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Isabella Mallee, Ende Zwanzig, will leben und sich neu verlieben. Nach zehn langen Jahren macht sie deshalb mit Willi Schluss - obwohl sie noch Gefühle für ihn hat, ist ihr die Beziehung einfach zu platonisch geworden. Plötzlich nicht nur partner- sondern auch wohnungslos, findet Isa nach dem Liebes-Aus zum Glück Unterschlupf bei ihrem Kommilitonen Sönke. Mit ihm und ihrer besten Freundin Nuray genießt Isa die neu gewonnene Freiheit zunächst in vollen Zügen - vor allem was Männer angeht. Auf ihrem Weg aus dem bisher sicheren Hafen in fremde Gewässer ver- und entliebt sich die Studentin nämlich immer wieder, entdeckt einige vollkommen neue Seiten an sich und sucht in den zahlreichen anregenden Bekanntschaften das, was sie all die Jahre so schmerzlich vermisst hat: Leidenschaft. Doch Glück und Erfüllung findet Isa nicht, stattdessen tauchen nur immer neue Fragen auf: Ist ihr Mitbewohner wirklich ein Schuhfetischist? Könnte der blonde Frauenschwarm Ben mehr als nur ein One-Night-Stand werden? Was ist mit Jan, dem Model, der Isa nach Ibiza einlädt? Was läuft da mit Enzo, dem Macho-Mafiosi, der ganz nebenbei ihr Chef ist? Und schließlich ist da noch Nils, der Christian-Ulmen-Doppelgänger, dessen sexy Zahnlücke ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen will. Zugleich merkt Isa, dass es ihr schwerer fällt, als gedacht, sich wirklich von Willi zu lösen: Immer wenn es regnet, muss sie an ihn denken. Und leider regnet es in Hamburg ziemlich oft. Alles wird immer komplizierter und undurchschaubarer und Isa ist heilfroh, ihre Freundin Nuray immer an ihrer Seite zu wissen, die ihr durch sämtliche Höhen und Tiefen des Lebens hilft. Ihrerseits hoffnungslos romantisch, will Nuray warten, bis der Richtige sie zum Traualtar führt. Doch vorerst hat sie ohnehin alle Hände voll zu tun, Isa immer wieder den Kopf zu waschen, damit diese wieder klar sieht. Isas Beziehungskarussel dreht sich nämlich immer schneller, bis es schließlich droht, sie völlig aus der Bahn zu werfen. Wohin gehen, wenn ein Mensch zu deiner Heimat geworden ist, die du verlassen hast? Und kann es den Einen geben, mit dem alles möglich ist? Leidenschaft und Geborgenheit, gute Gespräche und Sex, Vertrauen und Unabhängigkeit? Isa muss einiges ausprobieren, bis sie die Antwort findet.
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Seitenzahl: 445
Juli Sand
Für Jens
1.
»Morgen sieht die Welt schon wieder anders aus«, hat Mutti immer gesagt. Heute ist morgen. Und die Welt sieht tatsächlich anders aus.
Ich hebe die Lider und blinzle vorsichtig durch meine verklebten Wimpern. Ich schaue mich in dem Raum um, der ab jetzt meine Bleibe ist: eine niedrige Decke mit Dachschrägen, darin eine dunkle Holzvitrine mit Segelbootmodellen, maritime, in Gold gerahmte Bilder an der Wand, zwei winzige gekippte Fenster, kaum größer als die Bullaugen eines Schiffes. Sieht so nicht eine Kajüte aus? Und plötzlich fühle ich mich tatsächlich wie auf hoher See: Der Boden beginnt zu schwanken, mir ist flau im Magen. Ich glaube, ich bin seekrank oder so.
Eine Böe bläht den dunkelblauen Vorhang wie zu einem Segel auf, Sonnenstrahlen wippen über meine Bettdecke. Ich drücke meinen Kopf fester ins Kissen, vergrabe mich tief im Bett, damit der neue Tag mich nicht findet. Der Wind trägt eine frische Brise und Vogelgezwitscher zu mir herein.
Ich springe auf, stürze zum Fenster und schlage es zu. Wumms! Die Vitrine scheppert und aus der Küche höre ich ein erschrockenes »Alles okay, Isa?«
»Ja, klar!«, rufe ich.
Meine Stimme klingt wie ein Sack voller Scherben.
Gar nichts ist okay.
Auf dem Fußboden türmen sich Müllsäcke. Klamotten, die mir bekannt vorkommen, quellen daraus hervor. Skinny Jeans in verschiedenen Waschungen, Shirts in allen Jelly-Beans-Farben und Schuhe für jeden erdenklichen Anlass, von längeren Fußmärschen mal abgesehen. Ich torkle darüber hinweg und schaffe es gerade noch zur Couch. Für die nächsten Wochen wird das mein Schlaflager sein. Ich sacke über dem dunkelgrünen Samt zusammen und ziehe mir die Decke über den Kopf. Nie wieder aufstehen.
Eigentlich sollte ich mich befreit fühlen, froh sein, dass es endlich vorbei ist. Doch es geht mir hundsmiserabel. So mies wie noch nie in meinem Leben.
Hab ich das gewollt? Soll er das jetzt sein, mein neuer Lebensabschnitt? Wie das klingt: mein neuer Lebensabschnitt.
Ab sofort gehöre ich nämlich zu den knapp zwölf Millionen Menschen in Deutschland, für die lustige Wanddesigner eine spezielle Tapete entwickelt haben: dein Traumpartner zum An-die-Wand-Kleben beim Frühstück, beim Zähneputzen und beim Chillen auf dem Sofa – das Trostpflaster in Lebensgröße. Die Industrie hat extra für mich Produkte nach dem Bikiniprinzip entworfen – je kleiner die Packung, umso teurer ist sie. Da kostet ein Fischstäbchen im Durchschnitt plötzlich nicht mehr fünfzehn, sondern siebenundzwanzig Cent. Den ersten Tag solo und ich fühl mich einsam. Gestrandet. Auf unbekanntem Terrain an Land gespült.
Aus der Küche kommt Musik: »Zwei Herzen schlagen in meiner Brust / du hast es seit Langem schon gewusst.« Klee, eine meiner Lieblingsbands. Oh Mann, der Text trifft voll ins Schwarze. So viel Wahrheit vor dem Frühstück, das halt ich nicht aus!
»Entweder vor oder zurück / entweder Glaube oder Glück / entweder alles oder nichts / Niemand entscheidet für dich«
Stimmt, niemand hat für mich entschieden. Gequält halte ich mir die Ohren zu. Habe ich einen Fehler gemacht? War das gestern der schlimmste aller falschen Fehler?
Nein, ich habe mir alles genau überlegt. Und eine Entscheidung getroffen. Die einzig Richtige. Aber wieso geht es mir dann so schlecht? Wieso fühle ich mich so mutterseelenallein?
Das Problem ist: Ich bin seit Jahren nicht mehr allein aufgewacht. Er war einfach immer da. Mit geschlossenen Augen taste ich nach meinem Handy und ziehe es in meine Höhle, unter die Bettdecke. Keine neuen Nachrichten. Null Reaktion auf meinen Brief.
»Zwei Herzen schlagen in meiner Brust / zwei Herzen, doch nicht im selben Rhythmus / zwei Herzen, zwei Herzen«
Seit vierundzwanzig Stunden habe ich kein Lebenszeichen von ihm. So lange habe ich noch nie nichts von ihm gehört.
Was, wenn er es nicht verkraftet hat?
»Ein Herz, das zögert, eins, das sich traut / zwischen Wahrheit oder Pflicht / ein Herz bleibt hart und eins zerbricht.«
Oh Gott! Was, wenn er …
Keine Panik. KeinePanik. Nur kurz seine Stimme hören.
Mit zittrigen Fingern drücke ich auf die Wahltaste. Abrupt breche ich ab. Ich kann doch nicht …
Doch, ich muss. Muss hören, wie es ihm geht. Ob er noch am Leben ist? Das Handy wählt seine Nummer. Dreimal das Freizeichen, er nimmt nicht ab.
Die Tabletten!
Kann Mann sich auch mit einer Überdosis Viagra umbringen? Das sind die einzigen Pillen, die er je genommen hat. Quatsch, dafür nehmen Männer keine Tabletten. Männer nehmen das Fenster oder den Strick.
Freizeichen. Er nimmt ab.
Wieso sagt er denn nichts?
»Willi?«
»Was willst du?«
Seine Stimme klingt grauenhaft. Ganz zittrig und schwach.
Aber, das ist sie – seine vertraute Stimme. Verdammt. Mir steigen Tränen in die Augen, ich kriege keinen Ton heraus, nur so ein jämmerliches Fiepsen wie bei einer Kehlkopfentzündung.
»Was willst du?«, herrscht er mich noch einmal an.
Ich schluchze laut auf und heule los.
»Bella, wenn du nicht sofort sagst, was du willst, lege ich auf!«
Ein zorniger Tonfall, geradezu beängstigend. Bedrohlich. So habe ich Willi noch nie gehört. Selbst nicht, als er rausgekriegt hat, dass … Das gehört nicht hierher, konzentrier dich auf das Hier und Jetzt. Okay, das hier ist die Stimme eines Dreiundvierzigjährigen, durchaus lebendigen, aber sehr verletzten Mannes.
»Ich … ich … wollte nur kurz deine Stimme hören«, stammle ich. Das jetzt war die Stimme eines dreijährigen Mädchens, das zu Mami auf den Schoß will.
Ich bin achtundzwanzig, aber hey, ich sehe viel jünger aus. Außerdem kann ich auch nichts dafür, dass ich mich gerade so elend fühle. Nur deine Stimme hören. Augenblicklich schäme ich mich für meine Worte. Wirklich erbärmlich.
»Meine was?«, dröhnt es aus dem Hörer wie die Rückkopplung eines verstellten Lautsprechers. »Meine Stimme hören?« Ein verzerrter Bass. »Du hättest bis an dein Lebensende meine Stimme hören können! Aber du wolltest sie nicht mehr hören! Wolltest mich nicht mehr sehen, nicht mehr riechen, nicht mehr mit mir …, ach vergiss es! Du hast mich verlassen. Einfach sitzen gelassen. Auf eine feige, hinterfotzige Art! Du mich! Und jetzt rufst du an und willst meine Stimme hören? Bist du bescheuert?« Er schreit.
Ich kann ihn vor mir sehen, sehe den Ausdruck in seinen Augen, als er das sagt. Dieser Blick – es tut so weh. Mir ist heiß und kalt auf einmal. Ich halte den Hörer ein Stück weit weg. In meiner Höhle unter der Decke ist es plötzlich furchtbar eng. Schweiß trieft aus allen meinen Poren, kalter Schweiß. Es ist wie damals, als ich beim Klauen erwischt wurde. Nur diesmal ist er es, der mich voll ertappt hat. Alles, was er sagt, ist wahr, und genau das macht es so furchtbar. Die Wahrheit ist eben nicht immer die einfachste Variante. Und die eleganteste erst recht nicht. Die Wahrheit ist eine böse, grausame Stiefmutter, die uns jeden Zauber raubt, die aus Prinzessinnen elende kleine Würmchen macht.
»Willi«, krächze ich und fühle mich noch jämmerlicher.
»Noch nie … noch niemals in meinem Leben wurde ich von jemandem so gedemütigt wie von dir, Bella. Von der Frau, die ich so sehr geliebt habe, so über alle Maßen geliebt habe wie noch keine Frau.«
Er spricht tatsächlich in der Vergangenheitsform über mich. Ich strample die Bettdecke beiseite und schnappe nach Luft.
»Noch nie hat mich ein Mensch so sehr verletzt wie du. Noch nie.« Brüchig stößt er die Silben hervor, spitze Eiszapfen, die mein kleines Herz durchbohren. Es pocht noch ein Weilchen, spült eine rote Lache in den Schnee, bis alles Blut entwichen ist. Dann liegt es bewegungslos und kalt. Es ist tot.
Willi spricht jetzt sehr leise: »Du wirst nie wieder meine Stimme hören. Nie wieder. Leb wohl, Bella.« Er legt auf.
Mein Gesicht ist klitschnass, mein T-Shirt klebt an meinem Rücken. Hier drinnen müssen es plötzlich vierzig Grad sein. Oder ich habe Fieber. Ich stürze zum Fenster, reiße daran und knicke mir dabei den Fingernagel um.
»Aua!« Ich heule und beiße auf meine Fingerkuppe.
Was hatte ich denn erwartet? Dass er freundlich fragt, ob wir heute Abend zusammen ein Video gucken und Pizza bestellen? Mensch Isa, du hast mit ihm Schluss gemacht. Du hast es beendet. Du bist gegangen. Du wolltest nicht mehr.
Der blaue Vorhang bäumt sich wieder auf. Ich klammere mich am Fensterrahmen fest, um nicht zu fallen und presse die Lippen aufeinander, um mich nicht zu übergeben. Definitiv, ich bin seekrank.
2.
Als ich Wilbert kennenlernte, war ich gerade achtzehn geworden. Er war dreiunddreißig. Da muss man kein Mathegenie sein, damit einen der Altersunterschied anspringt. Bestimmt ist das einer der Gründe, weshalb er so zornig ist.
Mit achtundzwanzig habe ich ja fast alles noch vor mir. Und er? Na ja, er ist über vierzig. Ich meine, ist doch klar, dass so was nicht ewig hält. Die erste große Liebe reicht doch nie fürs ganze Leben, außer vielleicht in so Hollywoodschnulzen.
Na gut, es waren dann doch zehn Jahre, das ist fast eine Ewigkeit. Wenn man achtundzwanzig ist, sind das wie viel Prozent vom gesamten Leben? Wie gesagt, ich bin kein Mathe-Ass … Himmel, mehr als ein Drittel! Meine gesamte Jugend!
Meine besten Jahre habe ich mit einem Mann namens Willi verbracht. Hm.
Ist jeder Wilbert durch und durch ein Willi? Als wir uns kennenlernten, nannte ich ihn Will. Fand ich tierisch sexy. Wann haben wir uns festgefahren? Weshalb ist von meinem Mister Big nur noch Willi übrig geblieben?
Und ich? Ich meine, hey: Ich heiße Isabella Mallee, das ist doch wirklich ein schöner, klangvoller Name. Irgendwie erwachsen und vielschichtig. Isabella Nadolny, Isabella Rossellini, Isabel Allende. Wann bin ich zu Bella geschrumpft? Bella, so nennt man Hündchen oder kleine Mädchen. Heißt nicht auch diese Vampirbraut so? Die, die lieber zum Zombie mutiert, statt Sex vor der Ehe zu haben. Lächerlich.
Für Willi bin …, sorry, war ich Bella.
Schon klar, dass ich da raus musste. Ich bin eben keine, die nach dem ersten Kuss schon ans Heiraten denkt. Kann das überhaupt funktionieren, ein Mann fürs ganze Leben?
Ist es nicht eher so: Es gibt wahnsinnig viele Schokoriegel auf der Welt und man muss eine Menge naschen, um herauszufinden, welcher am besten schmeckt? Logo, wenn man Schoki nicht kennt, kommt einem Zartbitter wie der Himmel auf Erden vor. Man vermisst nichts. Hat es deshalb mit Willi zehn Jahre gehalten? Weil er mein erstes Stück überhaupt war? Jedenfalls, wenn man dann auf eine eisgekühlte Yogurette beißt, die zarte glänzende Hülle herrlich knackt und die fruchtig-frische Erdbeercremefüllung auf der Zunge schmilzt; ich schwör euch Mädels, Zartbitter wird euch nie mehr voll befriedigen. Ihr wollt mehr. Weiße Crisp, Vollmilch-Nuss, Apfelsine-Krokant. Selbst wenn am Ende herauskommt: Yogurette ist und bleibt euer Favorit, sie schmeckt einfach besser, wenn ihr vorher andere probiert habt. Habe plötzlich einen Mordsappetit. Nie mehr dieselbe Sorte!
Eine Woge der Euphorie erfasst mich, dieses Hochgefühl, das einen durchströmt, wenn einem alle Türen offenstehen. So wie damals nach dem Mauerfall, als ich das erste Mal vorm Schokoregal stand. Was für eine Auswahl! Das war, wie aus einem Schwarz-Weiß- in einen Buntfilm zu steigen.
Der Flow trägt mich aus meiner Kajüte, meinem neuen, aufregenden Singledasein entgegen. Ich kann ihn quasi spüren, den Rückenwind, der mich durch den schmalen Flur der Zweizimmerwohnung fegt. Hier weht mir gleich der Duft der Freiheit um die Nase: Kaffeearoma und ein Hauch Rasierwasser. Ich hüpfe an der angelehnten Küchentür vorbei und verschwinde im Bad.
Ich schaue in den langen schmalen Spiegel, der an der Innenseite der Tür klebt. Meine Augen sind ziemlich verquollen. Habe ganz schön viel geweint in letzter Zeit.
Aber bis auf die Tränensäcke sehe ich eigentlich ganz okay aus. Könnte schlimmer sein.
Nils behauptet ja, ich hätte einen Hammer Body. Hm. Ich drehe mich zur Seite. Ehrlich gesagt finde ich meine Brüste einen Tick zu üppig geraten, vielleicht liegt das aber daran, dass der Rest meines Körpers eher überschaubar ist. Körbchengröße C verteilt auf einen Meter sechzig.
Einmal haben Typen sogar schon Wetten auf mich abgeschlossen. Auf was für Ideen die kommen. Mit Willi bin ich so zum Beispiel zusammengekommen, damals im Sommercamp auf Sardinien. Sein Freund Matze meinte nämlich, die wären gemacht. Der war doch nur neidisch, weil ich Willi und nicht ihn als mein Herzblatt auswählte. Jeden Abend haben wir Herzblatt gespielt, war ja sonst nicht viel los auf dem Campingplatz. Willi war der Älteste und deshalb kein Kandidat. Er trug ein fliederfarbenes Jackett mit Schulterpolstern, das er sich vom Pianospieler aus der Tiki-Bar geliehen hatte, und versuchte krampfhaft, diesen holländischen Akzent hinzukriegen. Hat er gar nicht schlecht gemacht.
Wilbert war nämlich Rudi Carrell, der Moderator der Show. »Uhnd, währ ssoll denn nun dein Herrsblatt sein, Isabellahhhh aus Ährfuhhhrt?« Da bin ich ihm um den Hals gefallen.
Jedenfalls, als ich Wilbert dann näher kennenlernte, wollte ich ihm irgendwann das Gegenteil beweisen – mit den Brüsten. Nicht dass ich mich heute noch zu so was hinreißen lassen würde. Mit zwanzig, da hatte man ja kaum Lebenserfahrung – so ganz allgemein gesprochen. Insbesondere, wenn man als Zonenmädchen aus dem hinterletzten Kaff kommt – so ganz konkret gesprochen. Die drei Wochen Sardinien waren die schönste Zeit meines Lebens. Trotz der Spinnen im Schlafsack. Drei Wochen lang Sonne, Strand und Melone zum Frühstück. Wir zwei auf einer Luftmatratze. Unser Zelt kam mir vor wie der Nabel der Welt.
*
Das hier kommt mir dagegen vor wie die Achselhöhle der Welt. Eine feuchte müffelnde Kammer ohne Fenster. Der vergilbte Spiegelschrank ist schon fast blind und der Unterschrank reif für den Sperrmüll. Badewanne, Klo und dazwischen ein Duschvorhang mit rosa Gummihöckern, der mich an Billy Boy Super-Fun mit den Perlennoppen erinnert – für das Plus an Spaß und Stimulation. War voll witzig damals, mit Willi im Pool. Bis wir Billy Boy aus der Filteranlage fischen mussten.
Die winzige Badewanne könnte mal wieder eine Grundreinigung gebrauchen, die Chromflächen sind kalkmatt und fleckig. Aber was erwarte ich, ich bin halt ohne Vorankündigung hier reingeplatzt. Wenigstens ist das Wasser heiß. Wenn nur dieser widerwärtige Duschvorhang nicht wäre. Er wölbt sich in meine Richtung, schmiegt sich an mich, als wolle er mich umarmen.
Schon jetzt vermisse ich unser geräumiges Badezimmer. Das große Fenster, das den Raum morgens in unglaublich mildes Licht tauchte, das edle Waschbecken mit den antiken Messingarmaturen. Die große gläserne Duschkabine, in der man locker zu zweit Platz hatte und wo man sogar unter der Dusche … was solls, haben wir eh nicht oft gemacht, die letzten zwei Jahre gar nicht mehr. War eben einfach nichts mehr los, weder im Bett noch unter der Dusche. Auch deshalb bin ich gegangen.
Ich streiche über meinen Bauch, der schon beinahe so flach ist wie damals auf Sardinien. Zwanzig Zentimeter größer, und ich wäre mit meinem Körper fast zufrieden.
Habe dafür andere Baustellen.
Das Männerduschgel prickelt auf meiner Haut, und ich mache einen Katzenbuckel. Unter dem Wasserstrahl lockert sich die Verspannung in meinem Kreuz. Habe gestern ganz schön viele Müllsäcke geschleppt. Sollte wirklich mehr Sport treiben. Sollte endlich überhaupt mal beginnen, Sport zu treiben.
Ich lege den Kopf in den Nacken und genieße es, wie mein nasses Haar über meine Haut streicht. Wenn ich den Hals ganz weit nach hinten beuge, reicht es schon bis zur Hälfte meines Rückens. Ich stelle mir vor, ich hätte eine volle, wallende Mähne, wie die Frau aus der Pantene Pro-V-Werbung. Wie wäre wohl mein Leben mit solch einer Haarpracht? Sicher total easy und wahnsinnig unkompliziert. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Frauen mit einer Wallemähne Probleme haben.
Als ich noch ein kleines Mädchen war, da hab ich die Bänder aus den Peter-Maffay-Kassetten meiner Mutter rausgepult, zerschnibbelt und einen Zopf daraus geflochten, den ich mit Haarspangen an dem mickrigen Stummelschwänzchen in meinem Nacken festklemmte. Damit kam ich mir vor wie Aschenbrödel aus Drei Haselnüsse für Aschenbrödel. Mann, hatte die tolle Haare!
Ich seife meinen Kopf mit Volumenshampoo ein und denke an die Zeit zurück, als ich Pantene Pro-V noch für eine Rakete hielt. Mein Kopf dampft, als ich ihn mit einem verwaschenem Harry-Potter-Badetuch frottiere.
Nach Willi ist mein Haar meine zweite Baustelle. Die nächste tut sich beim Zähneputzen auf: die schiefe Leiste meines Unterkiefers, in der so ziemlich alles aus der Reihe tanzt. Mein Kinn ist einfach viel zu schmal für all die Zähne! Wie entgleiste ICE-Waggons schieben sie sich ineinander. In meiner Kindheit hatte ich alles Mögliche: einen Hund, Läuse, Einlagen in den Schuhen, eine Brille mit abgeklebtem rechten Auge – aber keine Zahnspange.
Die Schiefstellung versuche ich durch lispeln und nuscheln zu überspielen. Eben den Mund so wenig wie möglich öffnen, besonders bei Typen, in die ich mich verknallen könnte. In Sönke war ich nie verknallt. Obwohl er gar nicht so übel aussieht, Sönke, der mit dem Harry-Potter-Badetuch, mein neuer Mitbewohner.
3.
»Isabella, wie das klingt«, sagt er mit rauer Stimme und schiebt mich mit dem Rücken zur Wand. »I-sa-bel-la, wie eine Melodie, so sanft und zart, so voller Zauber. Kein Name könnte treffender sein.«
Zärtlich gleiten seine Finger über meine Lippen. Ich schnappe nach Luft.
»Ahnst du, wie oft mir dein Name im Kopf herumspukt, Isabella? Wie viele schlaflose Nächte er mir schon beschert hat?« Er umfasst mein Kinn und hebt es an, sodass sich unsere Blicke treffen. Seine Augen hypnotisieren mich, seine Berührungen gehen durch und durch. Tief in meinem Inneren zieht sich etwas zusammen, was ich schon ewig nicht mehr gespürt habe: geballte Lust.
Er beugt sich zu mir herunter und schiebt meinen Pulli nach oben, während er warme Küsse auf meine Bauchdecke haucht. Langsam zieht er den Pullover über meinen Kopf und lässt ihn auf den Boden fallen. Dann tritt er einen Schritt zurück, um mich zu betrachten. Ich trage einen weißen BH.
»So unschuldig«, sagt er. »Ich liebe weiße Wäsche, besonders, wenn man schmutzige Sachen darin macht.«
Ich spüre, wie ich rot werde. Ein Teil von mir will den Pulli wiederhaben, sich anziehen und weglaufen. Der andere Teil will mehr. Mehr Küsse, mehr Berührungen, mehr Ausziehen. Seine Lippen auf meinen. Der Kuss ist unglaublich lang und intensiv, sodass wir danach um Atem ringen und lachen müssen. Der nächste Kuss ist fordernder. Als er mich gegen sich drückt, spüre ich seine Erektion. Die Gefühle in mir sind das reinste Chaos. Ich will ihn so sehr, aber ich darf ihn nicht wollen. Ich bin mit Willi zusammen und darf nur ihn wollen, verdammt. Ich kann nicht anders. Etwas in mir bäumt sich auf, wird immer mächtiger und nimmt sich, was es will.
Tief grabe ich die Hände in seine weichen, dichten Haare. Er schiebt mich Richtung Sofa, bis ich die Kante in meiner Kniekehle spüre. Ich erwarte, dass er mich nach unten drückt, doch er tut es nicht. Er sinkt vor mir auf die Knie, seine Zunge umkreist meinen Bauchnabel. Sanft knabbert er an meinem Hüftknochen, streicht über meinen Bauch und wandert mit seinen Lippen zu meinem Hosenbund.
Ihn vor mir auf den Knien zu sehen und seine Lippen auf meinem Körper zu spüren, erregt mich total. Seine braunen Augen durchdringen mich, seine Hand öffnet den Knopf meiner Jeans und zieht in einer lässigen Bewegung den Reißverschluss herunter. Ohne den Blick von mir zu wenden, gleiten seine Finger unter den Hosenbund. Er streift mir die Jeans ab, fährt sich mit der Zunge über die Lippen, beugt sich nach vorn und schiebt seine Nase zwischen meine Schenkel. Ich spüre ihn. Dort.
»Du riechst gut«, murmelt er und schließt die Augen. Er drückt mich aufs Sofa, hebt mein Bein leicht an und fährt mit dem Fingernagel an der Innenseite meiner Schenkel entlang. Tief in meinem Unterleib hallt diese Berührung nach, ich ringe um Atem.
»Ich kann es kaum glauben, dass du hier bist, hier bei mir«, seufzt er und knöpft seine Jeans auf. Dabei sieht er mir die ganze Zeit in die Augen. Dann umfasst er meine Knöchel, schiebt meine Beine auseinander und sich dazwischen. Ich winde mich vor Geilheit.
»Schön stillhalten«, flüstert er und küsst die Innenseiten meiner Schenkel. Mein Gesicht glüht und mein Körper bebt. »Ich will dich überall berühren.«
Seine Finger wandern von meiner Hüfte zu meiner Taille, hinauf zu meinem BH. Das Stück Stoff gleitet zu Boden.
»Wie schön du bist«, haucht er. Genüsslich zieht er mir das Höschen herunter. Sein Daumen betastet meine empfindlichste Stelle, dabei schließt er die Augen, sein Atem geht schneller. Das Kreisen seiner Finger wird drängender, bis er sich plötzlich aufrichtet, das Kondompäckchen aus der Hosentasche angelt und Jeans samt Boxershorts nach unten zieht. Mit den Zähnen reißt er die Packung auf, ich sehe noch, wie er das Gummi über seinen Schwanz rollt, als ich ihn schon in mir spüre. Ja, das habe ich gewollt. Seit dem ersten Kuss habe ich es gewollt. Er verlagert sein Gewicht auf die Ellenbogen, bewegt sich in mir. Ich wölbe mich ihm entgegen, und während ich versuche, noch nicht zu kommen, versinken unsere Körper in Ekstase.
Wie ich unter ihm liege, mit weit geöffneten Beinen, seinen Schwanz in mir, nein, nicht nur sein Schwanz, sein ganzes Wesen ist in mich gefahren und entlockt mir dieses unglaubliche Glücksgefühl, das meine Seele erschüttert.
»Isabella«, keucht er.
Isabella. Tausend Mal will ich diesen Namen hören. Meinen Namen aus seinem Mund, wieder und wieder. Ich lege meine Hände um seine Schultern, umklammere ihn und schiebe ihn tiefer in mich hinein. »Vom ersten Moment an hast du mir gefallen, Isabella.«
»Du mir auch, vom ersten Moment an wollte ich dich.«
»Wirklich?« Abrupt hält er inne und schaut mich an.
»Ja, wirklich«, stöhne ich und bewege meine Hüften, »hör nicht auf, mach weiter.«
Ich spüre seinen heißen Atem an meiner Wange, die ganze Erregung seines Körpers durchfließt mich.
»Isabella«, raunt er.
Seine Worte explodieren in meinem Kopf, mein Körper bäumt sich auf und ich rufe seinen Namen.
*
»Frühstück ist fertig!« höre ich Sönke von nebenan rufen und zucke zusammen.
Weshalb muss ich jedes Mal, wenn ich Bodylotion in meine Haut massiere, an Nils denken? Weshalb muss ich überhaupt immer an Nils denken, wenn ich nackt bin?
Vielleicht liegt es daran, dass ich auch die ganze restliche Zeit, wenn ich angezogen bin, an Nils denken muss. Immerzu.
Ich seufze, verteile die kühle Creme auf Armen und Schultern, klopfe sie sanft in mein Dekolleté ein. Genau hier hat Nils’ Kopf gelegen und seine Haare haben meinen Hals gekitzelt. Ich tupfe zwei Kleckse auf meine Brüste, knete sie sanft und schließe die Augen. Genau hier haben Nils’ Finger gestreichelt und diesen leichten Druck ausgeübt, der mich ganz schwindelig gemacht hat. Der Duft aus Vanille und Sandelholz steigt mir in die Nase und ich vergesse Raum und Zeit. Hier haben Nils’ Lippen geküsst, hier hat Nils’ Zunge geleckt.
»Isa, Früüüüh-stück!«
Die Tube glitscht mir aus der Hand und schlittert über die feuchten Fliesen.
»Isa, alles in Ordnung?«
Zeit, mir eine andere Bodylotion zuzulegen. Zeit, endlich nicht mehr an Nils zu denken. Zeit fürs wahre Leben.
4.
Ist Sönke jetzt mein Mitbewohner oder mein neuer Vermieter? Jedenfalls wohnen wir zusammen. Zumindest übergangsweise, bis ich was Eigenes gefunden habe.
»Ich war ja schon überrascht, als du mich gestern angerufen hast«, sagt er und stellt das Tablett auf den Boden. Frische Croissants, Erdbeermarmelade und zwei Tassen Kaffee, in denen Milchschaumberge schwimmen. Frühstück am Bett, Sönke weiß, was Single-Frauen brauchen.
Sönke ist auch Single. Er trägt eine Brille mit John-Lennon-Gestell und ein steingraues Hemd, das fabelhaft zur Farbe seiner Augen passt. Seine kurzen welligen Haare sind leicht strubbelig gegelt, dieser Out-of-Bed-Look, der nie aus der Mode kommt.
Nuray behauptet ja, Sönke sei schwul. Glaub ich aber nicht. Außerdem, woher will sie das wissen? Ich meine, wer mit neunundzwanzig noch Jungfrau ist, hat nicht gerade den Erfahrungshorizont für ein solches Statement, oder? Obwohl, wenn ich da so an den genoppten Duschvorhang in rosa denke … Und welcher Heterokerl besitzt bitte ein Harry-Potter-Badetuch?
Seit ich ihn zum Friseur geschleppt habe, sieht er jedenfalls annähernd wie ein Mann aus. Als wir uns am ersten Tag an der Uni begegneten, baggerte ihn gerade eine Hardcore-Lesbe an, die aussah wie ein russischer Kugelstoßer.
Sönke trug seine Locken kinnlang und, ehrlich gesagt, im ersten Moment war ich mir seiner Geschlechtszugehörigkeit auch nicht hundertprozentig sicher. Seine Handgelenke sind so schmal wie meine, seine Taille erst recht, und seine Schultern sind nicht der Rede wert. Sonst ist er wirklich ein klasse Typ, ein echter Kumpel, immer für einen da. Gestern zum Beispiel, da habe ich ihn morgens um acht angerufen, und zwanzig Minuten später stand er mit seinem Kombi vor der Tür.
»Was ist los?«, hat er gefragt und ziemlich verwirrt aus der Wäsche geguckt. Dabei hat er immer wieder sein Brillengestell berührt, das macht er, wenn er nervös ist. Dann sah er die Müllsäcke, die sich an der Backsteinwand stapelten.
»Du hast doch mal gesagt, falls es irgendwann nicht mehr geht, kann ich bei dir wohnen … Es geht nicht mehr.«
Er hat nicht weiter nachgefragt. Sönke weiß, dass ich nicht zu den Tanten gehöre, die ständig alles bequatschen müssen. Ich mache eben am liebsten alles mit mir selbst aus. Für ihn ist das wohl okay, jedenfalls haben wir schweigend die fünfunddreißig Säcke zu seinem Ford Granadageschleppt, sind an die Ostsee gebraust und haben stundenlang aufs Wasser geschaut. Die Uni haben wir sausen lassen. Es war definitiv das Beste, was man aus dem Tag machen konnte. So was kann Sönke.
Aber verknallen, verknallen könnte ich mich in ihn nicht. Ist ein bisschen verklemmt, der Junge, typisches Problem dieser behütet aufgewachsenen Mittelschicht-Kids. Einer von der Sorte, die einfach zu lieb sind, weil sie nie die volle Härte abgekriegt haben. Nicht, dass ich auf harte Kerle abfahren würde …
Aber egal, wie herum man es angeht, bei dem Thema falle ich sowieso total aus dem Rahmen. Ich werde zuverlässig bei denen schwach, bei denen irgendetwas nicht stimmt. Schon im Kindergarten habe ich immer das Stofftier gewählt, dem ein Arm, ein Bein oder zumindest ein Auge fehlte. Ich gable die Typen nicht gerade im Versehrtenlager auf, aber ich stehe zum Beispiel total auf Zahnlücken, weiß auch nicht, woher das kommt. Bei Willi waren es die abstehenden Ohren. Diese Dumbo-Löffel in Kombination mit seinem spießigen Namen – da wars um mich geschehen.
»Du hältst dich wirklich wacker. Ich glaub, ich hätte das nicht fertiggebracht.« Sönke hockt sich auf die Sofakante und legt die Hände in den Schoß, als wolle er gleich anfangen zu beten. Genau das meine ich – er sieht so furchtbar brav aus. Wie einer, der nie »Arschgeige« oder »endgeil« oder so sagen würde. Manchmal tut es echt gut, einfach mal die Sau rauszulassen, auch wenn ich sonst überhaupt nichts von Prolo-Sprache halte.
Eilig räume ich ein paar Schuhkartons aus dem Weg, die wohlgemerkt nicht alle mir gehören. Sönke zieht sich einen Sessel heran und setzt sich. In dem eng anliegenden Hemd sieht er noch schmaler aus als sonst. Und sehr nachdenklich, als läge ihm gestern ebenso schwer im Magen wie mir.
»Ich hatte doch mal erwähnt, dass es nicht so läuft«, beginne ich. »Nicht nur im Bett, meine ich. Gut, auch im Bett nicht, aber das Schlimmste war, das wir nicht mehr miteinander geredet haben.«
Sönke umfasst sein Brillengestell und sieht aus, als wüsste er genau, was ich meine.
»Ich hab wirklich alles versucht, aber immer wenn ich das Thema angesprochen habe, ist Willi abgehauen. Ist einfach aus dem Raum gegangen und hat mich da sitzen lassen mit all meinen Fragen. Und irgendwann wurden die Fragen zu blanker Verzweiflung.« Beim Reden merke ich, wie ich wütend werde. »Sex ist doch auch Kommunikation, nur nonverbal. Wenn man in einer Beziehung nicht mehr redet und auch keinen Sex mehr hat, dann ist die Beziehung doch tot.«
»Er ist einfach aus dem Zimmer gegangen?« Sönke kratzt sich am Kopf. »Vielleicht war es ihm peinlich, darüber zu reden, Isa. Ich meine, ist schließlich nicht gerade einfach, so komplizierte Themen anzusprechen.«
»Meinst du, mir ist das leicht gefallen? Ich wusste doch auch nicht, wie das geht oder was ich sagen soll. Schließlich war Willi mein erster Typ im Bett. Aber eines weiß ich haargenau: Schweigen und Ignorieren macht alles kaputt. Und genau so ist es gekommen, genau so, weil er nicht mal zugehört hat!« Ich merke, wie meine Stimme laut und trotzig wird.
»Wirklich mutig von dir, das durchzuziehen, nach so vielen Jahren.« Sönke nippt an seinem Kaffee, und ich starre in meinen Becher. Der Milchschaumberg hat die Form eines halben Herzens. Jetzt fange ich schon an wie Nuray und versuche, in meiner Kaffeetasse eine Figur oder ein Symbol zu deuten. Wird das womöglich zu meiner ganz speziellen Art, in die Zukunft zu schauen? Ich lese nicht im Kaffeesatz, ich dechiffriere Milchschaumberge.
»Alles okay?« Sönke legt die Hand auf meine Schulter.
Ich nicke. Der Milchschaum knistert und fällt schließlich in sich zusammen. Nicht gerade das positivste Omen für meine Zukunft.
»Fühlst du dich denn einigermaßen wohl hier? Ich weiß, ist schon ein bisschen eng und nicht gerade stylish, meine Bude.« Sönke schaut sich um, als schäme er sich. »Du bist anderes gewohnt, eure schöne, große Wohnung. Ich hab leider keinen Keller, in dem ich etwas lagern könnte, und als Oma ins Heim kam, hab ichs einfach nicht fertig gebracht, den Krempel zum Sperrmüll zu bringen.«
»Es ist perfekt, Sönke. Ich bin dir wahnsinnig dankbar, hier unterzukommen. Du weißt ja, bei Nuray wäre es nicht gegangen, ihre Geschwister sind die reinsten Plagen. Ich mache mich außerdem so bald wie möglich auf Wohnungssuche. Obwohl, an deinen Frühstücksservice könnte ich mich gewöhnen.«
Ich bestreiche mein Croissant mit Marmelade und beiße ab. Himmlisch!
»Weißt du, ihr Frauen seid die viel mutigeren Menschen. Wir Männer sind zum Schlussmachen ja meist zu feige. Wir fangen eher hintenrum was mit einer anderen an, wenn wir unzufrieden sind.«
Ich beiße noch mal vom Croissant ab, obwohl ich plötzlich gar keinen Appetit mehr habe. Muss schon wieder an Nils denken, und mein Magen bewegt sich unschön. Nils, mit seiner sexy Zahnlücke. Nils, der auf weiße Wäsche steht, in der man versaute Dinge macht.
»Na ja, so viel anders sind wir Frauen auch nicht.« Sönke weiß nichts von Nils, und das ist auch nicht nötig, denn Nils wird in meinem zukünftigen Leben keine Rolle mehr spielen, basta.
Wieder betastet Sönke sein Brillengestell, dann schaut er auf die Uhr. »Mensch, schon acht, wir müssen los, Isa! Der Controlling-Kurs.«
Also das ist bei mir heute auf keinen Fall drin. »Sönke, das lässt meine persönliche Energiebilanz echt nicht zu. Pass auf, ich mache hier klar Schiff, räume ein bisschen auf und so, und dann sehen wir uns heute Nachmittag beim Köhler, okay?«
Sönke zuckt mit den Schultern und zeigt mir, dass er das Schwänzen einer Vorlesung niemals mit seinem Pflichtbewusstsein vereinbaren könnte. »Aber sei pünktlich, du weißt, der Köhler kann es nicht ausstehen, wenn jemand zu spät kommt.«
»Ja, Mama.«
Nee, verknallen könnte ich mich in Sönke echt nicht.
5.
Der Köhler ist ein Vollidiot. Total dröger Typ, Marke Stock im Arsch. Einer, der BWL für wirklich wichtig hält. Weiß doch jeder, dass das nur Leute studieren, weil sie a) nicht besonders kreativ, b) nicht besonders mutig oder c) einfach geldgeil sind.
Ich gehöre am ehesten zu b. Habe mein Studium der Medien- und Kommunikationswissenschaften nach zwei Semestern geschmissen, panische Zukunftsangst. Mit den krummen Zähnen hätte ich es sowieso nicht ins Fernsehen geschafft. Na ja, und einen Taxischein hätte ich auch nie gepackt. Habe ja schon Schwierigkeiten, den Weg zur Uni zu finden, bloß weil ich jetzt aus einem anderen Stadtteil komme.
Gerade fahre ich an der Haspa vorbei, vor der mir zwei abgehalfterte Typen mit Bierflaschen zuprosten. Wahrscheinlich halten die mich für restlos verwirrt, weil sie mich schon zum dritten Mal sehen. Mein Orientierungssinn ist wirklich ziemlich rudimentär. Hinter mir hupt einer wie bekloppt. Verdammt, muss ich hier oder die nächste links abbiegen?
Ich versuche, mich nicht stressen zu lassen und lieber den Hauch von Frühling, der durch die Gassen weht, bewusst aufzunehmen. Die Stadt hat ihr hübschestes Kleid an. An den Straßenrändern schmiegen sich blühende Büsche ineinander, sie sehen aus, als trügen sie rosa und weiße Spitzen-Tutus. Hamburg ist die grünste und schönste Stadt der Welt.
Das Problem ist: Hamburg ist für mich Willi. Seinetwegen bin ich hierhergekommen. Sicher, es war die beste Entscheidung meines Lebens, und bestimmt wäre ich früher oder später sowieso weggegangen. Nur, ich habe die Stadt mit ihm gemeinsam erobert. Mich mit ihm an meiner Seite in die Elbe verknallt, seine Hand gehalten, als wir über die zugefrorene Alster schlidderten, seine Lippen geküsst beim Kirschblütenfeuerwerk, als es wie aus Eimern schüttete. Immer wenn es regnet, muss ich an ihn denken. Und leider regnet es in Hamburg ziemlich oft. Ich wische mir die Tränen aus den Augen und versuche, mich auf den Verkehr zu konzentrieren. Überall sehe ich Willi.
Am Ernst-Deutsch-Theater, in dem wir uns jedes Jahr zusammen das Weihnachtsmärchen angeschaut haben; vor dem Atlantik-Hotel, wo wir gemeinsam Tee tranken, als uns das Schmuddelwetter den Spaziergang verhagelte; am Dammtorbahnhof, wo ich ihn häufig abgesetzt habe, weil er den Plattenladen um die Ecke so cool fand. Willi hat immer gesagt, vor mir sei er ein Super-Macho gewesen, der immer zwei, drei Sachen parallel laufen hatte. Er hat nie bloß eine geliebt, die alle dafür aber nicht so richtig. Bis Sardinien. Was soll er denn jetzt bloß machen, ohne mich?
Und ich? Wohin mit mir, nachdem Willi zu meiner Heimat geworden ist?
Es ist schon zehn nach zehn, als ich völlig verheult die Rothenbaumchaussee erreiche. Das schaffe ich nie bis Viertel nach, mit Parkplatzsuche und allem. Der Köhler wird es richtig auskosten, wenn ich zu spät komme.
Um Viertel nach kurve ich immer noch zwischen Elyssée-Hotel und Abaton-Kino herum – keine Chance. Warum tue ich mir das immer an, mit dem Auto hierherzukommen? Wohl weil Hugh für mich ein winziges, aber wichtiges Stück Freiheit bedeutet. Das mag albern klingen und ist heutzutage ganz bestimmt politisch unkorrekt – aber ohne Auto fühle ich mich irgendwie nackt. Kommt wohl daher, dass man in dem Kaff, wo ich herkomme, ohne fahrbaren Untersatz total aufgeschmissen war. Ich hatte meine gesamte Jugend über nur eines zum Ziel: endlich achtzehn werden, endlich Führerschein machen, endlich Abfahrt. Raus ins wahre Leben. So was verstehen nur Leute, die das selbst erlebt haben. Die in der Falle saßen, weil der einzige Bus am Tag wegen Glatteis ausfiel.
Ach ja, Hugh, so heißt mein Mini. Natürlich ein originaler von 1960, nicht so ein auf schick getrimmter Abklatsch. Ist im selben Jahr geboren wie mein zweiter Lieblingsbrite: Hugh Grant. Stehe eben irgendwie auf die älteren Semester, die haben einfach viel mehr Klasse. Endlich, eine Mini-Lücke. Ich bin nicht wählerisch und quetsche Hugh hinein.
Das Kopfsteinpflaster unter meinen Pfennigabsätzen ist so tückisch wie Köhlers Klausuraufgaben. Hangle mich von Steinmitte zu Steinmitte, hoffe, nicht in einer Ritze hängen zu bleiben. Sofort bereue ich meine Entscheidung für die High Heels. Habe es, ehrlich gesagt, wegen der Haltung gemacht. In Absatzschuhen muss man kerzengerade gehen, egal ob man sich wie ein geprügelter Hund fühlt. Fühle mich nämlich wie einer. Ja, mir ist hundeelend. Die Hochphase, die mich vor dem Duschen erfasste, ist wie weggewischt.
Unsicheren Schrittes stöckle ich am Balzac-Café und am Kino vorbei. Hier wimmelt es nur so vor lebenslustigen und geschäftigen jungen Menschen. Alle machen einen auf »Don’t worry, be happy« – zum Kotzen ist das. Habe das Gefühl, alle schauen mich an. »Seht mal, das ist die, die ihren Freund abserviert hat. Gestern. Hat ihm morgens noch einen Abschiedskuss gegeben, dann ihren Kram in Müllsäcke gestopft und ihm einen Zettel auf den Tisch gelegt. Nach zehn Jahren. Ist das nicht total feige und hinterfotzig?«
»Ja, ist es«, flüstere ich, »aber es ging nicht anders.«
Meine Absätze hämmern ein Stakkato auf den Gehweg, und ich beginne zu laufen.
Das Unigebäude ist wie immer über allem erhaben. Stolz und würdevoll thront es über den Belanglosigkeiten, die sich vor seinen Toren abspielen: Schulkinder, die sich gegenseitig schubsen; Radfahrer, die Autofahrer anpöbeln; ein Hund, der an einen Baum pinkelt.
»Damit habe ich nichts zu tun«, scheint es durch die große Kuppel zu hallen. Und tatsächlich, als ich die mächtige Holztür öffne, tauche ich in eine andere Welt ein. Und was für eine Welt: das Uni-Universum. Ich atme die Luft, die nach Papier und Kreide und nach hundert Jahren Pauken riecht.
Seit ich in Hamburg lebe, will ich hier studieren. Willi fand das nicht gut. »Wozu? Du hast doch deinen Abschluss als Versicherungskauffrau.« Er meinte, ich hätte mich seit Beginn des Studiums zurückentwickelt. Bloß, weil ich plötzlich abends wieder ausgehen und etwas erleben wollte.
Ich öffne so leise wie möglich die Tür zum Hörsaal, der Köhler hat natürlich längst angefangen. Alle schreiben mit, als könnten sie dadurch ihre Chancen auf einen Posten in irgendeiner Chefetage verbessern. Hoffentlich kann ich mich unbemerkt hineinschleichen.
Auf Zehenspitzen tipple ich an der Wand entlang. Bin schon fast am Köhler vorbei und will gerade aufatmen, da sagt er plötzlich: »Ah, ein Nachzügler.« Alle Augenpaare ruhen auf mir. »Wir behandeln gerade eine moralische Frage, bevor wir uns der Kostenrechnung widmen«, sagt er. »Im Übrigen ist Pünktlichkeit auch eine Frage der Moral. Und des Anstands. Wir diskutieren das Thema der Abfindungen von Spitzenmanagern.«
»Na, da können Sie ja lange diskutieren«, sage ich.
Der Köhler schaut mich mit staubtrockener Miene an. Totenstille im Saal, alle warten darauf, dass ich noch etwas sage. Ich merke, wie ich rot anlaufe. Mist, warum passiert mir das immer noch?
»Möchten Sie etwas zur Diskussion beitragen, oder möchten Sie nur die Lehrveranstaltung torpedieren und sich ein paar Minuspunkte bei mir einhandeln?«
»Nun, da gibt es nichts zu diskutieren«, sage ich und fixiere einen Punkt zwischen seinen Augenbrauen, als würde ich ein Ziel ins Visier rücken. »Es handelt sich hierbei um ein Oxymoron, Herr Köhler. Moral und Spitzenmanager in einem Atemzug, das ist ein Widerspruch in sich.«
Ich höre einige leise pfeifen und stöckle zu dem Platz, der zwischen Sönke und Nuray noch frei ist. Nuray hält den Daumen hoch und zwinkert mir zu. Sönke umklammert ängstlich den Rahmen seiner Brille.
»Darf ich fragen, weshalb Sie sich dann entschieden haben, Betriebswirtschaft zu studieren, wenn Sie diese Zunft für so unmoralisch halten?«
Ich bleibe stehen. »Schätze, ich war einfach zu faul, um gegen den Strom zu schwimmen. Nennt man das nicht ›ökonomisches Prinzip‹, minimaler Aufwand, einfach der trägen Masse hinterher?«
Einige lachen hinter vorgehaltener Hand.
»Nun, wir werden im Examen sehen, wie gut Ihre Rechnung aufgeht.« Köhlers Stimme klingt brüchig, in seinen langen dünnen Spinnenfingern hält er ein Stückchen Kreide, mit dem er auf mich zeigt. »Sie wissen, dass ich bei der Hälfte dieser trägen Masse, wie Sie sich ausdrücken, in der Prüfungskommission sitze.«
»Na, dann ist es doch von Vorteil, wenn Sie mich jetzt schon mal persönlich kennenlernen.« Ich mache auf dem Absatz kehrt und gehe auf ihn zu. Ich kenne mich selbst nicht mehr. Was tue ich da?
Sein fragender Blick durchbohrt mich, doch ich fixiere nur den Punkt auf seiner Stirn. »Isabella Mallee«, sage ich laut und reiche ihm die Hand. Meine Stimme zittert zwar ein bisschen, aber das merkt keiner. »Sehr angenehm, dass Sie jetzt nicht nur meine Matrikelnummer kennen, Herr Köhler.«
6.
Der Frühling hat es noch nicht geschafft, er kämpft wie jedes Jahr erbittert gegen seinen Feind, der nicht loslassen will. Es ist Mai, doch die Temperaturen sind im Laufe des Tages um mindestens zehn Grad abgestürzt, der Sonnenschein von heute Morgen hat sich in hässlichen Nieselregen verwandelt, das leichte Lüftchen in einen bösartigen Wind.
Wild und stürmisch wühlt er in meinem Haar, das auch bei optimalen Witterungsbedingungen auf der Aufwandsseite meiner persönlichen Kapitalbilanz steht – so rein betriebswirtschaftlich gesprochen. Die Gehwegplatten unter meinen Füßen sind nass und rutschig, bloß nicht ausglitschen.
Wo zum Teufel ist Hugh? Nasse Tropfen laufen mir über Gesicht und Nacken, ich fluche auf meinen verdammten Optimismus, der heute Morgen verhinderte, einen Regenschirm einzupacken.
Es ist nach sechs Uhr, die letzte Vorlesung ist vorbei, und in einer halben Stunde muss ich bei Enzo sein – Kisten auspacken.
Hier muss er doch irgendwo stehen. Oder habe ich doch in der nächsten Straße geparkt? Oder in der übernächsten?
Ich schlage meinen Kragen hoch und umklammere ihn, damit der eisige Wind nicht unter meinen Mantel kriecht. Wütend faucht er mich an und bläst mir seinen kalten Atem ins Gesicht. Ich hetze dreimal die Straße auf und ab, bevor ich in der nächsten mein Glück versuche. Dass ich aber auch immer so planlos bin, das passiert mir schließlich nicht zum ersten Mal!
Roter Fiat Punto, schwarzer Golf, gelber Beetle, kein Hugh. Was soll ich denn jetzt machen? Langsam steigt Verzweiflung in mir auf. Und Wut auf mich selbst. Dass ich immer so blöd … da! Ein flaschengrünes Heck linst hinter den Mülltonnen hervor.
Ich wühle den Schlüssel aus meiner Tasche. Ausgerechnet jetzt klemmt die Tür. War ja klar, so was passiert nur bei Unwetter. Ich versuche es wieder und wieder, reiße mit beiden Händen am Griff, widerlich kalt läuft mir das Wasser den Rücken hinunter.
Wie kommt denn der Wunderbaum an den Spiegel? Ich wölbe die Hände über meinen Augen und drücke mein Gesicht an die Scheibe, traue meinen Augen kaum. In meinem Auto, wie kann das sein? Ich hasse Wunderbäume! Dieser künstliche Duft und dann das ewige Gebaumel im Augenwinkel, das einen ganz nervös macht. Und das in einem Mini! Das ist doch ein Verbrechen am guten Stil. Ist das da etwa ein Plüschtier in der Hutablage? Was soll das? Ich schiebe mich an den Mülltonnen vorbei, um durch die Rückscheibe zu schauen. Tatsächlich, so ein komischer Wackeldackel. Hockt da und grinst mich blöde an. Ja, wenn ich jetzt da drinnen wär und nicht klitschnass und wie bescheuert hier draußen rumstaksen müsste, weil ich nicht in mein Auto … Scheiße! Das ist gar nicht Hugh. Der da hat ein Stader Kennzeichen.
Gerade donnert es über mir, und wie vom Blitz getroffen weiche ich zurück. Bin ich denn total bescheuert? An fremden Autos rumzufummeln und gar nichts mehr zu schnallen? Mann, muss ich fertig sein!
Eine Stunde später bin ich tatsächlich völlig fertig. Ich sitze im Abaton-Café, der Laden ist brechend voll, die halbe Stadt scheint sich hier vor dem Wetter zu verkriechen. Meine Haare und mein Mantel triefen vor Nässe. Verzweifelt rühre ich in meinem Milchkaffee, fühle mich elend und unbedeutend. Zum Glück ist wenigstens Nuray da.
»Also«, sagt sie, »auch wenn die Gesamtsituation gerade suboptimal ist, kein Grund durchzuhängen.« Sie rollt mit den Augen, auf denen heute dunkler Lidschatten liegt, der ziemlich verrucht wirkt. Erinnert mich an Salma Hayek in From Dusk till Dawn. »Werden uns doch durch so ein paar kleine Zwischenfälle nicht den Tag verderben lassen, tsü. Und hör endlich auf, dir für alles die Schuld zu geben. Du benimmst dich wie damals, als wir uns kennenlernten, dabei war das auch damals schon nicht deine Schuld.«
Stimmt, ich erinnere mich, an jenem Tag fühlte ich mich auch wegen eines Mannes schäbig. Dachte, es läge irgendwie alles an mir. Hat es an dem Tag nicht auch geregnet?
»Du hast deinen Alten verlassen, Hugh wurde abgeschleppt, dein Macker – Verzeihung Exmacker – hat dein Handy sperren lassen – Scheiß-Partnerkarte –, und du kommst zu spät zur Arbeit.« Sie nippt an ihrer Espressotasse und spreizt dabei den kleinen Finger ab, eine dieser gekünstelten Gesten, die bei anderen mega-arrogant, aber bei ihr einfach nur niedlich wirken. Nuray ist nämlich gar nicht eingebildet, auch wenn das viele von ihr denken.
Ich habe Nuray am selben Tag kennen- und lieben gelernt wie Sönke, am ersten Unitag, damals hat es auch geregnet.
Ein Segen, dass sie noch im Abaton saß, als sich die Gemeinheiten dieses Tages bemerkbar machten wie fiese Kopfschmerzen. Sie hat gleich die Initiative ergriffen, bei der Polizei angerufen, um Hugh gestohlen zu melden und Kontakt zur Telefongesellschaft aufgenommen. Und so hat sich ein Puzzlesteinchen ins andere gefügt und ergibt jetzt ein einigermaßen hässliches Bild: Ich habe Hugh nicht in Reichweite, kein funktionierendes Handy, keine eigene Wohnung und keinen Freund; meine Klamotten lagern in Müllsäcken und mein Chef wird mich gleich feuern, weil ich zu spät komme.
»Also, das ist alles kein Grund zum Heulen«, sagt Nuray, »ich kenne Gegenden, da haben Frauen gar kein Auto. Und kein Handy. Und schon gar keinen Job. Sie haben einen Ehemann. Einen, den sie sich nicht mal selbst aussuchen durften, tsü. Das ist alles, was sie haben.«
Sie macht einen angeekelten Gesichtsausdruck, der keinen Zweifel daran lässt, wie sie dazu steht, und schiebt die Tasse von sich weg. »Hör zu, ich rufe jetzt bei Enzo an und sage ihm, du kannst heute nicht mehr kommen. Ich werde dich vertreten.«
Nuray ist eine echte Freundin. Im Übrigen auch meine einzige – von Ana, meiner kleinen Schwester, mal abgesehen. Seit Neuestem arbeiten wir sogar zusammen, sie hat mir den Job bei Enzo vermittelt. Sie ist der großzügigste und temperamentvollste Mensch, den ich kenne. Hat Feuer im Hintern. Ich möchte definitiv keinen Streit mit ihr anzetteln, da ziehe ich garantiert den Kürzeren.
»Sag mal, ist das da hinten nicht Ben?«, sagt sie.
Ich drehe mich um. Tatsächlich – mitten in einem Trio aufgetakelter Elbletten leuchtet ein strohblonder Schopf, der den Tussis nur bis zur Nasenspitze reicht. Das muss Ben sein. Es gibt nicht viele Männer, die weit unter der Eins-siebzig-Marke liegen und trotzdem immer der Hahn im Korb sind. Muss wohl an seinem Lausbuben-Charme liegen.
»Ganz schön süß, was?« Nurays Augen funkeln wie schwarze Quarzsteine.
»Hm«, sage ich so unbeteiligt wie möglich, »ganz nett.«
»Zu jung für dich, wie?«, sie grinst unverschämt. »Solltest dir endlich mal was in deiner Altersklasse zulegen, Isa.«
»Stehe ja eigentlich nicht so auf blond«, sage ich und schlürfe etwas zu lässig Milchschaum.
»Tsü, Haarfarben sollten für dich wirklich keine Rolle spielen! Reicht doch, wenn sich mein Beuteschema auf dunkel beschränkt. Beschränken muss! Mein Vater würde ausflippen, käme ich mit einem wie Ben um die Ecke. Ist dir sein Knackarsch aufgefallen?«
Sie dreht sich noch mal zu Ben um, und plötzlich verfinstert sich ihre Miene. »Ach«, sagt sie und winkt ab, »was weiß ich schon.« Dabei fällt ihre stolze Körperhaltung in sich zusammen, ihre Stimme senkt sich und wird leise. Sie guckt so traurig, dass es mir den Hals zuschnürt.
Ben schaut jetzt zu uns herüber. Schon zieht der Nuray-Himmel wieder auf, da ist er wieder, dieser Glanz, der sie umgibt, diese Aura. Sie fuchtelt mit den Armen, »Hey Ben, hey!«, und winkt ihn heran.
Schon sind wir zu dritt.
»Isa hat gestern mit Wilbert Schluss gemacht«, sagt sie zur Begrüßung. Nuray hat das mit Willi nie verstanden. Seit wir uns kennen, war es für sie nur die Frage, wann und nicht ob ich ihn verlassen würde.
Über Bens Gesicht huscht ein Lächeln. »Ach«, grinst er mich an, »Isabella ist endlich Single, wurde ja auch Zeit. Na herzlichen Glückwunsch! Darauf gebe ich einen aus!«
Er schaut mir direkt in die Augen, und ich spüre, wie sich Hitze auf meinen Wangen ausbreitet. Mann, seine Augen glitzern so blau wie ein Davidoff-Cool-Water-Flakon in der Sonne. Das ist zurzeit mein Lieblingsduft.
»Schön, mach das, Schätzchen!«, ruft Nuray durch den ganzen Laden – sie gehört nicht gerade zu den leisen Typen. »Wenn das kein Grund zum Feiern ist! Aber bitte nicht für mich, tsü! Ich muss zu Enzo.« Sie haucht mir drei Küsschen auf die Wangen und schlüpft in ihre Lederjacke.
»Und du, Ben, passt schön auf Isa auf, kümmer dich ein bisschen um sie, ja?« Jetzt zwinkert sie mir auch noch verschwörerisch zu. Wenn die wüsste.
Auch Ben bekommt drei Küsschen, links, rechts, links. »Und nachher fährst du sie nach Hause, ja? Hugh wurde nämlich, tsü …« »Das kann ich auch selbst erzählen«, sage ich. »Ciao, Muz!«
Dann rauscht sie ab.
7.
Ein breiter Lichtstreifen fällt schräg durch das Fenster, vor dem ein Kastaniengerippe auf sein grünes Frühlingskleid wartet. Das Bündel aus Sonnenstrahlen legt sich auf den Hocker, auf dem ein junger strohblonder Typ sitzt und mich lausbübisch anlächelt. Sein Blondschopf ist zerwühlt wie das Kissen neben mir, und er hat nur Boxershorts an. Seine Wadenmuskeln treten hervor, wenn er mit den Füßen auf und ab wippt, so wie jetzt. Ich bemühe mich, nicht auf das höherliegende Areal zu starren, das gerade ganz exklusiv ins Sonnenlicht getaucht wird. Irgendetwas kitzelt meine Nase. Ich muss niesen.
»Gesundheit! Na, endlich ausgeschlafen?« Die Stimme klingt viel zu fröhlich für meinen demolierten Zustand. Ich sehe ein Zimmer, das mir nicht bekannt vorkommt. Ich niese noch einmal und stütze mich auf die Ellenbogen. Autsch, mein Schädel dröhnt.
»Wilde Nacht gewesen, was?«
»Hm? Kann mich nicht erinnern«, versuche ich, ganz cool zu tun.
»Och, schade!« Ben zieht die Schultern hoch, als wäre er der ärmste Schlucker der Welt. »Wirklich echt schade!« Dann lässt er sie wieder fallen und beugt sich vor. »Glaube ich dir aber nicht, Süße.« Seine Stimme hat diesen tiefen, rauchigen Unterton, der gar nicht zu seinem jungenhaften Gesicht passt. »Oder soll ich deinem Gedächtnis etwas auf die Sprünge helfen?« Er tippt an seinen Hals.
Himmel, was ist das denn? Das sieht ja schlimm aus, handtellergroße Knutschflecke – ekelhaft! Und so viele!
»Wusste ichs doch, dass hinter diesen Augen eine Raubkatze steckt«, sagt er und faucht wie ein Tiger. »Dabei siehst du so zahm aus, wenn du schläfst. Hast dich ganz eng an mich geschmust, heute Nacht. Am liebsten würde ich gleich wieder zu dir unter die Decke kriechen.«
Ben steht auf und setzt sich an die Bettkante.
»Untersteh dich!« Ich stecke den Kopf unter die Decke, damit er nicht sieht, wie feuerrot ich werde.
»Ich mix dir erst mal Bens berühmten Vitamin-C-Anti-Kopfweh-Drink, okay?«
Ich höre, wie er in die Küche tapst.
Ben, ich habe es mit Ben getrieben! Halb vor Glück, halb vor Schreck schließe ich für eine Millisekunde die Augen. Etwas in meinem Unterleib zieht sich zusammen, mein Herz macht einen Sprung und mein Hirn ist wie in Watte gepackt. Unwillkürlich steigt die Lust der letzten Nacht in mir hoch, doch gleichzeitig kann ich nicht fassen, dass das wirklich passiert ist. Dass ich das getan habe. Wie können Euphorie und blankes Entsetzen so nah beieinander liegen? Ich lupfe die Decke ein wenig und linse vorsichtig durch den Spalt. Was ich sehe, gefällt mir gar nicht, doch gleichzeitig kann ich mir ein Grinsen nicht verkneifen. Leere Weinflaschen torkeln in den Ecken herum. Der Gummibaum hat Schlagseite, als wäre er beschwipst. Auf der Fensterbank quillt ein Aschenbecher über. Mein trockener Hals sagt mir, mindestens die Hälfte der Kippen habe ich geraucht. Dabei hab ich doch seit Sardinien aufgehört. Was solls.
Verstreute Klamotten überall im Appartement. Auf dem Boden liegen meine Jeans, sie sind von innen nach außen gedreht. Zwischen den Beinen ein zerknautschter Slip. Na, wenigstens handelt es sich nicht um ein Modell meiner Frottee-Kollektion. Jedes Jahr zu Weihnachten erweitert Mutti diese um mindestens drei weitere Exemplare in wunderschönen Regenbogenfarben. »Damit du dich nicht verkühlst«, sagt sie immer. Stichwort: Blasenentzündung. Oder noch schlimmer: Nierenbecken-Sonstwas. Hatte ich noch nie, muss aber der Super-GAU schlechthin sein.
Zögerlich wandern meine Augen weiter und bleiben in der Ecke mit dem Schreibtisch kleben. Neben der antiken Leselampe liegt Bens Airbook. Und auf dem Drehsessel mein durchsichtiges Spitzentop. Das einzige Teil in meinem Besitz, das der Kategorie Reizwäsche zugeordnet werden kann.
Bei Unterwäsche bin ich eher der pragmatische Typ. Ich bestelle meine Büstenhalter immer im Versandhaus im Dreierpack. Kostet mich neunzehn Euro neunzig pro Jahr, das ist billiger als Schwarzfahren. In den letzten Jahren hats eh niemanden interessiert, was ich untenrum trug – na ja, fast niemanden. Nils jedenfalls mochte meine weiße Wäsche. Die Betonung liegt auf der Vergangenheitsform.
Moment mal – was macht mein einziges Teil der Kategorie Reizwäsche hier? Betonung auf Präsenz, denn es ist hier, hier in diesem Raum.
»Na, erinnerst du dich wieder?«
Ben, der meinen Blick aufgefangen hat. Er schwingt seine Hüften und kreist mit dem Arm über seinem Kopf, wie ein berauschtes Groupie, das gerade Justin Bieber den BH auf die Bühne schleudert.
Soll ich das sein, oder was?
Er drückt mir das sprudelnde Glas in die Hand und gibt mir einen Kuss. Mann, sieht der gut aus ohne Klamotten!
Wortlos nehme ich den Drink und flüchte ins Bad. Natürlich nicht, ohne mir vorher wie die alberne Gans aus Schokolade zum Frühstück das Bettlaken um den Körper zu wickeln. Zehn Jahre Beziehung machen ganz schön prüde.
Höre nur noch: »Auch schön – aber ohne gefällst du mir viel besser!«
»Idiot«, murmle ich und ziehe die Tür hinter mir zu. Endlich allein.
Nicht, dass es nicht gut gewesen wäre. Im Gegenteil. Es war unglaublich. Ich kann mich auch ganz genau an alles erinnern – hab ich wirklich …?
Im Abaton-Café gab es ein Glas Wein. Ben beglückwünschte mich zu meiner neu erlangten Freiheit und wir kamen ins Reden. Dann gab es noch mehr Wein.
»Weshalb nennst du Nuray eigentlich Muz?«, fragte er.
Das Problem ist, bei Alkohol werde ich immer so sabbelig. »Es war an unserem ersten Unitag«, begann ich, »Sie kam gerade mit ihrem Louis-Vuitton-Schirm, einem Billigimitat aus Istanbul, das sie sich von ihrer Schwester geliehen hatte, um die Ecke, als mich der Typ mit dem schwarzen Ledermantel nach dem Weg zur Bibliothek fragte.«
»Ein Typ mit schwarzem Ledermantel?«, sagte Ben und zwinkerte mir zu. »Erzähl weiter.«
»Ich hab gleich erkannt, dass sie schwer in Ordnung ist, denn sie trug die gleichen Stiefel wie ich. Egal. Ich musterte sie jedenfalls ganz genau, denn obwohl sie ja nicht gerade groß ist, um genau zu sein, ganze zehn Zentimeter kleiner als ich, hat sie, ach du weißt schon, so eine spezielle Aura, die sie, na ja, irgendwie riesig erscheinen lässt.«
»Und der Typ im schwarzen Ledermantel?«
»Ach so, ja der. Den hat es wohl ziemlich gestört, dass ich ihn nicht weiter beachtet habe, denn plötzlich sagte er: ›Ich zeig dir was, da wirst du noch größere Augen machen!‹ Und dann hat er den Mantel aufgerissen.«
Ben: »Er hat den Mantel aufgerissen?«
Ich: »Hm … und darunter …« Ich machte eine Atempause.
Ben: »… trug er nichts?«