge in Raum und Zeit bezogen ist, erschlossen werden.
Auf Gott stoßen wir vielmehr erst, wenn wir das Ganze des Kosmos bedenken: Wenn wir sehen, dass in der [49]unendlichen Zerstreuung der Materie, ja selbst im Chaos, notwendige Gesetze herrschen; wenn wir hinzunehmen, dass die voneinander unabhängigen und ganz sich selbst überlassenen Dinge allesamt nach eben der Regelmäßigkeit verfahren, die auch das Ganze bestimmt; und wenn wir schließlich erkennen, dass die Regelhaftigkeit der sich selbst überlassenen Teile die »Ordnung und Wohlanständigkeit« begründet, dann muss auf einen »ersten Ursprung« geschlossen werden, in dem alles, was immer geschieht, seinen Grund hat. Dieser Ursprung kann nur als ein »allgenugsamer höchster Verstand« (1,227) gedacht werden. In ihm hat das »sich selbst genugsame« All seine notwendige Entsprechung. Das ist die zweite Einsicht in die Stellung Gottes. Gott ist sich selbst genug; darin liegt seine Größe, und an ihr haben die sich in allen Einzelheiten selbst erschaffende Welt und der sich selbst beherrschende Mensch ihr Maß.
Die Entsprechung von faktischer Ordnung und intellektuellem Grund gilt für jedes Wesen, das sich selbst in dieser Ordnung nur durch eigene Gründe bestimmen kann. Ein Wesen, das selbst Zwecke braucht, um sich in der Ordnung zu halten, kann die Ordnung nicht ohne vernünftige Zwecksetzung begreifen. Also kann der Mensch, wenn er denn die Welt begreifen können möchte, auf den Begriff Gottes nicht verzichten. Das ist die dritte Einsicht, die schon zu erkennen gibt, dass der Gedanke an Gott umso stärker hervortreten muss, je stärker der Mensch auf seine eigenen Zwecke setzt. Dabei tritt das Göttliche, wie in jedem einzelnen Teil der Welt, gerade darin hervor, dass ein Mensch den von ihm begriffenen Plan des Ganzen »von selber zu erfüllen« trachtet (1,223). Denn nur wo diese [50]Selbsttätigkeit in Erscheinung tritt, kann die Vernunft wirksam sein. Eine Konsequenz dieser Überlegung ist, dass Gott überall dort anwesend ist, wo ein vernünftiges Wesen wirksam ist. Und Gottes Dasein ist hinreichend dadurch bewiesen, dass die Welt kein Chaos ist (1,228).
15. Erkenntnis und Existenz. Kants nächste größere Schrift ist allein dem Problem der Gotteserkenntnis gewidmet. Sie erscheint 1763, acht Jahre nach der Theorie des Himmels und trägt den Titel: Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des DaseinsGottes; sie setzt erneut mit einer ausführlichen Vorrede ein. In deren erstem Satz hält Kant fest, welche »die wichtigste aller unserer Erkenntnisse« ist (2,65). Auch wenn keine Gefahr besteht, dass diese exponierte Feststellung übersehen wird, setzt er sie, als einzige im Buch, fett: »Es ist ein Gott«. Und das geschieht mit der Behauptung, dass diese Erkenntnis niemals wirklich unsicher werden könne.
Wenn dies so ist: Warum dann der Aufwand eines ganzen Buches, um das zweifelsfreie Dasein Gottes zu demonstrieren? Weil, so lautet Kants Antwort, »ein der Nachforschung gewohnter Verstand« einfach die »Begierde« hat, möglichst vollständige und zudem deutliche Erkenntnisse zu haben, die ihm erlauben, mehr über den Gegenstand der Erkenntnis zu wissen. Die Kehrseite dieser Begierde ist die »frechste Zweifelsucht« (2,160). Um dem einen gerecht zu werden und dem anderen zu begegnen, bleibt dem Philosophen nichts anderes übrig, als sich »auf den bodenlosen Abgrund der Metaphysik [zu] wagen« (2,66). Der Philosoph nimmt also ein Interesse daran, für die Sicherung der Erkenntnis einzutreten, selbst wenn er [51]dabei genötigt ist, sich an den Grenzen des Wissens zu bewegen. Es ist nicht damit getan, etwas nur zu erkennen, sondern es gehört zu den impliziten Bedingungen der Philosophie, für sie etwas zu riskieren. Im Einsatz für die Erkenntnis hat der Philosoph tatsächlich etwas zu wagen. Für Kant ist das Philosophieren ein Abenteuer der Erkenntnis. Und dabei geht es dem Menschen letztlich um die eigene Existenz.
Vielleicht ist es zunächst nur ein bislang für sicher gehaltener Bestand von Einsichten, den Kant mit seinem Vorstoß bis zum »bodenlosen Abgrund der Metaphysik« riskiert; es kann aber sehr schnell auch die Gewissheit einer ihm Halt gebenden Überzeugung sein. Vielleicht setzt er damit auch nur seinen guten Ruf oder seine akademischen Chancen aufs Spiel. Doch was es auch immer sei, worin er sich im Einsatz für das Wissen gefährdet: In jedem Fall ist er in seinem Dasein betroffen. Sein »Dasein« aber, seine »Existenz«, so wird es alsbald im Buch mit Blick auf Gott ausgeführt, ist seine »absolute Position« in der Welt (2,73).
16. Unbedingtheit als Abenteuer. Eine »absolute Position«, das wird die Entdeckung der kritischen Ethik sein, hat außer Gott