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Familie Mantoni unter Mordverdacht Carlina und Commissario Stefano Garini sind gerade erst zusammengezogen, da wird Lucio, der frisch gebackene Ehemann von Carlinas Cousine, in einer kompromittierenden Situation gefunden: Er liegt bewusstlos in den Armen einer erstochenen Prostituierten. Als Stefano ihn befragt, kann Lucio sich an nichts erinnern. Wieder einmal gezwungen, gegen die Mantonis zu ermitteln, gibt der Commissario sein Bestes, um einen Beweis für Lucios Unschuld zu finden. Doch mit jedem neuen Indiz zieht sich die Schlinge um Lucios Hals nur noch enger zu. Dabei hilft es auch nicht, dass die Familienoberhäupter, Tante Violetta und Onkel Teo, an einer neuen Geschäftsidee arbeiten, die sie in der Mordnacht zufällig direkt zum Tatort treibt …
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Titelseite
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Epilog
Die Florentinischen Morde
Über die Autorin
Leseprobe »Winterliebe in Venedig«
Immer Ärger mit der Famiglia
Florentinische Morde Nr. 8
von Beate Boeker
© 2025 Boeker, Beate
ISBN 9783759279446
Alle Rechte vorbehalten.
Copyright englische Erstausgabe »Tricky Death«
2019 Beate Boeker
Aus dem Englischen von Beate Boeker
Cover Design: Annissa Turpin
Dieses Buch darf ohne die schriftliche Erlaubnis der Autorin weder kopiert noch in irgendeiner Form weitergegeben werden.
Alle Handlungen in diesem Buch sind frei erfunden, und jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen sowie realen Handlungen ist rein zufällig.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
Das schrille Klingeln an der Tür riss Carlina aus ihren Träumen. Sie fuhr hoch und sprang aus dem Bett, bevor sie überhaupt wusste, wie ihr geschah, nur von einem einzigen Gedanken getrieben: »Mamma ist etwas zugestoßen!«
Ihre instinktive Reaktion war ganz natürlich: Wenn es mitten in der Nacht an der Tür klingelte, musste eine Katastrophe passiert sein. Und wenn es um eine Katastrophe ging, war es nur logisch, dass ihre Mutter mittendrin steckte.
Ihre nackten Füße berührten die Terrakottafliesen. Sie fühlte die Kälte der Aprilnacht nicht, aber ihr Kreislauf war durch die schnelle Bewegung überfordert, sodass sie sich für einen Augenblick am Regal festhalten musste. In ihrem Kopf drehte sich alles und kleine Sternchen erschienen vor ihren geschlossenen Augen. In diesem Augenblick stellte sie etwas fest, das sie sofort hätte bemerken müssen: Ihr Mann Stefano befand sich nicht im Raum. War er schneller aus dem Bett gewesen, seine Reaktionen durch all die Jahre bei der Kripo in Florenz trainiert?
Es klingelte erneut.
Carlina zuckte zusammen. Vielleicht war es gar nicht mammaan der Tür. Vielleicht hatte Stefano die Wohnung aus irgendeinem Grund verlassen und den Schlüssel vergessen? Sie schnappte sich einen Bademantel, warf ihn über und ging zur Tür. Im Vorbeigehen bemerkte sie die Zeit, 2.15 Uhr morgens. Furchtbar.
Sie war noch im Flur, als sie hörte, wie die Haustür geöffnete wurde. Dann sprach Stefano beruhigend auf jemanden ein. Also war es doch mamma. Sie eilte zur Tür und blieb erstaunt stehen, als sie Stefano in Schlafanzughosen sah, der die Tür für ihre Cousine Emma aufhielt.
Emmas normalerweise perfekte Frisur war völlig verwüstet, Tränen strömten ihr über das Gesicht und sie hielt ihr Baby an sich gedrückt, als ob jemand ihr das Kind entreißen wolle.
»Emma!« Auf einmal war Carlina hellwach. Sie lief auf ihre Cousine zu. »Ist etwas mit der kleinen Zoe?«
»Nein, nein.« Emma jammerte laut auf. »Es ist Lucio. Er hat mich verlassen.«
Carlina warf Stefano einen entsetzen Blick zu. »Blödsinn, Lucio betet dich an. Ihr seid doch noch nicht mal zwei Jahre verheiratet.«
Emma unterdrückte einen Schluckauf. »Er betet mich nicht mehr an. Er … er …«
»Komm erst mal rein.« Stefano legte eine Hand auf Emmas Schulter und zog sie sanft in die Wohnung, dann schloss er die Tür hinter ihr. »Es ist kalt, und du musst dich erst mal hinsetzen.«
Carlina blickte ihn dankbar an. Er schaffte es, immer ruhig und ausgeglichen zu bleiben, sogar wenn ihre Familie hysterische Anfälle bekam. Heute hatten sie allerdings ein neues Niveau erreicht. Bis jetzt waren noch nie Mantonimitglieder mitten in der Nacht in die Wohnung gestürmt.
Sie nahm ihre Lieblingsdecke aus falschem Leopardenfell und wickelte sie um Emmas Schultern. Dann gab sie ihr ein Taschentuch, setzte sich neben sie und tätschelte ihr Knie, während sie versuchte, einen Blick auf das Baby zu erhaschen. Das Gesicht der kleinen Zoe war kaum sichtbar, so sehr war sie eingewickelt, aber sie schien ganz friedlich zu schlafen.
Carlina seufzte erleichtert, dann wandte sie sich ihrer Cousine zu. »Nun erzähl erst mal.«
Stefano setzte sich ihnen gegenüber und hörte konzentriert zu, während sein forschender Blick auf Emma ruhte.
»Ich … ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.« Emma schluckte.
»Fang ganz am Anfang an.« Stefanos Stimme war ruhig. »Und dann erzählst du alles bis zum Ende.«
»Der Anfang.« Emmas Gesicht zuckte. »Ich glaube, es begann mit Zoes Geburt.«
»Ja?« Carlina lächelte ihr ermutigend zu.
»Na ja, es hat Lucio wirklich schockiert. Die Geburt, meine ich. Die Schmerzen. Als es vorbei war, hat er gesagt, dass er mich nie wieder so einer Tortur aussetzen möchte.«
Carlina schluckte. »Das lag daran, dass er sich solche Sorgen um dich gemacht hat. Er liebt dich so sehr, und es war ja nun wirklich keine einfache Geburt.«
Emma schloss die Augen. »Das habe ich auch zuerst gedacht, und ich fand, es war so lieb von ihm. Aber dann begann Zoe mit ihren … ihren Anfällen.« Sie hob ihren tragischen Blick zu ihnen. »Warum muss sie jeden Tag von fünf bis neun weinen?«
Carlina fühlte sich unwohl. Sie war keine Baby-Expertin, aber sie hatte Zoes Weinen sogar durch die dicken Wände zum Nachbarhaus hin gehört. Die Mantonis hatten schon alle möglichen Lösungen diskutiert, doch egal, was Emma ausprobierte, es half nichts. »Sie wird bestimmt damit aufhören, wenn sie drei Monate alt ist.«
»Aber sie ist erst drei Wochen alt, und ich drehe jetzt schon durch!« Emmas Gesicht zuckte. »Ihr habt keine Ahnung, wie das wirklich ist. Und jetzt hat Lucio mich verlassen, und ich bin ganz alleine mit ihr.«
»Warum denkst du, dass Lucio dich verlassen hat?« Stefanos Stimme klang ruhig.
»Weil er heute Nacht nicht nach Hause gekommen ist.«
Carlina setzte sich aufrecht hin. »Aber das ist doch kein Grund, anzunehmen, dass er dich verlassen hat. Vielleicht hatte er einen Unfall!«
»Nein.« Emma schüttelte den Kopf. »Ich fühle es. Er hat mich verlassen. Ich habe die Anzeichen gesehen.«
»Was für Anzeichen?« Carlina starrte ihre Cousine an. Ein Unfall war viel wahrscheinlicher. Sie sollten jetzt eigentlich die Krankenhäuser anrufen, anstatt hier herumzusitzen und zu jammern.
»Er … er hat mir immer wieder gesagt, dass er länger arbeiten muss.«
»Aber das ist doch nicht immer ein Anzeichen dafür, dass ein Mann untreu wird.« Carlina fuhr sich mit beiden Händen durch die Locken. »Er hat seinen neuen Job erst einige Wochen vor Zoes Geburt angetreten, also muss er sich etablieren und einen guten Eindruck hinterlassen.«
Emma schüttelte den Kopf. »Das dauert aber nicht bis Mitternacht.«
»Manche Geschäftsessen können so lange dauern«, sagte Stefano.
Carlina lächelte ihn an. Er sah entschieden sexy aus mit seinem verwuschelten Haar und seinem nackten Oberkörper. Seine Schlafanzughose war aus dunkelblauer Seide, ein Geschenk aus ihrem Unterwäschegeschäft Temptation. Sie stand ihm ziemlich gut. Mühsam riss sie ihre Gedanken von ihrem Mann los und konzentrierte sich wieder auf Emma.
»Das sind keine Geschäftsessen!« Emmas Stimme wurde lauter und die kleine Zoe jammerte leise im Schlaf. Emma küsste sie vorsichtig. »Er hat mir gesagt, dass er mit wichtigen Interessenten in Nachtclubs gehen muss. Mindestens zweimal pro Woche!«
»In Nachtclubs? Geschäftlich?« Carlina blinzelte.
»Ja. Das ist doch ziemlich unwahrscheinlich, oder? Und dann, kaum dass Zoe geboren war, musst er plötzlich noch länger arbeiten und jetzt ist er nur noch ganz selten Zuhause.« Ihre Tränen fielen wieder. »Und … und ich bin so fett und hässlich geworden, und jetzt verlässt er uns und …« Schluchzen schüttelte sie.
Carlina legte den Arm um sie und zog sie an sich. »Ach, Emmachen, du bist immer noch wunderschön. Mach dir keine Sorgen! Und natürlich ändert sich das Leben, wenn man ein Baby bekommt, aber ich bin sicher, dass er euch beide sehr liebt. Wenn er zu Hause ist, trägt er Zoe doch non-stop herum und der Blick in seinen Augen ist einfach unbeschreiblich, so zärtlich und liebevoll.«
»Aber er ist eben nicht mehr zu Hause! Hörst du mir denn gar nicht zu? Er geht morgens um acht aus dem Haus, unfreundlich und genervt, und kommt erst gegen Mitternacht zurück, erschöpft und noch schlechter gelaunt. Aber so spät wie heute war er noch nie und zwei Uhr morgens ist wirklich das Limit! Ich glaube nicht mehr an seine Ausreden. Kunden um Mitternacht! Zweimal die Woche! Ha! Er muss mir jetzt endlich die Wahrheit sagen. Ich muss es wissen, selbst wenn es mir das Herz bricht!« Sie blickte auf ihre Tochter. »Ich hätte nie gedacht, dass unsere Ehe sich so schnell auflösen würde, und ich dachte, dass es traumhaft sei, ein Baby zu bekommen. Natürlich ist es pure Magie, aber es ist auch so wahnsinnig anstrengend und so schwierig.«
Carlina erkannte ihre Cousine kaum wieder. Emma war sich ihres Wertes immer sehr bewusst gewesen. Sie wusste, wie schön sie war und war absolute fokussiert auf die Dinge, die sie erreichen wollte. Sie war ganz und gar nicht der Typ für Nervenzusammenbrüche, aber andererseits hatte sie natürlich auch noch nie so wenig geschlafen und vermutlich waren ihre Hormone völlig durcheinander, sodass sie empfindlich und unglücklich wurde. »Nun ziehe keine voreiligen Schlussfolgerungen, Emma.« Das klang selbst in ihren eigenen Ohren schwach. »Lass uns erst mal Lucio finden. Ich bin sicher, dass er eine vernünftige Erklärung für sein Verhalten hat.«
Stefano stand auf. »Ich rufe auf der Wache an. Wenn es einen Unfall gab, wissen sie es auf jeden Fall.«
Emma schniefte. »Vielleicht bin ich ja schon Witwe.«
»Emma, nun reicht‘s!« Carlina schüttelte sie ein wenig. »Sieh nicht alles schwarz! Ich mache dir einen Kräutertee zur Beruhigung.« Sie stand auf und ging in die Küche. Durch die offene Tür sah sie, wie Stefano das Telefon in die Hand nahm. Er lächelte Emma beruhigend zu, dann folgte er Carlina in die Küche und schloss die Tür leise hinter sich. Einen Augenblick später sprach er in den Hörer. »Gloria, hier ist Stefano Garini.«
»Stefano! Wie kommt es, dass du mich mitten in der Nacht anrufst? Du hast doch heute keinen Dienst, oder?« Ihre Stimme war so laut wie eine Trompete und klang durch die stille Küche wie eine Fanfare.
Carlina konnte jedes Wort verstehen.
»Nein, ich bin zu Hause, aber ich mache mir ein paar Sorgen um … einen Cousin von mir.«
Carlina lächelte in sich hinein. Lucio hatte genau wie Stefano in den Mantoni-Clan eingeheiratet, also waren sie nicht blutsverwandt, aber es war schön zu sehen, dass Stefano ihn als Verwandten betrachtete.
Stefano klemmte sich das Telefon zwischen Ohr und Schulter und begann damit, eine Tasse Kaffee zu machen. »Gibt es irgendwelche Unfallberichte heute Nacht?«
»Ein paar. Soll ich dir die Namen vorlesen?«
»Ich suche nach Lucio Casanuova. Könntest du bitte mal schauen, ob er irgendwo aufgeführt wird?«
»Na klar!« Gloria trällerte wie ein glücklicher Vogel. »Lass mich nur schnell diese Datei hier öffnen. Weißt du, es ist ein echtes Vergnügen, deine Stimme so unerwartet zu hören. Du sprichst tagsüber ja kaum mit mir. Immer so beschäftigt.«
Stefano verdrehte die Augen und antwortete nicht.
»Aber jetzt bist du natürlich auch ein verheirateter Mann.« Gloria seufzte so tief, dass ihr Atem wie ein Wüstensturm durchs Telefon kam.
Carlina stellte den Wasserkocher an und schüttelte den Kopf.
»Genau.« Stefanos Stimme klang trocken. »Und meine Frau ist sehr besorgt um ihren Cousin, daher wäre ich dankbar, wenn du schnell durch die Meldungen schauen könntest.«
»Immer mit der Ruhe, immer mit der Ruhe. Du kennst doch unser System, das ist nicht das Schnellste. Ahhhh, hier ist es ja schon. Lass mich mal sehen …« Sie fing an, unverständliche Namen vor sich hinzumurmeln. »Hast du Lucio gesagt? Wir haben einen Lucio hier. Autounfall.«
Carlina blickte Stefano entsetzt an.
Er legte ihr den Arm um die Schultern und zog sie an sich. »Sein Name ist Lucio Casanuova.«
»Dann ist er es nicht. Dieser hier heißt Lucio Dalla. Lustig. Wie der Sänger. Aber der ist ja schon 2012 gestorben. Der Sänger, meine ich. Also kann er es nicht sein.«
Carlina biss die Zähne zusammen.
»Gibt es noch eine andere Info, die sich auf den Lucio beziehen könnte, nach dem ich suche?« Stefano klang immer noch ganz ruhig.
»Nee, hier ist gar nichts. Obwohl … lass mich noch mal in die anderen Meldungen schauen. Wäre ja blöd, wenn wir etwas übersehen. Wie ist es denn bei dir so? Schrecklich ungemütlich heute Nacht, oder? Viel zu kalt für April. Ich kann es kaum erwarten, bis der Frühling kommt. Ich habe geplant, neue Blumen für meinen Balkon zu kaufen und –« Sie brach ab. Schlagartig veränderte sich die Atmosphäre von entspannt zu bedrohlich. »Sagtest du Lucio Casanuova?« Ihre Stimme klang auf einmal ernst.
»Ja.«
Carlina kuschelte sich enger an Stefano, die Wange an seiner Brust. Das gleichmäßige Schlagen seines Herzens war beruhigend, obwohl es sich jetzt etwas beschleunigte.
»Lucio Casanuova, mit C, richtig?«
»Ja.« Stefano sprach durch zusammengebissene Zähne.
»Es tut mir leid.« Gloria schluckte so schwer, dass sie es durch das Telefon hören konnten. »Er ist im Gefängnis.«
Stefano fühlte, wie Carlina an seiner Seite zusammenzuckte. Gott sei Dank hatte er die Tür geschlossen. Es würde ein ganzes Stück an Diplomatie nötig sein, um Emma diese Nachricht schonend beizubringen. »Weshalb?« Seine Stimme klang scharf.
Gloria schluckte wieder hörbar. »Mord.«
Stefano und Carlina schauten sich ungläubig an.
Stefano runzelte die Stirn. »Es muss absolut offensichtlich gewesen sein, wenn sie ihn auf der Stelle verhaftet und ins Gefängnis mitgenommen haben.«
»Der Eintrag gibt keine weiteren Details her. Er wurde erst … lass mich mal sehen … vor zwei Minuten eingegeben.«
»Wer ist für den Fall zuständig?« Stefanos Frage kam hart und scharf wie ein Geschoss.
»Sergio Marasi.«
Stefano atmete auf. Sergio war sein Kollege und er wusste, dass er sich auf ihn verlassen konnte. Noch viel besser, wenn Sergio offiziell zuständig war, konnte niemand auf die Idee kommen, Stefano den Fall zu übertragen. Dies war das erste Mal, dass ein Mantoni-Fall nicht von ihm direkt untersucht wurde. Gott sei Dank. »Gut. Ich rufe ihn an.«
»Tu das. Wir sehen uns morgen.«
Er legte auf und starrte Carlina an.
Der Kessel fing an zu pfeifen. Wie in Trance drehte Carlina sich herum, legte sorgfältig einen Teebeutel in eine Tasse und goss das kochende Wasser darüber. Ein aromatischer Duft zog in die Höhe. Carlina holte tief Luft. »Wirst du deinen Kaffee trinken, bevor du losfährst?«
Er schaute seine Frau mit einem Lächeln an. Man konnte sich darauf verlassen, dass Carlina nicht hysterisch wurde. Wie hatte sie es bloß geschafft, so normal zu werden, mit dem ganzen verrückten Mantoni-Clan im Hintergrund? »Ich trinke ihn noch, aber vorher muss ich Sergio anrufen.« Während er sprach, tippte er schon die Nummer ein.
Sergio ging sofort an den Apparat. »Pronto!«
»Sergio, hier ist Stefano. Bitte entschuldige, dass ich dich mitten in der Nacht störe.«
»Kein Problem, Stefano. Ich bearbeite eh gerade einen Fall.« Sergios pfeifender Atem vermittelte den Eindruck, er stünde in einem Sturm.
»Ich weiß. Ich rufe an, weil wir ein Mitglied der Mantonis vermissen. Gloria sagte mir, dass du ihn gerade ins Gefängnis gesteckt hast.«
»Lucio Casanuova ist ein Mantoni?« Sergio klang entsetzt.
»Er hat eine geheiratet, und sie ist die Cousine meiner Frau.«
Sergio schluckte hörbar. »Porca miseria.«
»Genau.« Stefano gab seinem Kollegen einen Augenblick, um die schlechte Nachricht zu verdauen, dann fragte er: »Was ist geschehen?«
Der Sturm wurde zu einem Tornado, während Sergio Luft holte und sie langsam wieder ausstieß. »Ich würde dir das lieber persönlich sagen.«
Stefano runzelte die Stirn. Das klang nicht gut. »Ich habe seine Frau und meine hier, und beide machen sich riesige Sorgen. Kannst du mir nicht wenigstens ein paar Details nennen?«
»Du kommst besser hierher.«
Stefano kannte diese Stimmlage. Sergio war zwar der sanfteste Mann unter der Sonne, aber er konnte auch extrem dickköpfig werden. »Gut. Ich bin schon auf dem Weg.« Er legte auf, stellte das Telefon in die Ladeschale zurück und schaute Carlina an. »Hast du mithören können?«
»Nein. Da schien irgendwie viel Wind zu sein, sodass ich nichts verstehen konnte.«
»Sergio möchte mir nicht sagen, was geschehen ist. Ich muss zur Wache.«
»Jetzt, auf der Stelle?«
»Ja.« Er nahm seine Tasse und kippte den Kaffee hinunter.
Sie schloss die Augen. »Das klingt ziemlich übel.«
»Ja.«
»Danke, dass du mitten in der Nacht hingehst. Das ist lieb von dir.« Sie schloss beide Hände um ihre Tasse. »Ich vermute mal, dass ich nicht mitkommen kann, oder?«
»Du vermutest ganz richtig. Außerdem ist es besser, wenn du hier bei Emma bleibst.«
»Ja, natürlich.« Ihre Augen weiteten sich. »O Madonna, wie bringen wir das Emma bei?«
»Du sagst ihr erst mal nur, dass ich zur Wache gegangen bin, um mehr herauszufinden. Es bringt ja nichts, wenn wir sie noch nervöser machen, als sie schon ist.«
»Vielleicht zieht sie es vor zu hören, dass Lucio in einen Mord verwickelt wurde, als weiterhin zu glauben, dass er bei seiner Geliebten ist.«
Stefano legte den Kopf schief. »Wirklich? Das ist dann wohl ein Mantoni-Ding.«
Sie lächelte. »Nein. Ich finde das völlig nachvollziehbar.«
»Wieso?«
»Weil es durchaus möglich ist, durch einen blöden Zufall in einen Mord verwickelt zu werden. Das sucht man sich nicht aus. Aber eine Geliebte bekommt man nicht mal eben so durch ein wenig Pech. Das ist etwas, wofür man sich bewusst entscheidet, und daher bietet es mehr Sprengpotential für eine Ehe.«
»Verstehe.« Er schüttelte nachdenklich den Kopf. «Von dieser Seite aus hätte ich es niemals betrachtet. Weißt du was? Ich überlasse es dir, zu entscheiden, wie du sie behandeln willst. Du hast mehr Erfahrung.«
Sie nickte und öffnete langsam die Tür. »Gut.«
Emma hatte sich auf dem Sofa zusammengerollt, die kleine Zoe in der Armbeuge. Beide schliefen tief und fest.
»Gut.« Stefano beugte sich vor und küsste Carlina auf die Wange. »Versuche auch ein wenig zu schlafen. Ich komme so schnell zurück, wie ich kann.«
Er zog sich eilig an und verließ geräuschlos die Wohnung. Jede Müdigkeit, die er noch gefühlt hatte, wurde von dem scharfen Aprilwind draußen davongefegt. Dieses Jahr schien der Sommer gar nicht kommen zu wollen. Sein Motorrad klang lauter als sonst, als er den Motor anwarf. Er fuhr rasch die Via delle Pinzochere hinab, bog rechts auf die Piazza di Santa Croce ab, vorbei an der Marmorstatue von Dante Alighieri, der seinen marmornen Mantel in einer Hand hielt, als ob er dankbar für die Wärme sei.
Zu dieser nachtschlafenden Zeit war ganz Florenz im Tiefschlaf, also brauchte er nicht lange zur Polizeiwache. Fröstelnd lief er nach drinnen, winkte Gloria an der Rezeption zu und eilte die Stufen zu Sergios Büro hinauf. »Nun erzähle mir bitte alles.«
Sergio hievte seinen massiven Körper aus dem Stuhl heraus und schaute ihn mit einem Ausdruck an, der irgendwie mitleidig wirkte. »Es sieht leider nicht gut aus.«
»Das habe ich begriffen.«
»Setz dich.«
Garini warf sich in den Stuhl, auf den Sergio gezeigt hatte. Er wünschte, Sergio würde endlich zum Thema kommen. Nichts konnte so schlimm sein wie die Dinge, die er sich gerade vorstellte.
»Ich habe um ein Uhr morgens einen Anruf von den Kollegen im Drogendezernat erhalten.«
»Vom Drogendezernat?« Sofort spukten furchtbare Möglichkeiten in Garinis Kopf herum. Aber was konnte Lucio damit zu tun haben? Er hatte ihn immer als vorsichtigen Typen eingestuft, konservativ bis ins Mark – wenn er nicht gerade wütend wurde.
»Die Kollegen haben schon seit einiger Zeit einen Nachtclub beobachtet, weil sie vermuteten, dass dort mit Drogen gedealt wird.«
Ein Nachtclub. Garini zuckte zusammen. Hatte Lucio Emma also doch die Wahrheit gesagt? Hatten seine Geschäftsverabredungen im Nachtclub stattgefunden? Aber was war das für ein Geschäft?
Sergio schaute ihn an. »Der Club heißt Inferno d'Oro. Schon mal gehört?«
»Nein.«
»Nun, sie machen auch keine Werbung. Da kommt man nur auf Einladung rein. Heute bekam das Drogendezernat einen Tipp und stürmte den Club, so um Mitternacht herum. Sie fanden keine Spur von den Dealern, die sie eigentlich erwischen wollten. Stattdessen fanden sie … eine Leiche.«
»Eine Leiche?«
»Ja.« Sergio seufzte so tief auf, dass sein ganzer Körper erzitterte. »Und das war wirklich schade, denn sie war gerade ausgesprochen nützlich für uns geworden.«
Stefano verstand sofort. »Du meinst, sie war ein Spitzel? Und sie wurde umgebracht?«
»Ja. Sie war eine der regulären Prostituierten in dem Club. Anscheinend hatte der große Boss eine Vorliebe für sie, aber irgendwie ist diese Beziehung schief gegangen, und daraufhin hat sie sich entschieden, ihm eins auszuwischen, indem sie ein wenig Insiderwissen an die Polizei weitergab.«
»Wieviel hatte sie uns schon verraten?« Er war jetzt ganz Polizist.
»Genug, um uns klar zu machen, dass unser Verdacht auf soliden Füßen stand. Der Club war ein Verteilerzentrum, aber wir wissen nicht, wo das Material herkommt und vor allem wissen wir noch nicht, wer die Fäden im Hintergrund zieht und wer den Import organisiert. Darum hat das Drogendezernat die Sache auch erst einmal nur beobachtet. Letzte Nacht hat die Prostituierte ihnen das vereinbarte Zeichen gegeben, um den Laden hochgehen zu lassen. Sie hat ihnen versprochen, dass sie Beweise finden würden, sowie eine direkte Spur zu dem, der an der Spitze der ganzen Organisation steht.«
»Und?«
Sergio seufzte wieder tief auf. »Und sie stürmten den Club und das Einzige, was sie fanden, war die Prostituierte selbst … erstochen.«
»Verdammt.«
»Ja.« Sergio blickte traurig auf seine gefalteten Hände.
»Du meinst, der Club war leer?«
»Nein, nein, nicht leer. Es waren jede Menge Leute da, und wir müssen ihre Hintergründe alle im Detail prüfen. Es ist noch zu früh, um zu wissen, was genau geschehen ist. Vielleicht können wir ja noch etwas retten. Vielleicht auch nicht. Unsere wichtigste Informationsquelle ist heute Nacht gestorben.«
»Und Lucio war einer der Leute, die euch dabei ins Netz gegangen sind?«
»Hmm.« Sergio zog eine Grimasse und starrte auf seine gefalteten Hände, als ob sie ihn retten könnten.
»Sergio?«
»Ja?« Er blickte immer noch nicht hoch.
»Was verbirgst du vor mir?«
Sergio zuckte zusammen. »Dieser Lucio Casanuova, ist er ein echter Mantoni?«
»Er hat in die Familie eingeheiratet, genau wie ich, aber er hat Emma schon im September vor eineinhalb Jahren geheiratet.« Er würde das Datum nie vergessen. Am Tag nach Emmas und Lucios Hochzeit hatte er Carlina kennengelernt.
»Verstehe.« Sergio schluckte sichtbar. »Es ist ein ziemlich enger Familienverband, oder?«
»Sehr.« Mit jedem Wort fühlte sich Garini unwohler. »Jetzt hör auf, hier herumzudrucksen, und sag mir, was los ist.«
Sergio nahm die Schultern zurück. »Ich erzähl dir alles, was ich weiß, aber bitte merke dir, dass das alles nur Informationen aus zweiter Hand sind. Die Drogenleute haben mir diese Infos gegeben, als ich am Tatort ankam.«
»Okay.«
»Nun, sie haben die zwei Eingänge, die ihnen bekannt waren, blockiert – einen Hinterausgang, einen vorne. Dieser Club liegt übrigens nicht irgendwo draußen auf dem Land, wie sonst üblich, sondern mitten in der Innenstadt, nur eine Straße vom Santa Maria Novella Bahnhof entfernt. Von außen würdest du nie auf die Idee kommen, dass das ein edler Nachtclub ist. Nur hohe Wände, ein paar Graffitis, ein zerbeulter Mülleimer, der nach verrottetem Fleisch riecht, und eine kleine Tür mit abblätternder Farbe.«
»Sergio?«
»Ja?«
»Erspare mir die malerischen Beschreibungen. Bitte.«
»Oh. Gut.« Sergio räusperte sich. »Wo war ich?«
»An der Tür.«
»Genau. Die Tür. Na ja, du klopfst auf eine bestimmte Art und Weise an und dieses Klopfen wird regelmäßig geändert. Wir haben noch nicht herausgefunden, wie sie das neue Klopfsignal kommunizieren. Es scheint kein System dahinter zu stecken, zumindest ist es nicht erkennbar. Die Kollegen vom Drogendezernat wussten sehr wohl, dass es vielleicht noch weitere Geheimausgänge gibt und haben alles geprüft, aber bis jetzt haben sie sie noch nicht gefunden.« Er schaute einmal flüchtig hoch, dann wieder weg. »Es gibt sogar ein Gerücht über einen versteckten Tunnel oder Keller oder so, der direkt in den Club führt. Und du weißt ja, dass das hier in Florenz gar nicht so unwahrscheinlich ist. Denk nur an den Vasarikorridor.«
»Der Vasarikorridor ist kein Tunnel.«
»Nein, natürlich nicht, aber es war eine Art Geheimgang, dank dem man es sogar schaffte, den Arno zu überqueren, also kann man sich gut vorstellen, dass die Medici noch ein paar andere gebaut haben, oder?«
Garini zwang sich, ruhig zu bleiben. »Lass uns jetzt nicht die möglichen Aktivitäten der Medici besprechen. Du warst in deiner Beschreibung am Eingang des Clubs stehengeblieben.«
»Ach, ja. Na ja, mit der Info, die wir von der Prostituierten erhalten hatten, die übrigens Ambrosia Amore hieß, haben wir –«
»Das ist nicht dein Ernst.«
Sergio zuckte mit den Schultern. »Nun, ich gehe davon aus, dass es ein Künstlername ist. Sie hat niemandem ihren richtigen Namen verraten.«
»Okay. Entschuldige, dass ich dich unterbrochen habe.«
»Ambrosia Amore hat den geheimen Klopfcode an das Drogendezernat weitergegeben und ihnen gesagt, dass sie um Punkt Mitternacht den Laden stürmen sollten.«
»Klingt wie ein Roman.«
»Na und?« Sergio breitete die Hände aus. »Das Leben ist seltsamer als Fiktion, das weißt du genau wie ich.« Er stieß die Luft aus. »Wo war ich?«
»Am Eingang. Schon seit mindestens fünf Minuten.«
Sergio beäugte ihn. »Du verlierst nicht die Geduld mit mir, oder? Denn wenn das so ist, wäre ich lieber nicht in der Nähe.«
»Ich verliere meine Geduld keinesfalls, aber ich möchte wirklich gern wissen, warum du es für notwendig gehalten hast, Lucio Casanuova vom Fleck weg zu verhaften, und es sieht so aus, als ob wir diesem Thema irgendwie überhaupt nicht näher kommen.«
Sergio schluckte schwer. »Wir kommen gleich zum Punkt.«
»Ich nehme an, die Tür öffnete sich aufgrund des richtigen Codes, und die Drogenleute stürmten den Laden.«
»Richtig.« Sergio nickte. »Und dann brach das Chaos aus. Irgendjemand schoss auf das Licht, sodass es stockduster wurde. Die Leute schrien und rannten wild durcheinander. Das Drogendezernat hatte die Eingangstür offen gelassen, was sehr praktisch war, denn sie war so schmal, dass die Gäste des Clubs nur einer nach dem anderen herauskamen. So konnten sie vom Willkommenskommittee, das sie dort aufgebaut hatten, abgefischt werden. Die Kollegen hatten damit gerechnet, dass das Licht ausfallen würde, also hatten sie starke Taschenlampen mitgebracht. Sie fanden einige verschüttete Getränke, sogar die eine oder andere Ratte–«
»Was? Mitten in der Schlacht?«
»Ja. Komisch, oder? Ich dachte immer, dass Ratten wissen, wann sie das sinkende Schiff verlassen müssen. Aber wie dem auch sei, in kürzester Zeit war der Laden komplett leer. Nur der Inhaber, Salvatore Ditto, blieb drin. Er stand hinter der Bar, polierte seine Cocktailgläser und verfluchte die Polizei dafür, dass sie sein Geschäft ruinierten.«
»Er hat weiter die Gläser poliert?«
»O ja. Als ob sein Leben davon abhinge. Aber sie ignorierten ihn und durchsuchten akribisch die ganze Anlage. Hinter einer Tür, die nur schwer zu entdecken war, weil sie dunkelgrau gestrichen war wie alle Wände in dem Gebäude, fanden sie einen geheimen Raum.«
»Was für einen geheimen Raum?«
»Einen Raum, in dem du eine Prostituierte treffen kannst, mit einem großen Bett und sonst nichts.«
»Verstehe. War er verschlossen?«
»Ja. Wir haben den Schlüssel später in der Tasche von Ambrosia Amore gefunden. Die Angestellten haben alle Schlüssel zu den Geheimräumen. Eines der anderen Mädels gab uns ihren, und so sind wir hineingekommen. Auf dem Bett haben wir Ambrosia Amore gefunden, von hinten erstochen.«
»Ich verstehe immer noch nicht, was Lucio damit zu tun hat.«
Sergio schluckte wieder so schwer, dass sein Adamsapfel hüpfte. »Lucio Casanuova war auch in dem Raum.« Seine Stimme klang, als ob er sich weit weg wünschte.
»Im gleichen Raum wie die tote Prostituierte?« Garinis Herz sank.
»Ja.« Sergio hob eine zitternde Hand an die Stirn. »Weißt du was? Ich glaube, ich bekomme Fieber. Ich fühle mich ganz seltsam. Ausgesprochen seltsam. Und es juckt ganz fürchterlich auf meiner Kopfhaut.«
»Oh, nein, mein Lieber.« Garini schüttelte grimmig den Kopf. Er kannte die Tendenz seines Kollegen, sich jede Krankheit unter der Sonne zuzuziehen. »Denk noch nicht einmal daran. Du wirst nicht krank und du wirst mir jetzt ganz genau sagen, wie du Lucio vorgefunden hast.«
»Aber ich sag‘s dir doch schon!«
»Bis jetzt habe ich nur eine lyrische Beschreibung des Nachtclubs mit ekelhaften Details wie Gerüchen und Ratten gehört, aber die Details, die ich wirklich wissen will, verschweigst du mir.« Garini stand auf und beugte sich über den Tisch. »Was war mit Lucio? Er war im gleichen Raum wie die tote Frau, hast du gesagt?«
»Ja«, krächzte Sergio. »Im gleichen Raum.«
»Wo genau?«
»Auf … auf dem Bett.«
»Auf dem Bett?« Garini blinzelte.
»Ja. In ihren Armen.«
Garini war sprachlos. Dann schaffte er es, zu wiederholen, was er gehört hatte. »Er hielt die tote Prostituierte in seinen Armen?«
»Ja.« Sergio zog eine Grimasse.
»Versuchst du mir gerade sanft beizubringen, dass Lucio auch tot ist?«
»Oh, nein, nein, nein. Das würde ich niemals tun. Nein, nein, es geht ihm gut. Er ist unverletzt. Na ja, wenn man die eine Sache nicht mitzählt …« Sergios Stimme wurde leiser.
»Was nicht mitzählt?« Er würde Sergio erwürgen, wenn er sich weiterhin die Nachrichten so aus der Nase ziehen ließ.
»Na ja, den Alkohol.«
»Welchen Alkohol?«
»Er hatte eine schwere Alkoholvergiftung. Er war nicht bei Sinnen. Ist es vermutlich immer noch nicht.«
»Du meinst, er hielt eine tote Prostituierte in den Armen, so sturzbetrunken, dass er es noch nicht mal bemerkte?«
»Äh.« Sergios blasse Wangen röteten sich. »Ja.«
»Und darum habt Ihr ihn festgenommen?«
»Nein.« Sergio schüttelte betrübt den Kopf. »Nein, deshalb haben wir ihn nicht festgenommen.«
»Sergio. Sprich jetzt endlich Klartext mit mir. Du bringst mich schier um. Warum hast du ihn auf der Stelle verhaftet?«
»Ich …« Sergio verzog das Gesicht. »Ich habe ihn verhaftet, weil seine Fingerabdrücke auf dem Messer waren, das in Ambrosia Amores Rücken steckte.
Carlina fuhr aus dem Schlaf hoch. Emma, in Tränen aufgelöst an der Tür – war das ein Traum oder Wirklichkeit gewesen? Die Ereignisse der letzten Nacht standen auf einmal wieder klar vor ihr. Nein, es war kein Traum gewesen. Leider. Vorsichtig hob sie Stefanos Arm hoch, mit dem er sie eng an sich gezogen hatte, und schlüpfte aus dem Bett.
Er bewegte sich nicht. Wenn er so tief schlief und sich noch nicht einmal rührte, wenn sie das Bett verließ, musst er völlig erschöpft sein. Wann war er von der Wache zurückgekommen? Und warum hatte er sie nicht geweckt und ihnen gesagt, was er herausgefunden hatte?
Mit gerunzelter Stirn verließ sie das Schlafzimmer und schloss die Tür leise hinter sich. Auf dem Sofa saß Emma wie eine verstimmte Schönheitskönigin. Sie gab Zoe gerade die Brust, aber ihre Aufmerksamkeit war von einem Zettel in Anspruch genommen, den sie in einer Hand hielt. »Nun schau dir das mal an!« Ihre Stimme klang verächtlich.
»Ich wünsche dir auch einen schönen Morgen.« Carlina gähnte und nahm den Zettel in die Hand. Sie erkannte Stefanos charaktervolle Handschrift sofort. »Lucio hatte keinen Unfall, und er ist nicht bei einer anderen Frau. Mehr später.« Sie schluckte. Das klang nach einer sorgfältig formulierten Nachricht, bei der eine Menge an Informationen weggelassen worden waren. Aber um Emmas Willen schaffte sie es, ein Lächeln herauszuquetschen. »Aber das sind doch gute Nachrichten, oder?«
»Nicht wirklich.« Emma zog eine Grimasse. »Wenn er gesund ist und nicht bei einer anderen Frau, wo zur Hölle steckt er dann? Warum kam er letzte Nacht nicht nach Hause? Und warum hat Stefano uns nicht mehr gesagt? Ich wette, er weiß mehr, aber er versucht, es zu verstecken. Das ist alles andere als beruhigend.« Ihre Stimme wurde lauter.
Zoe hob den Kopf und wimmerte leise.
Sofort beugte sich Emma über sie. »Schhhh, mein Liebling«, flüsterte sie. »Es wird alles wieder gut.« Dann wandte sie sich wieder an Carlina. »Würdest du mit zu mir kommen? Ich hasse den Gedanken daran, ganz alleine in der Wohnung rumzusitzen, bis Lucio endlich kommt oder anruft.«
Carlina zögerte, aber nur einen Augenblick. Dies war eine Krise, und sie musste Emma helfen, obwohl ihr luxuriöses Unterwäschegeschäft in der historischen Altstadt von Florenz sie auch brauchte. Aber die Familie hatte Vorrang. »Natürlich. Meine Assistentin wird den Morgen alleine schaffen, doch es kann sein, dass ich später hingehen muss.«
Emma nickte nur, wickelte Zoe ein, die jetzt satt und müde war, und stand auf. »Dann lass uns gehen. Zoe ist morgens immer ein Sonnenschein, also werden wir einige ruhige Stunden haben.«
Emma lebte im Nachbarhaus, zusammen mit dem größten Teil des Mantoni-Familienclans. Die Wohnungen zogen sich über vier Etagen, zwei auf jeder Seite. Auch Carlinas und Stefanos Wohnung war ein Teil davon, doch aus unerfindlichen Gründen, konnten sie ihre Wohnung nur durch das Treppenhaus des Nachbarhauses betreten. Laut Stefano war das der Hauptgrund, warum er sich bereiterklärt hatte, in diese Wohnung zu ziehen. Carlina hoffte, dass mitternächtliche Familienbesuche ihn nicht dazu bringen würden, seine Meinung zu ändern und eine größere Distanz zu suchen.
Sie öffneten die schwere Holztür der Via delle Pinzochere 10 und wurden von einem wütenden Zischen und einen Schrei begrüßt. »Schließt sofort die Tür!«
Sprachlos starrte Carlina auf die versammelte Familie, die sich im Eingangsbereich des alten Hauses tummelte. Die Jüngeren lagen auf ihren Knien, und die Älteren standen aufgereiht auf der Treppe, wie Generäle, die ein Schlachtfeld überwachten. Sie schienen alle nach etwas zu suchen.
»Nun steht da nicht rum wie Salzsäulen! Kommt rein und schließt die Tür!«, bellte Tante Violetta, die Matriarchin der Familie. Ihre Stimme klang sehr viel kräftiger, als man von einer Neunundneunzigjährigen eigentlich erwarten konnte. Tante Violetta war ausladend und stark und normalerweise in einem Rollstuhl unterwegs, doch heute stand sie auf der untersten Treppenstufe und strahlte Energie aus.
Carlina gehorchte rasch, indem sie Emma und Zoe mit durch die Tür zog.
»Ahhh, da ist ja mein kleines Mädchen!« Benedetta, die Mutter von Emma, kam mit einem hingerissenen Lächeln und ausgestreckten Armen auf sie zu, um ihre Enkelin in Empfang zu nehmen. »Wie geht es dir, meine Süße?«, gurrte sie. Ihr Erkennungszeichen, der leuchtend rote Lippenstift, war selbst in der schwach ausgeleuchteten Eingangshalle gut zu sehen.
Zoe gluckste.
»Kann jemand mal für etwas mehr Licht sorgen?« Fabbiola, die Mutter von Carlina, stand ebenfalls auf der Treppe, zwei Stufen über Tante Violetta. Sie hatte ihren weiten Rock eng um sich gewickelt und sah aus wie ein beleidigter Storch. »In diesem schlechten Licht finden wir ihn nie.«
»Wen?« Carlina blickte sich um.
Ernesto, mit seinen neunzehn Jahren der Jüngste im Haus, der auf allen Vieren auf dem Boden herumgekrabbelt war, hockte sich nun hin und fuhr sich mit einer Hand durch das leuchtend rote Haar. »Gustavo II«, sagte er mit einem Grinsen.
Carlina blinzelte. »Gustavo der Zweite? Wer um alles in der Welt ist das?«
Ernestos Grinsen wurde breiter. »Es ist ein Meerschweinchen.«
»Ein reinrassiges Exemplar«, erklärte Tante Violetta. »Ich habe jede Menge Geld für ihn bezahlt, und wir können ihn jetzt nicht einfach verlieren, nachdem wir letzte Nacht schon –« Sie brach ab und wechselte einen verschwörerischen Blick mit Onkel Teo, dem Patriarchen der Familie, der zwanzig Jahre jünger war als sie.
Er stand vor der rot gestrichenen Tür, die zu seiner Wohnung führte, und betrachtete die Familie mit einem besorgten Gesichtsausdruck. »Gustavo II kann nicht weit weg sein«, sagte er. »Ich bin sicher, wir finden ihn bald. Hier ist ja schließlich kaum Platz, um sich zu verstecken.«
»Seit wann haben wir Meerschweinchen?«, fragte Carlina.
»Seit Tante Violetta entschieden hat, dass das das nächste große Ding ist«, fauchte Fabbiola.
»Das nächste große Ding?«, wiederholte Emma langsam, während sie den Flaum auf dem Kopf ihrer Tochter streichelte. »Inwiefern?«
»Es ist meine neue Geschäftsidee.« Tante Violetta hob ihr faltiges Kinn.
Carlina hielt die Luft an.
»Und es ist so viel cooler, als ein Bordell für Frauen zu eröffnen!«, sagte Ernesto vom Boden. Er grinste immer noch von Ohr zu Ohr.
Benedetta fuhr zu ihrem Jüngsten herum, den roten Mund an den Ecken nach unten gezogen. »Ernesto!«
»Was denn?« Ernesto hob beide Hände. »Das hat Tante Violetta doch wirklich vorgehabt, bevor sie auf die Idee mit den Meerschweinchen kam.«
Fabbiola erschauderte. »Gott sei Dank hat sie das Projekt mittlerweile aufgegeben.«
Ernesto nickte. »HR Probleme«, sagte er weise. »Fachkräftemangel.«
»Ernesto!« Benedetta funkelte ihn an.
»Was ist HR?«, fragte Onkel Teo.
»Human Resources«, sagte Carlina. »Oder zu Deutsch: Personal. Aber ich hab‘s immer noch nicht begriffen. Was ist das für eine Geschäftsidee, für die man Meerschweinchen braucht?«
Fabbiola erschauderte wieder. »Glücksspiel.«
Carlina blieb der Mund offen stehen. »Was? Glücksspiel mit Meerschweinchen?«
»Ja.« Tante Violetta strahlte sie an. »Es ist total innovativ. Ich bin ein Start-Up, und ich werde Subventionen vom Staat beantragen.«
Carlina schluckte. Und sie hatte gedacht, dass es nichts Exotischeres gab, als ein Bordell für Frauen zu eröffnen.
»Ich begreife nicht, warum deine Projekte immer illegal sein müssen.« Fabbiola sog verächtlich die Luft durch die Nase. »Warum kannst du nicht mal mit einem schönen Hobby anfangen, zum Beispiel Stricken. Das würde zu deinem Alter passen.«
»Es ist kein Hobby! Es ist eine Geschäftsidee!« Tante Violetta richtete sich auf. »Und es ist absolut legal. Italien hat in den letzten Jahren sehr große Fortschritte gemacht, was die Glücksspiel-Gesetzgebung betrifft. 2007 hat die Regierung angefangen, die Regeln zu lockern, und die letzte Anpassung kam 2012. Seitdem sind Spielautomaten erlaubt.«
Fabbiola starrte sie an. »Willst du Meerschweinchen in Spielautomaten stecken?«
»Natürlich nicht! Das wäre Tierquälerei. Ich zitiere nur ein Beispiel, damit du siehst, dass ich mich umfassend erkundigt habe.«
Carlina blinzelte. Diese Art von unzusammenhängender Unterhaltung war typisch für ihre Familie, aber es fühlte sich trotzdem surreal an.
»Morgen habe ich eine weitere Verabredung mit der zuständigen Amtsstelle der Regierung, um die letzten Details zu klären«, fuhr Tante Violetta fort. »Ich war letzte Woche schon da, aber da hatte ich noch nicht alle Unterlagen zusammen, die ich brauchte.«
Fabbiola verengte die Augen. »Wie bitte? Die haben sogar ein Amt, das sich um Glücksspiel kümmert? Das ist ja furchtbar! Sie sollten unsere Steuergelder lieber für Besseres einsetzen!«
»Nun entspann dich mal.« Tante Violetta schniefte verächtlich. »Das Amt heißt Agenzia delle Dogane e dei Monopoli, und wie du schon am Namen erkennen kannst, beschäftigen sie sich auch mit tausend anderen Dingen, wie zum Beispiel dem Zoll und Monopolen. Aber sie sind eben auch dafür zuständig, die Lizenzen für Glücksspiel zu vergeben.« Sie nahm die Schultern zurück. »Und ich werde eine Lizenz für meine innovative Geschäftsidee von ihnen erhalten.«
»Aber was ist denn das jetzt eigentlich genau für eine innovative Geschäftsidee?«, fragte Carlina.
Ernesto legte den Kopf schief. Nach seinem breiten Grinsen zu urteilen, amüsierte er sich wunderbar. »Tante Violetta will eine Rennbahn für Meerschweinchen eröffnen, mit Wettmöglichkeit. Mein Favorit ist Grazia Afrodite Venere, das einzige Weibchen, das sie bis jetzt hat.«
»Grazie Aphrodite Venus …« Carlina war sprachlos. »Wer hat sich denn bloß diesen pompösen Namen für ein Meerschweinchen ausgedacht?«
Ihr Frage wurde ignoriert.
Emma warf sich mit voller Kraft in das neue Thema. Vielleicht lenkte es sie von ihrem verschwundenen Ehemann ab. »Warum ist dieses Meerschweinchen mit dem dramatischen Namen dein Favorit?« Sie blickte ihren Bruder an.
Ernesto grinste. »Sie ist so dick, dass sie einfach den Weg versperrt. So kommen die anderen gar nicht an ihr vorbei ins Ziel.«
»O Madonna.« Mit einer schwachen Handbewegung schob Fabbiola sich eine hennarote Strähne aus dem Gesicht. »Ich kann gar nicht glauben, dass wir überhaupt dieses Gespräch führen.«
»Ich find‘s ziemlich cool.« Emma breitete die Hände aus und wandte sich an Tante Violetta. »Wie viele Meerschweinchen hast du denn?«
»Bis jetzt nur drei.« Tante Violetta klang traurig. »Aber Gustavo II ist entwischt und –«
»Und Grazia Afrodite Venere ist leider gestern während eines Ausflugs abhandengekommen und noch nicht wiedergefunden worden«, ergänzte Ernesto. »Aber Onkel Teo und Tante Violetta gehen heute noch mal zurück, um sie aufzuspüren.«
»Normalerweise nennen wir sie Gracy.« Onkel Teo seufzte.
Carlina schüttelte den Kopf.
»Aber wie bekommt ihr sie dazu, dass sie überhaupt rennen?«, fragte Emma. »Gibt es einen Anreiz? Das Äquivalent für Schokolade oder irgendetwas anderes, das Meerschweinchen begeistert?«
Tante Violetta zuckte mit den Schultern. »Wir arbeiten noch an dem Bonussystem. Kabuki zum Beispiel ist ein Gourmet. Er läuft sehr gut für Rucola, aber unglücklicherweise bekommt er davon Blähungen, daher können wir es nicht zu häufig einsetzen.«
Ernesto sah Carlina offenbar blinzeln, denn er erklärte: »Kabuki ist das dritte Meerschweinchen. Er ist gelblich, ein wenig wie ein Kamel. Gracy ist gemustert, schwarz, weiß und braun, und Gustavo II ist pechschwarz mit einem weißen Gesicht und einer Mähne, die ihn ein wenig wie einen Löwen aussehen lässt. Ein winziger schwarzer Löwe.«
»Darum können wir ihn auch so schwer finden«, ergänzte Onkel Teo. »Ich bin sicher, dass er sich in der dunklen Ecke da hinten unter der Treppe befindet.«
Fabbiola packte ihren Rock etwas fester. »Ich mag kein Ungeziefer im Haus.«
»Es ist kein Ungeziefer!« Ernesto schaute seine Tante missbilligend an. »Es sind Haustiere.«
Emma versuchte anscheinend immer noch, das Prinzip näher zu durchschauen. »Und wo finden die Rennen statt? Auf einem Tisch?«
»Ja. Es ist ein weißer Tisch mit schwarzen Linien, sodass jedes Meerschweinchen seine Route genau vor sich hat. Sie werden auf die Startlinie gesetzt und müssen den ganzen Tisch entlang bis zum anderen Ende laufen, wo sie eine Belohnung bekommen.«
Emma runzelte die Stirn. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich an ihre vorgezeichneten Reihen halten. Ich meine, sie sind doch nicht sehr diszipliniert, oder?«
Tante Violetta warf ihr einen bösen Blick zu. »Wir sind noch in der Eingewöhnungsphase. Es ist möglich, dass wir kleine Seitenbegrenzungen zwischen den einzelnen Bahnen errichten müssen.«
Ernestos Augen fingen an zu leuchten. »Vielleicht können wir ja auch kleine Hindernisse errichten, über die sie hinwegklettern müssen, oder Hürden, über die sie springen können, wie bei Pferdeturnieren. Ich habe ein total cooles Video auf YouTube gesehen. Die hatten sogar einen Ring, durch den sie durchgesprungen sind.«
Emma riss die Augen auf. »Du meinst so einen Ring mit Feuer wie bei den Löwen im Zirkus?«
»Natürlich nicht!« Onkel Teo schüttelte den Kopf. »Das würde ihr Fell doch in Brand setzen.«
Emma zuckte mit den Schultern. »Löwen haben auch Fell.«
»Und Gustavo II sieht mit seiner schwarzen Mähne ein wenig wie ein Löwe aus!« Ernesto klang völlig fasziniert.
Carlina schluckte schwer. Sie sah die Familie schon dabei, wie sie Feuerringe in Miniaturform in Benedettas Küche fabrizierten. Der Gedanke jagte ihr einen Schauer den Rücken hinunter, obwohl sie nicht diejenige war, die durch den Ring springen musste.
Tante Violetta war der Unterhaltung mit einem spekulativen Gesichtsausdruck gefolgt, als ob sie schon die Risiken und Chancen abwägen würde, doch nun schüttelte sie bedauernd den Kopf. »Da wir ja auch Kinder als Publikum haben möchten, werden wir kein Feuer benutzen können. Die Sicherheitsauflagen wären bestimmt furchtbar streng, denn ich möchte, dass die Kunden ganz nah am Tisch stehen, damit sie alles gut verfolgen können.«
Carlina atmete wieder etwas leichter.
Ernesto seufzte, doch dann hellte sich sein Gesicht auf. »Wir können den Meerschweinchen einen ganz dramatischen Auftritt geben! Bevor das Rennen beginnt, werden sie im Ring herumgeführt so wie Pferde, damit man seine Wetten abgeben kann. Aber sobald der Gong ertönt, können keine weiteren Wetten mehr abgegeben werden, und das Rennen beginnt.«
»Der Gong?« Carlina konnte nicht anders, sie musste nachfragen.
»Ja, der Gong.« Tante Violetta nickte. »Ich habe einen von einem chinesischen Händler gekauft. Wir fanden, dass es besser wirkte als ein Startschuss. Wir wollen den Kindern ja keine Angst machen.«
»Wettspiele für Kinder!«, jammerte Fabbiola. »Was werdet ihr euch nur als nächstes ausdenken?«
»Aber rennen sie wirklich die Rennen?« Emma war sichtbar von der Idee fasziniert.
Ernesto wackelte mit dem Kopf. »Manchmal schon, aber nicht sehr oft. Das ist ja gerade der Spaß. Manchmal sitzen sie nur da und schnüffeln in der Luft herum.«
»Und was geschieht, wenn sie sich gar nicht bewegen?«
»Wir haben klare Lösungsansätze für alle möglichen Situationen festgelegt«, antwortete Tante Violetta. »Ich glaube fest daran, dass das eine der Grundbedingungen für ein erfolgreiches Unternehmen ist.«
»Deshalb wird ein Meerschweinchen, das sich volle drei Minuten nicht vom Fleck bewegt hat, sanft gekitzelt«, fügte Ernesto hinzu.
Emma hob die Augenbrauen. »Und das sorgt dafür, dass sie sich bewegen?«
»Manchmal ja, manchmal nein. Kabuki ist wie gesagt ein Connaisseur, und wenn ihn das Essen nicht interessiert, bewegt er sich überhaupt nicht. Da hilft auch Kitzeln nicht. Im Gegenteil. Gestern hat er sich begeistert auf den Rücken gerollt.«
»Wir müssen noch herausfinden, wie wir ihn am besten motivieren.« Tante Violetta klang sehr zuversichtlich. »Zumindest ist er so faul, dass er nicht ständig abhaut wie die anderen beiden.«
»Na, wenn du deine Werteinlagen weiterhin so verlierst, hast du in Nullkommanichts Ärger«, sagte Fabbiola. »Und mit nur einem einzigen Meerschweinchen ist dein Geschäft sowieso platt. Oder willst du es gegen eine Spinne antreten lassen?«
Ernesto Augen leuchteten. »Das ist ja mal eine richtig coole Idee!«
Aber Tante Violetta schüttelte den Kopf. »Nein. Spinnen sind nicht beliebt genug. Da fehlt der Massenappeal.« Sie schaute Fabbiola böse an. »Du brauchst gar nicht so vernichtende Bemerkungen zu machen. Wir fangen ja gerade erst an und müssen erst noch Erfahrungen sammeln. Lass uns nur ein wenig Zeit.«
Gustavo II wählte diesen Augenblick, um sich aus seinem Versteck hervorzuwagen. Er rannte quer durch die Halle und krabbelte auf Carlinas Fuß. Mit einer raschen Bewegung beugte sie sich nach unten, hob ihn hoch und hielt ihn vor ihr Gesicht. Das kleine Gesicht mit den Knopfaugen starrte sie an, und die wilde Mähne wehte zitternd. Carlina musste lächeln. »Gott, ist der süß.«
»Genau.« Tante Violetta grinste sie zufrieden an. »Und deshalb wird dieses Geschäftsmodell so erfolgreich sein. Ich plane, auch die Fernsehrechte daran zu verkaufen.«
Fabbiola schüttelte sich und wandte sich zur Treppe. » Ich bin nach wie vor der Meinung, dass es ein völlig hirnrissiger Plan ist. Aber ich wünsche euch viel Glück und gehe jetzt in meine Wohnung zurück.«
Jetzt, wo die Meerschweinchen-Krise vorbei war, konnte Benedetta sich auf andere Dinge konzentrieren. Sie hob ihren Kopf und blickte ihre Tochter an. »Emma, woher kommst du denn eigentlich um diese Uhrzeit? Ich dachte, du schläfst noch.«
Fabbiola wandte sich wieder um. »Das stimmt. Wo warst du?«
Emma und Carlina wechselten einen Blick.
»Ich … ich musste etwas mit Carlina besprechen«, sagte Emma schließlich.
Fabbiola hob die Augenbrauen. »Um sieben Uhr morgens?«
»Es ist nicht sieben Uhr morgens. Und wieso hat man denn Cousinen, wenn man sie nicht mal früh am Morgen treffen kann, um einen kleinen Plausch zu halten?« Emma hob ihr Kinn.
»Einen kleinen Plausch am Morgen?« Ihre Mutter blinzelte. »Deine Hormone müssen stärker durcheinandergeraten sein, als ich dachte.«
»Wo sind eure Uhren? Es ist neun Uhr, nicht sieben.« Emma streckte ihre Hände zu ihrem Baby aus. »Wenn du mir Zoe gibst, kann ich sie mit hochnehmen und ihre Windel wechseln. Es wird Zeit.«
»Ich komme mit.« Benedetta begleitete Emma und Zoe die Stufen hinauf.
Tante Violetta ließ sich mit einem zufriedenen Seufzer in ihren Rollstuhl fallen, der an der Seite der Eingangshalle stand.
Carlina übergab ihr den flauschigen Gustavo II und wandte sich Onkel Teo zu. Sie war neugierig, was der Patriarch der Familie zu dieser neuesten Geschäftsidee zu sagen hatte. »Und was hältst du vom Meerschweinchenprojekt, Onkel Teo?« Sie lächelte ihm verschwörerisch zu. Er war eines der normaleren Mitglieder der Familie. Sie erwartete, dass er die Schultern heben und entspannt zusehen würde, wie die Familie sich mit diesem neuen Steckenpferd beschäftigte, bis sie der Sache müde wurden und wieder zu dem Verhalten zurückkehren konnten, das in dieser Familie als normal galt.
Onkel Teos milchige Augen wandten sich ihr zu. »Ich bin einer der Investoren.«
Garini wachte nicht auf, bis das Telefon neben seinem Kopf viel zu laut klingelte. Im Halbschlaf versuchte er, es zu packen, ließ es versehentlich fallen, und musste sich kopfüber aus dem Bett hängen und mit beiden Händen im Halbdunkeln unter dem Bett suchen, bis er es endlich fand.
Das Bett neben ihm war leer. Anscheinend war Carlina schon aufgestanden. Wie spät war es eigentlich? «Pronto!«
»Garini, sind Sie das?« Die quengelige Stimme seines Chefs Cervi drang wie ein fremdes Element an sein Ohr. Es war falsch, sie hier im Schlafzimmer zu hören, zu intim. Man spricht nicht mit dem Feind an seinem geheimen Zufluchtsort.
Stefano sprang auf und lief aus dem Zimmer, direkt in die Küche. Vielleicht konnte das Zischen der Kaffeemaschine die unangenehme Stimme seines Chefs überlagern.
»Ja, ich bin's.«
»Wo sind Sie?«
»Zu Hause. Ich habe gestern Nacht lange mit Sergio an seinem neuesten Fall gearbeitet und bin erst gegen fünf ins Bett gekommen. Aber ich habe Gloria eine Nachricht hinterlassen, dass ich heute später ins Büro kommen werde. Hat sie Ihnen das nicht gesagt?«
»Himmel, ich hoffe, Sie haben sie nicht auch abbekommen.«
Stefano blinzelte. »Wie bitte? Was soll ich abbekommen haben?«
»Sie sagten, Sie haben mit Sergio gearbeitet?«
»Ja. Wir sind über zwei Stunden lang alle Details im Fall von Lucio Casanuova durchgegangen. Wir sind auch noch in den Nachtclub gefahren, um uns den Tatort anzusehen, aber das hat uns leider nicht weitergebracht.« Stefano unterdrückte einen Seufzer. Er hatte sich den Fall aus jedem nur möglichen Blickwinkel angesehen, aber am Ende hatte er zugeben müssen, dass Sergio gar nichts anderes hatte tun können, als Lucio zu verhaften.
»Waren Sie Sergio sehr nahe?«
Stefano schüttelte überrascht den Kopf. Träumte er diese Unterhaltung? Sie war irgendwie bizarr. »Wie bitte?«
»Ich möchte wissen, wie nahe Sie an Sergio gekommen sind. Aber vielleicht hatten Sie sie ja auch schon. Wenn ja, wäre es kein Problem.«
»Was soll ich gehabt haben?«
»Die Masern.«
»Die Masern! Wollen Sie etwa sagen, dass Sergio die Masern hat?« Stefano erinnerte sich an Sergios Bemerkungen, dass seine Kopfhaut jucke und dass er das Gefühl habe, Fieber zu bekommen. Also war das nicht eingebildet gewesen.
»Ja.« Cervi klang genervt. »Die Masern. Anscheinend haben sie ihn heute Morgen zwischen sechs und neun überfallen.«
Stefano schaute auf die große Uhr, die über der Küchentür hing. Halb zehn. Er wusste, was jetzt kam, und er wollte es nicht hören.
Zwischenzeitlich jammerte Cervi weiter. »Ich weiß wirklich nicht, warum Sergio die Masern nicht bekommen konnte, als er noch ein Kind war. Das ist das Alter, in dem man sich diese Sachen holen muss, nicht jetzt, wenn wir ihn dringend für den Fall brauchen. Hatten Sie sie denn nun?«
Stefano runzelte die Stirn. »Ich kann mich nicht erinnern.«
»Nun kommen Sie schon, Sie werden doch irgendwo medizinische Aufzeichnungen haben.«
»Ich fürchte, ich weiß es wirklich nicht, und ich habe keine Möglichkeit, es herauszufinden«, sagte Stefano mit fester Stimme.
»Ihre Mutter wird es wissen.«
»Meine Mutter ist schon vor Jahren gestorben. Es ist auch ganz egal.«
»Was soll das heißen, es ist ganz egal?«
»Ich kann diesen Fall nicht übernehmen, egal, ob ich krank bin oder nicht.«
»Warum nicht?« Die Frage klang wie ein Bellen.
»Lucio Casanuova ist mit der Cousine meiner Frau verheiratet.«
Cervi stöhnte. »Diese Unterhaltung haben wir bereits öfter geführt.«
»Das stimmt.«
»Warum muss der Mantoni-Clan in jeden einzelnen Mord involviert sein, der in Florenz stattfindet?«
»Es ist eine große Familie.« Stefano versuchte, beruhigend zu klingen.
»Wenn ich jede Privatbeziehung meiner Mitarbeiter berücksichtigen müsste, könnten sie alle keinen einzigen Handschlag mehr tun. Ich habe mich schon fast daran gewöhnt, aber in Ihrem Fall fängt es an zu nerven. Vielleicht müssen wir Sie nach Mailand verlegen. Es gibt doch keine Mantonis in Mailand, oder?«
Stefano biss die Zähne zusammen und ignorierte die Frage. Nie im Leben will ich in Mailand arbeiten! Lieber schlug er seinen Kollegen vor. »Haben Sie Paolo gefragt? Er kann den Fall problemlos übernehmen, denn Sergio hat alles sorgfältig dokumentiert.«
»Ja, wussten Sie es denn nicht?« Cervi fing leicht hysterisch an zu lachen. »Paolo hat sie auch!«
Stefano schluckte. »Sie meinen …?«
»Ja. Die Masern! Er ist es, der die Epidemie überhaupt losgetreten hat. Anscheinend hat er sie von seinen Kindern bekommen. Warum die Leute sich nicht impfen lassen, ist mir schleierhaft. Es hilft also alles nichts. Sie müssen den Fall übernehmen. Auf der Stelle.«
»Signor Cervi, das kann ich wirklich nicht. Es sind ganz enge Familienbeziehungen …«
»Ihre engen Familienbeziehungen sind mir verdammt egal. Es ist ja noch nicht einmal die direkte Familie. Sie haben nur beide in den Clan eingeheiratet und bei den Mantonis heißt das, dass Sie mit halb Florenz verwandt sind – und ich wette, die andere Hälfte sind Ihre Freunde. Enge Freunde natürlich, nicht nur bloße Bekannte. Ich frage mich wirklich, ob Ihre Abneigung dagegen, irgendeinen Fall zu übernehmen, eine tiefere Bedeutung hat. Sind Sie mit Ihrer Arbeit unglücklich?«
Stefano schloss die Augen. »Nein. Ich meine nur, dass –«
»Hören Sie auf, irgendetwas zu meinen und fangen Sie an zu arbeiten. Wenn es Schwierigkeiten gibt, kläre ich das mit dem Bürgermeister. Wann können Sie hier sein?«
Er hatte keine andere Wahl. Er musste den Fall übernehmen. »Ich mache mich sofort auf den Weg. Wissen Sie zufälligerweise, ob Lucio Casanuova schon vernehmungsfähig ist?«
»Keine Ahnung, aber das finden Sie leicht heraus. Viel Glück.« Cervi hing auf, bevor Stefano reagieren konnte.
Er ließ den Kopf in die Hände fallen und stöhnte. Dann bemerkte er, was er sofort hätte realisieren müssen: Die Wohnung war leer. Carlina und Emma waren verschwunden, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Nun, das passte ihm ganz gut. Er zog es vor, zur Arbeit zu gehen, bevor sie ihn im Detail befragen konnten. Lieber wollte er erst einmal mit Lucio sprechen. Vielleicht konnte Emmas Mann ja einige Argumente vorbringen, die es Stefano erlauben würden, Lucio frei zu lassen.
Er duschte rasch, zog sich an, kippte im Stehen einen Espresso hinunter und eilte aus dem Haus, direkt ins Büro. Dort holte er sich ein Aufnahmegerät und einige Bilder, dann fuhr er ins Gefängniskrankenhaus.
Lucio war wach, als Stefano in den Raum trat. Sein Gesicht war fast durchsichtig blass und so zerknittert, dass er zehn Jahre älter aussah. »Stefano. Gott sei Dank bist du's.«
Stefano lächelte ihn etwas verkniffen an. Er hasste es, wenn Familienmitglieder sich freuten, dass er eine Morduntersuchung übernommen hatte, weil das normalerweise bedeutete, dass sie mit außerordentlicher Nachsicht behandelt werden wollten. »Lucio. Hast dich mächtig in Schwierigkeiten gebracht, nicht?«
Lucio schluckte sichtbar. Er war unrasiert, und die Stoppeln auf seinem Kinn und den Wangen gaben ihm einen bläulichen Schimmer. Der elegante Lucio, den man normalerweise bei Familientreffen sah, hatte nichts mit dem Mann gemein, der dort im Bett saß.
Stefano zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. Er hatte viele Mantoni-Familienabende mit Lucio verbracht, aber wenn er ehrlich war, kannte er ihn nicht besonders gut. Tatsächlich war es beängstigend, wie wenig man jemanden kennen konnte, den man regelmäßig bei Familientreffen sah. Wann immer sie aufeinandergetroffen waren, hatten sie ein wenig Smalltalk gehalten, ein paar Witze erzählt. Er wusste, dass Lucio ein echtes Alphatier war, das seine Frau Emma gern beschützte, obwohl sie das nun wirklich nicht nötig hatte. Er wusste, dass Lucio vorsichtig war und niemals im gleichen Flugzeug wie seine Frau flog, damit wenigstens einer von ihnen überlebte, falls das Flugzeug abstürzte. Er wusste auch, dass Lucio schnell eifersüchtig und wütend wurde. Der letzte Punkt beunruhigte ihn am meisten. Mit möglichst neutralem Gesicht sagte er: »Zuallererst musst du eine Sache wissen: Ich bin offiziell mit diesem Fall betraut und muss absolut neutral bleiben. Nach allem, was ich bis jetzt gesehen habe, weisen alle Indizien auf dich hin. Ich kann nichts unterdrücken, aber ich bin bereit, mir ohne Vorbehalte deine Darstellung der Dinge anzuhören.«
Lucio starrte ihn an. »Von welchem Fall sprichst du?«
»Der Morduntersuchung.«
Wenn es möglich gewesen wäre, wäre Lucio noch weißer geworden. Stattdessen färbte sich sein Gesicht leicht grünlich. »Jemand ist gestorben?«
Stefano starrte ihn an. »Erinnerst du dich an gar nichts?«
Lucio schüttelte langsam den Kopf. »Ab einem gewissen Zeitpunkt nicht. Ich weiß nicht, warum ich hier bin. Auf alle meine Fragen bekomme ich nur zu hören, dass ich es noch früh genug erfahren werde.«
Stefano zuckte zusammen. Wenn man vorgab, das Gedächtnis verloren zu haben, kam man mit einer Menge durch, also war das die Standardlösung für intelligente Kriminelle. Um seine Gefühle zu verbergen, zog er das Aufnahmegerät hervor. »Ich werde deine Aussage aufnehmen, in Ordnung?«
»Aber wer ist denn bloß gestorben?«
Stefano zögerte. »Ich würde dir das im Augenblick gern noch nicht erzählen. Könntest du mir bitte erst alles sagen, woran du dich erinnerst?«
»Gut. Aber es wird dir nicht gefallen. Wie gesagt, es ist nur wenig.«
»Erzähle mir einfach alles, was du noch weißt, und von da aus machen wir dann weiter.«
Lucio streckte die Hand aus und berührte Stefanos. »Noch eine Sache.«
»Ja?«
»Weiß Emma, dass ich hier bin?«
»Nein.«
»Sie muss außer sich sein vor Sorge.«
»Ich habe ihr gesagt, dass du keinen Unfall gehabt hast.« Er zog es vor, den anderen Teil der Nachricht nicht weiterzugeben.
Lucios Schultern sackten ein wenig nach vorne. »Gut. Vielen Dank.«
»Sollen wir anfangen?«
»Ja, bitte.«
Stefano drückte auf den roten Aufnahmeknopf.
»Es war ein Abend wie alle anderen auch. Wir gingen zum Club, und ich musste mit.«
»Könntest du bitte ein wenig früher anfangen und mir ein paar Hintergrundinformationen geben? Ich habe dich die letzten Wochen kaum gesehen und bin daher nicht wirklich auf dem aktuellen Stand. Wer ist ›wir‹? Und warum musstest du mitgehen?«
»Es ist wegen meines neuen Jobs.« Lucio blickte müde. »Du weißt doch, dass ich Bauingenieur bin, oder?«
»Ja.«
»Und dass ich vor zwei Monaten einen neuen Job angenommen habe?«
»Carlina hat es erwähnt. Wie heißt die Firma?«
«Capomastro BB Top. Es ist eine Baugesellschaft. Das BB steht für den Namen des Inhabers, Bianco Brillo.« Lucio betrachtete seine Hände auf der Bettdecke. »Als ich den Job bekam, war ich wirklich glücklich. Ich fühlte mich geehrt. Heute wünschte ich, ich hätte nie von ihnen gehört.«
»Wie hast du den Job bekommen?«
»Ein Headhunter hat mich angerufen. Von alleine wäre ich gar nicht auf die Idee gekommen, den Job zu wechseln. Ich war ganz zufrieden in meinem alten Job. Ich meine, es war nicht sonderlich aufregend oder so, aber es war ganz in Ordnung, und die Kollegen waren nett. Aber wenn man Vater wird, hat man ja auf einmal mehr Verantwortung. Wir mussten so schrecklich viele Dinge kaufen. Das war mir ziemlich klar und hat mir auch Angst gemacht. Als also dieser Headhunter anrief und mir sagte, dass er eine spannende Möglichkeit hätte, hab ich ganz gern zugehört. Ich bin dann zu dem Gespräch gegangen, weil ich mir dachte, dass es ja nicht schaden kann, mir anzuhören, was sie anbieten.«
»Und war das Angebot gut?«
Lucio nickte. »Ja. Besser bezahlt und –«
»Wieviel besser?«
»Ungefähr fünfundzwanzig Prozent. Genug, um den Schritt zu wagen.«
»Aber nicht so viel, dass es dir spanisch vorkam.«
»Nein. Nicht ganz. Jedenfalls damals noch nicht.« Lucio klang bitter.
»Und dann?«
»Ich habe es mit Emma durchgesprochen. Sie sagte, dass man von Zeit zu Zeit Risiken eingehen muss, und wir konnte keine Nachteile entdecken. Natürlich war es nicht der beste Zeitpunkt, mit Zoes Geburt, die ja unmittelbar bevorstand. In meinem alten Job hätte ich in den ersten Wochen Urlaub genommen und Emma geholfen. Aber mit dem neuen Job stand das natürlich gar nicht zur Debatte. Ich musste mich ja erst mal beweisen. Aber Emma sagte, dass das in Ordnung sein würde, also habe ich den Job angenommen.«
»Hast du versucht, den Anfangstermin zu verschieben?«
»Ja, aber darauf haben sie sich nicht eingelassen. Ich konnte entweder sofort anfangen oder nie. Also habe ich es so wie es war akzeptiert.«
»Und dann?«
Lucio seufzte so tief auf, dass das Bett wackelte. »Die ersten drei Tage waren gut. Sie haben mir meine Arbeit gezeigt und mich allen Kollegen vorgestellt, einigen Kunden und so weiter.«
»Was genau macht das Unternehmen?«
»Sie sind auf die Konstruktion von Lagerhäusern, mehrstöckigen Parkhäusern, Einkaufszentren und so spezialisiert.«
»Und dein Job?«
»Na ja, sie haben mir gesagt, dass sie einen zweiten Bauingenieur brauchen, um die technischen Zeichnungen anzufertigen. Aber als ich dann endlich loslegen wollte, sagte mir der andere Bauingenieur, dass es gar kein Projekt für mich gibt. Er war zwar selbst ausgelastet, aber er sagte, es würde keinen Sinn ergeben, das eine Projekt unter uns aufzuteilen.
»Warst du da seiner Meinung?«
Lucio zuckte mit den Schultern. »Ja, irgendwie schon. Wenn man eine technische Zeichnung anfertigt, ist es am besten, wenn man es von A bis Z macht, damit alles zueinander passt. Also habe ich ihm geglaubt. Aber ich habe mich schon gefragt, warum ich nicht mehr Arbeit hatte, wenn ich doch so wahnsinnig dringend und sofort anfangen sollte. Ich hatte das Gefühl, dass ich ganz alleine auf einer Insel saß. Irgendwann wurde ich so verzweifelt, dass ich mir selbst E-Mails schickte, nur um zu sehen, ob das System noch lief. Schließlich bin ich zu meinem Chef gegangen und habe ihm gesagt, dass ich nicht genug zu tun hätte.«
»Wann war das?«
»Ungefähr drei Wochen nachdem ich angefangen hatte.«
»Mutig.«