Immer ist ein verdammt langes Wort - Sabine Schoder - E-Book
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Immer ist ein verdammt langes Wort E-Book

Sabine Schoder

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Beschreibung

Ausgezeichnet mit dem Delia Jugendliteraturpreis 2021 Manchmal verändert ein einziger Moment dein ganzes Leben. In Renas Fall: die Sekunde, in der das Motorrad gegen den Baum krachte. Koma, Schmerzen, Gedächtnislücken. Doch Rena ist hart im Nehmen, war sie schon immer! Mit allem wird sie fertig, nur nicht damit, dass ihr die Liebe vor die Füße fällt – buchstäblich, vom Balkon der Wohnung über ihr. Denn dieser Junge, der ein grün gesprenkeltes und ein hellblaues Auge hat, stellt alles in Frage.

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Seitenzahl: 447

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Sabine Schoder

Immer ist ein verdammt langes Wort

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

PrologBevor ich dich treffeDu fällst vom HimmelIch vermiete dir mein SofaIch kenne diese BomberjackeEin Geschenk von dirIch töte BarbieDer Fehler in meinen TräumenWem wir den Tod wünschenUnsere Hände finden sichHast du ihn von dir trinken lassen?Ich verliere vier zu einsDu hast grüne SommersprossenIch gebe dir einen AbschiedskussIch öffne eine PanzertürIch stelle mich dem MonsterWäre es fair, wenn ich auch nackt bin?Damit du wieder gesund wirstIch finde ein lang ersehntes PuzzleteilZwei Überraschungen für michIch spucke Blut und BenzinNoch ein Geschenk von dirWir beide in einer anderen WeltIch treffe deine MutterEin Fremder besucht michWo steckst du?!Unter meinen Füßen öffnet sich eine LukeIch rase in meine VergangenheitEin letztes Mal träume ich von dirIch finde das KreuzWir rauben uns den Verstand»Und sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende.« Aber was, wenn es da nicht endet?Danke an alle Leser, [...]

Prolog

Es ist einer dieser Sommertage, an denen es so heiß ist, dass die Sonne vom Himmel schmilzt. Überall um mich herum sind Kinder. Sie graben mit Schaufeln nach unsichtbaren Schätzen, schleudern Sandfontänen nach allen Seiten und füllen die Luft mit schrillem Gelächter. An ihren leuchtenden Gesichtern erkenne ich, wie viel Spaß das machen muss, und spüre ein merkwürdiges Gefühl in meiner Brust. Als würden sich ihre hellen Stimmchen um mein Herz wickeln und rufen: Mach mit! Komm her zu uns!

Ich ziehe einen tiefen Graben um meine Sandburg.

Ein Mädchen in meinem Alter hat sich an den Rand des Spielplatzes verirrt und schleudert frischen Dreck auf mich. Ihr Vater nimmt ihre Hand und steckt die Schaufel zurück in das Loch, das sie gegraben hat. Keine Burgtürme ragen vor ihr auf, keine Gräben oder Brücken wurden gebaut, sie klopft ihr Werkzeug nur auf den Boden. Trotzdem strahlt sein Lachen voller Stolz über ihren strubbeligen Kopf hinweg.

Ich schaue nach Mama.

Sie sitzt nicht mehr auf der Bank, auf der sie warten sollte.

Erschrocken springe ich auf, trample meine Sandburg nieder und drehe mich in alle Richtungen. Mein Herz trommelt mir gegen die Brust. Musste sie zurück in ihr Zimmer gehen? Hat sie mich hier vergessen?

Plötzlich sehe ich sie. Mama mit ihrem Sonnenhaar, das an Tagen wie diesen aus feinem Licht gesponnen ist. Weißblond schimmert es zwischen den grünen Büschen hervor, in denen sie sich versteckt hat. Meine kurzen Beine laufen auf sie zu.

»Mama, ich habe eine Burg gebaut!«

Schweißperlen glänzen wie Tautropfen auf ihrer Stirn.

Meine Schritte werden langsamer, stolpern über die Schatten in ihrem Gesicht und versiegen schließlich völlig. Unsicher bleibe ich vor ihr stehen. »Ist dir heiß?«

»Rena, spiel noch ein bisschen weiter, ja?«, keucht sie.

Ich werfe einen Blick zurück zum Sandkasten, wo die Reste meiner Burg von einer Kinderschaufel niedergeschmettert werden und das Lachen eines stolzen Vaters durch die Luft flattert.

»Kommst du mit?«

Mama antwortet nicht. Sie wippt auf ihren Füßen vor und zurück, als würde sie sich in den Schlaf wiegen. Ich imitiere sie, schaukle hin und her, versuche, den Reiz darin zu finden, und höre mitten in der Bewegung auf. Dieses Spiel macht keinem von uns beiden Spaß.

Weiter hinten ruft eine andere Mutter: »Nicht da hoch!«

Die Frau läuft auf das Klettergerüst aus Seilen zu. Ein kleiner Junge hat sich an eines der verbotenen Taue gehängt und schreit vor Freude über sein Vergehen. Sie packt ihn unter den Armen – bestimmt um ihn nach Hause zu tragen und in sein Zimmer zu sperren –, macht dann aber etwas völlig anderes. Sie wirft den Jungen hoch in die Luft, immer und immer wieder, bis sie beide vor Glück quietschen.

Mama verbirgt ihr Gesicht hinter den Händen.

»Au ja! Wir spielen Verstecken! Du zählst bis zehn!« Mit einem Aufschrei renne ich davon. Es gibt unzählige Verstecke auf dem Spielplatz, unter der Riesenrutschbahn oder im Lebkuchenhäuschen aus Plastik, an dem sich die kleineren Kinder regelmäßig die Zähne ausbeißen. Heute verstecke ich mich auf dem Klettergerüst.

Die Seile biegen sich unter meinem Gewicht. In meiner Vorstellung schnappen Giftschlangen nach meinen Füßen und treiben mich mit kribbelnder Aufregung noch weiter hinauf. Meine Hände greifen nach dem nächsten Seil, ziehen mich höher, immer weiter, über meine Phantasie hinaus. Bis ich oben stehe, ganz oben, fast schon im Himmel. Ich recke mich zu den Wolken und kann sie beinahe berühren.

Ein fremder Mann ruft, ich solle vorsichtig sein, aber ich drehe mich weg und suche nach Mama. Sie steht nicht vor dem Klettergerüst, streckt ihre Arme nicht herauf, mahnt mich nicht zur Vorsicht. Ihr Sonnenhaar kauert nach wie vor unter den Büschen, obwohl sie ihre Augen nicht mehr verdeckt.

»Mama! Guck mal!«

Der Mann sagt, ich soll mich festhalten.

Ich winke meiner Mutter mit beiden Armen zu. »Mama! Ohne Hände!«

Plötzlich falle ich. Unglaublich schnell. Mein Kinn prallt auf den Boden. Ich habe keine Zeit, um nachzudenken, ob das weh tut. Jede Menge Eltern laufen zu mir, und mein Blick schießt hin und her, um Mama unter all den Leuten zu finden.

»Blut!«, schreit ein Kind und fängt an zu weinen.

Ich betaste mein Kinn und finde eine frische Wunde. Sie pocht und ist bestimmt voller Dreck, den man herauswaschen muss. Die anderen Mütter und Väter wollen mir helfen, aber ich krabble zwischen ihren Armen hindurch, bevor sie ihre Taschentücher hervorziehen können. Diese Gelegenheit werde ich mir nicht von ihnen stehlen lassen.

Meine Füße jagen über den Spielplatz.

»Ich bin vom Klettergerüst gefallen! Mama! Schau!« Ich strecke ihr meine Beweise hin. An meinen Fingern klebt echtes Blut, rot glitzernd in der Sonne, genug für mindestens drei Pflaster. Genug für … Ich weiß es nicht genau. Für etwas, was andere Eltern so machen.

»Mama?« Langsam sinken meine Hände herab. »Ist alles gut?«

Mama legt ihre Stirn auf die Knie und lacht zwischen ihren Beinen hindurch, ein glockenhelles Geräusch, das nur einen Moment andauert. Auf den staubigen Boden neben ihren Schuhen fallen ein paar Wassertropfen.

Ich lege meinen Kopf in den Nacken und schaue in den Himmel hoch.

Es ist keine Regenwolke zu sehen.

Bevor ich dich treffe

»Du willst doch nicht etwa da runterspringen, Knastschwester?«

Die Stimme einer Frau reißt mich aus meinen Gedanken. Ich öffne die Augen und blinzle ins makellose Blau des Himmels über mir. Der warme Sommerwind muss mir schon eine ganze Weile ins Gesicht wehen, aber erst jetzt wird mir das zarte Gefühl auf meiner Haut bewusst. Als ich den Kopf senke, höre ich das protestierende Knirschen meiner Wirbelsäule. Keine Ahnung, wie lange ich in die Luft gestarrt habe. Um genau zu sein, weiß ich nicht mal, seit wann ich hier draußen auf dem Balkon des Krankenhauses stehe.

Meine Hände klammern sich um das Geländer, doch meine nackten Füße balancieren lebensmüde auf der untersten Sprosse. So als hätte mich tatsächlich die Versuchung gestreift, dieses Gefängnis auf die schnellste Art und Weise zu verlassen, die es gibt. Was für unsinnige Gedanken. In letzter Zeit weiß ich nicht, woher die kommen.

»Nur zu deiner Information, es sind keine fünf Meter bis zum Boden.« Die Frau tritt aus dem Schatten der Tür und fummelt eine Packung Nikotinkaugummi aus ihrem weißen Arztkittel. »Die Ziersträucher fangen das Schlimmste ab. Außerdem landest du direkt vor den Fenstern der Notaufnahme. Die hätten dich da unten in Nullkommanix wieder zusammengeflickt.«

Ein schiefes Lächeln zieht an meinem Mund. »Und ich dachte, ich könnte dem Abendessen entkommen.«

Sie brummt verständnisvoll und beugt sich so weit übers Balkongeländer, als würde sie ihre eigene Empfehlung nochmals überdenken. »Ich arbeite seit fünfundzwanzig Jahren hier und habe den Fraß immer überlebt. Auch wenn ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben habe, irgendwann an einer Rasierklinge im Kartoffelbrei zu ersticken. Verrat es keinem.«

Ich weiß nicht, ob sie mit ihrer letzten Bemerkung den mörderischen Kartoffelbrei meint – oder die Zigarette, die sie verstohlen aus der Kaugummiverpackung zieht. Ohne mit der Wimper zu zucken, steckt sie sich den Glimmstängel an und bläst den Rauch weit hinaus in den strahlend schönen Nachmittag. Für einige Sekunden gibt sie sich einem genüsslichen Lächeln auf ihrem Gesicht hin.

Ich hebe eine Augenbraue. »Versuchen Sie, sich das Kaugummikauen abzugewöhnen?«

Sie schnaubt amüsiert. »Noch so ein Kommentar und ich ziehe deine lang ersehnte Entlassung wieder zurück, klar? Du hast dich tapfer geschlagen in den letzten Monaten. Ich werde dich vermissen, Kleine.«

Ich betrachte meine Hände. Die weiße Haut, die zu lange in einem Zimmer eingesperrt war. Sie ist so blass, dass selbst die schwächer werdende Augustsonne einen roten Schimmer darauf hinterlassen hat. »Nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich hoffe, dass ich Sie nie wiedersehe.«

Die Ärztin lacht und drückt ihre halbgerauchte Zigarette sorgfältig auf dem Metallgeländer aus, um sie wieder in der Packung verschwinden zu lassen. Als sie sich zur Tür dreht, streift ihr Blick meinen Körper auf eine Art und Weise, an die ich mich nie so richtig gewöhnen konnte. Etwas in ihrem Ausdruck ist immer auf der Suche nach Komplikationen. Nach einem Grund, mich noch weiter hier festzuhalten.

Ich wende das Gesicht ab, als hätte ich ein schlechtes Gewissen, als wüsste ich insgeheim, dass ich meine Zeit hier noch nicht abgesessen habe. Aber das ist völliger Unsinn. Das Flattern in meinem Magen stammt bloß von meinen Nerven. Nächste Woche fängt mein Leben noch einmal von neuem an. Wer wäre da nicht aufgeregt?

Sie zögert auf der Türschwelle. »Geht’s dir gut?«

Ich hebe den Kopf und lasse mein Lächeln heller als die Sonne strahlen. »Es könnte nicht besser sein.«

 

Das hier muss ein Traum sein.

Mein weißes Krankenhausbett, in das ich mich gelegt habe, ist plötzlich verschwunden. Stattdessen bin ich umgeben von leuchtendem Grün überall um mich herum.

Ich stehe auf der Lichtung eines Waldes, der sich zu allen Seiten hin in die Unendlichkeit dehnt. Vor mir befindet sich eine schwarze Tür, ohne Rahmen oder Wand, die sie umgibt. Sie wird von nichts aufrecht gehalten, gibt ihr Geheimnis mit keinem Hinweis preis. Dennoch fühle ich genau, dass jemand auf der anderen Seite steht …

»Rena? Bist du wach?«

Die Worte meiner Mutter flattern an mein Ohr, zart und unsicher, als wären sie soeben frisch geschlüpft. Tageslicht flutet meine Augen und gießt meine Mutter in eine Form aus hellen Farben. Sie sieht wie eine Pusteblume aus, die über mir im Wind schwankt. Das blonde Haar spinnt eine leichte Wolke um ihren Kopf, und ihre dünnen Finger schweben in der Luft, als hätte sie mich eben noch berühren wollen.

»Hmm. Jetzt schon«, brumme ich schlaftrunken.

»Entschuldige, dass ich dich geweckt habe, aber du warst so … erstarrt.«

»Ich habe bloß geträumt.« Meine Stimme hört sich noch immer ungewohnt an. Als hätte sie jemand auf ein altes Tonband aufgenommen und würde sie an meinem Ohr abspielen. In den letzten Wochen habe ich sie einfach zu wenig benutzt. Um genau zu sein, habe ich vier Monate lang geschwiegen. Wenn auch unfreiwillig.

»Geträumt? Mit offenen Augen?«

Ich setze mich auf und streiche mir verschwitzte Haare aus dem Gesicht. Meine Bettdecke ist so zerwühlt, als hätte ich den Nachmittag damit verbracht, mich auf der Matratze hin und her zu wälzen. Jetzt schimmert die Abendsonne durch die Fensterscheiben und taucht das Krankenzimmer in ein orangerotes Licht.

Noch immer stecke ich im Nachhall dieses Traumes fest, der viel zu schnell durch meine Finger gleitet. Die leuchtendgrünen Bilder zerfließen vor meinem inneren Auge, bevor ich sie mir genauer ansehen kann, und hinterlassen ein vages Gefühl von Sehnsucht in meiner Brust.

»Ich habe vom Sommer geträumt«, murmle ich, »bevor er endgültig vorbei ist. Wenn ich nächste Woche entlassen werde, ist es schon September.«

Die Pusteblume schrumpft über mir zusammen. Meine Worte sinken auf ihre schmalen Schultern, zu all den anderen unsichtbaren Sorgen, die sich dort seit meinem Unfall auftürmen. Ehe ich fragen kann, was sie so bekümmert, erregt etwas anderes meine Aufmerksamkeit. In ihrer linken Hand, halb versteckt hinter dem Rücken, blitzt ein Stück weißes Papier hervor.

»Ist das für mich?« Ich strecke meine Hand aus, aber Mama weicht sofort zurück. Sie stolpert über meine Pantoffeln und stößt an das zweite Krankenbett im Zimmer, das seit gestern verlassen ist. Der Haltegriff schaukelt hinter ihrem Kopf, als würde er mir zuwinken und rufen: Komm her. Du brauchst mich doch.

Mama zerknittert unter meinem Blick.

Ich ziehe die Hand zurück.

Schuldgefühle pochen in meinem Magen. Mein Unfall ist der Grund, warum sie sich Tag für Tag aus ihrer vertrauten Umgebung wagt. Warum sie sich diesem Monster stellt, einem öffentlichen Krankenhaus, das an jeder Ecke mit einer unerwarteten Situation auf sie lauert. Ich habe ihr mehr als nur einmal angeboten, dass sie nicht so oft herkommen muss, trotzdem ließ sie sich nicht davon abbringen. Wir können uns vielleicht nicht gegenseitig in den Arm nehmen, wie es in anderen Familien üblich ist, aber wir haben über die Jahre hinweg unseren eigenen Code der Zuneigung entwickelt. Sie ist hier. Und das bedeutet mir eine Menge.

Ihre schmalen Hände beben, als sie die Papiere hinter dem Rücken hervorzieht und gegen ihre Brust drückt. »Daniel hat sie mir ausgedruckt.«

Daniel?!

Die bloße Erwähnung meines Onkels spritzt mir eine Dosis Wundstarrkrampf unter die Haut. Meine Muskeln versteinern an Ort und Stelle, ohne dass ich etwas dagegen unternehmen könnte. Nur mit Mühen stoße ich hervor: »Was will er von dir?«

»Du wirst doch bald entlassen …«

Ich schlucke einen harten Kloß im Hals. »Und was hat das mit ihm zu tun?«

Einen Moment lang betrachtet Mama die Ausdrucke. Dann streckt sie mir die Papiere entgegen, zögernd, als müsste sie einen Fleischkloß durch die Gitterstäbe eines Raubtierkäfigs halten.

Ich schlage die Bettdecke zur Seite und will aufstehen, so als wäre nie etwas geschehen. Doch kaum mache ich den ersten Schritt, stößt der Schmerz wie ein Eispickel in meinen Rücken. Keine Ahnung, wie lange ich geschlafen habe, jedenfalls hat die Zeit ausgereicht, um die Geschmeidigkeit der Physiotherapie von heute Morgen verpuffen zu lassen. Jetzt spüre ich jede Muskelfaser, die um meine neue künstliche Hüfte schleift.

Ein einziger Schritt, dann klatscht meine Hand auf den Nachttisch. Ich muss innehalten, um durchzuatmen.

»Brauchst du deine Krücken?«

»Nein! … Ich meine, nein, danke.« Ich beiße die Zähne aufeinander und zwinge meine Mundwinkel nach oben. »Es wird nur besser, wenn ich meine Muskeln trainiere. Darf ich mal sehen?«

Mama hält mir die Blätter entgegen, doch kaum schließen sich meine Finger darum, zieht sie sich wieder zurück. Für eine Millisekunde berührt ihr Hintern das andere Bett, dann streicht sie hastig die Decke glatt und setzt sich an den Tisch an der Wand.

Ich lehne mich gegen die Matratze und stelle mich den Ausdrucken.

Es gibt einige Dinge, die ich meinem Onkel zutrauen würde. Zum Beispiel, meine Zeit hier im Krankenhaus zu nutzen, um sich unser sämtliches Hab und Gut unter den Nagel zu reißen. Hiermit allerdings habe ich nicht gerechnet. Rasch überfliege ich die Zettel, die alle nach dem gleichen Schema aufgebaut sind: das Foto einer Wohnung und darunter die Eckdaten der Immobilie.

Ich blicke über den Papierrand und begegne den aufgerissenen Augen meiner Mutter. »Was sind das für Wohnungen?«

»Die wären günstig«, murmelt sie.

Einen Moment lang weiß ich nicht, was ich sagen soll. Die Worte türmen sich in meiner Kehle wie eine Riesenwelle. Nur mit Mühe schlucke ich den Tsunami an Fragen runter, der aus meinem Mund brechen will. Wenn ich Informationen von meiner Mutter möchte, darf ich sie nicht noch mehr verschrecken. Bisher hatte ich die Verschlimmerung ihres Zustandes allein auf ihre Angst vor dem Krankenhaus geschoben, doch jetzt nagt die Befürchtung in mir, dass da noch mehr ist. Dass sie sich während meiner Abwesenheit dem einzig anderen Menschen zugewandt hat, den sie auf dieser Welt kennt. Ihrem Bruder, der diese Bezeichnung nicht verdient.

»Mama …« Diesmal bin ich auf das Stechen in meiner Hüfte vorbereitet. Bewusst schiebe ich einen Fuß vor den anderen, Schritt für Schritt, bis ich mich am Tisch abstützen kann. Ich setze mich nicht zu ihr. Ein Gespräch auf Augenhöhe wäre vermutlich besser, doch eine dunkle Vorahnung hält mich auf den Beinen. »Wieso sehen wir uns neue Wohnungen an? Was stimmt mit unserer alten nicht?«

Sie biegt sich zur Wand, als wollte sie mit dem Hintergrund verschmelzen. »Du lagst so furchtbar lange im Koma. Ich konnte einfach nicht mehr arbeiten …«

Meine Fingernägel kratzen über die Papierseiten. »Arbeitest du denn jetzt wieder?«, frage ich so sanft wie möglich.

»Ich versuche es, seit du aufgewacht bist.« Sie knetet ihre Hände im Schoß. »Aber es ist nicht so leicht, was zu finden …«

Sie hat keine Arbeit mehr.

Der Gedanke spießt sich durch meine Brust, denn er bedeutet viel mehr als nur den Verlust ihrer Erwerbstätigkeit. Er bedeutet, dass unsere Vergangenheit wieder in unserem Nacken lauert.

Mein Puls pocht in der Kehle. »Ist das der Grund für die hier?« Ich lege die Inserate zwischen uns auf den Tisch, doch Mama wendet den Blick ab, als würde sie sich dafür schämen. »Sag mir bitte, was los ist. Haben wir unsere Wohnung verloren?«

»Ich wohne seit ein paar Monaten wieder bei Daniel«, wispert sie.

Ich schließe die Augen.

Ein paar Monate. Das ist lange. Vielleicht zu lange.

»Sind unsere Sachen noch da?«, flüstere ich.

»Daniel hat ein paar Kleinigkeiten verkauft, um die Kosten zu decken.«

Es gibt eine Million Dinge, die ich darauf erwidern möchte, und die meisten davon müssten mit einer Lautstärke ins Gesicht meines Onkels gebrüllt werden, die eine Pusteblume in Fetzen reißen würde. Meine Mutter hat das nicht verdient.

»Das kriegen wir hin, mach dir keine Gedanken«, antworte ich stattdessen. »Wir nehmen die erste Wohnung, die frei ist.«

Mein Blick wandert über die Inserate. Die Auswahl ist gering, was bei den aktuellen Mietpreisen keine Überraschung ist. Nacheinander betrachte ich düstere Kellerappartements und trostlose Hinterhöfe, die wie faustgroße Steine in meinen Magen sinken. Unsere alte Wohnung in der Innenstadt war vielleicht kein Highlight, aber sie hatte zumindest den Luxus von Fenstern.

Mama kaut an ihren Fingernägeln. »Es tut mir so leid.«

»Du musst dich nicht entschuldigen. Es ist nicht …«

Es ist nicht deine Schuld, will ich sagen. Es war nie deine Schuld.

Aber etwas anderes lenkt mich davon ab.

Mein Blick streift ein grünes Foto in einem der Inserate.

Viel ist nicht zu erkennen, nur das hölzerne Geländer eines Balkons und ein Meer aus verwildertem Grünzeug dahinter. Trotzdem schimmern die Farben so lebendig, als würden sie über die Ränder hinaus leuchten, als müssten die Bäume und Sträucher jeden Moment ihre Wurzeln aus der Erde reißen und auf mich zumarschieren.

Mein Herz rast.

Das ist es! Genau da müssen wir hin!

Dieser Wunsch brennt so grell in mir, so unnachgiebig, dass ein Schauer über meinen Rücken jagt. Als würde dieses Foto eine Sehnsucht in mir hervorrufen, die von meinem Unfall verschüttet wurde. So sehr ich mich auch bemühe, ich finde keinen logischen Grund, warum es ausgerechnet diese Wohnung sein soll, wieso ich mir die anderen nicht mal mehr ansehen will. Vielleicht ist es meine Intuition. Oder ich habe einfach zu große Angst, wieder im Haus meines Onkels …

 

»Hallo? Wer ist dran?«

Die blecherne Stimme eines Mannes erschallt wie aus dem Nichts. Ich zucke zusammen, weil ich plötzlich mein Handy in der Hand halte. Das Display zeigt ein aktives Gespräch an, doch ich habe keine Erinnerung daran, wann ich das Gerät vom Nachttisch geholt, geschweige denn, wann ich diese Nummer gewählt habe. Noch immer stehe ich vor dem Tisch, an dem meine Mutter sitzt. Vor mir liegt das Wohnungsinserat mit dem grünen Foto.

Wortlos starre ich auf das Display.

Meine Ärzte haben mich vorgewarnt. Immer wieder haben sie mir versichert, dass Gedächtnisverlust nach einem Schädel-Hirn-Trauma völlig normal ist. Das verletzte Gewebe in meinem Kopf braucht Zeit, um sich zu regenerieren, und die verlorenen Erinnerungen können spontan wieder auftauchen.

Aber das hier ist etwas anderes, oder nicht?

Ein rascher Blick auf das Inserat bestätigt mir, dass ich die Nummer des Vermieters gewählt habe. Vielleicht war ich so sehr in Gedanken versunken, dass ich gar nicht gemerkt habe, wie ich die Ziffern eintippte.

»Hallo?!«, ruft die Männerstimme jetzt irritiert. »Ist da jemand?!«

Mit pochendem Herzen drücke ich das Handy an meine Wange, um den Mann nach einem Besichtigungstermin zu fragen. Doch meine Lippen spucken etwas völlig anderes aus. Bevor ich mir über ihre Bedeutung bewusst werde, klingen die Worte schon in meinen Ohren nach.

»Geben Sie die Wohnung keinem anderen«, begrüße ich ihn. »Wir nehmen sie.«

Mama starrt mich wortlos an, als ich auflege.

Ob sie mein Blackout bemerkt hat? Ich will sie nicht danach fragen, um sie nicht unnötig zu sorgen. Wenn man all die Medikamente und Operationen bedenkt, die mein Körper in den letzten Monaten verkraften musste, ist so etwas bestimmt nicht ungewöhnlich. Getoppt mit den Neuigkeiten, die meine Mutter heute mitgebracht hat, vielleicht sogar völlig normal. Ich muss mir einfach mehr Zeit geben, um zurück in mein altes Leben zu finden. Und ab nächster Woche habe ich endlich die Gelegenheit dazu.

Mein Blick gleitet zum Fenster, durch das die letzten Strahlen der untergehenden Sonne blitzen. Mit einem Mal packt mich das wilde Verlangen, hinauszuspringen, meine Arme auszubreiten und wie ein freier Vogel über die Stadt hinwegzufliegen, bis ich an jenem grünen Ort ankomme. Als würde dort etwas Bestimmtes auf mich warten, das alles besser macht. Als wäre dort jemand, den ich unbedingt wiedersehen will.

Mama lässt mir die Ausdrucke da.

Die halbe Nacht liege ich im Bett und starre auf das Inserat, bis ich müde genug bin, um wieder einzuschlafen. In meinem Kopf ist keine Erinnerung mehr an jenen Tag im Frühjahr, der mich beinahe von einer Sekunde zur anderen ausgelöscht hat. Ich bin seit sechs Monaten in diesem Krankenhaus und habe vier davon im Koma verschlafen. Doch in dieser Nacht, mit dem zerknitterten Ausdruck einer grünen Wildnis in den Händen, träume ich zum ersten Mal von meinem Unfall.

Wochenlang hing ein bleierner Teppich über der Stadt, über den salzigen Straßen und den gestreuten Gehwegen, selbst über den grauen Gesichtern der Menschen. Heute hat sich der Winter verzogen und seinen Schatten mitgenommen. Ein klares Milchblau spannt sich über den Himmel, so hell, als würde die Farbe noch ein paar Wochen brauchen, um richtig auszureifen.

Das ungewohnte Licht brennt in meinen Augen, trotzdem lache ich ihm Tränen entgegen. Ich werde eins mit meiner Umgebung, eins mit der Geschwindigkeit, die den Wind wie eine unsichtbare Wand gegen meinen Körper drückt. Der Motor vibriert das Gefühl aus meinen Fingern, bis sie nicht mehr zu mir gehören. Es fühlt sich an, als würde ich fliegen.

Mein erster Sommer mit achtzehn!

Dieser Gedanke erfüllt mich mit einem Rausch, in dem alles möglich erscheint. Ich bin frei hinzugehen, wo auch immer ich will. Zu tun, was auch immer ich will. Und heute ist es das hier: die Jagd auf der Maschine, die eine Kurve nach der anderen frisst.

Plötzlich, inmitten dieses wunderbaren Gedankens, ist sie da. Das Mädchen mit den blonden Haaren.

Sie tritt hinter einem Baum hervor, den Blick auf einen Pappbecher gerichtet, den sie mit beiden Händen fest umklammert. Einfach so geht sie über die Straße, ohne auf den Verkehr zu achten, ohne mich kommen zu hören. Mir bleibt nicht mal genug Zeit, um sie dafür zu verfluchen.

Zwischen ihr und dem Baum entsteht eine schmale Lücke, eine letzte Chance, sie nicht zu treffen. Doch sie drückt den Becher zu fest, und der kleine Plastikdeckel fliegt über ihre Schulter. Für eine unmögliche Sekunde glaube ich, die heiße Flüssigkeit auf meinem eigenen Handgelenk zu spüren.

Dann dreht sie sich nach dem Deckel um. Und tritt einen Schritt zurück.

Ich schreie gegen den Wind.

Du fällst vom Himmel

Es ist zu heiß für September und zu heiß für diesen Kleinbus. Der Schweiß meines Onkels vermischt sich mit seinem billigen Aftershave und klebt sich an die Innenseiten meiner Nasenflügel. Trotzdem stiehlt sich ein Lächeln auf mein Gesicht, denn heute bedeutet dieser Geruch etwas Wunderbares: Ich bin frei! Endlich wieder frei!

Ein Insekt klatscht gegen die staubige Windschutzscheibe, nur ein einziges auf dieser langen Fahrt, doch für Daniel ist es Grund genug, um seine Unzufriedenheit loszuwerden. »Wofür hält sich dieses Mistvieh eigentlich?!«

Das frage ich mich schon, seit ich in eingestiegen bin, denke ich mit einem verstohlenen Seitenblick auf meinen Onkel. Schlagartig packt mich heftiges Mitleid mit dem Käfer. So ein Ende hat er nicht verdient, wie er da auf der Scheibe klebt und in seinen letzten Sekunden die Fratze eines übellaunigen Mannes hinter einem speckigen Lenkrad ansehen muss. Ich biege mich so weit nach vorne, wie der Sicherheitsgurt es zulässt, und schenke dem Tierchen ein letztes Lächeln.

Mein Onkel will es mit Scheibenwischerflüssigkeit wegsprühen, doch im selben Moment erwacht der kleine Kerl wieder zum Leben. Seine Flügel schütteln die Wassertropfen ab und tragen ihn munter über das Dach hinweg, so als hätte er bloß eine anregende Dusche bekommen. Daniel ist also immer noch zu geizig, um richtigen Scheibenreiniger zu kaufen. Was offensichtlich wird, als er vergeblich versucht, das winzige braune Abschiedsgeschenk vom Glas zu wischen, das unser kleiner Freund ihm hinterlassen hat.

»Verdammte Scheiße ist das!«, schimpft Daniel.

Womit er absolut recht hat.

Mit zuckenden Mundwinkeln sinke ich zurück in die durchgesessenen Polster.

Es gibt nur einen Grund, warum ich mich in diesen Kleinbus gesetzt habe, und dieser kauert an meiner anderen Seite. Mama presst sich ans Beifahrerfenster und hat ihre Finger um den Türöffner geschlungen, als wollte sie jede Sekunde hinausspringen und ebenfalls gegen die Windschutzscheibe irgendeines Autos hüpfen. Ich höre schon das Geräusch brechender Knochen, so laut wie Steine in einer Kaffeemühle. Meine Arme schlingen sich wie von selbst um meine Hüfte.

»Sind wir bald da, Daniel?«, haucht Mama.

»Wir sind da, wenn ich diesen Bus anhalte, kapiert?!«

Ich beuge mich zu ihr. »Es müsste die nächste Abfahrt sein und dann noch ein bisschen.«

»Wenn du so schlau bist, warum fährst du dann nicht selber?!« Daniels Mundgeruch weht in meine Richtung, weshalb ich davon ausgehe, dass er mich ansieht. Ich drehe mich nicht zu ihm, um es zu überprüfen.

»Ich kann fahren«, sprudelt es aus meinem Mund. Keine Ahnung, woher dieser Anflug an Selbstüberschätzung kommt. Letzten Sommer habe ich mich auf der Rückbank eines Kombis festgekrallt und die wilden Fahrversuche meiner Freundin mit ihrem Handy dokumentiert. Denise hatte ihren Vater überredet, mit uns hinaus auf den Kiesplatz der Stadtwerke zu fahren und ein paar Runden zu drehen. Eine Übungsfahrt, die ihr Vater nur mit durchgeschwitztem Hemd und grauer Gesichtsfarbe überstanden hatte. Doch die einzigen Personen, die ich um Fahrstunden hätte bitten können, sitzen hier in diesem Bus. Und keine davon ist eine Option.

Ohne Vorwarnung schwenkt Daniel an den Straßenrand und knallt seinen Fuß so abrupt auf die Bremse, dass Mama und ich nach vorne geworfen werden. »Wenn das so ist, dann fahr doch!«

Ich starre mit offenem Mund auf sein verschwitztes Gesicht. In seinen Schweinsäuglein glitzert tiefe Selbstzufriedenheit.

Steig aus und ich zeig es dir! Für eine herrliche Sekunde geht mit mir die Phantasie durch, dass ich das wirklich sage und er es wirklich tut. Für eine Sekunde sehe ich ihn vorne am Bus vorbeilaufen und fühle gleichzeitig den Widerstand des Gaspedals unter meinem Fuß. Eine längst überfällige Abrechnung für all die Jahre, in denen ich zu klein war, um meine Mutter vor ihm zu beschützen. Doch dann spüre ich den Aufprall von Metall auf Fleisch, und jegliche Genugtuung löst sich in einem Schwall Magensäure auf, die in meinen Mund schießt.

Mein Onkel feixt. »Sieh an, jetzt hält sie die vorlaute Klappe!«

»Sie hat doch keinen Führerschein«, beschwichtigt meine Mutter.

Vor allem habe ich niemanden sonst, der unsere Sachen durch die halbe Stadt fahren kann. Auch wenn außer den paar Umzugskartons hinten auf der Ladefläche nichts mehr davon übrig ist. Unsere alten Möbel hat er längst verscherbelt.

Etwas Dunkles pulsiert in Daniels Blick. »Sie soll sich entschuldigen.«

Ich entschuldige mich an dem Tag, an dem dein Cholesterinwert unter 500 fällt.

Da ist ein Teil in mir, der über ihn lachen möchte. Ein Teil, der ihm zeigen will, dass er so nicht mehr mit uns umgehen kann. Doch im Augenwinkel sehe ich die dünnen Hände meiner Mutter, sehe, wie sie ihre Oberschenkel umklammert, sehe ihre Fingernägel, die völlig abgekaut sind.

Ich beiße meine Zähne aufeinander. »Entschuldige.«

Daniel grunzt und legt betont langsam den ersten Gang ein. Der Bus rollt vom Pannenstreifen.

Wir verlassen den zähen Stadtkern und nähern uns dem grünen Gürtel der Stadt. Im Norden ist dieser Teil schön, mit prächtigen Brücken und alten Villen, deren Türmchen in den Himmel stechen. Hier im Süden verliert der Fluss sein Betonkorsett und verfranzt sich in einem weitläufigen Ufergebiet, das ebenfalls schön sein könnte, wenn die Autobahnfahrer es nicht als riesigen Mülleimer verwenden würden. Wir nehmen die nächste Abfahrt und kommen auf einen ruhigeren Weg, der durchs alte Industriegebiet führt.

»O nein«, stöhnt meine Mutter. Automatisch überprüfe ich im Seitenspiegel, ob wir in eine Radarfalle gefahren sind, entdecke aber nur eine leere Straße hinter uns.

Ich lehne mich zu ihr, als könnte ich so das Gespräch zwischen uns halten, doch die lauernde Aufmerksamkeit meines Onkels glüht in meinem Nacken. »Was ist los?«

»Wir haben vergessen, deine Tabletten in der Apotheke zu holen«, flüstert sie.

Verdammt. Daran habe ich nicht mehr gedacht.

»Ich fahre auf keinen Fall zurück«, stellt Daniel klar.

Ich rücke näher an meine Mutter, nah genug, um für eine Sekunde das feine Pusteblumenhaar auf meinen Lippen zu spüren. »Ich habe heute Morgen noch eine Infusion bekommen. Das reicht bestimmt erst mal.«

Zumindest reicht es für einen Tag im Krankenhausbett. Wie lange meine Hüfte durchhält, wenn ich Kisten herumschleppen muss, ist eine völlig andere Frage. Aber kein Schmerz der Welt könnte mich jetzt noch dazu bringen, meinen Onkel um einen weiteren Gefallen anzubetteln. Vorher nähe ich meine Zunge am Gaumen fest.

Wir lassen das Industriegebiet hinter uns und biegen auf eine schlecht geteerte Straße ab, die von schmutzigen Reihenhäusern gesäumt ist. Ein paar Kinder jagen einem Ball nach, der in hohen Bögen über die Fahrbahn hüpft, und ihre rauchenden Mütter werfen uns böse Blicke zu, als hätten wir es gewagt, mit einem Kleinbus mitten durch ihr Kinderzimmer zu brettern. Nichts in dieser Straße sieht sonderlich einladend aus, doch im selben Moment blitzt hinter den Häusern das erste Grün der angrenzenden Uferböschung durch, und mein Herz beginnt wild zu pochen.

»Da vorne ist es«, wispert meine Mutter.

Sie war vor drei Tagen mit dem Linienbus hier, um den Mietvertrag zu unterzeichnen. Eine Aufgabe, die ich ihr nur übertragen habe, weil wir die Wohnung sonst nicht rechtzeitig zu meiner Entlassung bekommen hätten. Ich hatte all meine Fingernägel abgekaut und wäre vielleicht noch weiter gegangen, bis sie endlich mit den Unterlagen zurück ins Krankenhaus kam. Unter ihren Armen klebten Schweißringe in der Größe von Pizzatellern.

Jetzt deutet sie auf eine Reihe von Garagentoren, die unter einen grünen Hügel gebaut sind. Auf dem Asphalt davor leuchtet eine unübersehbare Aufschrift: Parken verboten. Doch mein Onkel hat sich schon immer die Regeln zurechtgebogen, und der Kleinbus kommt mitten auf dem Schriftzug zum Stehen.

Zwei junge Kerle in Bomberjacken, die in einer Bushaltestelle auf der anderen Straßenseite warten, stoßen sich gegenseitig an und nicken zu uns herüber. Mama zieht ihren Kopf ein und kratzt über die Plastikverschalung der Tür, bis sie endlich den Hebel erwischt und lautlos hinausschlüpfen kann. Daniel wälzt sich ebenfalls aus dem Bus.

Ein erwartungsvolles Kribbeln breitet sich in meiner Brust aus. Ich löse den Gurt und rutsche zur Seite meiner Mutter, weil ich nichts von meinem Onkel berühren möchte, nicht mal die schwitzige Wärme, die er auf dem Fahrersitz hinterlassen hat. Früher wäre mir nicht aufgefallen, dass der Ausstieg höher ist als bei einem normalen Auto, doch jetzt sehe ich die Welt durch den Filter einer künstlichen Hüfte. Obwohl ich so weit wie möglich über das Polster nach unten rutsche, stößt mir der Aufprall wie ein Vorschlaghammer in den Rücken.

Für mehrere Sekunden tanzen bunte Flecken vor mir, die sich nur mühsam zur Seitenwand des Busses blinzeln lassen. Meine Finger krallen sich in die Gummidichtung des Fensters.

»Worauf wartest du noch?!«, bellt Daniel von der Heckseite des Wagens.

Worauf ich warte? Auf einen dieser unglücklichen Zwischenfälle, die eine gute Zeitungsheadline abgeben: Durchgeknallter Messermörder ersticht übergewichtigen Mann.

Hoffnungsvoll linse ich rüber zu den Bomberjacken, die uns noch immer im Blick haben und zwielichtig genug aussehen, um vielleicht eine illegale Waffe unter ihrem Consdaple-Schriftzug zu verstecken. Doch allem Anschein nach sondieren sie noch immer die Lage.

Ich hinke zur Rückseite des Autos. Nicht etwa, um bei meinem Onkel Mitleid zu schinden – was aussichtsloser wäre, als in der Sahara Staubsauer zu verkaufen –, sondern weil ich trotz Physiotherapie noch immer nicht richtig gehen kann. Auch Daniel scheint das zu bemerken, denn er packt die größte Kiste aus dem Kofferraum und stößt sie mir gegen die Brust. Ich stolpere gegen die Rücklichter.

»Pass auf den Lack auf«, zischt er.

Ich würde ihm gerne eine schlagfertige Antwort verpassen, doch im selben Moment fällt mein Blick auf etwas, mit dem ich nicht gerechnet habe. Eine lang gezogene Betontreppe mit rostigem Stahlgeländer streckt sich über den Hügel hinauf bis zum Wohnhaus. Eine Treppe mit mindestens fünfzig Stufen.

So viel zu unserer Wohnung im Parterre.

Daniel findet wie immer ein paar motivierende Worte. »Beeilt euch, in einer Stunde fahr ich wieder«, schnauft er. »Mit allem, was sich dann noch im Kofferraum befindet!«

Mama senkt den Kopf und eilt mit der ersten Ladung hoch.

Selbstverständlich habe ich im Krankenhaus die ein oder andere Treppenübung gemacht, allerdings niemals mit einer Kiste, die fast halb so viel wiegt wie ich selbst. Ich stelle einen Fuß auf die erste Stufe und drücke mich vorsichtig nach oben, trotzdem protestiert meine Hüfte sofort. Es ist kein scharfer Schmerz wie bei einem Messerschnitt in den Finger, sondern eher ein dumpfes Ziehen wie bei einem Muskelkater.

Einen Moment lang halte ich inne, als könnten sich die Stufen durch Zauberhand in eine Rolltreppe verwandeln. Aber angesichts der Tatsache, dass wir gerade mal dreihundertfünfzig Mäuse pro Monat für dieses Etablissement berappen, vermute ich, dass keine magische Rolltreppe inbegriffen ist. Besser, wir beeilen uns. Nicht wegen der Drohung meines Onkels, sondern weil ich keine Ahnung habe, wie lange meine Schmerzinfusion durchhält, wenn ich Umzugskisten auf den verfluchten Mount Everest schleppen muss.

Ich habe die Hälfte der Stufen geschafft, als Mama an mir vorbeihuscht, um sich die nächste Kiste zu holen. Dicht gefolgt von einer schnaufenden Dampfwalze, die sich wohl nur deswegen einen weiteren Kommentar verkneift, weil sie sonst vor Atemnot zusammenbrechen würde. Oben angekommen stelle ich erleichtert fest, dass ich zumindest mit einer Sache unrecht hatte: Es sind nur vierzig Stufen. Vierzig Stufen mal einen Kleinbus voller Kisten, geteilt durch drei Personen, minus einer Plastikhüfte, die hoffentlich keinen billigen Made-in-China-Aufdruck trägt. Die Schweißperlen tropfen im Sekundentakt von meinem Kinn.

Im Hausflur werde ich von Hakenkreuzen begrüßt, die allesamt spiegelverkehrt auf die Wände geschmiert wurden. An dem leuchtenden Weiß im Hintergrund erkenne ich, dass die Kritzeleien noch relativ frisch sein müssen. Dreihundertfünfzig Piepen, denke ich ernüchtert. Es muss ja einen Grund dafür geben.

Gleich die erste Tür gehört zu unserer Wohnung.

Mit der Kiste voran trete ich über die Schwelle und bin erleichtert, als ich das Gewicht endlich abstellen kann. Vor mir erstreckt sich ein winziger Flur mit drei Türen. Hinter einer befindet sich eine kleine Toilette, die sich bei näherer Betrachtung als unser neues Badezimmer herausstellt. Der Flur geht nahtlos in eine Miniküche über, in der nur das Nötigste vorhanden ist: Kühlschrank, Herd und Spülbecken. Vor dem einzigen Fenster steht ein kleiner Tisch mit abgewetzter Eckbank und einem Stuhl.

Dahinter leuchtet etwas Grünes …

 

»Was lungerst du da draußen rum?!« Daniel hämmert ans Küchenfenster.

Ich zucke zusammen, denn plötzlich befinde ich mich an einem anderen Ort.

Tatsächlich stehe ich draußen. Zumindest fast. Ich muss ein weiteres Zimmer durchquert und den Balkon betreten haben – doch eine Erinnerung daran habe ich nicht. Viel mehr als eine Minute kann nicht vergangen sein, trotzdem mischt sich eine neue Note unter meine Gefühle: der bittere Geschmack von Adrenalin.

Hätte ich jemandem von meinem Blackout erzählen sollen?

Hätten sie mich dann jemals entlassen?

Daniels Stimme dringt aus der Küche, wo er meine Mutter zur Schnecke macht, weil ich den Karton mitten im Flur abgestellt habe. Sie verteidigt mich nicht, sondern entschuldigt sich leise. Nein, es war richtig, den Ärzten nichts zu sagen. Wenn ich früher gewusst hätte, dass Mama sich wieder diesem Mistkerl ausgeliefert hat, wäre ich sogar auf Krücken aus dem Krankenhaus gekrochen.

Der Gedanke an den nächsten Karton ist nicht sonderlich verlockend, also erlaube ich mir einen kurzen Rundumblick. Der Balkon spannt sich über die gesamte Breite der Wohnung, was nicht besonders viel ist, aber genug Platz für ein Sammelsurium aus den verrücktesten Möbeln bietet.

Meine Mundwinkel biegen sich langsam nach oben.

Jedes Jahrzehnt scheint hier draußen vertreten zu sein, ein filigraner Holzschrank mit dünnen Stelzenbeinen aus den Fünfzigern, ein orangefarbener runder Plastikhocker aus den Siebzigern und eine schlichte Glasvitrine aus den Neunzigern. Dazwischen hockt das hässlichste Sofa der Welt, dessen knallbunter Stoffbezug nur im Drogenrausch der späten Achtziger entstanden sein kann.

Grinsend schüttle ich den Kopf und trete ans Geländer.

Das Haus ist bis zur Wand hin mit Grünzeug überwuchert. Weiter hinten fällt der Hügel ab und führt wahrscheinlich hinunter zum Fluss. Zwischen wilden Haselnusssträuchern ragen ein paar Stauden empor, und eine lückenhafte Reihe alter Thujahecken erinnert an eine Zeit, in der dieser Hinterhof besser gepflegt worden ist.

Am anderen Ende des Gartens hängt eine Schaukel unter einer Eiche. Das hochgewachsene Gras streift ihre Sitzfläche, als hätte sie schon länger niemand mehr benutzt. In meiner Brust flammt der Wunsch auf, hinzugehen, mich an den Seilen festzuhalten und meinen Kopf weit in den Nacken zu werfen, während ich immer höher ins unendliche Blau des Himmels hinaufschaukle. Doch ein raues Gefühl unter meinen Händen holt mich aus dieser Vorstellung zurück.

Meine Finger ertasten eine abgewetzte Stelle auf dem Balkongeländer. Zwei Stellen, um genau zu sein, ungefähr dreißig Zentimeter auseinander. Ich streiche über die abgesplitterten Holzfasern und frage mich, wodurch sie wohl entstanden sind.

»Kommst du jetzt endlich, verdammt nochmal?!«

Mein Atem stößt aus beiden Nasenlöchern. Die Geheimnisse dieses Hauses werden noch warten müssen.

Ich gehe zurück ins Zimmer mit der Balkontür, durch das ich vorhin so gedankenverloren gekommen bin, dass es sich jetzt wie das erste Mal anfühlt. Ein Einzelbett mit nackter Matratze, ein Kleiderschrank an der Wand, Sonnenlicht, das schlecht abgewischte Putzspuren auf dem Fensterglas offenbart, und der Geruch nach frischer Farbe. Sonst ist nichts darin.

Meine Mutter hat die Umzugskisten in die kleine Abstellkammer gegenüber dem Badezimmerklo geschleppt. Die Kammer hat nur zwei schmale Milchglasfenster oben an der Wand, die zum Hausgang hin vergittert sind.

»Denkst du, hier passt eine Matratze rein?«, fragt sie mich im Vorbeigehen.

Ich bleibe stehen. »Wieso eine Matratze?«

Im selben Moment läuft es mir eiskalt über den Rücken. Wie konnte ich das übersehen? Die Wohnung hat nur zwei Räume, das Schlafzimmer und diese Kammer hier, die im Inserat sehr viel größer wirkte. Du hast dir diese Wohnung doch vor ein paar Tagen angeschaut, würde ich am liebsten sagen. Warum hast du mir nicht gesagt, wie klein sie ist?

Aber das wäre nicht fair. Meine Mutter hat auf meinen Wunsch hin ihre Unterschrift unter den Vertrag gesetzt. Ich hätte die Maße der Zimmer selbst überprüfen müssen. Es ist meine Schuld. Meine Verantwortung.

»Ich schlafe hier«, entscheide ich.

»Nein«, widerspricht meine Mutter. »Du brauchst ein richtiges Bett für deine Hüfte.«

Für einen Moment bin ich so verdattert über ihren Einspruch – etwas, das ungeheuer selten vorkommt –, dass sie mein Schweigen fehlinterpretiert. Sofort knetet sie ihre Hände. »Sobald ich wieder arbeite, bin ich tagsüber sowieso nicht daheim«, rechtfertigt sie sich. »Und abends lässt du mich vielleicht mal durch dein Zimmer hinaus auf den Balkon gehen?«

»Was ist das für eine Frage? Natürlich kannst du auf den Balkon gehen. So oft du willst.«

»Ach, Rena.« Sie lächelt, doch ihre Augen werden wässrig. »Ich weiß, ich bin keine … Lass mich zumindest diese eine Sache für dich tun, ja?«

Ich nicke stumm, weil es keine Antwort über den Kloß in meinem Hals schafft.

 

Daniel ist wütend, als wir wieder vor dem Kleinbus ankommen. Seine Doppelkinne beben unter dem verschwitzten Gesicht, und die Schweißringe unter seinen Armen haben sich zu einem einzigen Fleck verschmolzen. Als wäre das nicht Ansporn genug, um schleunigst mit der nächsten Kiste im Haus zu verschwinden, zeichnen sich unter dem halbtransparenten Stoff auch noch seine haarigen Nippel ab.

Ich schüttle mich.

»Kannst du noch lahmarschiger eine Treppe herunterkommen?!«, zischt er zur Begrüßung. »Du bleibst jetzt hier und lädst den Bus aus, verstanden? Deine Mutter und ich tragen die Kisten hoch.«

Ich gebe mir größte Mühe, nicht erfreut über diesen Vorschlag zu wirken, damit er nicht merkt, was für einen riesigen Gefallen er mir tut. Leider dauert diese unerwartete Glückssträhne nur fünf Minuten. Daniel und meine Mutter sind gerade wieder im Haus verschwunden, als die Bomberjacken sich doch noch dazu entscheiden, etwas gegen den Kleinbus im Parkverbot zu unternehmen.

Ich stelle gerade eine Kiste vor der Treppe ab, als die zwei Kerle ihre Schatten über mich werfen. Beide haben unscheinbare, teigige Gesichter und so kurze Haare, dass ihre fettige Kopfhaut darunter hervorschimmert.

»Der Bus muss da jetzt weg«, beschließt der Erste. Seine dichte Monobraue verleiht ihm einen finsteren Ausdruck.

Der andere kann sich ein Grinsen kaum verkneifen.

Ich seufze innerlich. Natürlich kommen unsere selbst ernannten Heimatschützer und Traditionsbewahrer erst dann auf die Idee, ihren Parkplatz vor einem Umzugswagen zu verteidigen, als der Hundertfünfzigkilobesitzer im Haus verschwunden ist und nur eine humpelnde junge Frau zurückgelassen hat.

Ich möchte den Kerl beschwichtigend anlächeln, schaffe es jedoch nur, meine Lippen über die Zähne hochzuziehen. »In zwanzig Minuten sind wir fertig.«

Bomberjacke verschränkt seine Arme vor der Brust. »In zwanzig Minuten steht längst ein Abschleppwagen hier. Fahr jetzt weg.«

Nummer zwei grunzt amüsiert.

Bestimmt haben sie gesehen, dass nicht ich hinterm Steuer saß, als wir angekommen sind. Es geht ihnen überhaupt nicht um das Auto oder den Parkplatz. Es geht ihnen darum, mich klein zu machen. Wollt ihr nicht doch lieber auf meinen Onkel warten? Eure faschistischen Ansichten würden sich glänzend verstehen.

»Da hinten ist noch ein Parkplatz frei«, bietet Monobraue hilfsbereit an und deutet mit dem Kinn zur anderen Straßenseite. Neben der bunt besprühten Bushaltestelle befindet sich eine schmale Spur, auf die sich eng geparkte Autos quetschen. Nur eine Lücke ist frei, die mit sehr viel Glück genügend Platz für den ausladenden Hintern eines Kleinbusses bietet. Ein großes Auto und eine kleine Frau. Die Bomberjacken wittern bereits das Vergnügen.

Plötzlich spannt ein merkwürdiges Gefühl an meinem Mund. Ich benötige einen Moment, um es als ein breites Grinsen zu identifizieren. »Dann geht besser aus dem Weg, sonst passiert noch ein Unglück.«

Überraschung flackert über die Gesichter der beiden Kerle, als ich den Kofferraum vor ihren Nasen zuknalle und zur Fahrertür marschiere. Ich kann ihre Reaktion gut nachvollziehen, denn ich bin mir selbst nicht sicher, was genau ich eigentlich vorhabe. Ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, rutsche ich hinters Lenkrad und höre kurz darauf das Aufheulen des Motors.

Meine Hand schließt sich um den Schalthebel, rührt ihn einmal im Kreis und legt den Rückwärtsgang ein. Kaum spüre ich das Gaspedal unter meinem Fuß, saust der Wagen schon auf die Straße. Vielleicht einen Hauch zu nah an den Bomberjacken vorbei, denn beide springen auf den Bürgersteig zurück und starren mir mit aufgerissenen Mäulern nach.

Der Rest ist einfacher, als ich dachte. Der Wagen gleitet rückwärts in die Parklücke hinein, und das Lenkrad unter meinen Fingern dreht die Reifen gerade. Mehrere Sekunden lang starre ich abwechselnd auf beide Seitenspiegel, weil ich es selbst nicht fassen kann, keine einzige Korrektur vornehmen zu müssen. Oder nicht mit Vollgas in die Bushaltestelle hinter mir gebrettert zu sein.

Ich will gerade die Tür aufschwingen, als ein lautes Hupen mich zurückhält, und ein Linienbus dicht an meiner Fensterscheibe vorbeibraust. Als ich aussteige, sind die Bomberjacken verschwunden.

»WAS ZUM TEUFEL FÄLLT DIR EIN?!«

Dafür ist Daniel wieder da.

Er wuchtet seinen Körper auf die andere Straßenseite, inspiziert im Vorbeigehen seine Stoßstange und versetzt mir mit der flachen Hand einen Stoß gegen die Brust. Ich falle gegen die Seitenwand des Busses und bin gerade dabei, die Plastikteile in meiner Hüfte zu einem Gegenschlag zu motivieren, als sich eine Pusteblume zwischen uns stellt.

»Daniel, bitte nicht!« Mama hält beide Hände beschwichtigend in die Höhe.

Er verpasst ihr eine so schallende Ohrfeige, dass ihre blonden Haare herumfliegen. »Du Luder! Dankst du mir so meine Hilfsbereitschaft?!«

Plötzlich klatscht etwas in sein speckiges Gesicht. Ich kann den Abdruck des Schlüsselbunds noch immer in meiner Handfläche fühlen. Schützend stelle ich mich vor meine Mutter. »Wenn du sie noch einmal anfasst, rufe ich die Bullen.«

Er versetzt mir einen weiteren Stoß, doch diesmal halte ich seinem Angriff stand. Kurz ringen unsere Blicke miteinander, dann hebt er die Schlüssel vom Boden auf und steigt mit selbstgerechter Miene in den Bus, als könnte er uns nichts Schlimmeres antun. »Das habt ihr jetzt davon!«, keift er mit stolzgeblähter Brust. »Nun werden die Damen ihren Mist selbst die Treppe hochtragen müssen! Kommt bloß nicht wieder bettelnd bei mir angekrochen!«

»Daniel!«, ruft meine Mutter.

Ich bleibe vor ihr stehen, bis sich der Kleinbus aus der Parklücke manövriert hat und mit einer braunen Abgaswolke die Straße hinabdonnert.

»Hast du das gesehen?«, dringt eine amüsierte Stimme aus meinem Mund. »Der Penner brauchte drei Anläufe, um aus der Lücke zu kommen.«

Mama wirft mir einen entgeisterten Blick zu. »Da waren noch unsere Sachen drin.«

Ein überwältigendes Grinsen breitet sich auf meinem Gesicht aus. Vielleicht sollte ich mich schlecht fühlen, wegen des Streits mit meinem Onkel, wegen seiner Handgreiflichkeit oder wegen der letzten Kisten im Kofferraum. Doch alles, was ich spüre, ist die brennende Erleichterung, ihn los zu sein.

Mein Blick fällt auf das Wohnhaus auf dem Hügel. Trotz der Hakenkreuze und verwilderten Sträucher, ja trotz einer Außentreppe, die jede Stufe einzeln in meine Hüfte meißelt, habe ich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder das Gefühl, endlich – endlich! – wieder zu Hause zu sein.

Ich kriege das hin, denke ich plötzlich. Ich habe einen Unfall überlebt, eine zerschmetterte Hüfte, ein Koma, selbst einen sadistischen Widerling, der andere Leute in den Boden stampft, um sich selbst groß zu fühlen. Jetzt gibt es nichts mehr, das sich meinem Neuanfang in die Quere stellen könnte.

Jedenfalls nichts mehr, woran du dich erinnerst, fügt eine leise Stimme in mir hinzu.

Ich schlucke.

Höchste Zeit, die restlichen Sachen reinzutragen.

 

Zum Glück stellt sich heraus, dass ich fast alle Kartons abgeladen hatte. Allerdings bedeutet das auch, dass wir fast alle Kartons vierzig Stufen hinauf schleppen müssen. Mama bietet an, dass sie den Treppenteil übernimmt, doch die Hakenkreuze an der Bushaltestelle spornen mich an, unsere spärlichen Besitztümer lieber rasch reinzubringen, bevor noch mehr Parkplatzwächter auftauchen können.

Bei der letzten Kiste zittern meine Beine so sehr, dass ich es unmöglich verbergen kann. Jeder einzelne Schritt bis zur Tür feuert von meinen Lenden hinauf in meine verkrampften Schultern und spießt sich durch meine Halsmuskeln.

Ich stolpere in die Wohnung und lasse die Kiste versehentlich auf den Boden fallen. Etwas zerbricht, aber ich habe keine Zeit mehr, um nachzusehen. Meine Hand stößt gegen die Badezimmertür, und meine Knie geben genau in dem Augenblick nach, als ich meine Hände ums Waschbecken kralle. So leise wie möglich würge ich über dem Abfluss.

»Rena?« Mama kommt nicht herein, was diesmal nicht an ihrer Unsicherheit liegt, sondern vielmehr daran, dass sie dafür zwischen meinen Beinen hindurchkriechen müsste.

»Alles gut, mach dir keine Sorgen.« Zitternd wische ich über meinen Mund. Ein Blick in den Spiegel zeigt mir, dass ich so weiß wie die frisch gestrichenen Wände hinter mir bin.

»Wenn wir nur deine Tabletten geholt hätten«, sagt sie besorgt.

Ich möchte sie beruhigen, doch im selben Augenblick dreht sich alles vor mir. Meine Mutter verwischt zu einem undeutlichen Fleck, als würde jemand an den Linsen in meinen Augen drehen. Nur mit Mühe stelle ich sie wieder scharf. »Es geht gleich wieder. Ich hau mich ein paar Minuten aufs Ohr.«

Leider ist das nicht so einfach, wie ich es mir vorgestellt habe. Ich muss mich an der Wand entlangtasten, um nicht der Länge nach in den Flur zu knallen, und dabei so tun, als würde ich die krampfhaft verknoteten Hände meiner Mutter nicht sehen. Als ich es endlich in mein neues Zimmer geschafft habe und meine unbeschwerte Maske wie trockener Gips von meinem Gesicht bröselt, stehe ich vor einem anderen Problem. Einem ziemlich voll beladenen. So wie es aussieht, hat Daniel doch das letzte Wort heute: Alle Kisten, die er getragen hat, stapeln sich auf meinem neuen Bett.

Am liebsten würde ich mich auf den nackten Boden werfen. Doch dann schießt ein Bild durch meinen Kopf, ein so wunderbares, dass ich vor Freude auflache. Ein hässliches Sofa aus den Achtzigern!

Ich humple auf den Balkon und lasse mich der Länge nach auf das Sofa fallen. Die Erleichterung in meiner Hüfte ist so überwältigend, dass ich in die Polster beiße und glückselig hineinstöhne. Der Geruch nach altem Stoff, grüner Luft und noch etwas anderen, etwas angenehm Vertrautem füllt meine Nase. Meine Finger graben sich tief in den bunten Bezug.

Langsam aber sicher lösen sich meine verkrampften Muskeln. Ein Windspiel klimpert in der Ecke, und das Rauschen der Bäume ringsum scheint zu flüstern: Lass los, ruh dich aus, du hast es verdient. Ehe ich einwenden kann, dass jemand die Kartons auspacken muss, reißt mich der Schlaf aus meinem Bewusstsein.

Diesmal träume ich nicht.

Es fühlt sich bloß nach Sekunden an, in denen ich weg war, doch als ich aufwache, brennt sich eine blutrote Sonne durch die Spalten im Geländer und fällt in orangefarbenen Streifen über meinen Körper. Die Übelkeit von vorhin ist verschwunden, und die stechenden Glassplitter in meinem Rücken sind wieder zu Muskelsträngen verschmolzen. Nur sehr langsam wird mir bewusst, dass mich etwas aufgeweckt hat.

Musik. Blecherne Radiomusik, die in den Boxen kracht. Offenbar kann sich jemand nicht für einen Sender entscheiden, denn Pophits werden von Schlagern und schließlich Operngesang abgewechselt. Noch etwas anderes dringt durch den Lärm. Zuerst halte ich es für eine merkwürdige Art von Backgroundgesang, dann schraubt sich der Ton höher und reißt abrupt wieder ab. Es ist die Stimme einer Frau.

Ich stütze mich auf die Unterarme, um zum nächsten Balkon hinüberzusehen. Er ist mit einer Sichtschutzwand von unserem abgetrennt, doch es hört sich nicht so an, als käme die Musik von dort. Mein Blick gleitet hinauf zur Decke, die eigentlich der Boden eines weiteren Balkons direkt über mir ist. Den Geräuschen nach reißt oben eine Tür auf.

»Hör auf! Sei endlich still!«, ruft die Frau.

Das Radio wird schlagartig abgedreht.

Ich höre ihre Schluchzer, dann ein Krachen der Tür. Mehrere Sekunden lang sitze ich mit pochendem Herzen da und lausche hinauf.

Plötzlich bewegt sich etwas über mir. Ein ausgelatschter Sneaker, dicht gefolgt von einem zweiten, erscheint an der Brüstung des oberen Balkons. Zwei lange Beine baumeln zu mir herab, die in so löchrigen Jeans stecken, dass die Knie praktisch nackt sind. Mit einem gezielten Satz landen die Füße auf meinem Geländer, genau auf den beiden abgewetzten Stellen, die mir am Nachmittag aufgefallen sind.

Ich folge den Hosenbeinen nach oben zu einem Streifen knallroter Boxershorts. Darüber entblößt sich ein flacher Bauch, der sofort von einem nachrutschenden T-Shirt bedeckt wird. Als Letztes bückt sich ein dunkler Haarschopf unter der Kante hindurch.

»Was soll das werden?«, frage ich überrascht.

Der Kerl ignoriert mich, obwohl ich direkt vor ihm sitze.

Wie ein überdimensionaler Frosch kauert er sich auf mein Balkongeländer, so als würde er sich jeden Moment mit den Füßen abstoßen und einfach auf mich draufhüpfen. Was bei seinem Gewicht ziemlich schmerzhaft enden könnte.

»Hey!« Erschrocken schießt mein Finger nach vorne und pikst in seine Brust. »Pass gefälligst auf!«

Sein Gesicht schnellt so plötzlich hoch, als hätte ich ihm einen Schlag in die Magengrube verpasst. Für eine Sekunde weiten sich seine Augen, gerade lange genug, um mir klarzumachen, dass etwas mit ihnen nicht stimmt. Mir bleibt keine Zeit, um herauszufinden, was es ist, denn im nächsten Moment verliert er das Gleichgewicht und fällt von meinem Balkon.

Ich vermiete dir mein Sofa

Einen Moment lang bin ich wie erstarrt, dann beuge ich mich so weit über die Balkonbrüstung, wie meine Plastikhüfte es zulässt. Der Kerl kann nicht sonderlich tief gefallen sein, immerhin befindet sich unsere Wohnung im Parterre, und nur ein paar Kellerfenster blitzen zwischen dem dichten Gestrüpp hervor. Trotzdem ist keine Spur von ihm zu sehen, da unten rührt sich nicht mal ein Blatt.

»Hey! Lebst du noch?!«

Keine Antwort.

O Gott, lass mich nicht schon am ersten Tag einen Nachbarn auf dem Gewissen haben!

»Hör zu, ich kann nicht zu dir runterkommen, also sag bitte was!«

Ein Windspiel klimpert in der Ecke. Es sind aufgefädelte Kronkorken, die in der roten Abendsonne blitzen. Ein paar der durchsichtigen Nylonschnüre wehen wie lose Spinnenfäden im Wind, als hätte man einen Teil davon abgerissen. Von dem Typ ist kein Ton zu hören.

Shit.

Verzweifelt blicke ich über meine Schulter und suche im staubigen Küchenfenster nach einer Lösung. Drinnen brennt nirgendwo eine Lampe, was bedeuten muss, dass meine Mutter bereits schläft. Obwohl das keinen Unterschied macht. Ich kann nicht zu ihr reingehen, an ihren schmalen Schultern rütteln und sie darum bitten, einen wildfremden Kerl in den Büschen vor unserem Haus zu suchen. Für sie ist es noch schwieriger, da runterzugehen als für mich, wenn auch aus völlig anderen Gründen.

Mein Kopf dreht sich zurück nach unten.

Ich versuche abzuschätzen, wie lange ich durch die Wohnung, rund um das Haus und durch all die Sträucher brauche, um ihn zu erreichen. Wenn das Buschwerk tatsächlich so tief ist, um jemanden in seiner Größe zu verschlucken, bleibe ich vermutlich auf halbem Weg stecken und muss selbst gerettet werden.

Aber habe ich eine andere Wahl?