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Eine Liebesgeschichte, so echt, dass sie weh tut – und so berauschend, dass sie süchtig macht! Optimistisch gesehen ist Vikis Leben eine Vollkatastrophe. Da kann man schon mal aus Frust ein paar Tüten zu viel rauchen. Und es kann auch passieren, dass man nach einem Konzert mit dem Sänger der Band im Bett landet, obwohl man den eigentlich total bescheuert findet. Wirklich. Kein großes Ding. So was passiert. Aber ausgerechnet Viki? Nein! Ganz. Sicher. Nicht. Oder vielleicht doch?
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Seitenzahl: 428
Sabine Schoder
Liebe ist was für Idioten. Wie mich.
FISCHER E-Books
Für Waldtraut & Bernd
Auf dem schwarzen Kleid kleben Flecken, wo meine Knie es in die weiche Erde gedrückt haben. Eins meiner Schuhbänder hat sich gelöst und schleift meinen Schritten hinterher. Ich möchte mich danach bücken, aber der Strom der Erwachsenen schiebt mich weiter. An aufgehängten Mänteln vorbei, von denen das Wasser auf den Boden tropft.
Graue Schleier wabern in der Luft, die sich nicht fortwischen lassen. Keine Tränen, Zigarettenqualm hängt über den Tischen. Mein Onkel kracht auf einen Stuhl und öffnet den Knopf seines Sakkos. Er winkt die Bedienung herbei, die mit Block und Bleistift durch die Gäste eilt.
Mein Vater sitzt am Ende der Tafel. Ganz allein. Nur ein halb ausgetrunkenes Bier leistet ihm Gesellschaft. Mit dem Handrücken wischt er seine Lippen ab, dann fährt er sich in die Haare. Schaum bleibt an einer Strähne kleben, doch er merkt es nicht. Seine Finger tasten nach der gewölbten Hemdtasche.
Ich renne los. An Hüften und Ellbogen vorbei, die gegen meine Schläfen stoßen. Mein Schuh erwischt das lose Band, ich stolpere, falle auf die Knie, raffe mich sofort auf. Trotzdem komme ich zu spät.
Die Flamme auf dem Feuerzeug erlischt. Glut frisst sich in die Zigarette, die mein Vater in seinen Mund gesteckt hat. Er lässt das Päckchen im Hemd verschwinden und rutscht tiefer in den Stuhl, als würde der Rauch ihn von innen schmelzen.
Ich zerre an seinem Oberarm. »Bitte, Papa, hör auf damit!«
Sein Ausdruck wandert ziellos über mein Gesicht, ohne Halt daran zu finden. »Nicht heute, Viktoria. Nicht jetzt. Lass mich in Ruhe.«
Meine Tränen sind noch nah. Es ist einfach, sie zurückzuholen. Ich drücke die Beine durch, bis sie vor Anstrengung zittern, und presse Fingernägel in schmutzige Handballen. Mein Aufschluchzen lässt die Gespräche stolpern, Köpfe drehen sich, Worte versiegen. Jeder sieht mich, jeder hört mich. Nur mein Vater achtet nicht darauf. Er hebt die Zigarette zu den Lippen.
Daraufhin passiert alles sehr schnell. Meine Faust schließt sich um den weißen Stängel. Zuerst spüre ich nichts, dann beißt mich die Glut. Ich bin zu überrascht, um aufzuschreien, blinzle auf den Tabak, der von meiner Haut bröselt.
Plötzlich erschüttert das Bild. Lärm füllt mein linkes Ohr, ich falle gegen den Tisch, reiße Gläser um, etwas zerbricht. Und schließlich Stille. Totenstille um uns herum.
Bier saugt sich in eine Serviette.
Vaters Hand schwebt in der Luft.
Meine Wange pocht von der Ohrfeige.
Das ist der Moment, in dem ich es begreife.
Tränen helfen nicht.
Tränen machen blind.
Meine Mutter starrt mich an. Sie sitzt in einem kleinen Bilderrahmen auf dem Nachttisch, mit einer Jennifer-Aniston-Föhnfrisur, die in den Neunzigern modern war. Ein schwarzer, verfaulter Zahn klebt auf ihrem Lachen. Mein Fingernagel kratzt das Staubkorn vorsichtig herunter.
Erschöpft werfe ich mich auf mein Bett und schließe die Augen. Im selben Moment klingelt das Handy irgendwo auf dem Fußboden.
»Sei bitte falsch verbunden. Lass mich einfach hier liegen und in Frieden sterben.« Das meine ich bitterernst. Immerhin habe ich gerade eine Mörderschicht hinter mir.
Meine Hand tastet nach dem Telefon, um den Anruf wegzudrücken. Dabei streifen meine Finger versehentlich die Lautsprechertaste und das Handy rutscht außer Reichweite. Sofort schrillt die Stimme meiner besten Freundin Melanie durchs Zimmer. »ALLES GUTE ZUM SIEBZEHNTEN GEBURTSTAG!«
Statt einer Antwort stöhne ich nur.
»Bist du das, Viki?«
»Nein, die Sex-Hotline«, knurre ich. »Für sechs Euro die Minute bringe ich deine Hirnzellen zum Schmelzen. Wähle die Eins für liebevolles Flirten oder die Zwei für schmutzigen Lesbensex.«
»Seit wann stehst du auf liebevolles Flirten? Alles klar bei dir?«
Ich hieve meinen Kopf aus dem Kissen und lehne den Oberkörper über die Bettkante. Das Handy liegt in einem Kleiderhaufen auf dem Teppich. Zumindest war da noch ein Teppich, als ich das letzte Mal aufgeräumt habe. Anstatt Staub zu saugen, wechsle ich einfach den Wäschebelag. Mels Foto leuchtet auf dem Display, direkt neben meinen alten Socken. »Ich komme gerade aus dem Restaurant. Ein Fünfjähriger hat mir gedroht, auf seinen Teller zu pinkeln, wenn ich ihm keinen Lutscher besorge. Die Eltern fanden das kreativ.«
Mel lacht. »Vergiss diesen beknackten Wochenendjob. Heute ist dein gro-hoo-ßer Ta-haaag!«
Ich schließe die Augen. »Du hast recht, immerhin darf ich mir an meinem Geburtstag was wünschen. Wie wäre es mit einer riesigen Sahnetorte, aus der ein Kerl mit Gewehr springt, um mich zu erschießen?«
»Du würdest dich von einem Fremden umbringen lassen? Wozu hast du Freunde?«
Ich unterdrücke ein Grinsen, damit Mel nicht merkt, dass sie einen Treffer gelandet hat. Denn ich weiß, was sie vorhat.
Vor einem Monat habe ich meinen Freunden erklärt, dass ich an meinem Geburtstag arbeiten muss und danach lieber allein sein will. Sie haben sich alarmierte Blicke zugeworfen, als hätte ich angekündigt, mich demnächst in einen Axtmörder zu verwandeln. Kurze Zeit später hat das Getuschel angefangen.
Ich nehme das Handy vom Boden, schalte den Lautsprecher ab und drehe mich auf den Rücken. Meine Wände sind kohlrabenschwarz gestrichen, nur durch ein einziges Fenster fällt Stadtlicht ins Zimmer. Ich knipse eine violette Weihnachtslichterkette an und zähle abwesend die Lämpchen. »Wahre Freunde würden meinen Geburtstag vergessen, wenn ich sie darum bitte.«
»Wahre Freunde planen bereits seit Wochen eine Überraschungsparty für dich, über die du selbstverständlich Bescheid weißt, weil dein Cousin sich verplappert hat.«
»Was, echt? Eine Party?«
»Viki!« Mel klingt langsam panisch. »Wir treffen uns um zehn Uhr im Black! Du wirst Spaß haben und deinen Geburtstag feiern!«
Ich schnaufe geschlagen. »Wer spielt denn?«
Sie zögert. »Major Malfunction?«
Ich hole tief Luft, um ihr genau zu erklären, was ich von dieser Band halte, doch Mel setzt sofort nach: »Ich weiß! Ich weiß! Aber das Black ist deine Lieblingskneipe und sie spielen ja nur bis Mitternacht. Die Stimmung wird jedenfalls toll sein.«
»Diese Typen kümmern sich vor allem um die Stimmung in ihren Hosen«, knurre ich verächtlich.
»Um zehn Uhr im Black«, bettelt Mel. »Bitte sag mir, dass du auftauchst.«
Ich raufe mir die Haare, in denen sich mindestens ein halber Liter Frittierfett aus der Restaurantküche festgesetzt hat. »Ich brauche eine Dusche. Außerdem wollte ich mir die Haare färben. Vermutlich komme ich zu spät.«
»Super! Das wird ein Geburtstag, den du nie vergisst!«
Ich lege auf und rolle mich aus dem Bett.
Mel irrt sich gewaltig. Ich werde diesen Abend garantiert vergessen. Dafür werde ich schon sorgen.
Automatisch schießt mein Blick zum Nachttisch. Doch meine Mutter lächelt nur verständnisvoll.
Wenn ich das Foto lange genug betrachte, bewegen sich ihre Lippen. Sie flüstert mir Worte zu, Geheimnisse über mich selbst, die ich keinem verrate. Manchmal will sie mir einreden, dass ich nicht so hart mit der Welt sein muss.
Was weiß sie schon? Sie ist seit zehn Jahren tot.
Ich nehme den Rahmen und lege ihn in eine Schublade. Mit dem Bild nach unten.
Das Black ist ein schmuckloses, finsteres Gebäude mitten in der Stadt. Nur ein rotleuchtendes Namensschild und wummernde Bässe lassen erahnen, was sich darin verbirgt. Major Malfunction spielen bereits, als ich ankomme. Der Rock-Lärm lässt die verdunkelten Fenster zittern.
Während ich in der Schlange anstehe, checke ich mein Outfit in der Glastür: schwarze Schnürstiefel (ohne Absatz), schwarze Netzstrümpfe, einen schwarzen Faltenrock und darüber meine schwarze Lederjacke. Meine Haare glänzen frisch gefärbt, in meiner Lieblingsfarbe versteht sich. Normalerweise putze ich mich nicht so raus, aber hey, ich bin das Geburtstagskind! Ich strecke dem Türsteher einen Fünfer entgegen und stürze mich ins Gewühl.
Der Ansturm heute ist gewaltig. Ich grabe mich durch schwitzende Körper und vermeide um Haaresbreite einen Brandfleck auf meiner Jacke. Auf der Bühne spielt sich die Band die Seele aus dem Leib. Eigentlich klingen sie nicht schlecht, ich meine, für eine Schulband. Die Sache hat nur einen Haken: Diese Kerle machen einen auf Weltverbesserer. Dabei geht es ihnen ausschließlich darum, Frauen abzuschleppen.
Ihr Sänger ist der Schlimmste von allen. Er zieht ein altes Bandshirt über zerrissene, sauteure Markenjeans, schmiert Straßendreck auf brandneue Chucks und singt von den Ungerechtigkeiten der Gesellschaft. Nur um danach stundenlang Bier zu saufen und das erstbeste Mädchen flachzulegen, das ihm vor die Füße stolpert.
Jemand sollte ihm mal die Meinung sagen. Aber dem jubelnden Publikum nach, scheint sich keiner außer mir an diesen Widersprüchen zu stören.
Ich kämpfe mich zu meinen Freunden durch, die einen Tisch in der Ecke bevölkern, in gebührendem Abstand von der billigen Rockstar-Kopie. Mel fällt mir um den Hals und drückt ihre roten Locken in meinen Mund. Sie trägt ein süßes Parfüm, ein dazu passendes Lächeln und zur Feier des Tages glitzernde Fingernägel. Ihr quirliger Körper in meinen Armen ist der erste Grund, mich über diesen Abend zu freuen.
Dann taucht Cousin Phil auf und zerquetscht mich in einer übertriebenen Umarmung. »Wie groß du geworden bist!«, ruft er, obwohl wir uns vor drei Tagen das letzte Mal gesehen haben. »Ich erinnere mich dran, als du sooo winzig und sooo süß warst!« Er deutet mit der Handfläche die Höhe seiner Knie an. »Die kleine Viki hat am liebsten rosa Schleifen in den Zöpfen und Prinzessinnenkleider getragen.«
»Das war nur Tarnung«, murre ich. »Darunter habe ich einen Satz Messer verborgen, um den bösen Prinzen abzumurksen.«
Phil wuschelt mir gutgelaunt durch die Haare. Ich tauche unter seiner Hand hinweg und lasse mich vom Rest der Clique beglückwünschen. Lisi, Tom und Chris knutschen mich der Reihe nach ab.
»Die Jungs und ich haben zusammengelegt. Viel Vergnügen damit!« Lisi klimpert mit dick getuschten Wimpern und präsentiert ein verbeultes Briefkuvert. Ich ziehe die kitschigste Karte heraus, die auf Gottes Erden existiert: Ein Regenbogen spannt sich über ein Nest mit zwitschernden Küken und Happy Birthday glitzert vor einem brechblauen Himmel. Mutter Spatz fliegt herbei, mit einem echten Minikuvert im Schnabel, auf dem Spatzenpost für dich steht.
Ich keuche vor Lachen. »Leute, braucht man für diese Karte einen Waffenschein?«
Sie kichern. »Mach es auf!«
Im Kuvert steckt ein Plastiktütchen mit Gras.
Ich rauche keine Zigaretten. Nein, nicht wegen der Krebsfotos, die auf die Schachteln gedruckt sind, und auch nicht aus Rücksicht auf meine Spermatozoiden (wenn ich denn welche hätte). Zigaretten sind schlichtweg zu teuer. Zumindest ist das die Ausrede, die ich den anderen auf die Nase gebunden habe. Die Wahrheit wäre zu deprimierend.
Was Alkohol angeht, habe ich mir vorgenommen, nicht regelmäßig davon zu trinken. Das wundert keinen, der meinen Vater kennt. Trotzdem sehne ich mich manchmal nach diesen Momenten, in denen man einfach verschwindet. Dann habe ich gegen einen Joint nichts einzuwenden.
Meine Freunde kennen mich zu gut. Ich bedanke mich mit einer Runde Freigetränke und lasse mich in ihre Mitte ziehen.
Jetzt ist Mel dran. Sie zaubert einen Plüschbären aus ihrer Tasche und setzt ihn vor mir auf den Tisch. »Darf ich bekannt machen? Das hier ist Bär. Er ist der perfekte Liebhaber. Man kann mit ihm kuscheln, ihn küssen und mit ihm ins Bett steigen.«
»Bezahlt Bär auch meine Rechnung?«
Mel grinst. »Nein. Dafür darfst du ihm in den Hintern treten, wenn du sauer bist. Er nimmt einem nichts übel. Magst du ihn?«
»Er ist spitze, danke.« Bär kippt zur Seite und ich packe ihn, bevor er meine Cola umstößt. »Sollte ich mich fragen, warum er einen rosa Stringtanga trägt?«
Phil lehnt sich zu mir rüber. »Der Tanga ist ein Geschenk von mir. Falls du es doch noch mal mit einem Mann aus Fleisch und Blut probieren willst. Wegen der Sache mit Adrian …«
Mel wirft ihm einen warnenden Blick zu. Er verstummt und konzentriert sich auf sein Glas.
Wie es aussieht, hat mein Exfreund Adrian nach wie vor ein Talent dafür, Gespräche zu verderben. Obwohl er seit Monaten nicht mehr anwesend ist. Ich sollte längst nicht mehr dran denken, was geschehen ist. Schon meinen Freunden zuliebe, die sich heute Abend echt Mühe gegeben haben.
Mein Entschluss steht fest: Ich werde mich nicht runterziehen lassen, weder von Adrian noch von Kerlen, die so sind wie er. Kerlen, die von Liebe sprechen und etwas ganz anderes meinen.
Apropos. Mein Blick streift zur Bühne.
Quietschende Mädchenstimmen ertönen über wildem Applaus, die Band hat gerade ihr erstes Set beendet. Der Sänger winkt ein paar Mädchen in der ersten Reihe zu, und die dummen Gänse fallen beim Versuch hinaufzuklettern fast übereinander.
Kapieren sie denn nicht, dass er nur mit ihnen spielt?
Ich streife das Höschen von Bärs Allerwertesten und schieße es am Gummizug quer durch den Raum. Leider treffe ich ihn nicht.
»Vielen Dank«, antworte ich Phil. »Aber ich bevorzuge Stofftiere.«
Während der nächsten Stunde lässt mich der Joint, der zwischen uns herumgeht, den Lärm im Hintergrund vergessen. Bis eine Rückkoppelung der Lautsprecher in mein Trommelfell sticht und ich einen Finger in die Ohrmuschel stecke.
Die Körper vor der Bühne sind zu einem einzigen Wesen verschmolzen: Arme sträuben sich auf seinem Buckel, es pulsiert, atmet, spuckt eine einzelne Getränkedose über die Köpfe und spritzt Flüssigkeit auf zerrissene Jeans. Der Sänger kickt die Dose beiläufig weg, wahrscheinlich ist er es gewohnt, mit Müll beworfen zu werden.
Er hebt das Mikrophon. Ich erwarte die übliche Leier von ihm: Wie toll das Publikum war, wann sie das nächste Mal auftreten, wo man ihre CD kaufen kann, welche Farbe der Belag ihrer Zunge nach einer durchzechten Nacht hat – und werde stattdessen mit der Neuigkeit des Abends überrascht.
»Hey Leute, bevor wir Schluss machen, muss ich was loswerden.« Der Sänger streift sich sein verschwitztes Haar aus der Stirn. »Die vergangenen Jahre bei Major Malfunction waren der absolute Hammer. Eine endlose Party, ungefiltertes Leben, nur gelegentlich durchbrochen von Schule und Wartezeiten auf Polizeistationen.«
Pfiffe aus der Menge. Jemand schreit: »Scheiß Bullen!« Belustigtes Grölen.
»Diese Irren hier oben haben meinen Schädel gefüllt mit Unsinn, Wahnsinn und vor allem mit Glück. Einem Lachen, das die Mundwinkel betäubt und im Hinterkopf schmerzt. Kennt ihr das? Habt ihr je so gelacht?« Sein Blick fällt auf die Gitarre in seinen Händen, als wüsste er nicht, wie sie dorthin gekommen ist. Kurz presst er die Lippen aufeinander, die selbst aus der Entfernung weiß aufleuchten, dann brechen seine Worte hart hervor. »Das ist mein letzter Song. Ich höre als Sänger von Major Malfunction auf.«
Die Meute bricht in markerschütterndes Geschrei aus, nur ein paar Jungs am Rand klatschen Beifall. Der Sänger greift den Gitarrenhals, nickt seinen Bandkollegen über die Schulter zu und schmettert ein Riff ins Publikum. Der Drummer verschläft den Einsatz und prügelt zur Strafe sein Schlagzeug. Ihr Abschlusslied kracht in den Boxen.
Major Malfunction sind Geschichte. Auf der Bühne zerkratzt ein DJ Schallplatten, nicht talentiert, dafür ohrenbetäubend. Tom und Chris stecken in der Schlange vor der Bar fest, Phil musste unbedingt aufs Klo, und die Mädels sind beim Versuch gescheitert, mich zum Tanzen zu überreden. Sie haben ihr Bestes gegeben, erst mein Argument, dass jemand den Tisch besetzen muss, lässt sie schließlich abziehen. Mel wirft noch einen besorgten Blick über die Schulter und verspricht mir, gleich wieder da zu sein.
Eine Weile geht es mir gut dabei, alleine hier zu sitzen und Zeit für meine Gedanken zu haben. Dann entschließt sich meine bekiffte Phantasie, in die Vergangenheit zu reisen und mich daran zu erinnern, warum mein Geburtstag so deprimierend ist. Meine Freunde bedeuten mir wirklich alles. Aber manchmal sind sie einfach nicht genug. Manchmal sehne ich mich nach mehr.
Plötzlich überkommt mich das dringende Bedürfnis, Mel zu finden. Ich stolpere vom Stuhl und lande auf der Tanzfläche. Überall sind Körper, überall Hände. Ellbogen stoßen meine Hüften, Arme schlingen sich um meine Brust, Finger grapschen meinen Rock. Ich wirble herum und strauchle. Alles ist zu schnell. Ich kralle mich an einen Stehtisch und schließe die Augen. Heißes Rot und klirrendes Blau rasen in der Dunkelheit, mein Magen bäumt sich auf, versucht die Gedanken abzuwerfen, die meinen Verstand verdrehen.
Verdammt, ich hab gar nicht mitbekommen, wie bekifft ich bin. Ich brauche Luft, frische Luft!
Das Geländer vor der Tür fängt mich auf, bevor ich auf den Gehweg stürzen und mich zum Gespött der Türsteher machen kann. Ich fülle meine Lungen mit Sauerstoff. Wo steckt Mel nur? Sie bleibt doch sonst immer in meiner Nähe. Ich hebe den Kopf und starre ausgerechnet ins Gesicht dieses blonden Sängers, der neben mir lehnt und raucht.
»Ich fasse mein Glück nicht«, spotte ich. »Darf ich hier stehen bleiben, oder benötige ich dafür eine Genehmigung deines Fanclubs?«
Der Kerl ignoriert mich. Der Geruch nach Gras wabert in der Nachtluft. Sein betäubtes Gehirn dürfte damit beschäftigt sein, den Inhalt meiner Botschaft zu entschlüsseln.
Ich rüttle an seiner Schulter. »Hey, ist das nur Zigarettenrauch oder brennt dein hübscher Strohschädel?«
Er wirft mir einen Seitenblick zu. Seine Augen sind sommerblau. Unauffällig lehne ich mich näher, um herauszufinden, ob der eingebildete Schnösel Kontaktlinsen trägt, allerdings ist das Licht zu schwach dafür.
Es kratzt an meinem Ego, dass er einfach schweigt.
»Wo stecken die Mädchen, die sonst immer an deinem Hals hängen?«, bohre ich weiter. »Hast du all ihre Herzchen gebrochen?«
Er zieht seelenruhig am Joint, bevor er endlich antwortet. »Vielleicht ist es mein Herz, das gebrochen wurde?«
»Oh, du hast eins?«
»Sag mal, hast du was gegen mich?«
Lachend schüttle ich den Kopf. »Für solche Geständnisse bin ich nicht bekifft genug.«
In seinen Gesichtszügen regt sich keine Emotion. Der Kerl ist so cool, als hätte man ihn schockgefroren. Er sagt nichts, kein Wort, trotzdem schwenkt sein aufgestützter Arm vor mein Gesicht und hält mir den Joint hin.
Für eine Sekunde kämpfe ich mit mir, dann greife ich danach. Das Ende der Tüte ist zusammengedrückt und ein wenig feucht von seinem Speichel. Ich sollte ablehnen, doch ein anderes Gefühl kämpft um Vorherrschaft: Neugier. Was schmeckt all diesen Mädchen so gut an ihm?
Ich koste es.
Kein Filter. Der Qualm verstopft meine Lungen, drückt sich von innen gegen die Brust, zu schwer, um ihn wieder loszuwerden. Ich muss husten und Tränen steigen in meine Augen. »Scheiße, ist da überhaupt Tabak drin?«
Ein Lächeln zupft an seinem Mundwinkel. »Nicht viel.«
Ich will keinen Rückzieher machen, nicht vor ihm. Ein weiterer Zug. Diesmal halte ich den Rauch in mir. Lange genug, um zu fühlen, wie er mir zu Kopf steigt und die Gedanken darin löst.
Der Joint verlässt meine Finger. Glut frisst sich durchs Papier, helle Haut flackert wie ein Stern in einer bitterkalten Nacht. Sein Gesicht dehnt sich aus, füllt meine Wahrnehmung, die Welt besteht nur aus ihm. Grauer Dunst stößt aus seinen Nasenlöchern und wasserblaue Augen frieren an mir fest.
»Hast du jetzt genug gekifft, um mit mir zu reden?«, fragt er zuckersüß. »Oder willst du dich lieber gleich an meinen Hals hängen?«
»Du eingebildeter Idiot.« Meine Stirn fällt an seine Schulter und mein Kichern versickert in seinem Ärmel. Etwas an ihm riecht gut. Ich werde verrückt.
Drogen, Viki, Drogen rauben dir den Verstand.
Ein Knistern in meinen Händen. Ich drücke eine winzige Plastiktüte gegen seine Brust, bis er danach greift.
»Wie viel davon muss ich rauchen, um dich zu mögen?«, hauche ich in sein Ohr. Es soll spöttisch klingen. Doch dann spüre ich seine aufwallende Gänsehaut unter meinen Lippen und die Atmosphäre zwischen uns verändert sich.
Schlagartig ist alles an diesem Abend komisch. Wir beide, hier draußen, ein Witz.
Ich lache mich tot.
Ich fühle mich nicht gut. Gar nicht gut. Mein Kopf pulsiert. Es ist zu heiß unter der Bettdecke. Ich strample mich frei und falle über eine Bettkante, wo keine sein sollte. Mein nackter Hintern prallt auf Parkettboden. Es gibt kein Parkett in meinem Zimmer.
Okay, nicht gut ist die Untertreibung des Jahres. Ich fühle mich beschissen. Mein Kopf fühlt sich an, als wäre er zwischen einem Schraubstock festgeklemmt, und mein Magen spielt Achterbahn in Endlosschleife.
Das Licht schmerzt in meinen Augen. Der Raum ist zu grell, die Wände blendend weiß gestrichen. Bandposter hängen in Bilderrahmen und Bücher stehen in deckenhohen Regalen. Kleidungsstücke wickeln sich um meine Fußgelenke, manche davon schwarz und vertraut.
All das spielt keine Rolle. Meine Blase steht kurz vor der Explosion. Ich brauche eine Toilette. Schnell.
Eine Tür steht offen und führt in ein kleines Bad. Ich schaffe es bis zum Klo und erleichtere mich stöhnend. Die Welt um mich herum dreht sich und ich atme tief ein und aus, damit mir nicht schlecht wird.
Mit wackeligen Knien stelle ich mich vors Waschbecken und spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht, bis meine Haut davon schmerzt. Auf dem Halter hängt ein fremdes Handtuch, das ich nicht berühren möchte. Automatisch streifen meine Hände über das T-Shirt, das ich trage. Ein weißes T-Shirt. Ein Pearl-Jam-Bandshirt, um präzise zu sein. Eine schreckliche Ahnung steigt in mir auf.
Ich taumle zurück ins Zimmer und hebe die dunklen Klamotten auf. Meine Netzstrumpfhose ist im Schritt zerrissen, worüber ich jetzt nicht weiter nachdenken will. Pearl Jam landet auf dem Fußboden. Ich ziehe mich an und stopfe die Strumpfhose in meine Jackentasche. Auf dem Weg zum Bett rutsche ich auf einem gebrauchten Kondom aus, das ich schnell von meinem Stiefel schüttle. Wenigstens haben wir verhütet. O Gott, zum Glück haben wir verhütet!
Blondschopf liegt auf dem Bauch, unter der Bettdecke, nur seine Haare und ein nackter Arm schauen hervor. Vermutlich hat er mir gestern Nacht seinen richtigen Namen gesagt, aber ich erinnere mich nicht mehr. Um genau zu sein, erinnere ich mich an gar nichts, was nach unserem zweiten Joint im Black passiert ist.
Hatte ich nicht einen Plan? Eine Runde mit ihm zu flirten und ihn danach eiskalt stehen zu lassen? So wie er das normalerweise mit den Mädchen macht? Welche Rolle sein Bett in diesem grandiosen Szenario spielte, kann ich allerdings nur mutmaßen. Bekifft klang meine Strategie irgendwie logischer.
Vielleicht sollte ich ohne ein Abschiedswort verschwinden. Bestimmt wäre es ihm egal. Nein, sind wir mal ehrlich, es wäre ihm wahrscheinlich sogar lieber. Was gibt es Lästigeres für einen Kerl als Weiber, die nicht kapieren, wann sie abhauen müssen?
Ich bohre meinen Fingernagel in seine Schulter.
Er stöhnt auf, zieht seinen Arm unter die Decke und rollt sich auf die andere Seite. Seine Worte versickern im Kopfkissen, allerdings verstehe ich sie. Klar und deutlich. Wie Glassplitter.
»Sei leise, wenn du gehst.«
Schmeißt er mich etwa raus?! Am liebsten würde ich ihn vom Bett treten, aber dann erwische ich doch nur die Matratze und stürme aus dem Zimmer.
Was habe ich erwartet? Egal, wie viel ich geraucht habe, ich muss gewusst haben, worauf ich mich einlasse. Keinesfalls verletzt mich das. Ich bin nur wütend. So wütend.
Warum? Woher kommt das Zittern in meinen Händen? Meinem ganzen Körper? Es war nicht mein erster Sex. Es war nicht mal meine erste Abfuhr nach dem Sex. Hier ist nichts, worüber ich enttäuscht sein müsste, rein gar nichts. Das hat Adrian schon vor ihm geschafft.
Das zweite Mal spielt keine Rolle.
Vor allem, wenn man sich an nichts erinnert.
Mein Knie schlägt gegen eine Kommode, ich würge den Schmerz hinunter und humple weiter. Der Flur ist in einem dezenten Ocker gestrichen, an den Wänden hängen abstrakte Gemälde in Erdtönen. An der geschwungenen Holztreppe wird mir klar, dass ich in einem Haus stehe, nicht in einer Wohnung. So viel Geld verdient er niemals mit seiner Musik, abgesehen davon, dass er noch zur Schule geht. Es muss das Haus seiner Eltern sein. Schlafen sie? Ist das der Grund, warum ich leise sein soll?
Ich trample die Stufen hinab. Mir ist vollkommen klar, wofür mich seine Erzeuger halten müssen, falls sie mich entdecken. Ich hoffe, sie halten auch ihn für das, was er ist.
Eine Haustür mit leuchtendem Wellglas kommt in Sicht, und plötzlich habe ich nur einen Wunsch: so schnell wie möglich hier wegzukommen. Weg von dieser Nacht, weg von dem, was ich vermutlich getan habe. Ich bin so sehr auf mein Ziel konzentriert, dass ich die Person nicht sehe, bis sie neben mir auftaucht.
»Jay, könntest du bitte leiser …« Eine blonde Frau starrt mich an. Sie sieht ihm verdammt ähnlich. Die gleiche helle Haut, das gleiche Haar, sommerblaue Augen. Es muss seine Mutter sein. Sie ist attraktiv für ihr Alter, schlank und elegant in einem naturweißen Strickkleid. Nur die dunklen Augenringe passen nicht zu ihr. Kein Puder der Welt kann eine schlaflose Nacht überdecken. Ihr Blick wandert an mir herab und ihre Kinnlade fällt tatsächlich runter.
Habe ich erwähnt, dass ich zur Feier meines siebzehnten Geburtstages zwei Schichten Mascara auf den Wimpern trug? Die dürften sich inzwischen auf meinem ganzen Gesicht verteilt haben. Abgesehen davon, dass mein Magen unaufhörlich Karussell fährt.
»Verzeihen Sie bitte, ich entferne mich ab sofort geräuschlos.« Ich sprinte an ihr vorbei und greife nach der Türklinke. Bevor ich nach draußen flüchte, rufe ich über meine Schulter: »Übrigens, Ihr Sohn hat ein kleines Drogenproblem. Sie sollten mit ihm darüber sprechen.«
War das leise genug? Ein dunkles Lachen quillt in mir hoch. Ja, das war böse und vielleicht nicht fair, aber ich fühle mich phantastisch. Zumindest, bis ich die Treppenstufen nach unten gelaufen bin und mich kurz vor dem Gartenzaun in einen Rosenbusch übergebe. Danach entferne ich mich tatsächlich absolut geräuschlos.
Mein Vater war nicht zu Hause, als ich in der Wohnung ankam. Vermutlich sitzt er in einem Sportwetten-Lokal und verprasst Geld, das normale Eltern für das Studium ihrer Kinder sparen. Es ist mir ganz recht so. Dass er nicht da ist, meine ich. Wir kommen nicht besonders gut miteinander klar, um es vorsichtig auszudrücken.
»I hate myself and I want to die«, begrüße ich Mel am Handy.
»VIKI! Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht! WO WARST DU DIE GANZE ZEIT?« Mel hat ihre Stimme nie unter Kontrolle, wenn sie besorgt ist.
Ich wechsle das Handy in die andere Hand und starre an die Zimmerdecke, wo sich der Dampf sammelt und zurück in die Badewanne tropft. Das Wasser reicht mir bis ans Kinn und duftet nach Lavendel. Das Öl soll beruhigend auf die Nerven wirken, deshalb habe ich vorsorglich die ganze Flasche reingeschüttet. Es ist eine Schande, meine Haare schon einen Tag nach dem Färben zu waschen, aber sie stinken nach Rauch, Schweiß und einer Nacht, die ich vergessen möchte. Um meinen Hals färbt sich das Wasser bereits grau. »Sorry, ich dachte, ich hätte mich eben klar ausgedrückt.«
Kurzes Schweigen in der Leitung. »Und ich dachte, du magst diesen Kerl nicht.«
»Woher …«
»… ich das weiß, Viki?« Mel seufzt. »Erinnerst du dich nicht? Ich hab dich gefragt, ob es dir gutgeht. Was nicht einfach war, immerhin hat seine Zunge in deinem Ohr gesteckt. Was ist nur in dich gefahren?«
»Ich bin von einem Dämon besessen. Eventuell von mehreren. Lässt einen das nicht in fremden Sprachen reden? Vielleicht hilft mir das durch Englisch.«
»Viki! Sei jetzt mal ernst.« Sie klingt wütend. »Hast du mit ihm geschlafen?«
Ich stöhne.
»Sag mir bitte, dass du einen Gummi benutzt hast.«
Ich fahre hoch und spritze Badewasser auf den Boden. »Sicher! Wofür hältst du mich?!«
»Es gibt diese Pille danach in der Apotheke, die man gleich schlucken muss. Das weißt du, oder?«
»Melanie, ich bin nicht schwanger und ich werde nicht schwanger, okay?«
»Okay. Ich mache mir nur Sorgen um dich.« Im Hintergrund schlägt bei ihr eine Tür ins Schloss. »War es wenigstens gut?«
Ist Augenrollen nicht ein weiteres Zeichen von Besessenheit? »Ich erinnere mich an nichts«, gestehe ich resigniert.
Stille.
»Mel?«
Keine Antwort.
»Mel, ich höre dich atmen.«
»Woher weißt du, dass ihr ein Kondom benutzt habt, wenn du dich an nichts erinnerst?«
Ist es möglich, sich selbst im Badewasser zu ertränken? Oder gehört das zu den unmöglichen Selbstmorden, wie an angehaltenem Atem zu sterben? Es wäre einen Versuch wert, der Wissenschaft zuliebe. »Ich weiß es. Ich hab es gesehen. Auf dem Fußboden.«
»Das Kondom?«
»Ja.«
»Nur eines?«
»Ja?!«
»Also hattet ihr nur einmal Sex?«
»Ich hab keine Ahnung!«
Stille. Dann Mels Stimme, wie aufgenommen und in doppelter Geschwindigkeit abgespult: »Hast du die scheußlichen Abtreibungsbilder vergessen, die sie uns in der Schule gezeigt haben? Von blutigen Matschhaufen und in Tränen aufgelösten Mädchen? Diese Pille wirkt nur ein paar Stunden nach dem Sex. Du fährst jetzt zur Apotheke und holst dir eine!«
»Spinnst du?« Ich unterdrücke das Verlangen, mein Handy zu ersäufen. Ich habe kein Geld für ein neues. »Das sind Hormonbomben! Wir haben garantiert verhütet. Außerdem bekommt man die nur auf Rezept.«
»Hol dir wenigstens einen Schwangerschaftstest!«
»Dafür ist es viel zu früh«, knurre ich.
»Gibt es denn keine Schnelltests oder so was in der Art? Du kannst ja in der Apotheke fragen!«
»Es ist Sonntag!«
»Schon mal was vom Notdienst gehört? Viki, ehrlich. Was hast du zu verlieren?«
»Meine Würde?«
Ihre Stimme klingt warm und hell, wie immer, wenn sie einen Streit gewinnt. »Tu es mir zuliebe, okay?«
Ein älterer Herr mit Gehstock verlässt die Apotheke und knallt die Tür vor meiner Nase ins Schloss. Wütend reiße ich sie wieder auf und stürme zur Theke.
Die Apothekerin steht steif dahinter und mustert mich mit zusammengekniffenen Augen. »Lass mich raten: Schwangerschaftstest?«
Ich wirble herum und erwarte, dass Mel hinter einem Gestell auftaucht. Mit Teststreifen in der einen Hand und einer Broschüre mit ekelhaften Abtreibungsbildern in der anderen. Natürlich ist sie nicht da. Ich werde paranoid.
Die Apothekerin verschwindet hinter deckenhohen Regalen. Als sie wieder auftaucht, baut sie die ganze Produktpalette vor mir auf. »Ich könnte dir die einzelnen Packungen erklären, aber Mädchen in deinem Alter nehmen immer die billigste. Ehrlich gesagt: Die tut es genauso.«
Sie reicht mir eine zahnpastatubengroße Schachtel, babyrosa bedruckt, mit dem Foto einer sehr erleichtert aussehenden Frau. Ich komme mir unglaublich dämlich vor.
»Wann war der Geschlechtsverkehr?«, will sie wissen.
»Ist … Ist das nicht etwas persönlich?«
Die Apothekerin verdreht die Augen. »Zu früh angewendet verfälscht –«
»Er ist für eine Freundin! Packen Sie ihn einfach ein.«
»Du kannst frühestens zehn Tage nach der möglichen Befruchtung mit einem zuverlässigen Ergebnis rechnen. Außerdem solltest du eine Woche nach Ausbleiben der Menstruation einen weiteren Test machen, um sicherzugehen. Soll ich dir zwei Stück mitgeben?«
Ich nicke schwach. Mir wird schon wieder schlecht. Ich möchte mich zu Hause ins Bett legen und übergeben. Nein, zuerst übergeben, dann Bett. »Wie sieht es denn mit … mit dieser Pille danach aus?«
»Sofern der Geschlechtsverkehr nicht länger als zweiundsiebzig Stunden zurückliegt, könnte die Pille danach zur Empfängnisverhütung eingesetzt werden. Darüber müsstest du schnellstmöglich mit deinem Frauenarzt sprechen. Brauchst du sonst noch was?«
Ich seufze. »Eine Packung Schlaftabletten und eine Flasche puren Alkohol, bitte.«
Die Apothekerin beugt sich zu mir und legt ihre Hand auf meinen Arm. Ihr Gesicht ist emotionslos, doch ihre Stimme wird weicher. »Das ist kein Weltuntergang, Mädchen.«
Nein. Leider nicht.
Ich hocke auf dem Toilettendeckel und starre auf den Schwangerschaftstest. Der Beipackzettel gab der Apothekerin bedauerlicherweise recht – so kurz nach dem Sex kann er keine Schwangerschaft feststellen. Aber mit der Angst ist es so eine Sache: Sie lässt Dinge möglich erscheinen, die gesunder Menschenverstand eigentlich ausschließt.
Auch wenn der Test nur eine Lüge beweist, will ich dieses Ergebnis jetzt sehen. Ich muss es sehen. Oder ich werde die ganze Nacht kein Auge zubekommen.
Es ist eine Art Filzstift, den man zuerst anpinkelt und danach zusammensteckt. Laut Verpackungsrückseite habe ich in nur fünf Minuten Gewissheit. Der Stift zittert seit drei Minuten in meinen Händen.
Das Handy vibriert in meiner Hosentasche. Ich werfe einen Blick aufs Display und hebe ab. Es ist Mel. Wer sonst würde mich sonntagnachmittags auf dem Klo anrufen?
»Hey, Viki!« Sie klingt schuldbewusst. »Bitte reiß mir nicht den Kopf ab, aber –«
»Mel. Jetzt nicht. Ich rufe dich zurück.« Ich drücke sie weg und lege das Handy auf die Waschmaschine. Noch eine Minute. Das Handy vibriert erneut. Ich fange es in letzter Sekunde auf, bevor es über die Kante rutscht. »Verdammt, ich sitze auf dem Klo!«
»Wieso nimmst du dann ab?«
Mit Schrecken stelle ich fest, dass es sich nicht um Mels Stimme handelt. Da ist ein Kerl dran.
»Wer ist da?«
»Jay.«
»Wer?«
»Sagt dir Ihr Sohn hat ein Drogenproblem etwas?«
Der Schwangerschaftstest fällt mir aus der Hand und rollt unter die Toilette. »Scheiße.«
»Allerdings.«
»Woher hast du meine Nummer?« Ich beuge mich nach vorne und taste den Boden ab. Es wurde länger nicht mehr geputzt und meine Finger erreichen Gegenden, die besser unberührt blieben. Ich stoße gegen den Stift und er kullert noch weiter weg.
»Von Melanie. Deren Nummer hab ich von ihrem Ex Daniel, falls du es genau wissen willst. Welcher wiederum mit meinem Bandkollegen Dave Basketball spielt.«
Der Test ist für einen Moment vergessen. »Du rufst drei Leute an, nur um mich zu zitieren?«
»Ich rufe drei Leute an, um dir zu sagen, dass dein Abgang heute Morgen echt beschissen war.«
Ungläubig lache ich auf.
Seine Stimme wird leiser, als wolle er von niemandem gehört werden. »Meine Mutter heult sich seit Stunden die Augen aus dem Kopf. Vielen Dank dafür.«
Es ist so weit! Ich bin sprachlos. Meine Finger schließen sich um den Stift und ich ziehe ihn unter der Toilette hervor. Ein paar Staubflusen hängen dran, die ich ungeduldig wegpuste.
»Was tust du?«, fragt Jay irritiert.
»Ich checke das Ergebnis auf dem Schwangerschaftstest.«
Ha! Das verschlägt ihm die Sprache. So war der Test zumindest für einen Schocker gut.
»Wozu? Du kannst nicht schwanger sein.« Er klingt verwirrt. »Nicht von mir jedenfalls. Ich habe die Gummis eigenhändig entsorgt.«
»Wir haben garantiert verhütet? Bist du dir absolut sicher?« Dann unterbricht mich ein kleines Detail. »Moment. Die? Wie in mehrere?«
»Ja, alle drei. Ich bin sicher.«
Wieso habe ich auch gefragt? Das waren also mein zweites, drittes und viertes Mal. Damit hätte sich meine Jungfräulichkeit wohl endgültig erledigt. Herzlichen Glückwunsch, Viki.
Ich raffe mich zu einem Bekenntnis auf. »Es sollte nicht deine Mutter treffen. Sondern dich.«
»Warum?«
Fragt er tatsächlich nach dem Grund? »Du hast Sex mit mir und schmeißt mich danach raus!« Adrians Gesicht springt in meinen Kopf. Ich dränge es sofort aus meinen Gedanken. »Du hättest zumindest so etwas sagen können wie: Guten Morgen, wir hatten einen One-Night-Stand. Es war wirklich nett. Ist es okay für dich, wenn wir es dabei belassen?«
»Niemand hat dich rausgeworfen. Du bist einfach gegangen.«
Ich wechsle das Handy von einer Hand in die andere, es ist schon feucht von meinem Schweiß. »Du hast gesagt, ich soll leise sein! Du hast gesagt, ich soll gehen! Wie sollte ich das sonst interpretieren?«
Er senkt die Stimme. »Tut mir leid. Ich hatte Kopfschmerzen …«
Es wird still in der Leitung.
Ich drehe den Schwangerschaftstest in den Fingern und vergleiche ihn mit dem Bild auf der Verpackungsrückseite. »Übrigens bin ich nicht schwanger.«
Er seufzt. »Okay … Hast du Lust auf einen Kaffee?«
Meine Brust krampft sich zusammen.
Genauso fing es damals an. Ein heißer Typ mit selbstbewusstem Lächeln, der ein Kakaoherz auf meinen Latte macchiato bestellte.
Hey, ich bin Adrian. Und du das süßeste Mädchen in diesem Café …
Meine Reflexe reagieren, bevor mein Mund ihnen zuvorkommt. Ich lege auf und starre mit klopfendem Herzen aufs Display. Es bleibt schwarz.
Mein Englischlehrer steht vor meinem Platz und klopft einen Kugelschreiber in seine Handfläche. Herr Stör wurde mit einer prominenten Nase beschenkt, die von seiner wachsenden Glatze ablenkt. Unglücklicherweise habe ich über meinen Geburtstag am Wochenende (und dem Ereignis danach) vollkommen vergessen, diesen äußerst wichtigen Text für Englisch zu lesen. Und stottere jetzt krampfhaft heraus, was Mel mir vor der Stunde zusammengefasst hat.
Stör quält mich fünf Minuten lang, in denen selbst unserem Klassenschläfer Mike klar wird, dass ich keine Ahnung habe, wovon ich rede. Wenigstens bin ich von keinem Dämon befallen. Zumindest von keinem, welcher der britischen Sprache fähig ist.
»Your English skills are a disgrace for this class«, muntert Stör mich auf. »If you don’t improve soon, you are going to fail English this year.«
As I will Maths. And probably French.
Stör lässt mich in Ruhe und foltert Mike in der Ecke.
Ein zusammengefaltetes Papier landet auf dem Tisch. Mel, die kurz nach Schuljahresbeginn von mir weggesetzt wurde, winkt mir vom anderen Klassenende zu. Ich falte es auf und erkenne ein Stück unseres Schulbuchs. Der Text ist mir völlig unbekannt, weshalb ich davon ausgehe, dass es sich um jenen Text handelt, den ich nicht gelesen habe. Fast alle Worte darauf sind mit Kuli durchgestrichen. Die übrigen Buchstaben bilden den Satz: Whi-pe yo-ur A-s-s with m-e.
Ich pruste los. Mel schüttelt hektisch ihren Lockenkopf, und Stör hat den Zettel in der Hand, ehe ich weiß, wie mir geschieht.
Ich tue das einzig Richtige und behaupte, dass ich ihn geschrieben habe.
Stör drückt mich auf den Wartestuhl im Sekretariat und beugt sich über die Theke der Sekretärin. Er händigt ihr Beweisstück A aus und verlangt, dass sie den Zettel in eine ihrer kostbaren Klarsichthüllen steckt, die sie ihm offensichtlich nicht geben will.
»Der Direktor hat einen Termin im Büro.« Ihr Tonfall fügt hinzu: Verpiss dich und lass mich arbeiten.
»Wann ist er wieder frei?« Stör Deutsch sprechen zu hören erinnert mich an Mels Papagei: Es klingt einfach falsch. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, fällt mir die ungemeine Ähnlichkeit zwischen Störs Nase und Winkys Schnabel auf. Führt dieser Vogel ein geheimes Zweitleben als Lehrer? Das würde Störs Vorliebe für Studentenfutter erklären, das er in der Pause unaufhörlich in sich hineinstopft. Ich muss Mel warnen.
Die Sekretärin zuckt mit den Schultern. »Sie können gerne hier warten.«
Stör setzt sich auf den Stuhl, der am weitesten von mir entfernt ist, und verschränkt die Arme. Ich strecke meine Beine aus, rutsche ein paar Zentimeter tiefer und seufze.
Die anderen schulden mir was. Während ich mit unserem Lehrer in diesem stickigen Sekretariat hocke und darauf warte, wegen einer absoluten Lächerlichkeit angeschrien zu werden, dürfen meine Mitschüler (Zitat) study for your next exam (Zitat Ende). Was bedeutet, sie liegen unbeaufsichtigt auf den Tischen, tippen Nachrichten und hören Musik.
Ich hypnotisiere die Siebziger-Jahre-Uhr an der Wand, die mein Leben mit jeder tickenden Bewegung um eine weitere Minute verschwendet. Es ist genau Viertel vor zwölf, als endlich die Tür zum Direktorat aufgeht und ich vor Schreck sterbe.
Direktor Wimmer begleitet eine blonde Frau heraus. Sie trägt einen grauen Mantel mit breitem Gürtel, der ihre schlanke Taille betont. Ihre Faust schließt sich um ein Bündel Papiertaschentücher und ihr Mascara ist tränenverschmiert. Vielleicht würde ich einen Moment daran zweifeln, ob es sich tatsächlich um die Frau von gestern früh handelt, wäre Jay nicht direkt hinter ihr. Er schleppt sich mit hängenden Schultern an Direktor Wimmer vorbei, der ihm gefasst zunickt.
Während ich an angehaltenem Atem ersticke, streift mich Jays leerer Blick. Er nimmt mich überhaupt nicht wahr. Nicht ein Zucken im Gesicht, welches darauf schließen lässt, dass er mich nur ignoriert. Jay sieht durch mich hindurch, als wäre ich ein Geist. Ich zwicke mir in den Arm, um mich davon zu überzeugen, dass ich wirklich existiere. Er verlässt mit zerrissener Jeans und heulender Mutter das Sekretariat.
Ich bin noch starr vor Schock, da attackiert Stör schon den Direktor. Die Übergabe des Beweisstückes erfolgt. Ich werde ins Direktorat gebeten. Alleine. Mein Englischlehrer stürmt zurück in die Klasse.
Ich bin zum ersten Mal im Büro des Direktors. Es ist klein und abgenutzt. Der Holzschreibtisch hat genug Jahrzehnte auf dem Buckel, um mein Großvater zu sein, aber zu wenig, um dem Ganzen etwas von historischem Charme zu verleihen. Die Wand ist mit Schränken und Regalen verkleidet, in denen sich Bücher und Ordner reihen. Ein alter PC surrt auf Wimmers Schreibtisch, so gedreht, dass Besucher den halben Bildschirm sehen können. Der Direktor setzt sich und greift mit gerunzelter Stirn nach dem Schmierzettel in der Klarsichthülle.
»Warum hat die Frau geweint?«
Wimmer sieht über das Brillenglas hinweg. Er ist um die fünfzig, sein Haar schimmert weiß an den Schläfen. Mit weichem Gesicht und Strick-Pullunder wirkt er nicht wie ein Direktor. Eher wie ein Zeuge Jehova, der zu häufig bei McDonald’s isst.
»Jays Mutter«, verdeutliche ich. »Sie hat geweint. Hat er Ärger?« Zum Beispiel wegen der unüberlegten Anschuldigung, Drogen zu nehmen? Ich schlucke.
Wimmer nimmt die Brille ab und klopft damit gegen sein Handgelenk. »Das ist vollkommen falsch.«
»Was?«
Er schwenkt den beschmierten Zettel wie eine Fahne in der Luft. »Dieser Satz ist eine Beleidigung für jeden Ihrer Lehrer, Frau Stein. Zwei Rechtschreibfehler. In nur fünf Wörtern.«
»W-was?«
»Man schreibt wipe ohne h und ass klein in der Mitte des Satzes. Bitte merken Sie sich das für künftige Scherze.«
Mein Mund bleibt offen stehen, während Wimmer auf seinem PC herumtippt. Der Mauszeiger kriecht mit der Geschwindigkeit einer Weinbergschnecke über den Monitor und eine Datenbank mit einer völlig veralteten Oberfläche öffnet sich. Er tippt meinen Namen in ein Suchfeld und eine Datei erscheint.
»Ich … äh … hatte Geburtstag. Am Samstag. Deshalb habe ich den Text nicht gelesen. Es tut mir … leid?«
»Man steht nicht in drei Fächern auf Ungenügend, weil man an einem einzigen Wochenende vergessen hat, die Hausaufgaben zu machen.«
Steht das dort? Ich wusste, dass meine Leistungen bisher schlecht waren, aber steht da wirklich, dass ich in drei Fächern durchfalle? Mein Hals verengt sich.
»Ich halte nichts von Strafen«, fährt Wimmer fort. »Ich halte etwas von Förderungen. Wir haben dieses Jahr eine freiwillige Fördergruppe für den Abiturjahrgang organisiert. Ich möchte, dass Sie den Englischkurs freitagnachmittags besuchen, von halb vier bis sechs Uhr. Mindestens für die nächsten zwei Monate.«
Ich stöhne.
»Natürlich können wir mögliche Alternativen mit Ihren Eltern besprechen.«
Mein Vater würde einen sofortigen Haftbefehl für mich unterschreiben, wenn es mich ein paar Stunden länger aus der Wohnung hielte. »Ich bin in der Elften«, versuche ich mein Glück. »Das ist nicht mein Stoff, den sie durchnehmen.«
»Die Abiturienten wiederholen die gesamte Grammatik, von der fünften bis zur letzten Klasse. Es wird eine hervorragende Übung für Sie sein.«
Darauf weiß ich nichts mehr zu sagen.
Der Freitag kommt schneller, als mir lieb ist.
Mit hängenden Schultern schlurft Mel neben mir durch die Schule, obwohl sie inzwischen Wochenende hat. Ihr schlechtes Gewissen hat die Farbe aus ihrem sommersprossigen Gesicht gesaugt. »Es tut mir so leid, Viki!«
Sie hat sich in den letzten Tagen bestimmt zehnmal für die Aktion in Englisch entschuldigt. Dabei gibt es gar keinen Grund dafür.
Ich versuche, sie aufzumuntern. »Es wird dir wirklich leidtun, sobald du Winkys Käfig säuberst und dir klar wird, dass diese kleinen, schwarzen Vogelaugen in deinen Ausschnitt starren.« Ich wackle vielsagend mit den Augenbrauen.
Sie kreischt vergnügt. »Mein Papagei ist kein Englischlehrer!«
»Fragt er dich nachts Vokabeln ab?« Ich grinse, aber dann erreichen wir das Klassenzimmer, dessen Tür einen Spaltbreit offen steht, und die gute Laune vergeht mir schlagartig. »Du solltest deinen süßen Hintern aus der Schule befördern, sonst verpasst du den Bus.«
Mel wirft mir einen traurigen Blick zu.
»Ich kann die Wiederholung gebrauchen«, versichere ich mit fester Stimme. »Beeil dich lieber.«
»Okay. Ich ruf dich an. Tschüs!« Mel rennt den Gang hinunter und winkt mir zu, bevor sie um die Ecke verschwindet.
Mit einem tiefen Atemzug stelle ich mich meinem Schicksal.
Gelächter dringt aus der Klasse und lässt meine Knie weich werden. Versehentlich stoßen meine Finger an die Tür und sie schwingt schneller auf, als ich reagieren kann. Krachend schlägt sie gegen einen Tisch, der zu weit nach vorne geschoben worden ist.
Ein Dutzend fremder Gesichter dreht sich zu mir. Sie inspizieren mich wie eine menschgroße Kakerlake, die versucht, in ihre Klasse einzudringen.
»Ist das hier die Fördergruppe?«
Ein Junge mit zitronengelbem Haar nickt mir zu. Er sitzt verkehrt herum auf seinem Stuhl in der vordersten Reihe und kommt mir bekannt vor. »Ja. Abi-Fördergruppe.«
»Für fortgeschrittene Versager also«, murmle ich und ernte einen finsteren Blick.
Unsicher stehe ich vor den Zwölftklässlern und hasse mich für meine Unbedachtheit. Wieso habe ich nicht draußen vor der Tür auf den Lehrer gewartet? Zwei Mädchen betrachten mich von oben bis unten und kichern. Zwischen den Tischbeinen hindurch entdecke ich hochhackige Schuhe. Sie versuchen damit wohl, ihren IQ zu heben. Ein Satz formt sich in meinem Kopf, doch die Ankunft der Lehrerin rettet mich vor weiteren unklugen Bemerkungen. Eine junge Frau mit selbstgestricktem Regenbogenschal um den Hals betritt das Klassenzimmer und winkt den Schülern halbherzig zu.
»Hallo Leute. Bitte setzen.«
Sie stellt eine Lederschultasche auf dem Pult ab und wühlt daraus eine weinrote Brille hervor, die sie auf ihre Nase schiebt. Ich werde für sie sichtbar.
»Wer bist du?«, fragt sie ehrlich überrascht.
»Viktoria Stein.« Ich sollte die Gelegenheit nutzen und verschwinden. Wimmer muss versäumt haben, mich anzumelden. Vielleicht hat er die ganze Strafe bereits vergessen. Ich könnte den Ausbruch wagen und die nächsten zwei Monate in Freiheit verbringen. »Direktor Wimmer hat mich zur Wiederholung hergeschickt. Ich bin aber noch in der Elften.« Andererseits stehe ich in drei Fächern auf Ungenügend.
Sie runzelt die Stirn, als hätte sie keine Ahnung, wovon ich spreche. »Ah, natürlich. Setz dich bitte.«
Die anderen Schüler füllen die vordersten drei Reihen, bis auf die Höllenposition direkt vor dem Lehrerpult. Ich steige über einen Rucksack im Mittelgang und visiere die hinteren Plätze an.
»Das hier ist eine freiwillige Fördergruppe«, erschallt die Stimme der Lehrerin. Ich fühle mich nicht angesprochen, bis sie hinzufügt: »Wir sitzen alle vorne. Schließlich wollen wir etwas lernen.«
Ich halte inne und wage einen Blick zurück. Alle starren mich an. Die Lehrerin weist auf den Höllenplatz, ihre Augenbrauen erwartungsvoll erhoben. Ich mache kehrt und hocke mich neben den Jungen mit dem zitronengelben Haar, als hätte ich nie was anderes vorgehabt.
»Dieser Stuhl ist besetzt«, protestiert er.
»Nein, David.« Der Ton der Lehrerin ist endgültig. »Das ist er nicht mehr, und das weißt du genau.«
David knackt mit den Knöcheln. Schwielen überziehen seine Finger. Vom Bleistifthalten hat er die jedenfalls nicht.
Wenn ich mich nur erinnern könnte, wo ich ihn schon mal gesehen habe. Vielleicht ist die Haarfarbe neu? Bestimmt würde es mir sonst einfallen.
Die Stunde beginnt, und ich erwarte, von Grammatikregeln und Vokabeln erschlagen zu werden, die ich mir sowieso nie merken kann. Zu meiner Überraschung teilt die Lehrerin, die mit Frau Mittelweger angesprochen wird, ein Übungsblatt mit aufgedruckten Hundebabys aus. Ich kenne diese Illustrationen. Sie stammen aus den Büchern für die fünfte Klasse.
»Hört auf zu jammern!« Mittelweger stellt sich vor die Tafel und öffnet eine frische Packung Kreide. »Solange ich I says oder He say in euren Aufsätzen lesen muss, wird es bei Rocky bleiben.«
Mittelweger weiht uns in die grammatikalisch korrekte Geschichte von Hundewelpe Rocky ein, der einen Knochen im Garten verliert. Es ist ein völlig neues Erlebnis, eine Aufgabe ohne Probleme zu lösen. Die Zeit rauscht dahin, auch wenn der Stoff schrittweise schwieriger wird. Am Ende ertappe ich mich dabei, blaue Punkte auf Rockys Fell zu malen.
Kurz vor Schluss sollen wir die Englischbücher herausnehmen, um einen Text fürs Abitur durchzuarbeiten. Während die anderen ihre Exemplare von You & Me 12 herausholen, strecke ich eine Hand in die Luft.
»Viktoria?«
»Ich habe kein Zwölftklässler-Buch.«
Mittelweger entdeckt Rockys Punktefell, bringt ihr blütenweißes Lehrerexemplar außerhalb meiner Reichweite in Sicherheit und kramt in ihrer Lehrertasche. »Ich habe noch eine gebrauchte Ausgabe dabei. Eigentlich sollte ich die zur Schulbibliothek bringen, aber …« Ein Buch kommt zum Vorschein, das von oben bis unten mit wilden Kulimustern besudelt ist. Unter Mittelwegers Fingern erkenne ich die korrekte anatomische Darstellung diverser Geschlechtsorgane. »… dafür ist es wohl nicht mehr geeignet«, seufzt sie.
Ich nehme das Buch entgegen. Es schlägt sich von selbst an der Stelle auf, an der die Zwölftklässler gerade arbeiten. Alle Seiten bis dahin sind mit Leuchtmarker und Notizen in enger Handschrift beschmiert.
Ich bemühe mich, den Text über Drogenabhängigkeit zu lesen. Aber schon im ersten Absatz lenken mich die Markierungen ab. Zusammengenommen ergeben sie keinen Sinn. Mein Blick streift zu den Zeilen am Rand und ich entdecke dieselben Worte, vollkommen aus dem Kontext genommen und in finstere Poesie verwandelt.
You eat my thoughts
But I can’t forget
Until nothing’s left
Just silence
Die folgenden Verse verlieren sich in wirren Vokabeln. Ich verstehe kaum etwas, doch die Sätze zeichnen ein düsteres Bild in meine Vorstellung. Der Verfasser ist garantiert lebensmüde.
Mittelwegers altmodischer Schellenwecker katapultiert mich zurück in die Gegenwart. Sie hat das Ungetüm auf dem Pult positioniert, weil in der Schule so spät keine Klingel mehr läutet.
»Lest den Text und schreibt bis zum nächsten Mal eine Inhaltsangabe.« Mittelweger sammelt die Kreide ein. Sie sieht meine hochgestreckte Hand nicht, also beuge ich mich in ihr Blickfeld.
»Entschuldigen Sie, gilt das auch für mich?«
»Dieser Kurs ist freiwillig. Willst du dich verbessern oder nicht?«
»Können Sie mir den Text kopieren?«
Mittelweger betrachtet das besudelte Schulbuch. »Behalte es. Der Junge, dem es gehört hat, braucht es nicht mehr.«
»Wie meinen Sie das?«
»Er hat am Montag die Schule verlassen.« Sie wickelt den Regenbogenschal fester um den Hals und greift nach der Tasche. Bevor ich nachhaken kann, drängt sich eine Schülerin vor und verhört Mittelweger über die Abiturthemen. Ich packe meine Unterlagen und verschwinde aus dem Klassenzimmer.
Er hat am Montag die Schule verlassen.
Jay kam mit seiner heulenden Mutter aus dem Direktorat. Das war ebenfalls am Montag. Diese Gedichte im Buch …
In den Gängen wabert eine Dunkelheit, die selbst das Neonlicht nicht vertreibt. Sie kriecht aus allen Nischen und kitzelt meine Phantasie. Mein Spiegelbild folgt mir in den Fenstern, ich wage nicht hinzusehen, aus Angst, es könnte mich packen. Ich sollte den anderen rasch nach draußen folgen, damit ich nicht alleine hier ende. Aber meine Füße tragen mich in die Mädchentoilette. Ich schließe mich in einer Kabine ein und ziehe mit kribbelnden Händen das Zwölftklässlerbuch aus dem Rucksack.
In den handgeschriebenen Zeilen erkenne ich nun Songtexte. Manche davon vertraut, als hätte ich sie schon einmal zu einer Melodie gehört. Zu harten Bässen, ins Leben gebrüllt von einer rauen Stimme. Ich blättere auf die erste Seite und finde den Namen des Verfassers in die Ecke geschrieben. Meine Kopfhaut zieht sich zusammen.
Jay Feretty.