Tea-Time im kleinen Cottage in Schottland - Juli Sand - E-Book

Tea-Time im kleinen Cottage in Schottland E-Book

Juli Sand

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Beschreibung

Gefühlvolle Romance im wunderschönen Schottland. Für alle, die in den Feelgood-Modus eintauchen möchten. Ein Wohlfühlroman für die Leser:innen von Jenny Colgan und Katharina Herzog 

»Der Sturm legte sich nicht. Im Gegenteil. Wilde unvorhersehbare Böen brandeten auf und ließen die Scharniere der Tore klappern. Der Regen bestand aus langen Bindfäden, die ununterbrochen vom Himmel fielen. ... ›Möchtest du noch ein Weilchen Castle-Luft atmen und vor Kälte zittern oder ist dir ein Feuer im Kamin in einem gemütlichen Cottage lieber?‹« 

Die Engländerin Catherine Woods arbeitet in Brighton als Anwältin. Sie ist spezialisiert auf Klienten, die in der Öffentlichkeit stehen. Kurz vor ihrem fünfunddreißigsten Geburtstag nimmt sie sich eine Auszeit. Voller Vorfreude reist sie ins Bright Blossom Cottage zu Ann und Luc. Im Cottage möchte Catherine zu sich kommen und sich beruflich neu ausrichten. Ausgerechnet in diese Ruhe platzt Noah Jones, Stuntman, Social-Media-Star und Draufgänger. Er wird öffentlich beschuldigt, für das Verschwinden seiner Freundin verantwortlich zu sein, beteuert erfolglos seine Unschuld und bittet Catherine, ihn zu vertreten. Als Catherine den Fall ablehnt, ist ihm jedes Mittel recht, sie umzustimmen. Seine zum Teil unverfrorene und gleichzeitig charmante Art verblüfft Catherine jedes Mal aufs Neue. Bald kämpft sie nun nicht nur mit Paragrafen und der Presse sondern auch mit Noahs teuflisch verführerischer Ausstrahlung ... 

»Juli Sand entführt uns mit ihrer Wohlfühlreihe »Bright Blossom Cottage« ins wunderschöne Schottland und lässt unsere Herzen mit jedem Band höher schlagen.« Bestsellerautorin Carina Schnell 

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© Piper Verlag GmbH, München 2023

Redaktion: Michaela Retetzki

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Alexa Kim »A&K Buchcover«

Covermotiv: depositphotos.com (donfink; tab62); shutterstock.com (Nick Fox)

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Gedicht

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Danke

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für alle, die den Mut haben zu lieben.

»An diesem Abend im Juni

hängt ein stilles Begehren

zwischen uns.

Ich halte zaghaft deine Hand

im magischen Licht

des schwindenden Tages.«

(Noah Jones)

1

Bright Blossom Cottage bei Dirleton

Schwungvoll warf Catherine die Kofferraumklappe des Taxis zu. Endlich war sie da. Schon die ersten Atemzüge der frischen schottischen Luft belebten ihre Sinne. Das Taxi fuhr davon und ein paar Matschspitzer stoben aus der Pfütze zu ihren Füßen. Sie spürte die Vorfreude in sich, als sie auf ihre Wanderschuhe hinabsah. Bis eben hatten sie noch so neu und unbenutzt ausgesehen, der frische Schmutz verlieh ihnen das Flair, das ihr daran gefehlt hatte: eine Ahnung von Abenteuer und Freiheit.

Catherine ging ein paar Schritte und stellte sich in die Mitte der großen Pfütze, in der das Wasser stand. Sie sog die salzige Luft tief ein, betrachtete die Farben der Natur: die sattgrünen Bäume und den graublauen Himmel. Wann hatte sie sich das letzte Mal so frei gefühlt? Frei wie ein Vogel. Es fiel ihr nicht ein.

Sie sah sich um, rechts und links von ihr standen urige alte Eichen und ein paar Ebereschen, deren Stämme mit Moos bewachsen waren.

Am Boden rankten sich Farne, zwischen denen Wildblumen blühten. Catherine sah zum Himmel hinauf. Eine Windböe trieb wattebauschige Wolken vor sich her, und Catherine ging das Herz auf.

Über ihr flatterte ein Vogelpärchen umher, als wollte es sie begrüßen. Die beiden Vögel waren eher klein und zierlich, trugen ein grau-braunes Federkleid mit einem kastanienbraunen Bauch. An Brust, Kehle und an den Augen leuchteten die Federn weiß, was einen hübschen Kontrast gab. Zudem waren sie am Oberkopf dunkel gefiedert, es sah aus, als würden sie eine schwarze Kappe tragen.

Catherine betrachtete die beiden eine Weile. Sie flatterten gegenseitig um sich herum, als führten sie einen werbenden Tanz auf, und sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug, so als würde es ebenfalls gleich anfangen zu tanzen.

Oh, sie war so glücklich, hier zu sein!

Sie führte es sich noch einmal bewusst vor Augen: Sie war hier an diesem traumhaften Ort, ganz in der Nähe von Dirleton, vor dem Bright Blossom Cottage angekommen. Acht entspannte Wochen lagen hier vor ihr, vielversprechend und frei wie die unbestellten Felder, die hinter dem weiß angestrichenen Weidezaun begannen. Sie allein würde entscheiden, wie sie ihre Zeit hier nutzen und sich einteilen würde. Es fühlte sich einfach himmlisch an. Diese acht Wochen waren viel mehr als eine Reise, und es hatte sie viel Mut, Kraft und Überzeugungsarbeit gekostet, diese Auszeit für sich zu erkämpfen.

»Eine Auszeit, Cat?«, hatte Hugh erstaunt, ja beinahe bestürzt gefragt. Als ihr geschätzter Kollege und vertrauter Freund war er der Erste gewesen, den sie in ihre Pläne eingeweiht hatte. Wenn sie unter sich waren, nannte er sie Cat.

»Du? Du hast doch nicht etwa Burn-out?« Er hatte sie mit seinen kastanienbraunen Augen angesehen, als hätte sie ihm gerade mitgeteilt, sich für ein Fastenjahr in einen indischen Ashram ohne WLAN zurückzuziehen.

»Es sind nur acht Wochen«, hatte Catherine ihn zu beruhigen versucht.

»Acht Wochen? Herrje, das ist in unserer Branche ein Jahrhundert!«

Hugh liebte Übertreibungen.

»Wenn ich es nicht mache, bekomme ich eventuell irgendwann einen Burn-out«, hatte Catherine ihm entgegnet. »Dieses Krankheitsbild entsteht nämlich nicht nur durch zu viel Stress, sondern auch dann, wenn man den Sinn dessen, was man tut … nun ja, infrage stellt.«

In Hughs Gesicht entstand ein Krater zwischen den Augenbrauen, der die Form eines gezackten Blitzes annahm. Er trat einen Schritt auf sie zu, und sie konnte sich noch ganz genau daran erinnern, dass ihr in dem Moment mit Schreck einfiel, dass sie keinen Plan B hatte. Weil ihr genau in diesem Moment die Parallele zur Klimakrise durch den Kopf schoss. Die Menschheit hatte keinen Planeten B, und trotzdem steuerte sie mit voller Kraft voraus in die Krise.

Catherine hatte die maßlose Übertreibung ihrer Parallele bereits entdeckt, als sie ihr durch den Kopf ging. Offenbar teilte sie Hughs Vorliebe.

Wie das Ganze ohne Hugh funktionieren würde, wusste sie nicht. Sie hatte die Kanzlei gegründet, und nun war sie diejenige, die ging. Genau deshalb nagte das schlechte Gewissen ganz besonders an ihr.

Und weil es ohne ihn nicht funktionieren würde, so einfach war das.

»Du stellst dir eine der wichtigsten Fragen überhaupt: Die Frage nach dem Sinn deines Handelns. Schätzchen, das sind doch wohl nicht etwa die Ausläufer einer Midlife-Crisis?« Hugh hatte sie durchdringend angesehen. »Also ich finde das ein bisschen früh, du bist doch gerade mal Anfang dreißig.«

»Gerade noch, die fünfunddreißig ist zum Greifen nah«, hatte sie entgegnet.

»Das halte ich für ein übles Gerücht. Es klingt geradezu nach Rufmord.« Plötzlich hatte sie Hugh herzerfrischend liebevoll angegrinst.

Trotz der Anspannung, die sie verspürte, musste sie einfach loslachen. Sie wusste nicht, wie Hugh letztendlich reagieren würde, doch Catherine konnte nicht anders.

»Oh, danke, Hugh, aber deine Schmeicheleien sind nicht besonders glaubwürdig. In Anbetracht meiner Augenringe ist das mehr als geschmeichelt, es ist geheuchelt.«

Er selbst war acht Jahre älter als sie, die beiden hatten sich während ihres Jurastudiums kennengelernt. Damals war Hugh ihr Tutor in einigen Fächern gewesen. Die Nachprüfung in Strafrecht ohne seine Hilfe? Das wäre ein Desaster gewesen. Ohne Hugh hätte sie niemals bestanden. Nach dem Studium arbeitete er in verschiedenen Kanzleien, und Catherine leitete die Rechtsgeschäfte im Unternehmen ihres Dads. Sie und Hugh hielten den Kontakt zueinander über die Jahre hinweg aufrecht.

»In dieser Branche trifft man so selten nette normale Menschen, da musst du dir den einen, dem du begegnest, warmhalten«, hatte Hugh stets beteuert und sie einmal im Monat auf ein herzhaftes Chicken-Curry eingeladen.

Einige Jahre später wurde er ihr erster Mitarbeiter in ihrer eigenen Kanzlei Woods Consulting. Hugh war mittlerweile verheiratet mit Kenneth, einem rothaarigen breitschultrigen Sozialarbeiter aus Manchester, der für ihn nach Brighton gezogen war. Das Paar hatte einen Adoptivsohn, den quirligen Jamie, den Catherine vergötterte.

Die ersten beiden Jahre bildeten Hugh und Catherine die Gesamtbelegschaft von Woods Consulting. Von ihrer geblümten Laura Ashley-Couch in ihrem Zweizimmerapartment arbeiteten sie sich hoch in die besten beziehungsweise angesehenen Kreise. Dass Tante Margarets Geschenk zu ihrer Kommunion noch einmal eine solch wegweisende Bedeutung bekommen würde, hätten weder Catherine noch Tante Margaret damals vermutet. Von dem romantisch angehauchten Blümchenmuster in Pastelltönen telefonierten Catherine und Hugh mit den Mandanten, betrieben Akquise, verhandelten Aufträge und wälzten Paragrafen. Die Miete für ein schickes Büro hätten sie sich nicht leisten können. Ihre Mandantschaft jedoch setzte genau solch eine Kulisse voraus. Für wichtige Meetings mieteten sie sich stundenweise in Konferenzräume namhafter Hotels ein und behaupteten, ihr Office sei mit anderen Mandanten belegt.

Catherines bescheidene und vor allem ehrliche Art hätte sie davon abgehalten, diesen Trick anzuwenden, um in der Branche Fuß zu fassen. Hugh dagegen hatte sogar Spaß daran, ihren Mandanten zu vermitteln, sie hätten unendlich viele Mandanten und Mitarbeiter. »Ethisch korrekte Täuschung« nannte er das. Oder »proaktives Erwartungsmanagement«.

Nicht dass Hugh ein Aufschneider oder Blender gewesen wäre, bei Weitem nicht. Er wusste lediglich, wie man die Erwartungen der Menschen bediente und dadurch eine Art Vertrauensvorschuss gewann. Selbst wenn den Leuten ihre eigenen Erwartungen gar nicht bewusst waren, Hugh kannte sie. Er war ein Profi in sekundenschneller Analyse dessen, was er sah. Zudem besaß er die Fähigkeit, die Welt mit den Augen der anderen zu sehen. Seine Biografie als Migrantenkind mit homophilen Neigungen hatte ihn früh gelehrt, sich perfekt anpassen zu können. Und anpassen konnte man sich nur, wenn man wusste, welche Maßstäbe an einen angelegt, woran man gemessen wurde.

Mittlerweile brauchten sie keinerlei Tricks und Kniffe mehr, um neue Mandanten zu werben, ihr guter Ruf eilte ihnen voraus. Woods Consulting beschäftigte acht fest angestellte Juristinnen und Juristen, deren erster Ansprechpartner Hugh war. Hugh, den Catherine häufig bekniet hatte, Partner bei Woods Consulting zu werden.

Jedes einzelne Mal hatte er dies abgelehnt, da es aus seiner Sicht »auch ein Leben außerhalb des Jobs« gab.

In Hughs Leben waren zwei Namen von besonderer Bedeutung: Kenneth und Jamie. Für kein Geld der Welt hätte er seine freien Abende und Wochenenden aufgegeben. Und als Partner hätte er genau das tun müssen.

Catherine, die immer realistisch und ehrlich war, wollte ihm da nichts vormachen. Sie selbst wusste am besten, was es bedeutete, jeden Tag vierzehn Stunden zu arbeiten und an den Wochenenden über kniffligen Details und Steuerfragen zu brüten. Sie gönnte Hugh jede einzige freie Minute und fand sich damit ab, Woods Consulting allein zu führen. Dennoch bot Hugh ihr jederzeit Hilfe an, wenn es schwierig wurde.

Und ja, als sie mit Hugh sprach, war sie an einem Punkt, an dem es für sie schwierig geworden war. Sie wusste, dass sie Zeit und Ruhe brauchte, um sich über ein paar Dinge in ihrem Leben klar zu werden.

Und genau zu diesem Zeitpunkt schien Hugh aus allen Wolken zu fallen. Vor einigen Monaten war das gewesen, letztes Jahr im Dezember, fiel es Catherine jetzt wieder ein, denn die Weihnachtsbeleuchtung der Brighton Pier hatte durch das Fenster geblinkt.

Catherine fuhr sich durchs Haar und spürte, wie der Wind mit ihren Strähnen spielte. Erneut sah sie auf ihre Wanderstiefel in der Pfütze hinab, als bräuchte sie einen tatsächlichen Beweis dafür, wie das Gespräch mit Hugh letztendlich ausgegangen war.

Sie hatte von Anfang an gewusst, dass es ohne ihn nicht funktionieren würde. Sie brauchte ihn, um die Mandanten zu halten, deren Vertrauen sie sich hart erarbeitet hatte. Denn Catherine wollte Woods Consulting keinesfalls aufgeben. Sie wollte nur ein wenig innehalten, sich Zeit für ein paar private Fragen und die Ausrichtung ihrer Consultingfirma nehmen, die auf Persönlichkeitsrechte spezialisiert war.

»Du fragst nach dem Sinn?«, hatte Hugh sie erneut gefragt, als wäre das etwas Gewagtes, ja Verwegenes. »Unser Sinn ist es, den reichen, verwöhnten Stars den Kopf beziehungsweise Hintern zu retten, wenn sie es sich mit der Presse oder dem Gesetz verscherzt haben. Sicher, wir retten damit nicht die Welt, obwohl das unsere Mandanten sicher anders sehen würden. Wir vertreten nicht die Armen und Wehrlosen. Kenneth, der in London täglich obdachlose Jugendliche betreut, stellt sich diese Frage nicht.« Hugh hatte kurz innegehalten und nachgedacht. »Oder doch. Jetzt, wo wir darüber sprechen, ja, er stellt sich die Frage ab und an auch. Weil nämlich jeden Tag so viele neue Minderjährige auf der Straße landen, dass sie nie allen helfen können. Und das kommt ihm sinnlos vor. Jeden Tag zu strampeln und doch hinnehmen zu müssen, dass man eigentlich kaum eine Chance hat. Klar, unser Job wirkt auf den ersten Blick weniger solidarisch. Aber mit dem, was wir tun, ernähren mindestens acht unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihre Familien. Sie bezahlen damit das Schulgeld für ihre Kinder, damit die es besser haben als die Kids, die Kenneth jeden Tag aufsammelt wie gefallene Blätter.«

»So habe ich das noch nie gesehen«, hatte Catherine geantwortet und war sich dabei ein wenig dumm vorgekommen.

So war das meistens, wenn sie sich mit Hugh unterhielt. Er schaffte es, einen großen Rahmen über Dinge zu spannen, die einzeln betrachtet einfach keinen Sinn ergaben. Vielleicht war auch das ein Erfolgsfaktor ihres Unternehmens. Sie waren ein eingespieltes und perfektes Team.

»Also, es ist ja nicht so, dass ich mir die Frage nicht auch schon gestellt habe.« Hugh hatte nachdenklich aus dem Fenster Richtung Brighton Pier geblickt. »Wir leben in einer Welt, in der es nicht fair zugeht. Und nur weil unsere Mandanten privilegierter sind als andere, heißt das nicht, dass sie nicht ein Recht auf eine faire beziehungsweise juristisch korrekte Behandlung haben. Und außerdem …«, er hatte sein Gesicht, sein ihr so vertrautes Gesicht vom Fenster in ihre Richtung gewandt, »… ich finde, ein wenig Glamour braucht diese Welt, insofern ist es unser Sinn, ein bisschen Sternenstaub in einer Welt zu erhalten, die sonst nur in Schutt und Asche liegen würde.«

»Du hättest Poet werden sollen, Hugh«, hatte Catherine geantwortet.

Hugh winkte in der für ihn typischen bescheidenen Geste ab und schlug die Beine übereinander. »Oh, danke, danke, aber ein unterbezahlter Job in unserer kleinen Familie ist vollkommen ausreichend. Einer muss ja die Rechnungen und die Miete zahlen. Mit Kenneths Verdienst müssten wir uns eine hübsche kleine Brücke suchen, unter der wir leben.«

Hugh kam selbst aus schwierigen familiären Verhältnissen und war in einem Londoner Vorort aufgewachsen, in dem die Sprache der Fäuste mehr wert war als verbale Kommunikation. Deshalb hatte er Jura studiert, hatte er ihr einmal erklärt. Um dem Fluch seiner Kindheit zu entkommen, in der stets der körperlich Stärkere gewann. Das hatte Catherine gefallen.

Das intensive Gespräch an jenem Abend im Dezember, als die erste winterliche Kälte durch die Brightoner Straßen kroch, endete wie jeder gute Abend mit Hugh: mit einem scharfen Chicken-Curry in einem dieser von außen schäbig wirkenden Restaurants in der Nähe der Brighton Pier. Hugh hatte nicht nur ein gutes Gespür für die Erwartungen ihrer Mandanten, sondern auch eine feine Nase für eine unglaublich gute Küche mit freundlichen Angestellten.

Catherine legte den Kopf in den Nacken. Sie spürte den kühlen sauberen Atem Schottlands auf ihrem Gesicht und genoss diesen Moment.

So roch also der Mai hier im Bright Blossom Cottage: nach sauberer Luft, frischem Gras und einem Hauch Blütenstaub der üppigen Rhododendren. Die Vögel flirteten noch immer miteinander und begannen nun laut tschilpend um sie herumzuflattern. Sie war derart glücklich, hier zu sein, sie hätte in die Luft springen können.

Ja, warum eigentlich nicht?, fragte sie sich plötzlich. Warum eigentlich nicht in die Luft hüpfen vor Freude? War das albern? Das war ihr egal.

Sie ging in die Knie, holte Schwung und sprang in die Höhe. Dabei riss sie ihre Arme nach oben, streckte sich, und mit einem lauten fröhlichen Platschen kam sie wieder auf dem weichen Boden auf.

Das hatte Spaß gemacht! Sie wollte noch einmal.

Catherine gefiel das Geräusch, wenn ihre dicken Sohlen im Modder landeten, ebenso wie das Gefühl, etwas zu tun, was erwachsene vernünftige Leute normalerweise nicht taten. Sie sprang weiter in der Pfütze auf und ab. Schneller. Wilder. Tat das gut!

Die wohlerzogene und sonst so gesetzte Catherine sah sich vorsichtig um, ob sie nicht jemand bei ihrem wilden Gebaren beobachtete. Die Luft war rein, also machte sie weiter. Der Matsch flog in alle Richtungen, und Catherine war voll im Fluss, in einer Art Schlammschlacht-Flow. Erneut setzte sie zu einem Luftsprung an, und platsch! kamen ihre Füße mit den schweren Wanderstiefeln auf dem weichen Grund an.

Hinter ihr klatschte jemand in die Hände.

Oje, sie war wohl doch nicht unbeobachtet gewesen.

Catherine sah sich um, und sie erkannte ihn sofort.

Die abgetragene Latzhose, bei der immer ein Träger lose über der Schulter baumelte, die dunkelgrünen Gummistiefel, die schon bessere Tage gesehen hatten, die zerbeulte Tweedmütze, die schräg auf dem Kopf lag. Und dann natürlich das unglaublich freundliche und wettergegerbte Gesicht mit der schiefen Nase.

Es war Ian, der Vorbesitzer des Cottage, bevor Luc es übernommen hatte. Mittlerweile hatte Luc große Teile davon renoviert. Er und Ann wohnten in der kleinen umgebauten Scheune namens The Barn. Auch Ian lebte und arbeitete noch immer im Cottage, sein Zimmer lag in dem über dreihundert Jahre alten Steingebäude mit den Unterkünften. Vierzig Jahre lang hatte er das Anwesen geführt, das weitaus mehr bot als ein Restaurant und gemütliche Unterkünfte. Mehrere Stallungen, zwei Scheunen, ein weitläufiger Garten und ein Wildteich gehörten dazu. Dazu die Tiere und Pflanzen, die jedes naturverbundene Herz höherschlagen ließen.

Längst war das Cottage ein Teil von Ian beziehungsweise er war ein Teil des Cottage. Vergangenes Jahr auf dem Einweihungsfest hatten er und Catherine ein intensives Gespräch miteinander geführt. Darin hatte er ihr erörtert, warum man einen alten Mann genauso wenig verpflanzen sollte wie die tief verwurzelten Rhododendronsträucher, die dem Anwesen seinen Namen gaben. Er und Catherine hatten sogar miteinander getanzt. Zu einem Amy Mcdonald-Song, den Luc frei interpretiert hatte.

Catherine erinnerte sich daran, sich damals gefragt zu haben, wie man in Ians Alter noch so geschmeidig tanzen konnte. Mit seinen über siebzig Jahren war er der charmanteste Schotte, den sie kannte.

»Ian!«, rief Catherine voller Freude und stürmte auf ihn zu, was sonst so gar nicht ihre Art war.

»Die Staranwältin aus der Großstadt.« Ian lachte und nahm sie in seine ausgebreiteten Arme.

Er roch nach Kaminfeuer und nach Tabak.

»Ja, lass es raus! Ich könnte auch immer vor Freude auf und ab hüpfen, wenn ich hierher nach Hause komme.«

Aus irgendeinem Grund dachte sie daran, dass es sich tatsächlich so anfühlen musste, nach Hause zu kommen. Diese wohlige Wärme in der Brustgegend. Das Wissen, dass man jetzt nirgendwo anders lieber wäre. O ja, so fühlte es sich für sie an.

Catherines eigentliches Zuhause lag in Brighton. In einer dieser teuren Gegenden mit den uralten Villen, die mehr Gärtner als Bewohner hatten und in denen man sich immer ein wenig verloren fühlte. Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals so herzlich umarmt worden zu sein, abgesehen von ihrer jüngeren Schwester Claire. Weder Catherines Vater, ein erzkonservativer Engländer und Anhänger der britischen Etikette, noch ihre Tante Margaret pflegten diese Art körperlicher Nähe. Catherines Mutter war verstorben, als sie noch ganz klein war, sodass sie sich nicht mehr daran erinnern konnte.

Umso mehr genoss sie es, dass ihr Aufenthalt in Schottland mit solch einer herzlichen und innigen Umarmung begann.

»Herzlich willkommen«, sagte Ian, und sie sog das holzige, leicht rauchige Aroma, das ihn umgab, tief ein.

Er fasste sie an den Schultern und betrachtete sie. »Na, das richtige Outfit für ein paar ordentliche Wandertouren hast du ja bereits an.« Sein Blick schweifte über ihre Outdoorjacke, die Jeans und die klobigen Schuhe. »Darauf freue ich mich schon. Ich werde dir in Ruhe die Umgebung zeigen.«

Catherine deutete auf die Vögel, die sich nun auf der hohen Kiefer neben dem Kiesweg zum Cottage niedergelassen hatten.

»Hast du diese beiden gefiederten Freunde hierherbestellt? Um mich willkommen zu heißen?«

Ian sah zu dem Vogelpärchen hoch und grinste.

»Donnerwetter, du hast richtig Glück. Das sind Regenpfeifer.« Er sprach leise, als würden sie bei einem lauten Ton sofort verschwinden. »Zugvögel. In den Sommermonaten ziehen sie bis zu den höchsten Gipfeln Schottlands hinauf, während sie jetzt im Frühling zu den Rastplätzen auf dem Weg dorthin unterwegs sind. Das Weibchen ist heller als das Männchen, siehst du?«

Mit einer langsamen Armbewegung deutete Ian auf das etwas kleinere Tier. »Leider sind sie vom Aussterben bedroht. Du hast riesiges Glück, sie entdeckt zu haben.«

»Sie haben mich entdeckt«, sagte Catherine und ging zu ihrem Koffer, den sie in ihrem Schlammschlacht-Flow beinahe vergessen hatte. Er stand am Wegesrand und war mit feinen Matschspritzern übersät.

»Lass mal, den nehme ich«, sagte Ian. »Du darfst noch mal in die Pfütze springen. Scheint dir ja tierischen Spaß zu bereiten. Ich bin der Meinung, wenn die Leute das häufiger machen würden, einfach mal alles rauslassen, ob Glück oder Schmerz, ganz egal, dann hätten wir weniger Probleme auf diesem Planeten.«

»Da stimme ich dir zu.« Sie nahm Anlauf. »Allerdings werde ich dich nicht den Koffer tragen lassen. Zumindest nicht allein.«

»Wieso, hast du deine Bücher mit den ganzen bleischweren Paragrafen dabei?« Ian hob den Koffer an und stöhnte.

»Nein, aber alles, was man so braucht, wenn man als Großstädterin in der Wildnis überleben will.«

Sie sprang ins Wasser und freute sich diebisch darüber, wie die Tropfen in alle Richtungen stoben. Schon als Kind hatte sie es geliebt, in Pfützen zu springen, auch oder gerade weil ihr Vater sie dafür getadelt hatte. »Unnützer Zeitvertreib«, nannte er diese Art kindlicher Freuden, die Catherine mehr genoss als alles andere in ihrem Tagesablauf. Auf dem Weg zum Erwachsenwerden war ihr die Freude daran, das zu tun, wonach ihr gerade war, irgendwie abhandengekommen. Oder war ihr auch der Mut dazu ein wenig verloren gegangen?

»Bitte erst, wenn ich ein paar Meter weiter weg bin.« Ian brachte sich in Sicherheit.

Catherine genoss noch einen Sprung in die Pfütze, da sah sie Ann über den schmalen Kiesweg auf die Einfahrt zukommen.

Ihre feinen hellblonden Haare wurden von den Windböen mal in die eine und dann in die andere Richtung gepustet, und sie wedelte aufgeregt mit den Armen, um Ann zu begrüßen.

»Catherine«, rief sie und sprang ebenfalls in die Luft. »Wie schön, dass du da bist!«

Die beiden liefen aufeinander zu. Der Kies knirschte unter Catherines Wanderstiefeln, und sie fielen sich um den Hals.

»Ach, ist das herrlich, dich hier im Cottage begrüßen zu dürfen«, sagte Ann. Sie trug ihr Haar ein wenig länger als letztes Jahr im Oktober, als das Einweihungsfest zur Neueröffnung des Cottage stattgefunden hatte. Außerdem fiel Catherine auf, dass Ann gesunde rote Wangen hatte und etwas rundlicher geworden war.

»Das Cottage steht dir gut«, sagte sie zu Ann. »Jedenfalls siehst du wunderbar aus. Gesund, fit und glücklich. Kein Wunder, dass die Engländer in den vergangenen Jahrhunderten hier in der Region eingefallen sind wie die Barbaren. Ihr Schotten seid einfach zu attraktiv, und euer Land ist es ebenfalls.«

Catherine und Claire liebten es, Witze über den alten Kampf zwischen England und Schottland zu reißen, schließlich war Ann die einzige echte Schottin in ihrem Freundeskreis.

»Oh, du bringst gleich die heißen Themen auf den Tisch. Offenbar stehst du da deiner Schwester Claire in nichts nach. Aber denk daran, hier bist du als Engländerin in der Minderheit.« Als Ann lächelte, erschien das freundliche Grübchen auf ihrer Wange. Sie nickte Ian zu, der gerade den Koffer abstellte und grinste.

»Sind Komplimente hier etwa unerwünscht?«, fragte Catherine.

»Natürlich nicht«, sagte Ann. »Danke, danke, immer her damit.« Ann lächelte nun noch breiter. »Und ja, das bin ich, gesund und glücklich. Ich genieße die frische Luft und die Natur hier, bin viel draußen«, sagte sie. »Celeb-Oasis läuft mit Danielle und Alain in Saint-Tropez so gut, ich muss kaum noch reisen. Die beiden halten mir komplett den Rücken frei, sodass ich den größten Teil von hier aus arbeiten kann.«

»Großartig. So ein Modell könnte mir auch gefallen.«

»Man muss sich nur gut organisieren und eine Strategie sowie klare Zuständigkeiten entwickeln, dann klappt das. Und an meinem Glück hast du natürlich auch deinen Anteil«, fügte Ann hinzu. Mit ihrem Unternehmen Celeb-Oasis hatte sie sich als Celebrity-Bloggerin einen Namen gemacht. Gegründet hatte sie es in Saint-Tropez, wo die Dichte der Prominenten, über die sie anfänglich berichtet hatte, hoch war. Doch zwischenzeitlich hatte sie den Fokus des Start-ups geändert. Ann folgte nun ihrem Herzenswunsch und berichtete zunehmend von Menschen, die zwar nicht prominent waren, aber den Unterschied machten, indem sie Großartiges leisteten. Sie nutzte die Bekanntheit ihres Unternehmens, um Spenden für gemeinnützige Zwecke zu sammeln und um prominente Unterstützer zu werben.

»Nein, nein, euer Glück, das habt ihr beide, Luc und du, euch selbst verdient«, widersprach Catherine.

Hier, im Bright Blossom Cottage, hatte Ann Luc kennengelernt und sich in ihn verliebt.

»Auch wenn du mit Lob nicht so gut umgehen kannst, Catherine. Ich werde nicht müde werden, es zu erwähnen. Dein Engagement, als wir diesem Cybermobbing ausgesetzt waren, die öffentliche Stellungnahme, bei der du uns unterstützt hast, das hat uns so durch die Krise geholfen, das werden wir dir nie vergessen.«

Catherine dachte an die Situation zurück, als sich die Medien über Anns private Situation beinahe überschlagen hatten.

»Ich war einfach nur dankbar, euch helfen zu können.«

»Ja, und deshalb sind wir jetzt ganz besonders froh, dass du hier bist. Du kannst dich auf eine wunderbare entspannte Zeit freuen. Andrew wird dich mit seinen Kochkünsten beglücken, wir haben dir das hübscheste Zimmer im Cottage hergerichtet, und heute Abend sitzen wir vor dem Kamin und feiern gemeinsam den Einstieg in deine Auszeit.«

Catherine wäre am liebsten gleich wieder in eine Pfütze gesprungen vor Freude, aber sie wollte es nicht übertreiben.

»Na ja, das ist mein Beruf«, sagte sie stattdessen. »Leuten aus der Patsche zu helfen, denen die Presse auf den Fersen ist und die ihre Privatsphäre zurückhaben wollen. Euer Glück habt ihr beide euch verdient.«

Sie dachte an jenen Abend zurück, an dem sie mit Anns Büro in Saint-Tropez einen kleinen Krisenstab gebildet hatte, um Ann von dem Cybermobbing zu rehabilitieren. Seitdem hatte Catherine die gesamte juristische Beratung von Öffentlichkeitsfragen bei Celeb-Oasis übernommen.

»Danke, wir genießen es. Dank deiner Beratung ist es so richtig schön ruhig um Lucs und um meine Person geworden. Und du wirst merken, wie gut dir die Ruhe hier tun wird, Catherine.«

»Oh, das wird sie«, merkte Ian an. »Alle Gäste, besonders die aus den Großstädten, wollen gar nicht mehr weg. Und sie kommen immer wieder.«

»Was ich jetzt schon gut verstehen kann«, sagte Catherine, und sie folgten dem hölzernen Pfeil, auf dem Manor Home stand.

Der Geruch nach Bratensoßen, gerösteten Zwiebeln und anderen Köstlichkeiten kam ihr entgegen, als sie die schwere alte Tür zum Manor Home öffnete. Stimmen schwirrten zwischen dem Geklapper von Geschirr umher, aus Lautsprechern drang leise entspannte Musik. Nur wenige Tische des Restaurants im Manor Home waren mit Gästen besetzt. Catherine entdeckte einen hohen Haardutt. Das war Rebeccas Markenzeichen. Flink bewegte sie sich hinter der Steinmauer hin und her. Catherine ging zu ihr. Sie stapelte gerade die Speisekarten auf dem Beistelltisch an der alten Steinmauer. Auch sie umarmte Catherine herzlich.

»Ich habe meine Schicht heute Abend an zwei Praktikanten abgegeben«, sagte sie. Es hörte sich an, als hätte sie das einiges an Aufwand gekostet, um das zu organisieren. Rebecca rückte den Knoten auf ihrem Kopf zurecht. »Es sind Kids aus dem Waisenhaus St. Angus in Edinburgh, denen wir hier alles beibringen, damit sie später mal einen Job antreten können.« Sie deutete auf einen jungen Burschen mit Pferdeschwanz und Schürze, der ein volles Tablett aus der Küche herausbalancierte.

»Die anderen sitzen schon hinten am Kamin. Ich komme gleich dazu, wenn ich hier fertig bin, okay? Wir müssen doch deinen ersten Abend hier im Cottage so richtig feierlich begehen.«

Catherine ging durch den Raum, der so schöne Erinnerungen in ihr wachrief. Der ausgelassene fröhliche Abend im vergangenen Oktober, an dem Ann und Luc feierlich die Eröffnung des Cottage begangen hatten. Auch Claire, die sie viel zu selten sah, und Massimo waren aus Saint-Tropez angereist. Sie wäre damals gern noch ein paar Tage länger geblieben, doch ihr Job hatte es wieder einmal nicht zugelassen. Von der Umgebung hatte sie kaum etwas gesehen. Das alles würde sie jetzt nachholen.

»Catherine«, rief Luc und kam mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. »Unsere Verteidigerin des Glücks.«

»Also bitte, das ist jetzt aber wirklich zu viel.«

Er drückte sie an sich. Über seine Schulter hinweg konnte sie ein paar Blicke auf die festlich gedeckte Tafel hinter ihm erhaschen.

Der Innensaal des alten Haupthauses aus dem frühen 18. Jahrhundert war liebevoll und geschmackvoll renoviert und eingerichtet worden. Ein gelungener Mix aus alt und modern. Eine flache Gewölbedecke, die frei liegende Steinmauer, Holzböden und ein Kamin gaben dem Raum eine besondere, heimelige Atmosphäre.

Catherine merkte auf einmal, wie hungrig sie war. Seit dem kleinen Snack im Zug von Brighton nach Edinburgh hatte sie nichts zu sich genommen.

Andrew kam wie gerufen. Auf seiner Handfläche balancierte er eine Käseplatte aus der Küche. Durch seine schlaksige, leicht nach vorn gebeugte Haltung sah das Ganze äußerst gewagt aus. Mit der anderen Hand warf er ihr zur Begrüßung einen Luftkuss zu, was dem Balanceakt noch einiges mehr abverlangte.

»Wir haben hier für unseren neuen Gast eine besonders delikate Auswahl an Caboc, einen creme-fraiche-artigen Frischkäse aus den schottischen Highlands.« Er stellte das Tablett auf die Tischplatte und deutete auf die dekorativ zusammengestellte Auswahl. »Außerdem bieten wir feste Käsesorten wie Teviotdale an, er ist würzig und rustikal. Das hier ist Bonchester, ein weicher unpasteurisierter Käse aus den schottischen Borders, und den Lanark Blue, den heute noch handwerklich hergestellten unpasteurisierten Schafskäse.«

»Da wir wissen, wie sehr du Käse liebst, musst du nicht erst auf die Suppe und den Hauptgang warten, du kannst dir gleich damit den Bauch vollschlagen.« Luc begrüßte Catherine lächelnd und führte sie zum Tisch, an dem bereits Ian und Ann saßen. Andrew rückte ihr den Stuhl am Tischende zurecht. Rebecca kam gerade dazu und trug eine Flasche in der Hand.

»Habe noch schnell den neuen Luc’s Organic Whisky aus dem Keller geholt, zum Anstoßen«, sagte sie.

Luc hatte sich vor einigen Jahren seinen Lebenstraum erfüllt und eine Destillerie in Macmerry nahe Edinburgh übernommen und auf nachhaltige Produktion umgestellt. Als er damit erfolgreich war und über genügend finanzielle Mittel verfügte, hatte er das Bright Blossom Cottage gekauft und es mit Ann und ihrem Bruder Andrew in ein vollkommen neues Gastronomie- und Erlebniskonzept verwandelt.

Andrew, der die Restaurantküche leitete, bot regionale Gerichte an, die sich an den jeweiligen Jahreszeiten und an der Ernte orientierten. Sie kooperierten eng mit dem Waisenhaus St. Angus in Edinburgh, in dem Luc als kleiner Junge einige Jahre seiner Kindheit verbracht hatte. Die Kinder konnten hier Kochkurse erleben oder im Cottage-eigenen Garten lernen, wo das Obst und Gemüse herkam, das hier später in der Küche verarbeitet wurde. Hier fanden Proben von Lucs Band, den Bass Rocks, statt, in denen sie gemeinsam mit den musikbegeisterten Kindern jammten. Oder die Kinder beschäftigten sich einfach mit den Tieren. Neben Goaty, einem eigenwilligen, liebenswerten Ziegenbock, ein paar Hähnen, Schafen und einem Pferd, die sie von Ian übernommen hatten, gehörten mittlerweile ein paar Hühner und Gänse zum Cottage dazu.

Rebecca füllte die Gläser auf und setzte sich an den Tisch.

Er war mit Glasvasen bestückt, in denen pink- und lilafarbene sowie weiße Rhododendronblüten schwammen, die einen hübschen Kontrast zu dem rustikalen Holztisch bildeten.

»Auf Catherine und ihre weise Entscheidung, uns im Cottage zu besuchen.« Ann hielt ihr Glas hoch.

»Auf euch alle.« Im Gegensatz zu Ann und Luc war Catherine keine besonders gute Whiskykennerin, doch die neue Sorte aus Lucs Destillerie schmeckte sogar ihr.

»Und, was meinst du?«, fragte Luc.

Catherine fuhr mit der Zunge über ihren Gaumen, um dem Geschmack nachzuspüren. »Frisch. Irgendwie süßlich, fruchtig. Fast ein bisschen wie frisches Gras.« Catherine leckte sich über die Lippen.

»Das liegt an den neuen Fässern«, sagte Luc. »Darin funktioniert die Reife noch besser. Wir wollen nämlich genau Menschen wie dich inspirieren.«

»Menschen wie mich?« Catherine nahm noch einen Schluck. »Ihr meint damit abgearbeitete Engländerinnen aus der Großstadt, die auf der Suche nach mehr Sinn sind? Oder die einfach einen höheren Alkoholpegel benötigen, um ihren Stresslevel zu ertragen?«

»Wir meinen charmante Personen, die sich viel zu wenig Genuss im Leben gönnen.« Lucs Augen blitzten, und Catherine wusste, was Ann an ihm fand.

Luc, der eine halb italienische und halb schottische Abstammung besaß, war die perfekte Mischung aus Bodenständigkeit und Lässigkeit. Seine liebevolle Art und sein schiefes Lächeln waren hinreißend. Er hatte leicht gewellte Haare, auch sie waren seit dem vergangenen Jahr gewachsen. Die braunen Strähnen reichten ihm mittlerweile bis über sein Kinn. Er und Ann schienen Friseurbesuche zu meiden, seit sie im Cottage lebten. Es sah nicht ungepflegt aus – nur eben viel lockerer als die akkurat geschnittenen Businessköpfe der Männer, mit denen sich Catherine üblicherweise umgab.

»Wie wahr.« Catherine bekräftigte die Tatsache des fehlenden Genusses in ihrem Leben. »Doch ich bin mir sicher, ihr werdet mich hier dazu verführen, jeden einzelnen Tag zu genießen.« Sie griff in den Brotkorb, aus dem es herzhaft duftete, nahm eine Scheibe des dunklen Brots und bestrich sie mit dem Calbot.

»Und danke auch dafür, bei euch die Menüfolge nicht beachten zu müssen. Ich habe nie verstanden, weshalb man den Platz in seinem Magen mit Schellfischsuppe füllen sollte, wenn man die eigentlich gar nicht mag.«

»Hier musst du keiner Etikette folgen.« Ann griff zu dem Kartoffel-Pie.

»Keine Termine, keine Verpflichtungen«, sagte Luc.

»Hier musst du dich nur wohlfühlen und deinem Glück folgen.« Ian biss in die Lachspastete und blinzelte Catherine zu.

»Oh, ich glaube, ich kneife mich mal in die Wange, um festzustellen, ob das hier alles wirklich passiert.« Catherine lachte.

»Das Gefühl kenne ich. Ich kann es auch nicht fassen, dass mir das alles hier passiert ist.« Ann erhob erneut ihr Glas. »Auf euch alle hier. Auf dich, Luc, den Mann meiner Träume, der mich zurück in meine alte Heimat Schottland geholt hat. Auf Andrew, meinen kleinen Bruder, der hier im Cottage nicht nur die Mägen der Gäste, sondern auch die Herzen der Kinder füllt, wenn er ihnen zeigt, wie man Scottish Pancakes zubereitet. Auf dich, Rebecca.« Sie nickte ihr anerkennend zu, und Rebeccas Wangen röteten sich. »Du bist die gute Seele des Cottage. Ohne dich würden wir die vielen Gäste gar nicht mehr koordiniert bekommen. Die zahlreichen Reservierungen würden uns um die Ohren fliegen, und die Kinder würden dick und rund werden, weil Andrew sie nur mit Süßkram vollstopft.«

Alle lachten, Andrew am lautesten. »Ich bereite nun mal liebend gern Cranachan und andere traditionell schottische Desserts zu, und du, mein Schwesterherz, hast dich bisher nie darüber beschwert. Besonders, wenn es sich um Deep Fried Schokobars handelte.« Er grinste sie liebevoll an.

Ann lächelte zurück und wandte sich dann wieder an Rebecca. »Du nimmst die Kids mit in die Gärten, in den Wald, und zeigst ihnen, wie alles zusammenhängt, wie die Natur auf wundersame Weise unseren Tisch füllt. Und auf dich, Ian!« Sie hob ihr Glas ein Stück höher. »Denn ohne dich wären wir heute nicht hier. Du hast uns das Cottage ermöglicht und Luc angestupst, für mich, für unsere Liebe zu kämpfen.«

Anns und Lucs Liebe war einer schweren Zerreißprobe ausgesetzt gewesen, als Ann herausgefunden hatte, dass sie und Luc zwar nicht blutsverwandt, jedoch auf wundersame Weise miteinander verbunden waren. Nach der Zeit im Waisenhaus war Luc in Südfrankreich aufgewachsen, und hier, ausgerechnet in den alten Wänden des Manor Home, waren sie sich bei Andrews Kochprüfung zum ersten Mal begegnet. Eine unglaubliche Geschichte, die ihre schicksalhafte Begegnung beinahe in einer Tragödie hätte enden lassen.

»Er hätte das auch ohne meine Hilfe getan, Ann.« Ian fasste sich leicht verlegen an sein stoppeliges hageres Kinn. »O ja, Luc hätte auch ohne mein Zutun für dich gekämpft. Davon bin ich felsenfest überzeugt.«

»Aber es hätte vielleicht zu lange gedauert. Schließlich war ich schon fast über alle Berge.«

Catherine sah Luc an, dass er gerade an die verzweifelte Suchaktion im vergangenen Jahr zurückdachte, die sie im Nachhinein die »Findet-Ann-Mission« getauft hatten.

Zum Glück brach Andrew wieder in Gelächter aus, und die Schatten auf Lucs Gesichtszügen verflogen schnell.

»Und apropos lange gedauert, es ist richtig, dass du dir endlich Zeit für das alles und für dich nimmst, Catherine. Wehe, du arbeitest heimlich, während du hier bist.« Ann erhob mit liebevollem Gesichtsausdruck den Zeigefinger. Sie kannte sie nur zu gut.

»O bitte, wie könnte ich!« Catherine hielt die Hände hoch, als würde sie sich ergeben.

Munter miteinander plaudernd verspeisten sie all die Köstlichkeiten, die Andrew für sie angerichtet hatte. Die Ereignisse der vergangenen Monate wurden miteinander ausgetauscht, es wurde gelacht und getrunken, und im Nu waren Stunden vergangen.

Catherine hatte sich lange nicht so heiter, entspannt und beschwingt gefühlt.

Seit Jahren wachte sie das erste Mal ohne Wecker auf. Ein Sonnenstrahl stahl sich durch die tartangemusterten Vorhänge und kitzelte ihre Nasenspitze. Catherine musste niesen und sich einen Moment lang in Erinnerung rufen, wo sie war.

Herrlich, sie würde heute nicht arbeiten! Das hieß, sie musste sich weder in ein dunkles Kostüm noch in spitz zulaufende Pumps oder einen vorgegebenen Terminkalender pressen.

Stattdessen konnte sie machen, was sie wollte. In aller Seelenruhe frühstücken, zum Beispiel. Sich auf dem Gelände des Cottage umsehen und die Gegend erkunden. Einen Spaziergang unternehmen, ohne dabei auf die Uhr zu sehen. Einfach liegen bleiben. Wie verwegen. Ihr Leben kam ihr plötzlich so vor, als hätte ihr jemand ein riesengroßes Geschenk gemacht. Der Tag lag großzügig und voller Möglichkeiten vor ihr. Sie würde ihn in vollen Zügen genießen und konnte ihre neu gewonnene Freiheit kaum fassen.

Da klingelte ihr Handy.

Sie hätte es einfach klingeln lassen können, natürlich. Aber was, wenn es Claire war? Oder ihr Dad? Wenn ihm etwas passiert war? Oder sonst irgendetwas Wichtiges geschehen war?

In der Sekunde, in der Catherine auf den Nachttisch griff, wusste sie, dass es nichts von all dem war, was sie dazu veranlasste, den Anruf anzunehmen. Es war nichts Geringeres als reine Gewohnheit. Als sie seine Stimme hörte, fragte sie sich, ob es vielleicht ein Fehler gewesen war.

»Hi, Cat, guten Morgen.« Hugh schlug einen geschäftsmäßigen Ton an, obwohl er sie bei ihrem Kosenamen nannte. Sie kannten sich lange genug, sie hörte es bereits aus der Begrüßung heraus. Nun ja, für ihn war es ein Wochentag, und ihre Abwesenheit trug mit Sicherheit nicht gerade zur Entspannung bei.

Catherine versuchte, nicht auf ihr schlechtes Gewissen zu hören.

»Hugh, hi.« Normalerweise freute sie sich, mit ihm zu sprechen, doch er hüstelte ein-, zweimal. Ein untrügliches Zeichen für Anspannung oder Nervosität.

»Wie läuft es?«, fragte sie.

»Gut, gut.«

»Prima.«

»Bist du gut angekommen?«

»Ja. Die Zugfahrt nach Edinburgh verlief beinahe reibungslos. Wir hatten nur zwanzig Minuten Verspätung. Das ist rekordverdächtig gut.«

»Wow. Offenbar gibt es in Schottland keinen Mangel an fahrtüchtigen Zügen und tatkräftigem Personal. Ganz anders als in England. Hier reden sie sich ja ständig damit heraus, ihnen würden das Personal fehlen, um die Züge und die Gleise in Schuss zu halten.« Catherine hörte, wie Hugh mit einem Kugelschreiber klickte. Das hatte er schon getan, als sie ihre Arbeitstage noch gemeinsam auf ihrer Couch verbracht hatten.

»Das liegt vielleicht daran, dass die Menschen hier für diese Highland Games trainieren. Wer ständig Baumstämme wirft, für den ist doch so ein Bahnbetrieb ein Leichtes.« Catherine lachte.

»Apropos Baumstämme, hast du alle Outlander-Bände dabei, wie ich es dir empfohlen habe? Sie sind ja quasi dick wie Baumstämme und die perfekte Lektüre für deine Auszeit.«

»Dann, mein Lieber, hätte ich einen Gepäckträger bezahlen müssen, der meine Koffer schleppt, und mit einem wäre ich dann nicht ausgekommen. Ich werde sie mir hier vor Ort besorgen, versprochen.«

Normalerweise hätte Hugh nun über die Outlander-Saga philosophiert, von der er sowohl alle Bücher als auch die Serie gemeinsam mit Kenneth verschlungen hatte. Er hätte die Orte wiederholt, die in der Saga eine bedeutende Rolle spielten, und sie aufgefordert, diese unbedingt aufzusuchen. Doch das tat er nicht.

»Gestern hatten wir bereits einen wunderschönen Abend hier im Cottage. Die gesamte Crew war anwesend und hat mich begrüßt. Heute will ich mir die anliegenden Gebäude zeigen lassen und vielleicht mit Ian einen kleinen Ausflug in die Umgebung machen. Super, dass es bei euch läuft, und lieb, dass du mich anrufst, um zu fragen, ob alles okay ist.«

Hugh schwieg.

Sie setzte sich in dem bequemen Doppelbett aus dicken Holzbalken auf und schob die flauschige Überdecke zurück, die dasselbe Muster wie die Vorhänge trug.

»Du, es ist wundervoll, dass ich das hier machen kann, Hugh.«

»Oh, danke, gern.« Er hüstelte. »Hast du schon die Boulevardpresse verfolgt?«

»Natürlich nicht. Ist das eine Kontrollfrage? Ob ich mir auch wirklich Zeit für mich nehme?«

»Äh, nein.«

»Nun, die Boulevardpresse habe ich stets nur zu beruflichen Zwecken studiert, und bei Arztbesuchen. Nicht zum Vergnügen.«

Catherine hörte Hugh leise kichern, doch es hörte sich seltsam an. Sie war verwirrt.

Langsam lehnte sich Catherine an die Rückwand des Bettes und fragte sich, wohin das Gespräch gerade führte.

»Hat dich Noah Jones schon erreicht?«

»Heißt die männliche Hauptfigur in Outlander nicht Jamie Fraser? Wer soll das sein? Muss ich ihn kennen?«

»Äh, ich kannte ihn bisher auch nicht. Er ist Stuntman. Doubelt alle möglichen Schauspieler in Actionfilmen et cetera.«

»Okay, Hugh.« Catherine spürte, wie ihre Zehenspitzen zu kribbeln begannen. Das war ein untrügliches Anzeichen dafür, dass sie langsam nervös wurde. »Du rufst sicher nicht an, um mir Kinotipps zu geben, oder?«

»Nein. Zumal ich weiß, dass Actionfilme nicht dein bevorzugtes Genre sind.«

»Na, da bin ich ja beruhigt. Einen Moment lang habe ich mich schon gefragt, was mit dir los ist.«

Hugh stieß ein Lachen hervor, das nicht nach ihm klang.

»Dein bevorzugtes Genre sind aussichtslose Fälle von Stars, die von der Presse zerrissen werden.«

»Okay.« Catherine wackelte mit den Zehen, um ihre Durchblutung anzuregen. »Momentan bevorzuge ich das Genre, in dem wunderschöne Landschaften, Genuss und die Leichtigkeit des Lebens im Mittelpunkt stehen.«

»Love and Landscape?«

»Wer hat denn etwas von Liebe gesagt?«

»Ähm, sorry, ist mir nur so durch den Kopf gegangen.« Hugh hüstelte zweimal, bevor er weitersprach. »So einen Fall haben wir gerade auf den Tisch bekommen. Ich meine nicht Love and Landscape, sondern Star-wird-von-Presse-Fertiggemacht. Noah Jones ist so ein Fall. Ich kann dich beruhigen, bislang war mir sein Name auch nicht bekannt. Die Doubles werden im Abspann meist nicht erwähnt oder nur im Kleingedruckten. Egal. Er hat das Image eines Draufgängers, legt sich ständig mit der Presse oder der Filmindustrie an und wird nun beschuldigt, für das Verschwinden einer seiner Freundinnen verantwortlich zu sein.«

»Das Übliche also.« Catherine musste plötzlich gähnen. Eine solche Geschichte hätte sie sicher ganz spannend gefunden, wenn sie nicht gerade etwas viel Aufregenderes vor sich hatte: einen Tag im Bright Blossom Cottage. Zudem war es gestern Abend wirklich spät geworden.

»Seine Agentur ist an uns herangetreten. Der Fall ist wirklich spektakulär und sehr medienwirksam. Sie wollen, dass Woods Consulting Noah Jones vor der Presse vertritt, und dass wir den Shitstorm stoppen, der gerade über ihn hereinbricht.«

»Also, wenn du mich jetzt um meinen Rat fragen möchtest, Hugh. Mach dir ein Bild von dem Fall, und wenn du der Meinung bist, dass unsere Kanzlei ihn managen kann, dann nimm ihn an.«

»Ich habe mir bereits ein Bild gemacht. Der Fall hat alles, was sich ein hungriger Anwalt in unserer Branche wünscht: einen bekannten Mandanten, eine verfahrene Situation, eine hechelnde Pressemeute und jede Menge Prestige, wenn wir hier punkten.«

»Na, dann greif zu.«

»Es gibt einen Haken.«

»Nur einen? Wie langweilig.«

»Hm. Zumindest ist das der Haken, den wir bisher kennen.«

»Okay, und der wäre?«

»Noah Jones will sich nur von dir vertreten lassen.«

»Ach, so ein Pech aber auch.« Catherine schüttelte den Kopf. »Wirklich jammerschade.«

»Hm.« Hugh hüstelte wieder. »Seine Agentur bietet uns eine beträchtliche Vorauszahlung. Egal wie der Fall letztendlich ausgeht.«

»Das muss an der Branche liegen. Sicher erhalten Stuntleute ihre Gage immer im Voraus, zumindest hoffe ich das für sie. Man weiß schließlich nie, wie der Dreh für sie ausgeht. Da fällt mir ein, sind Stuntmen nicht dafür bekannt, ein besonders gutes Timing haben zu müssen? Ich meine, sie springen von fahrenden Autos, von explodierenden Schiffen und aus abstürzenden Helikoptern. Jede Zehntelsekunde zählt. Dieser Jones ist leider ein paar Sekunden zu spät dran.«

Catherine hielt es nun nicht mehr im Bett aus. Sie stand auf und lief barfuß auf den leicht durchgetretenen Holzdielen auf und ab. Es war schön, das kühle, weiche Material unter den Fußsohlen zu spüren, denn in ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken.

»Du willst doch nicht etwa, dass ich den Fall übernehme?«

»Nein, nein.« Sie hörte Hugh seufzen. »Ich meine, er wäre für Woods Consulting, wow! Eine Vorauszahlung in dieser Höhe deckt unsere Fixkosten für das gesamte restliche Jahr. Und er führt zu einer Erholung unserer Liquidität nach dieser horrenden unerwarteten Steuernachzahlung. Ich meine natürlich, er würde dazu führen, wenn wir ihn annähmen. Es ist einer dieser Fälle, die man nicht häufig hat.«

Catherine spürte, wie sich in ihr zwei Fronten formierten.

Eine, die sagte: zugreifen. Nimm diesen Fall an und nutze diese einmalige Chance. Verschiebe deine Auszeit, so eine Möglichkeit bekommt man nicht allzu oft geboten. Dieser Fall ist ein Geschenk, nimm es an und mach deine Auszeit später. Mach es für Woods Consulting.

Die andere Front sprach gleichzeitig auf Catherine ein. Nein. Nimm den Fall nicht an. Es ist der falsche Zeitpunkt. Du hast so lange mit dir gerungen, dir diese Auszeit zu gönnen. Es werden andere Fälle kommen.

»Ich habe seiner Agentur gesagt, dass wir Erfahrung auf dem Gebiet haben. Dass wir über Expertise, Know-how und ein entsprechendes Netzwerk verfügen. Ich habe mich selbst als sein Anwalt und Medienvertreter angeboten.«

»Sehr gut. Und?«

»Nach Rücksprache möchte er sich ausdrücklich nur von dir vertreten lassen«, sagte Hugh noch einmal.

»Hat er die Frauenquote falsch verstanden, oder wieso?«

»Du brauchst keine Quote, du bist die Beste, und das weißt du hoffentlich.«

»Das tut mir leid«, sagte Catherine und ging in die Ecke, wo ihre Wanderstiefel mit den Matschrändern standen. Als sie gestern Abend auf ihr Zimmer gegangen war, hatte Catherine sie neben der Tür ausgezogen, um den Fußboden nicht zu beschmutzen. Ihr Anblick erinnerte sie daran, weshalb sie hier war. Um Dinge zu tun, die ihr Spaß machten und die sie viel zu lange vernachlässigt hatte.

»Also nicht dein Kompliment, danke dafür. Es tut mir leid, im Moment nicht zur Verfügung zu stehen.«

Wieso beschlich sie gerade ein so seltsames Gefühl? So als ob sie etwas Wichtiges an sich vorbeiziehen lassen würde oder etwas verloren hätte?

»Also, nur damit du mich richtig verstehst, Cat. Ich lehne diesen Fall unter den gegebenen Umständen ab. Ich wollte mich nur noch einmal bei dir rückversichern. Das Ganze ist derart interessant, finanziell, medientechnisch, und ich denke auch in juristischer Hinsicht. Ich wollte einfach kurz mit dir darüber sprechen. Ich weiß ja, dass heute der erste richtige Tag deiner Auszeit ist.«

Catherine fühlte einen Stich in ihrem Herzen. Es war dasselbe Gefühl, das sie als Kind schon gehabt hatte, wenn sie eines Spielzeuges überdrüssig geworden war und es in die Ecke gelegt hatte. Und dann war Claire gekommen, hatte ihm mit ihrer Aufmerksamkeit ein neues Strahlen verliehen. Plötzlich war es ihr wieder attraktiv erschienen, obwohl sie sich selbst dagegen entschieden hatte.

»Nein, diesmal spiele ich nicht mit«, sagte sie.

»Wie bitte?«

Oh, das hatte sie gerade laut gesagt. Aber das war okay, weil es Hugh war, und ihm konnte sie vertrauen.

»Ich habe tatsächlich gerade einen kurzen Moment gezuckt, Hugh«, gab sie zu.

»Dann war es richtig, dass ich dich angerufen habe?«

»Unbedingt.« Oh, vielleicht wäre es besser gewesen, sie hätte nichts davon gewusst.

Hugh holte tief Luft. »Ich habe deshalb letzte Nacht kein Auge zugetan. Einerseits wollte ich dich nicht am ersten freien Tag mit Arbeitsthemen belästigen. Andererseits wusste ich, wenn du von dem Fall hören würdest …«

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und wippte dann auf ihre Fersen. »Okay, ich weiß Bescheid. Der Fall ist mehr als attraktiv, und dass sich Mr Johnsen …«

»Jones. Noah Jones.«

»Wie auch immer. Dass er nur mich will, zeigt wohl, dass er mein Ego füttern möchte.«

»Und, funktioniert es?«

»Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass es mich kaltlässt. Aber ich habe mich entschieden. Ich kann nicht jedes Mal einknicken, wenn ein reicher berühmter Mandant um die Ecke kommt und nach mir verlangt.« Das sagte sie mit einem ironischen Unterton in der Stimme mehr zu sich selbst als zu Hugh.

»O nein, so viele, wie von denen da draußen rumlaufen … Cat, du würdest nie zur Ruhe kommen.« Sie hörte Hugh lachen und war erleichtert darüber.

Catherine spürte, wie ihre Zehen vibrierten, als sie ihr Gewicht nach vorn verlagerte.

Sie tat doch gerade das Richtige, oder?

»Ich habe diese Auszeit hier monatelang geplant und vorbereitet, gemeinsam mit dir und dem Team. Es wäre falsch, jetzt alles hinzuwerfen.«

»Ja … das wäre es wohl.«

»Trotzdem danke, dass wir noch einmal darüber gesprochen haben.«

»Okay. Dann muss Jones sich eben jemand anderen suchen.«

Sie hörte diesen Klang in seiner Stimme. Diesen bedauernden Unterton.

»Du bist doch nicht enttäuscht, oder?«

»Nun, ich glaube, jeder ist ein bisschen enttäuscht, wenn er eine Abfuhr erhält, oder? Ich meine, wir könnten hier richtig glänzen als Kanzlei, wenn er sich auf mich einließe.«

»Du wärst genau der Richtige für den Fall! Wenn dieser eingebildete Kerl, und er muss eingebildet sein, wenn er seine Agentur vorschickt, dich dann ablehnt, dann … dann muss er eben damit zurechtkommen.«

»Und wir auch.«

»Findest du mich jetzt egoistisch, weil der Kanzlei meinetwegen so ein wichtiger Mandant entgeht?«

»Nein, natürlich nicht, Cat. Mach dir keine Sorgen. Es ist alles okay. Business as usual. Erkunde du jetzt die Umgebung, geh wandern und denk nicht mehr daran, okay?«

»In Ordnung.«

Sie verabschiedeten sich und beendeten das Gespräch.

Catherine sah aus dem Fenster und konnte hinüber bis zu den Rhododendronsträuchern blicken. Sie standen in voller Blüte und erstreckten sich bis hin zum angrenzenden Wäldchen. Sie blühten in Pink, Violett und Weiß. Wie riesige plüschige Kissen sahen sie aus.

Wenn sie sich in dem Gespräch eben anders entschieden hätte, könnte sie die Pracht der Blüten gar nicht mehr in Ruhe auskosten, sagte sie sich. Und dafür war sie schließlich hierhergekommen. Um in Ruhe zu genießen und sich mit ihren innersten Fragen zu beschäftigen. Das Pink der Rhododendronsträucher leuchtete vor dem Dunkelgrün der Blätter, und die weißen Blüten in der Ferne sahen aus wie riesige flauschige Schneebälle.

Nein, sie hatte sich richtig entschieden, auch wenn das einige Kollegen in der Kanzlei sicher anders sahen. Langsam und bedächtig ging sie durch ihr Zimmer und hörte ihren Magen knurren. Es war so still hier, dass sie sogar ihren Puls in den Ohren rauschen hören konnte. Wieso war ihr Puls so in die Höhe geschnellt?

Beinahe wäre sie über die klobigen Wanderschuhe neben der Tür gestolpert. Einen Augenblick lang stellte sie sich vor, ihre Business-Pumps würden hier stehen und sie hätte sie bei dem Telefonat mit Hugh im Blick gehabt. Die beigefarbenen mit der schwarzen Spitze. Die, in denen sie bisher jede Pressekonferenz erfolgreich bestritten und jeden Fall gewonnen hatte. Hätte sie sich dann genauso dagegen entschieden, diesen einen Fall ausnahmsweise anzunehmen? Hätte sie?

Sie wusste, dass bewusster Verzicht etwas im Gehirn auslöste, was einem leichten Verlustgefühl gleichkam. Weil nämlich keine Glückshormone ausgeschüttet wurden, die ihr bei der Annahme des Falles einen Kick versetzt hätten. Die Abgeschlagenheit, die sie plötzlich verspürte, war also reine Chemie. Nichts weiter.

2

London

Der Kick, den er verspürte, beflügelte ihn und verlieh ihm einen Schub nach vorn. Es war die Mischung aus Dopamin und Endorphin, die ihn antrieb. Er sprang mit voller Wucht an die Steinmauer und spürte, wie sich die Sehnen seiner trainierten Waden anspannten. Das Endorphin-High setzte jetzt nach etwa zwanzig Minuten auf dem Parkour ein. Noah sprang an Wänden hoch, flog über Springbrunnen, hangelte an Hochhäusern entlang und balancierte über schmale Dachfirste.

Dopamin war eher für die kurzen Kicks zwischendurch zuständig. Sein Körper schüttete es aus, sobald er kleine Erfolge erzielte. Wie zum Beispiel, wenn er den perfekten Winkel fand, um sich senkrecht an der Dachrinne hochzuziehen, um anschließend über das Wellblechdach der Garage zu sprinten. Die Kameraführung erfolgte durch eine Drohne, die über ihm schwebte und offensichtlich Schwierigkeiten hatte, seinen schnellen und unvorhersehbaren Bewegungen hinterherzukommen. Bei dem Gedanken daran spürte er, wie noch einmal Dopamin ausgeschüttet wurde. Seine Motivation stieg, über den Abgrund zwischen der Garage und dem angrenzenden Wohnhaus zu springen. Er wusste genau, dass er dies nur in Erwägung zog, weil er es liebte, wie die Glückshormone seine Stimmung in wundervolle schwindelerregende Höhen trieben.

Er nahm Anlauf, sprintete los und spürte, wie sich jeder seiner Muskeln anspannte. Schnell hob er sein rechtes Bein an, zog sein linkes hinterher und sprang.

Während des kurzen Moments in der Luft verlangsamte sich seine Wahrnehmung. Er dachte daran, wie unendlich schön es sein musste, nie wieder der Schwerkraft zu unterliegen, einfach weiterfliegen, schweben …

Nur wenige Zentimeter vom Abgrund entfernt landete Noah auf dem Ziegeldach des Hauses und schaffte es gerade noch, sich an dem Metallgitter festzukrallen, bevor ihn die Wucht des Aufpralls aus der Balance brachte und er zu fallen drohte.

»Abbruch!«, schrie Reuben, die Stimme in seinem Ohr.

Noah spürte den Schweiß, der an seinem Haaransatz ausbrach. Das war knapp gewesen. Verdammt knapp.

Er baumelte an dem Gitter des Dachs, spürte, wie seine Fingerknöchel schmerzten und sein Gewicht ihn nach unten zog. Verdammte Erdanziehung.