4,99 €
Stürmische Gefühle im »Bright Blossom Cottage« in Schottland. Für alle Leser:innen von Jenny Colgan und Manuela Inusa Rebecca liebt ihre schottische Heimat und ihre Arbeit im Bright Blossom Cottage über alles, doch manchmal fragt sie sich, ob sie mit ihren 28 Jahren nicht noch etwas mehr von der Welt als East Lothian und den Firth of Forth sehen sollte. Aufregend und ultimativ sexy findet Rebecca den neuen Gast aus Übersee, Josh Rush, der sich im Cottage ausruhen und auf die neue Surfsaison vorbereiten möchte. Als er sich beim gemeinsamen Segeltörn verletzt und länger als gedacht im Cottage bleibt, bringt er sie zum Träumen und lässt ihr Herz aufbranden wie eine tosende Welle ... »Juli Sand entführt uns mit ihrer Wohlfühlreihe »Bright Blossom Cottage« ins wunderschöne Schottland und lässt unsere Herzen mit jedem Band höher schlagen.« Bestsellerautorin Carina Schnell
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Mehr über unsere Autoren und Bücher: www.piper.de
Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, schreiben Sie uns unter Nennung des Titels »Dinner im kleinen Cottage in Schottland« an [email protected], und wir empfehlen Ihnen gerne vergleichbare Bücher.
© Piper Verlag GmbH, München 2024
Redaktion: Loreen Bauer
Dieses Werk wurde vermittelt von der Literarischen Agentur Kossack GbR
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)
Covergestaltung: Alexa Kim »A&K Buchcover«
Covermotiv: Bilder unter Verwendung von Depositphotos und Shutterstock
Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
Wir behalten uns eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.
In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
Cover & Impressum
Motto
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
Danke
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
»Du bist faszinierend wie eine gigantische Welle des Atlantiks. Aufregend, prickelnd,atemberaubend.«
(Josh Rush)
»Ich fühle mich eher wie die matte Dünung einesschottischen Lochs.«
(Rebecca Glenn)
Bright Blossom Cottage
Schwungvoll trat Rebecca in die Pedale. Der Weg von Dirleton zum Bright Blossom Cottage war jeden Morgen der beste Start in den Tag, neben einer guten Tasse Scottish Breakfast Tea natürlich. Doch jetzt, Ende Oktober, wurden die Tage nicht nur kürzer, sie wurden auch nasser und windiger.
Brownie, ihr alter Drahtesel, quietschte, als sie die kleine Anhöhe hinauffuhr, hinter der sie das Cottage bereits schemenhaft erkennen konnte.
Das Zimmer, das sie bei ihren Eltern bewohnte, lag unter dem Dach eines ebenso in die Jahre gekommenen Cottage, und im Sommer brauchte sie von Haustür zur Haustür gerade einmal vierzehn Minuten. Bei herbstlichen Wetterverhältnissen wie heute allerdings, mit Nieselregen von der Seite und Laub auf der Straße, waren es eher zweiundzwanzig. Zweiundzwanzig sehr anstrengende Minuten. Rebecca wich einem Schlagloch aus, das sie beinahe übersehen hätte. Ihre Regenjacke war nicht gerade atmungsaktiv, und sie begann zu schwitzen.
Egal, im Bright Blossom Cottage könnte sie eine Dusche nehmen, wann immer sie wollte.
Seit gut drei Jahren arbeitete sie nun hier, und bisher war sie fast jeden Morgen mit dem Rad zur Arbeit gefahren. Abgesehen von den acht oder neun Tagen, an denen heftige Orkanböen an den Ästen gezerrt und Zweige wie Strohhalme durch die Gegend gepustet hatten. Da hatte sie ausnahmsweise Pumpkin, Dads kleinen Wagen, genommen. Das schottische Wetter war abwechslungsreich und bunt wie die Cottage-Gäste, und Rebecca liebte das.
Das Licht des anbrechenden Tages spiegelte sich in der Nässe des Asphalts. Einige breit gefächerte Kastanienblätter lagen auf der Straße. Rot, orange, gelb und braun. Die herrliche Farbpalette ihrer liebsten Jahreszeit.
Vor einer Woche hatte die jährliche Fall Fair, das Herbstfest im Bright Blossom Cottage stattgefunden.
Seit Luc das Cottage übernommen hatte, war dieses bunte Fest, eine Mischung aus Bauernmarkt, kleiner Kirmes und fröhlichem Beisammensein, ein lieb gewonnenes Event für die Gäste, Menschen aus der Region und nicht zuletzt die Cottage-Crew geworden.
Sogar ihre Eltern, Isla und Harrison, die so gut wie nie ausgingen, hatten sich mit Pumpkin auf den Weg gemacht. Es war eines der wenigen Male gewesen, dass sie unter Leute gegangen waren.
Obwohl um diese Uhrzeit keine weiteren Autos unterwegs waren, streckte sie vor der Abzweigung den Arm heraus. Einen kurzen Moment hielt sie inne und atmete tief ein. Die frische Luft tat gut nach der unruhigen Nacht.
Rebecca bog nun auf den Weg ab, der zum Bright Blossom Cottage führte. Die ausladenden Rhododendronbüsche unter dem Lichtkegel der Laterne warfen unförmige, wogende Schatten auf den Boden, als sie auf das Manor Home zufuhr. Neben dem historischen Herrenhaus erkannte sie die Silhouette des alten Steingebäudes mit den gemütlichen Unterkünften. Rechts und links davon lagen mehrere Stallungen, dahinter die Scheunen und ein weitläufiger Garten.
Etwas Weiches berührte ihr Gesicht, und Rebecca strich sich über die Wange, wahrscheinlich eine Spinnwebe. Sie lächelte. Nicht nur die Gäste, auch bestimmte achtbeinige Wesen fühlten sich hier wie zu Hause. Die schwarzen, pelzigen Tierchen fanden es im Cottage und dem dazugehörigen Anwesen genauso gemütlich wie Rebecca selbst. In der kalten Jahreszeit versuchten einige, ein Plätzchen im Warmen zu ergattern. Beim Befeuern des Kamins waren sie ihr im Holzkorb begegnet, beim Durchfegen der Rezeption unter den Fußleisten. In der Scheune lebten besonders viele, sie hatten dort geradezu eine Kolonie gegründet. Nur Noah durfte mit seiner Spinnenphobie nichts davon erfahren. Dabei waren diese Tierseelen völlig harmlos und konnten nichts dafür, zufällig in einen Körper hineingeboren worden zu sein, der einige Menschen abschreckte. Rebecca hatte keine Angst vor Spinnen. Sie fürchtete sich vor anderen Dingen.
Der Kies knirschte, als sie das Rad zum Fahrradständer schob und es abstellte.
Sie warf einen letzten Blick in den zaghaft heller werdenden Himmel. Was auch immer hell um diese Jahreszeit in Schottland bedeutete.
Wie jeden Morgen machte sie einen Abstecher ins Haupthaus, das Manor Home, bevor sie zum Cottage hinüberging und sich an die Rezeption setzte.
Sie öffnete die schwere Holztür, in die das Cottage-Symbol, eine hübsche Rhododendronblüte, eingraviert war. Kaum hatte sie den warmen Vorraum betreten, wallte ihr schon der köstliche Duft nach Toast, Kaffee, Pancakes und gebratenem Speck entgegen.
Im großen Saal saßen nur wenige Gäste, der Oktober fiel nicht in die Hauptsaison. Die meisten Besucher kamen im Mai und Juni, wenn die Rhododendronbüsche in leuchtenden Farben blühten und die Tage unendlich lang waren.
Rebecca ging an der hüfthohen Steinmauer vorbei. Früher waren das zwei voneinander getrennte Räume gewesen, die nun fließend ineinander übergingen. Bei der Renovierung des aus dem 18. Jahrhundert stammenden Gebäudes hatten sich Ann und Luc entschieden, einen Teil der Mauer stehen zu lassen, was dem Ganzen einen besonderen Charme verlieh. Sie öffnete die Tür zur Restaurantküche.
Andrew stand schon am Herd, die Kochmütze wie immer ein wenig schief auf dem Kopf. Seine rotblonden Haare lugten darunter hervor. Aus einer Pfanne spritzte Fett, und er schob sie schnell ein Stück zur Seite. Als er sie bemerkte, sah er kurz auf und grüßte flüchtig. Dann wandte er sich schnell einem Topf zu, in dem es heftig brodelte.
Rebecca liebte es, ihn in der Küche zu beobachten. Seine Bewegungen waren etwas linkisch, aber in seinem Gesicht spiegelte sich die pure Leidenschaft für das wider, was er am liebsten tat: kochen.
Robin schien dagegen weniger gehetzt als sein Chef. Der Lehrling, der bei Andrew eine Ausbildung zum Koch machte, schnitt gerade frisches Obst für das Frühstück und legte dabei keine Eile an den Tag. Er war ein ehemaliges Waisenkind aus dem Waisenhaus St. Angus in Edinburgh, mit dem das Cottage seit einigen Jahren eng kooperierte.
Sie kannte den Siebzehnjährigen bereits, als er noch Hip-Hop-Star an der Westküste der USA werden wollte. Seine Kochschürze trug er in der Tat ein wenig cooler, als es für die Arbeitskluft üblich war. Ein Träger baumelte herab, und sie war auf links gedreht.
»Guten Morgen Becca!«, rief er ihr zu und formte mit den Fingern das Hang-Loose-Zeichen. Sie trat zu ihm, stibitzte sich ein Apfelstück vom Schneidebrett und steckte es sich in den Mund.
»Hey, das ist für die Gäste!«, beschwerte sich Robin mit gespielter Empörung.
In dem Moment kam Noah mit einer Kiste Apfelmost auf der Schulter hereinspaziert. Rebecca erkannte die Flaschen. Es war die Abfüllung aus dem Obsthof der McCullens aus Fenton Barns.
Seit Luc das Cottage vom Vorbesitzer Ian übernommen hatte und Andrew als Küchenchef und Wächter des Gartens hier begonnen hatte, waren sie viele Kooperationen mit den umliegenden Bauern eingegangen. Es war eine erfolgreiche Zusammenarbeit, von der alle profitierten.
Vor zehn Jahren hatte Luc im nahe gelegenen Macmerry eine Whiskydestillerie gekauft und auf nachhaltige Produktion umgestellt. Sein Luc’s Organic Whisky war von einem Geheimtipp zu einer überregional bekannten Marke herangewachsen.
Noah stellte die Getränkekiste sehr vorsichtig zu Rebeccas Füßen ab und wünschte ihr einen guten Morgen.
»Hättest du die Kiste nicht noch etwas auf einer Hand balancieren können?«, neckte sie ihn. »Dafür, dass du früher mal im Zirkus aufgetreten bist, war mir das fast ein bisschen zu langweilig.«
Noah kratzte sich am Hinterkopf. Er trug sein Haar jetzt wieder länger, nachdem es bei dem Scheunenbrand im vergangenen Jahr angesengt worden war und er es hatte abschneiden müssen.
»Musst du mich immer an meine Vergangenheit erinnern?«, fragte er und legte den Kopf schief.
»Werde ich dieses Image eines Draufgängers denn niemals los?«
Rebecca lachte und stupste ihn freundschaftlich in die Schulter. Sie liebte den morgendlichen Schlagabtausch mit Noah so sehr wie ihren Scottish Blend Tee.
»Ich mag deine draufgängerische Seite. Sie erinnert mich daran, auch einmal etwas zu wagen, um etwas zu gewinnen.«
Noah war fast zehn Jahre älter und für sie ein wenig wie ein Bruder geworden. Überhaupt war die Cottage-Crew die Art Familie, die sich Rebecca immer gewünscht hatte. Offene, fröhliche Menschen, die das Leben auskosteten, anstatt sich in ihren vier Wänden einzuigeln, so wie ihre Eltern.
Sie seufzte.
»Schlecht geschlafen?«, fragte Noah und sah sie besorgt an.
»Du bemerkst aber auch jede noch so kleine Regung in meinem Gesicht.«
»Während meiner Ausbildung zum Stuntman habe ich einiges übers Mimik-Lesen gelernt. Das war in meinem Beruf wichtig.«
»Klingt spannend.«
»Und deine Mimik hat mir eben verraten, dass du keine acht Stunden Schlaf hattest.«
»Ach so?«
»Ja, da war diese Mikroexpression zwischen deinen Augenbrauen.«
»Mikroexpression? Wir sind hier in einer Küche, nicht an einem Filmset.« Rebecca lachte, doch innerlich fühlte sie sich ertappt. In letzter Zeit wurde ihr schwer ums Herz, wenn sie an ihre Eltern dachte. Das wirkte sich auf ihren Schlaf aus, und Noah musste das gesehen haben.
Es blieb ihr jedoch vorerst erspart, sich Noah öffnen zu müssen, denn hinter ihnen zischte es laut, gefolgt von Andrews Fluchen.
Als sie sich umdrehten, kochte aus einem der Töpfe Milch über, und Robin stürmte zum Herd.
»Merde!«, rief Andrew aus. Er liebte es, auf Französisch zu fluchen. Diese Angewohnheit hatte Catherine, ebenfalls Teil der Cottage-Crew und ihre Haus- und Hof-Anwältin, hier eingeführt. Es hörte sich einfach more upscale an als das S-Wort.
»Wie lange bin ich jetzt schon Koch?«, meckerte Andrew und riss sich die Mütze vom Kopf, sodass seine rotblonden Haare in alle Richtungen abstanden. »Und noch immer passiert mir das!«
Er stampfte mit dem rechten Fuß auf. In der linken Hand hielt er den Quirl.
»Ich bin mir nicht sicher, ob wir nicht doch in einem Filmset gelandet sind«, sagte Noah zu Rebecca und grinste. »Der Film heißt: Lethal Weapons – Töpfe, Pannen und ein Quirl.«
Die beiden prusteten gleichzeitig los, woraufhin Andrew sie mit zusammengekniffenen Augen von der Seite aus anfunkelte.
Um diese Uhrzeit, wenn die drei Männer das Frühstück vorbereiteten, ging es jeden Morgen hektisch zu. Rebecca liebte diese Betriebsamkeit. Sie brachte ihren Kreislauf in Schwung, genauso wie die Fahrt auf Brownie. In ihrem eigenen Daheim herrschte meist tödliche Stille. Isla und Harrison hatten nie viel miteinander geredet, und in letzter Zeit noch weniger.
Es war ihr unangenehm, mit achtundzwanzig noch bei ihren Eltern zu wohnen. Die beiden waren bereits über siebzig, wirkten jedoch zehn Jahre älter und behüteten sie wie ihren Augapfel. Sie liebte Isla und Harrison innig, nur fragte sie sich in letzter Zeit häufiger, wann ihr Zuhause zu eng für sie geworden war. Irgendwie hatte sie den richtigen Moment verpasst, auszuziehen.
Eine Großstadt wie Edinburgh reizte sie trotzdem nicht. Für sie war es einfach unvorstellbar, dass es irgendwo einen schöneren Ort auf der Welt geben könnte als die Region Haddingtonshire. Sie war in Dirleton geboren, hier zur Schule gegangen und hatte eine Ausbildung zur Restaurantfachfrau im Hotel Golden Maple in der historischen Altstadt von Gullane absolviert. Dorthin hatte sie an guten Tagen dreizehn Minuten mit Brownie gebraucht. Wie gern sie dort gearbeitet hatte! Es lag am Südufer des Firth of Forth, und häufig hatte sie ihre Mittagspause am Wasser verbracht. Viele Gäste waren Golfer, die wegen des nahe gelegenen Golfplatzes Muirfield dort Urlaub machten. Rebecca hatte sich nie für Golf interessiert, stattdessen liebte sie es, an freien Tagen mit ihrem aufblasbaren Stand-up-Paddle-Board über die sanften Wellen zu gleiten.
O ja, sie genoss die Ruhe, die friedliche Stille auf dem Wasser.
Davon war in der Cottage-Küche gerade wenig zu spüren.
Andrew schimpfte noch immer mit sich selbst, es roch nach verkohltem Toast, angebrannter Milch, und Robin stolperte gerade scheppernd über die Apfelmostkiste, weil sich sein viel zu weiter Kittel zwischen den Flaschen verfangen hatte.
Im Gegensatz zu Andrew fluchte er jedoch nicht auf Französisch, er entschied sich für das böse F-Wort.
»Komm, wir überlassen den beiden das Schlachtfeld«, sagte Noah und schob die Kiste aus dem Weg. »Darf ich dich auf einen Pumpkin-Spice-Cappuccino einladen?«
»Das klingt verlockend.«
Gemeinsam verließen sie die Küche und gingen in den Speisesaal.
Mit ihnen betrat eine kleine Wandergruppe den Raum. Es waren die rüstigen Rentnerinnen und Rentner mit ihren rosigen Wangen und lustigen Bucket-Hats, die schon seit Jahren hierherkamen. Munter schnatterten sie durcheinander, während sie noch nach den perfekten Plätzen für ihr Frühstück suchten. Rebecca und Noah zog es hingegen zur Kaffeemaschine, die auf dem Küchentresen einige Meter vor der Bar stand.
Hier kochte Andrew häufiger am Abend vor Publikum oder bei verschiedenen Veranstaltungen. Auch die Kochkurse mit den Kids aus St. Angus fanden hier statt.
»Ein Glück, dass Andrew sein Show-Kochen nicht auch zum Frühstück anbietet«, sagte Noah. »Vermutlich würden die Gäste weglaufen, so wie er sich gerade aufführt.«
Routiniert betätigte er die Kaffeemaschine. Es dampfte und zischte, bevor die braune Flüssigkeit in die erste Tasse lief. Während das Gerät weitere lustige Geräusche von sich gab und Milchschaum auspustete, hantierte Noah mit einer kleinen Dose herum. »Das haben Andrew und ich neulich mit den Kids zubereitet: Pumpkin-Powder. Riech mal.« Er hielt Rebecca die Dose vors Gesicht und ein würziger Duft aus Zimt, Muskatnuss und etwas Schärferem stieg ihr in die Nase.
»Hm, das riecht nach Herbst, fast schon ein bisschen nach Advent, findest du nicht?«
Noah nickte. »Das ist genau das Richtige für diese Jahreszeit.« Er stellte ihr die Tasse hin und bereitete sich selbst einen Cappuccino zu.
»Was ist da drin?«, fragte sie und nahm gleich noch einen Atemzug.
»Das Rezept stammt natürlich von Andrew«, stellte Noah klar.
»Natürlich.«
»Du nimmst Zimt, getrocknetes Pumpkin-Powder, Ingwer, Muskat, Piment und ein paar Nelken. Dann ordentlich mischen, darauf kommt es an.« Noah nahm die Dose in beide Hände, überprüfte, ob sie gut genug verschlossen war und schüttelte sie wie einen Cocktail, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan als hinter der Bar zu stehen.
Rebecca schmunzelte. »Schade, dass du nicht mehr in Filmen mitspielst. Ich finde, du hast das Zeug dazu.«
»Weißt du was?«, entgegnete Noah. »Ich finde es überhaupt nicht schade. Das Cottage und mein Leben hier sind genau das, was ich will. Und was davor passiert ist …«
Sie wusste sofort, was er meinte. Als sie Noah vor etwa anderthalb Jahren begegnet war, war er noch ein relativ bekannter Stuntman gewesen, der auch in Werbespots mitgespielt und kleinere Rollen bekommen hatte. Sein abenteuerlicher Ruf als Draufgänger und Frauenheld war ihm zum Verhängnis geworden, als man ihn zu Unrecht für das Verschwinden seiner Freundin verantwortlich gemacht hatte.
Zum Glück hatte sich der Medienhype um seine Person relativ schnell wieder beruhigt. Es war doch sehr beängstigend gewesen, als dieser Shitstorm getobt hatte und die Leute sogar ins Cottage eingedrungen waren, um ihn zu filmen. »Das war keine schöne Zeit gewesen«, sagte sie mitfühlend.
»Erinnere mich nicht daran.« Noah machte eine beschwichtigende Geste, wie um sich selbst zu beruhigen. »Das war der reinste Albtraum. Dieses Cottage ist für mich eine Festung geworden, der ideale Rückzugsort vor der verrückten Welt da draußen. Und seit Catherine und ich drüben in The Shed leben, werde ich diesen Ort mit meinem Leben verteidigen, wenn uns hier noch einmal Störenfriede belästigen sollten.« Er stellte sich mit breiter Brust vor sie.
Catherine war Anwältin, Kommunikationsprofi und sehr gut befreundet mit Luc und dessen Freundin Ann. Sie hatte sowohl die beiden als auch Noah schon in juristischen Fragen vertreten, ebenso das Waisenhaus St. Angus sowie dessen übergreifende Dachorganisation in Edinburgh.
Auch der Verein zur Förderung lokaler Unternehmen in der Region Haddingtonshire, Stay Local, in dem sich Rebecca engagierte, wurde durch Catherine juristisch beraten. Und mittlerweile waren sie und Noah ein überglückliches Paar.
Sie nahmen ihre Tassen und setzten sich etwas abseits der anderen Gäste. An diesem Tisch besprachen sie gern den Tagesablauf. Seit Noah seine Stuntman-Karriere an den Nagel gehängt hatte, arbeitete er hier und in Lucs Destillerie in Macmerry. Im vergangenen Jahr hatte er sich auch zum Trainer ausbilden lassen und gab in der Scheune des Cottage Selbstverteidigungskurse für Kinder. Zunächst war es ein Angebot für die Kids aus St. Angus gewesen, doch die Nachfrage war so enorm, dass nun auch viele Kinder der Region hierherkamen.
»Okay«, sagte Rebecca und ging gedanklich die Aufgaben für heute durch.
»Wenn ich gleich an der Rezeption sitze, checke ich als Erstes die Buchungen fürs Wochenende.«
»Ich war heute Morgen bereits auf dem Markt in Haddington und anschließend den Apfelmost holen«, berichtete Noah. »Gleich werde ich die Kisten in den Keller schleppen, das ist dann mein Fitness-Programm für heute.« Er grinste.
Mittlerweile waren sie ein eingespieltes Team. Rebecca war als Cottage-Managerin die erste Ansprechpartnerin für alles und jeden. Sie organisierte den gesamten Betrieb und führte die Bücher. Manchmal fühlte sie sich dabei wie die Dirigentin eines bunt gemischten Orchesters, bei dem alles ineinanderfloss und dabei am Ende eine wunderhübsche Komposition entstand. Jeder Tag im Bright Blossom Cottage war anders, der Soundtrack ging manchmal nahtlos über von verträumten, langsamen Songs zu schnellen, turbulenten Intermezzi, die ihren Tagesablauf begleiteten. Noah war so etwas wie ihr Multitalent, der fast alle Instrumente spielen konnte: Er packte einfach überall mit an, vom Einkauf der Waren bis hin zum Organisieren und Durchführen der Events. Bei den Kunden und den Kids aus St. Angus war er durch seine charmante und witzige Art sehr beliebt. Er war der Typ, dem der Schelm im Nacken saß, und das gefiel den Menschen.
»Ich bin doch froh, dass du kein Stuntman mehr bist.« Rebecca lächelte ihm zu. »Wie sollte ich das alles nur ohne dich bewerkstelligen?«
In dem Moment erschien Catherine im Manor Home. Sie trug ihre Arbeitsuniform: einen gut geschnittenen dunkelblauen Anzug und spitze Pumps. Ihre langen braunen Haare hatte sie zu einem lockeren Knoten im Nacken zusammengesteckt.
»Guten Morgen, ihr beiden«, grüßte sie fröhlich. »Seid ihr durch mit eurem Morgenkreis? Darf ich stören?«
»Du störst nie«, antwortete Rebecca.
Sie trat zu ihnen an den Tisch und küsste Noah einen Rest Cappuccino-Schaum von der Oberlippe.
Rebecca mochte Catherine und Noah sehr. Sie spürte die tiefe Verbindung, die die beiden miteinander hatten. Doch auch wenn sie es ihnen von Herzen gönnte, irgendetwas in ihrem Inneren versetzte ihr einen leichten Stich, wenn sie darüber nachdachte. Sie wollte diesem melancholischen Gefühl jetzt jedoch keinen Raum geben, also trat sie lieber den Rückzug an. »Okay, ihr Turteltäubchen. Ich lasse euch dann mal allein. Wir sehen uns ja um fünf zur freitäglichen Tea-Time.«
Catherine nickte. »Hoffentlich bin ich pünktlich aus Edinburgh zurück. Bei solchen Anhörungen vor Gericht weiß man nie.« Sie schaute auf ihre Armbanduhr, eines dieser edlen klassischen Stücke, die ein Vermögen kosteten und Sammlerstatus besaßen.
Noah und Catherine hatten sich hier, in dem ehemaligen kleinen Schuppen, ein neues Zuhause geschaffen. The Shed war ein süßes Häuschen geworden, das vor allem Noahs Handschrift trug. Er hatte viel selbst gebaut. Bevor sie hierhergezogen war, hatte Catherine als Staranwältin in Brighton gearbeitet. Mit ihrer Kanzlei Woods Consulting hatte sie Celebrities vertreten. Mittlerweile übernahmen ihre Kollegen in Brighton diese Fälle, und Catherine kümmerte sich vor allem um gemeinnützige Vereine hier in der Region.
Es hatte Rebecca tief beeindruckt, wie sowohl Catherine als auch Noah ihr Leben komplett neu ausgerichtet hatten. Ob ihr das eines Tages wohl auch gelingen würde?
Ihren Platz an der Rezeption hatte sie sich über die Jahre so eingerichtet, wie sie es mochte. Eine Schale getrockneter Rhododendronblüten verschönerte den Tresen, hinter dem ihr Schreibtisch stand. Eine dieser altmodischen Leselampen aus der Bibliothek spendete warmes, gemütliches Licht. Sie setzte sich und fuhr den Computer hoch. Im Cottage war es jetzt viel stiller als im Frühjahr oder Sommer, wenn die Gäste ein und aus liefen und sich die Buchungen überschlugen. Mittlerweile war das Cottage auch zu einer beliebten Hochzeitslocation geworden, die vor allem von Mai bis September sehr gefragt war.
Sie freute sich über die ruhigere Saison, die Stille. Darauf, das Ächzen der alten Balken zu hören, die sich bei Kälte zusammenzogen.
Gerade näherte sich ihr jemand mit schlurfenden Schritten. Dem alten Holzboden entging einfach nichts. Es war Ian, der Vorbesitzer des Cottage, der morgens gern bei ihr vorbeischaute.
Rebecca mochte diese täglichen Routinen.
»Guten Morgen.« Wie immer trug er seine zerbeulte Schiebermütze aus Tweed und eine alte Latzhose.
»Ian, guten Morgen. Gut, dass du vorbeikommst. Kannst du heute Nachmittag wieder für zwei Stunden die Rezeption übernehmen? Ich habe doch mit Andrew den Kurs für die Kids. Wir backen gemeinsam Pumpkin Pies.« Darauf freute sie sich schon seit Tagen.
»Das haben wir so besprochen. Freitagnachmittags stehe ich dir gern zur Verfügung.«
»Ich wollte nur noch einmal nachfragen, zur Sicherheit.« Rebecca lächelte über ihre leicht übertriebene Gewissenhaftigkeit. Manchmal musste sie selbst feste Verabredungen mehrfach bestätigt wissen, um sich gut zu fühlen.
»Aber nur unter einer Bedingung«, verlangte Ian und schob einen seiner Hosenträger zurück auf die hagere Schulter. »Ihr backt genug Pies, damit zur Tea-Time um fünf ein ordentlicher Vorrat für die Cottage-Crew zur Verfügung steht.«
»Na klar.« sie lächelte. »Das liegt ja auch in meinem Interesse.«
Das Telefon klingelte und Rebecca tauchte in ihren Arbeitsalltag ein. Er bestand aus Gesprächen mit den Gästen, den Lieferanten und der Abstimmung mit dem Waisenhaus über die Kurse mit den Kids. Es war keine Selbstverständlichkeit, dass Menschen wie Luc und Ann so sehr an sie glaubten und der gesamte Betrieb des Cottage in ihrer Hand lag. Wann würden ihre Eltern ihr endlich einmal derart viel zutrauen? Zu ihrem fünfzigsten Geburtstag?
Auch die Gäste mochte sie. Die meisten waren auf der Suche nach Ruhe und Abgeschiedenheit und wussten Schottlands bezaubernde Landschaften genauso zu schätzen wie sie selbst. Sie hatte eine hohe Meinung von jedem Einzelnen der Cottage-Crew, diese Menschen waren ihr in manchen Momenten näher als ihre eigenen Eltern. Am allermeisten liebte sie jedoch die Arbeit mit den Kids aus St. Angus.
Sie hatte sich immer Geschwister gewünscht, doch ihre Eltern waren bei Rebeccas Geburt schon weit über vierzig gewesen. Isla hatte bereits einige Fehlgeburten und war so etwas wie ein Wunder gewesen, das selbst die Ärzte überraschte.
Wie ein Wunder hatten Isla und Harrison ihre einzige Tochter dann auch erzogen. Am liebsten hätten sie sie wohl in ihre Vitrine gestellt. Hinter Glas, sodass sie Rebecca die ganze Zeit betrachten konnten.
Sie seufzte bei dem Gedanken. Mit Sicherheit hatten es ihre Eltern nie böse gemeint, doch sie war überbehütet aufgewachsen. Helikopter-Eltern nannte man das heute. Mit fünfzehn hatte sie den Begriff in der Bibliothek in Dirleton nachgeschlagen. Er wurde erstmals 1969 von einem Psychologen in dem Buch Between Parent and Teenager verwendet, der einen Jugendlichen zitiert: »Mutter schwebt über mir wie ein Helikopter …«
Rebeccas Eltern schwebten nicht nur über ihr, sie schwirrten um sie herum, standen neben, vor und hinter ihr. Obwohl sie die meiste Zeit des Tages gar nicht zu Hause war, waren sie einfach omnipräsent, getrieben von der Angst, ihrem Wunder könnte etwas zustoßen in dieser rohen, grausamen Welt.
Es hatte sie viel Kraft und Mühe gekostet, ihren eigenen Weg zu gehen. Häufig war es schmerzhaft, denn ihre Eltern bereiteten ihr ein schlechtes Gewissen, obwohl sie das gar nicht beabsichtigten. Ihr enttäuschtes Seufzen, wenn sie nur das Haus verließ, die wortlosen Blicke. Sie vermittelten ihr den Eindruck, es sei falsch, wenn sie etwas ohne sie unternahm und ihre eigenen Entscheidungen traf. Der Gedanke, keine gute Tochter zu sein, nagte an ihr wie die Scheunenmäuse an den morschen Holzbalken.
Rebecca versuchte den Gedanken daran abzustreifen. Der betriebsame Vormittag im Cottage half ihr dabei.
Unentwegt lief sie zwischen dem Manor Home und dem Cottage hin und her, da heute Handwerker kamen. Die Abwasserleitungen mussten überprüft werden. In so einem alten Anwesen gab es ständig etwas zu reparieren. Manchmal kam es ihr so vor, als wäre das Cottage ein eigenständiges Wesen, das nach Fürsorge und Aufmerksamkeit verlangte, je betagter es wurde. Ein bisschen wie ihre Eltern.
Sie blinzelte und rückte ihren Dutt zurecht. War es wirklich schon fast fünf? Die Tage hier flogen dahin wie eine Wolkenfront an einem stürmischen Herbsttag. Bevor sie zum Fünfuhrtee gehen würde, setzte sie sich jedoch noch einmal an ihren Schreibtisch, ging die neuen Mails durch und checkte die Nachrichten, die zwischenzeitlich auf dem Anrufbeantworter eingegangen waren.
Da klingelte das Telefon.
»Bright Blossom Cottage, Rebecca Glenn, was kann ich für Sie tun?«, meldete sie sich standardmäßig.
»Hi, hier ist Josh«, sagte eine männliche Stimme.
»Hallo, Josh.«
»Ich wollte nur sagen, ich komme etwas später als in der Buchung angegeben. Im Internet habe ich gelesen, dass die Rezeption freitags nur bis fünf besetzt ist.«
»Kein Problem«, versicherte sie. »Schön, dass du Bescheid gibst.« Mit ein paar Klicks öffnete sie die bestätigten Buchungen für den Tag. »Josh Rush, richtig? Ich lege deinen Zimmerschlüssel in die kleine Schlüsselbox neben der Eingangstür zum Cottage. Den Code dafür sende ich dir auf dein Smartphone.«
»Super, vielen Dank«, sagte er und klang erleichtert, ihr nicht zu große Umstände zu bereiten.
Sie schätzte es sehr, wenn Gäste so verbindlich waren wie sie selbst und sich meldeten, wenn sie sich verspäteten.
»Ich danke dir.«
Sie verabschiedeten sich, und Rebecca freute sich auf den Fünfuhrtee.
Edinburgh und Bright Blossom Cottage
Der Begriff Fließen bekam beim Anblick dieses gummibeschichteten, ratternden Teils eine ganz neue Bedeutung. Josh stand am Gepäckband und steckte sein Smartphone zurück in die Hosentasche.
Vor ihm fuhren eine pinkfarbene Reisetasche, ein dunkler Trolley und einer dieser silbernen Hartschalenkoffer vorbei, der sah aus wie für eine Geldübergabe designt.
Er wartete nun schon seit fast einer Stunde, doch die geschäftigen Geräusche, die das Gepäckband von sich gab, spiegelten in keiner Weise dessen Produktivität wider. Zumindest mit ihm schien es nicht zusammenarbeiten zu wollen. Sein ozeanblauer Seesack aus Canvas war noch nicht vorbeigekommen.
Das war es, was ihn am Reisen wirklich nervte. Irgendetwas lief immer schief.
Mit seinen neunundzwanzig Jahren war Josh bereits sehr viel herumgekommen. Wahrscheinlich hatte er mehr Flugmeilen auf dem Buckel als die Maschine, mit der er von Orlando hierher nach Edinburgh geflogen war.
Er wippte von einem Bein aufs andere, um seine Gliedmaßen nach dem zwölfstündigen Aufenthalt in der Maschine langsam wiederzubeleben. Sie fühlten sich noch immer taub an. Normalerweise hätte der Flug zehn Stunden gedauert, doch wegen Personalmangel hatte es länger gedauert, das Gepäck zu verladen. Danach war ein Gewitter über Orlando gezogen, sodass sie über eine Stunde lang nicht hatten starten können. Josh hatte bereits Rückenschmerzen gehabt, bevor es überhaupt losgegangen war.
Wenn man sich doch bloß beamen könnte, dachte er. Dann könnte man das Gepäck direkt mit befördern und müsste sich nicht nach Stunden in der Flugzeugkabine noch die Beine in den Bauch stehen. »Surfen ist wie Fliegen.« Das war eines seiner liebsten Zitate, doch im Praxistest kam Fliegen nicht mal annähernd an Surfen heran. Keine Flow-Momente, keine Glücksgefühle, nur gedehnte Minuten voller Anspannung.
Josh lief vor dem Gepäckband auf und ab: ein gelber Koffer, eine zerbeulte schwarze Reisetasche, aber kein Hauch von Ozeanblau.
Langsam wurde er nervös. Und er fror. Ein Blick zu seinen Füßen erinnerte ihn daran, wieso. Sie steckten ohne Socken in ausgetretenen dunkelblauen Leinenslippern. Klar, in Schottland benötigte man anderes Schuhwerk, doch er mochte den kühlen Luftzug auf der Haut, gerade in Flugzeugen. Das milderte das beklemmende Gefühl, mit Hunderten Leuten auf engstem Raum eingeschlossen zu sein und dieselbe Luft zu atmen.
Die meisten Menschen flogen nicht gerne, doch die Surfer, die er kannte, hatten fast alle den blanken Horror davor.
Besonders Lennox. Mit seinen siebenundsiebzig Jahren war er einer der ältesten Surfer der Community in Cinnamon Beach, Joshs Home-Surfzone an der Atlantikküste Floridas. Sie kannten sich schon seit er denken konnte. Er war schottischer Abstammung und hatte sich mit Mitte zwanzig nach Florida abgesetzt, um ein freies Leben unter ewiger Sonne zu führen, wie er es ausdrückte. Dort hatte er mit seiner Freundin Rosie einen Surfshop eröffnet, der mittlerweile Kultstatus besaß. Lennox war für ihn ein Vorbild, ein Mentor und eine Art Vaterersatz gewesen.
Seine Eltern hatten seine Liebe für das unbändige Meer nie geteilt. Für sie war Surfen nach wie vor eine Freizeitbeschäftigung für weniger Ambitionierte, die den ganzen Tag am Strand herumhingen, anstatt etwas Vernünftiges zu tun. Lennox hingegen hatte Josh stets gefördert, was zu einigen Konflikten mit seinen Eltern geführt hatte.
Klar, mit dem Surfen wurde man nicht reich, doch er hatte bereits als Sechzehnjähriger einige Sponsoren für sich gewinnen können, die seitdem sein gesamtes Equipment sowie einige seiner Trips finanzierten. Mittlerweile konnte er gut davon leben und was viel wichtiger war: Er lebte seinen Traum! Ein Schreibtischjob war für ihn ebenso wenig vorstellbar wie ein Leben ohne Wellen.
Vor ihm rauschte eine rundliche Person vorbei, stürzte Richtung Kofferband und riss eine übergroße, in Regenbogenfarben gemusterte Reisetasche vom Band.
Danach herrschte gähnende Leere. Josh blieb noch eine Weile stehen und betrachtete das graue Band, als hoffte er auf ein Wunder, bis es plötzlich stockte und schließlich stehen blieb. Damit war es amtlich: Sein Gepäck würde nicht mehr kommen.
Die Länge der Schlange am Schalter verriet, dass er nicht als Einziger leer ausgegangen war. Als er endlich an die Reihe kam, schilderte er sein Problem. Er füllte Formulare aus und versuchte dabei krampfhaft, nicht daran zu denken, was aus seiner Canvastasche er besonders schmerzlich vermissen würde: seinen Neoprenanzug, ohne den man in Schottland wohl kaum auf ein Brett steigen konnte. Seine dicken Socken, die er schon jetzt gut gebrauchen könnte. Überhaupt, wärmere Kleidung als die er am Leib trug.
Nachdem Josh den Bürokratieteil seiner Reise am Counter für verlorene Gepäckstücke beendet hatte, ging er zum Taxistand.
Er hatte sich eigentlich einen Mietwagen nehmen wollen, doch nach einem so langen Flug sah er sich außerstande, auch noch auf der falschen Straßenseite Auto zu fahren und sicher ans Ziel zu kommen. Das könnte er versuchen, wenn er sich in Schottland eingewöhnt hatte.
Das Taxi war eines dieser altmodischen schwarzen Caps, die man aus Filmen kannte.
»Hey, wo soll’s hingehen?«, begrüßte ihn die Fahrerin, eine junge Frau mit burgunderrotem Haar, dunkler Kleidung und Piercings in Ohren, Nase und Kinn. Sie war der lebende Kontrast zu dem Taxi, das sie fuhr.
Ihr starker schottischer Akzent gefiel ihm. Er wollte eintauchen in diese ganz andere Welt, hier in Europa, von der Lennox ihm vorgeschwärmt hatte. Um runterzufahren und neue Energie für die kommende Surfsaison zu sammeln.
Josh nannte ihr die Adresse des Bright Blossom Cottage und nahm auf der Rückbank Platz.
Drinnen roch es nach Räucherstäbchen. Auf dem Rückspiegel klebte ein Spinnennetz, und die Sitzbezüge waren mit Totenköpfen gemustert.
Nun, die Deko passt zu meinem derzeitigen emotionalen Zustand, dachte er und rutschte tiefer in die Polster, als die Fahrerin aufs Gas trat.
»Was dagegen, wenn ich Musik anmache?«, fragte sie, als sie die Hauptstadt mit ihrer eigenartigen Architektur hinter sich gelassen hatten.
Josh hatte schon viel von der Welt gesehen, doch über die Strände und die anliegenden Orte war er meist nie hinausgekommen. Wie die Menschen in diesen engen Straßen zwischen dem ganzen Beton überhaupt leben konnten? Er würde Beklemmungen bekommen.
»Nur zu«, antwortete er.
Sie drückte einen Knopf am Armaturenbrett, und es erklang Without you von der Grunge-Band Ashes Remain. Den Song kannte er sogar.
Gleich in der ersten Liedzeile besangen die Jungs einen kalten Novembertag. Josh sah aus dem Fenster zum Himmel hinauf.
Er trug alle Schattierungen von Grau, und die einbrechende Dunkelheit verschluckte jegliche Farbe der Umgebung. Es war zwar erst Ende Oktober, doch besser hätte man die melancholische Stimmung, in der er sich gerade befand, nicht beschreiben können.
»Traurig?«, fragte die Fahrerin und warf ihm über den Rückspiegel einen fragenden Blick zu. Sie bogen auf eine Landstraße ab, wo der Verkehr sich deutlich lichtete.
»Vor allem müde«, antwortete Josh und musste unwillkürlich gähnen. Wie viele Stunden war er jetzt schon auf den Beinen?
»Amerikaner? Wobei, ich glaube, ich kann es noch konkretisieren: aus Kalifornien?«
»Fast.« Er grinste. »Amerika stimmt. Ich denke, mein Englisch hat mich verraten.«
»So, wie meines mich als durch und durch Schottin verrät. Ich heiße übrigens Fiona.« Fionas Spiegelbild lächelte ihm zu.
»Josh. Aus Florida. Wie kommst du auf Kalifornien?«
»Hm, deine langen, blonden Locken scheinen mir von der Sonne gebleicht. Kalifornien war das Erste, was mir dazu einfiel. Bei Florida denke ich immer an Rentner in Bermudashorts.« Sie kicherte.
»Shorts sind ein gutes Stichwort«, antwortete er. »Ich hab nämlich keine dabei.«
»Ich denke nicht, dass du hier zu dieser Jahreszeit welche benötigst, es sei denn, du möchtest mit deinen gebräunten Beinen angeben.«
»Ich surfe nicht, um mich zu bräunen, und ich rede von meiner Unterwäsche. Mein Gepäck ging leider verloren.«
»Autsch!« Josh konnte sehen, wie sich Fiona auf die Unterlippe biss. »Und das bei jemandem, der nicht einmal Socken trägt. Ich hoffe, da, wo du hinfährst, gibt es einen Kamin.«
»Das hoffe ich auch«, sagte er, froh, sich unterhalten zu können. Sonst wären ihm längst die Augen zugefallen.
»Was macht einer wie du im November in Schottland?«, fragte sie nach einer Weile und suchte über den Spiegel erneut seinen Blick.
»Nach meinem Kalender ist noch ein paar Tage lang Oktober.«
»Stimmt, ich hatte noch den Songtext im Ohr.« Wieder ein Kichern. Es klang mädchenhaft und äußerst sympathisch.
»Ich komme zum Surfen hierher.«
»Moment. Ein sonnenverliebter Typ, denn genauso siehst du aus, kommt ausgerechnet jetzt nach Schottland, um zu surfen? Verkohlst du mich? Es sind noch ein paar Tage bis Halloween, also spiel mir keinen Streich.«
»Keine Sorge. Dafür bin ich viel zu fertig vom Flug und zu frustriert über mein verschollenes Gepäck.« Josh ließ sich tiefer in den Sitz sinken. Das Cap war wirklich gemütlich mit dem schwarzen Leder und dem dunklen Dachhimmel. Mit der charmant-spooky aussehenden Fiona und der gruselig anmutenden Inneneinrichtung hätte er meinen können, direkt zu einer Halloweenparty chauffiert zu werden.
»Schottland wird unter Surfern tatsächlich gerade gehypt«, erklärte er. »Cold Water Surfing ist der Fachbegriff.« Wie immer, wenn das Thema auf seine große Liebe kam, geriet er ins Schwärmen. »Hell oder Highland wird Wellenreiten in Schottland oft genannt. Klar braucht man da einen dicken Neoprenanzug.« Wieder dachte er mit Bedauern an sein Gepäck. »Die Wellen hier sind äußerst beständig. Man darf natürlich keine Angst vor dem kalten Wasser des Atlantiks oder der Nordsee haben. In der Nordsee habe ich noch nie gesurft. Die Wellen in der Kleinstadt Thurso sollen Weltklasse sein. Aber auch hier an der Ostküste gibt es tolle Spots. Tatsächlich sind der Herbst und der Winteranfang die beste Jahreszeit dafür.«
»Okay«, sagte Fiona und klang ehrlich interessiert. »Da habe ich wieder etwas dazugelernt.«
»Eigentlich will ich hier nur zum Spaß surfen, ganz ohne Druck und Stress.« Josh fuhr sich durchs Haar. »Ich habe gerade eine heftige Saison hinter mir und will mich in Ruhe auf die nächste vorbereiten.«
Fiona nickte. »Ruhe wirst du hier auf jeden Fall finden«, sagte sie. »Der Großteil der Touristen kommt erst wieder im Frühjahr zu uns.«
»Das ist gut.«
»Und weshalb hast du dir ausgerechnet dieses Cottage ausgesucht? Es liegt doch gar nicht direkt am Meer.«
»In einer Unterkunft am Strand würde ich den ganzen Tag auf dem Board stehen. Ein Freund von mir kommt jedes Jahr hierher. Ab und an fährt er ans Wasser, hauptsächlich geht er im Wald spazieren oder schaut sich die Gegend an. Es erdet ihn.«
»Und bei deinem Job kann etwas Erdung nicht schaden, was?« Ihr Kichern klang wirklich niedlich. Es erinnerte ihn an Jessica, seine zwei Jahre ältere Schwester.
Die Straße war in keinem guten Zustand, Fiona tat ihr Bestes, den Schlaglöchern auszuweichen. Sie entschuldigte sich für jedes Holpern, wenn sie mit dem Hinterrad in eine der Kuhlen rutschten. Das war sicher nicht ihre bevorzugte Streckenführung. Als sie endlich auf eine kurvige kleine Straße abbogen, schien sie ebenso erleichtert wie Josh.
»Da habe ich einiges von einem Outlander wie dir über meine Heimat gelernt«, sagte sie und suchte wieder Blickkontakt mit ihm über den Rückspiegel. »Da ist es nur fair, wenn ich dir auch etwas beibringe.«
»Schieß los«, sagte Josh. Das Gespräch mit Fiona war kurzweilig und hielt ihn davon ab, auf der Stelle einzuschlafen.
»Halloween«, begann sie, und er schmunzelte. Es wunderte ihn nicht, dass sie sich damit auskannte. »Weißt du, woher der Brauch kommt?«
»Ich denke, geschäftstüchtige Businesstypen haben ihn sich ausgedacht, damit die Menschen ihre Spinnennetz-Sticker und Sitzbezüge mit Totenköpfen kaufen.« Josh deutete auf den Innenspiegel und die Sitze.
»Klar.« Fiona kicherte wieder. »Die finden immer einen Grund, einem das Geld aus der Tasche zu ziehen. Mein Cap sieht übrigens das ganze Jahr so aus. Nicht, dass du denkst, am Valentinstag würde ich meine Kundschaft mit rosa Herzchen durch die Gegend kutschieren.«
»Das ist schwer vorstellbar«, antwortete er.
»Also, zurück zu meiner Frage. Denk bloß nicht, Halloween wäre eure Erfindung. Es ist eine keltische Tradition. Der Brauch Cennad y Meirw steht für die Botschafter der Toten. Während die reichen Mitglieder der damaligen Kelten-Gemeinden Festmahle zu Samhain, das heißt so viel wie Halloween, zubereiteten, gingen die Armen maskiert von Tür zu Tür, um milde Gaben im Namen aller Ahnen zu erhalten. Ihnen diese zu verweigern war ein Sakrileg und hatte die Beschädigung des Hauses zur Folge.«
Josh versteinerte kurz. »Damit weckst du gerade dunkle Erinnerungen.«
»Wieso? Hast du letztes Jahr keine Süßigkeiten gespendet, und die Kids haben dein Zuhause mit faulen Eiern beworfen?«
»Das wäre schön gewesen«, entgegnete er. »Mein Elternhaus ist bei einem Hurrikan zerstört worden.«
»Oh, das tut mir leid.« Sie klang ehrlich mitfühlend.
»Ist schon viele Jahre her. Ich war fünfzehn. Leider ging danach auch die Ehe meiner Eltern in die Brüche. Meine Ma hat das nie verkraftet und meinem Dad Vorwürfe gemacht.«
Normalerweise redete Josh nicht über solch private Dinge, schon gar nicht mit Fremden. Doch er war mittlerweile so müde, dass die Gedanken einfach aus ihm heraussprudelten. Und irgendwie tat es auch gut, sich im Schutze dieses kleinen Gruselkabinetts zu öffnen.
»Ich bin auch ein Scheidungskind», sagte Fiona traurig. Dann schlug sie wieder einen weichen, fröhlichen Ton an. »Wir sind jetzt gleich da.« Sie fuhr eine schmale Auffahrt hinauf, die zwischen riesigen Rhododendronbüschen hindurchführte.
An deren Ende erhob sich ein altes Gebäude, das in warmes indirektes Licht gehüllt war. Die Fenster strahlten von innen heraus. Es sah einladend aus.
Auch Fiona schien beeindruckt. »Du hast dir wirklich ein uriges Cottage ausgesucht, das muss ich schon sagen.« Sie parkte den Wagen. »Und ich dachte, ihr Amis steht auf so nagelneue Mega-Bunker.«
Josh löste den Gurt und beugte sich zwischen den Vordersitzen zu ihr, um zu bezahlen. »Was denkst du denn noch so über uns Amis?«, fragte er gespielt geknickt, doch dann lachten sie beide.
Draußen stieg ihm sofort die frische und reine Luft in die Nase. Es roch köstlich hier: nach Freiheit, Natur, purer Lebendigkeit und ein wenig nach Tannennadelduft. Josh nahm einen tiefen Atemzug.
»Find’s raus.« Fiona war nun auch ausgestiegen, und erst jetzt fiel auf, dass auch die Strumpfhose unter ihrem kurzen karierten Rock ein Spinnwebenmuster trug.
»Was?«
Sie hielt ihm ein kleines Kärtchen unter die Nase.
»Du wolltest wissen, was ich sonst noch über euch denke. Finde es heraus. Ruf mich an, wenn du den Jetlag überstanden und dich ausgeschlafen hast.« Sie warf ihm einen eindeutigen Blick zu.
Josh nahm die Karte. »Oh, danke«, stammelte er. »Das ist furchtbar … nett von dir.«
»Nett ist die kleine Schwester von …« Fiona baute sich vor ihm auf und grinste ihn bewusst provozierend an.
»So war das nicht gemeint, sorry. Ich wollte nicht unhöflich sein, bin nur etwas übernächtigt. Mein Charme ruht sich gerade aus.«
»Lass mich raten: In deinem Leben ist kein Platz für einen Flirt, nur für die perfekte Welle.«
Besser hätte er es nicht zusammenfassen können, und er nickte etwas betreten.
Dann steckte er die Karte in seine Hosentasche. »Danke, hat mich sehr gefreut, dich kennenzulernen, Fiona. Und das mit Halloween merke ich mir.«
»Genieß deinen Aufenthalt hier«, sagte sie und lächelte ihn freundlich an.
Josh blieb noch stehen, bis Fiona vom Hof gefahren war. Neben Ally McDockerty war das nun die zweite Schottin, die er bisher kennengelernt hatte. Und sie war fast genauso charmant wie seine gute Freundin aus Thurso. Auch sie war ein Grund, dass er jetzt hier war. Ally wurde nicht müde, in Surferkreisen über Schottland und dessen Vorzüge zu schwärmen.
Der leichte Sprühregen holte ihn jedoch wieder ins Bewusstsein, dass er die falsche Kleidung trug. Davon hatten natürlich weder Ally noch Lennox etwas erzählt: von den Unwägbarkeiten eines schottischen Novembertages. Ach nein, es war ja erst Oktober. Der November stand ihm erst noch bevor. Bis dahin hatte er hoffentlich sein Gepäck wieder.
Mit klammen Füßen lief er über den nassen Kiesweg zum Manor Home.
Auf den Treppenstufen flackerten ihn lustig geschnitzte Kürbisgesichter an, in denen Kerzen brannten. Unwillkürlich musste Josh lächeln. Er hatte es immer geliebt, mit seinen Eltern und Jessica zu Halloween einen großen Kürbis von Farmer Smith zu holen, ihn auszuhöhlen und ihm ein gruseliges Grinsen zu verpassen.
Als er die schwere Holztür öffnete, wallte ihm ein köstlicher Duft entgegen. Es roch nach Gegrilltem, Gewürzen und einem gemütlichen Kaminabend. Im Saal des Manor Home schien es feuchtfröhlich zuzugehen. Eine Rentnertruppe saß an einem langen Tisch, vor ihnen Schüsseln voller Essen, gefüllte Teller und Whiskygläser. Sie lachten und prosteten sich zu.
Großartig. Nun fror er nicht nur erbärmlich und war müde, jetzt kam auch noch der Hunger dazu.
Er sah sich in dem großen Saal um, der einen sehr gemütlichen Eindruck machte. Alles war herbstlich dekoriert, allerdings dominierten hier Kürbisse und bunte Blätter statt Spinnennetze und Totenköpfe.
Hoffentlich nahm Fiona seine Abfuhr nicht persönlich. Sie war nett gewesen, doch im Moment stand ihm so gar nicht der Sinn nach einem Flirt.
Hinter einer halbhohen Steinmauer erspähte er eine weitere Gruppe, die mindestens genauso laut schwatzte wie der Rentner-Club. Sie waren jedoch deutlich jünger. Nur ein älterer Herr war unter ihnen, er trug Latzhose und eine zerbeulte Tweed-Mütze. Gerade hob er sein Sektglas und alle anderen prosteten ihm zu. Josh sah in die freundlichen Gesichter eines Mannes mit gewellten braunen Haaren und in das einer blonden Frau mit einem Ponyhaarschnitt. Sie war die Einzige, die ein Wasserglas in der Hand hielt. Als die beiden sich innig küssten, schaute er rasch zur Seite. Er wollte nicht unhöflich erscheinen.
Neben ihr saß eine jüngere Frau mit hohem Dutt. Ihm fiel ihre akkurate, aufrechte Haltung auf. Wie die einer Ballerina.
Auch sie schien das küssende Paar nicht anstarren zu wollen, so wie ihr Blick durch den Raum glitt. Fast als wäre sie auf der Suche nach etwas, bis sie schließlich an ihm hängen blieb.
Für einen Moment schien sie ihn gar nicht richtig wahrzunehmen, dann runzelte sie kurz die Stirn und berührte mit der rechten Hand ihren Haarknoten, als wollte sie überprüfen, ob er noch an der richtigen Stelle saß.
Josh wusste nicht, was es war, aber er konnte die Augen nicht von ihr abwenden.
Die anderen am Tisch, eine Frau mit Businessanzug und ein Mann, waren vertieft in ein Gespräch mit dem Paar und dem älteren Herrn und hatten ihn noch nicht bemerkt.
Die jüngere Frau dagegen taxierte ihn noch immer.
Schließlich stand sie auf und kam auf ihn zu.
Sie trug eine enge Jeans und ein kariertes Flanellhemd.
»Hi, suchst du jemanden?«, fragte sie.
»Ja. Immer die perfekte Welle«, antwortete Josh. »Und heute mein Gepäck.«
»Oh, sorry, dann bist du wohl an der falschen Adresse. Wir sind die Crew des Bright Blossom Cottage, nicht das Lost-and-Found-Büro.« Sie blinzelte ihn freundlich an, doch in ihrem Ausdruck lag etwas … Was war das? Neugier? Ein Hauch Melancholie? Er konnte es nicht genau benennen. Ihre kastanienbraunen Augen lagen unter wohlgeformten Brauen, die sie nun nach oben zog. Mit ihren Fingern berührte sie erneut den Haarknoten.
»Kein Sorge, er ist noch da.«
»Hm?« Sie senkte den Blick, wobei sie an seinen durchnässten Schuhen hängen blieb. Das schien die noch offene Leerstelle in ihrer Gedankenkette zu füllen. »Dein Gepäck«, sagte sie. »Dann musst du Josh Rush sein.« Sie sah ihn wieder an, doch der Ausdruck in ihren Augen hatte sich verändert. Er wirkte fester, jetzt, da sie wusste, wer er war.
»Und du bist bestimmt Rebecca Glenn. Wir haben vorhin telefoniert.«
»Natürlich, ich erinnere mich. Dein verloren gegangenes Gepäck ist offensichtlich der Grund für deine Verspätung. Jedenfalls denke ich nicht, dass du auf dem Weg hierher der perfekten Welle begegnet und deshalb so spät dran bist.« Sie lächelte verschmitzt. »Auch wenn deine Schuhe danach aussehen.«
Josh grinste. »Das hätte mir den Trip in der Tat versüßt.«
»Tut mir leid, dass du keine besonders angenehme Anreise hattest.« In ihrem bedauernden Blick lag so viel Wärme, augenblicklich fror er ein bisschen weniger.
»Wir haben hier gerade eine kleine Zusammenkunft.« Sie deutete in Richtung des Tischs, von dem sie gekommen war. »Eine Verlobungsfeier.«
Der ältere Mann hatte sich mittlerweile erhoben und prostete nochmals in die Runde. Aus einem angrenzenden Raum, vermutlich der Küche, trat ein junger Mitarbeiter mit schief sitzender Kochmütze. Er balancierte mit einer Hand eine Käseplatte, was ziemlich verwegen aussah.
»Okay«, sagte Rebecca. Ihre Stimme war hell, weich und melodisch wie eine Welle auf Hawaii. »Ich könnte dich rüber zum Wohn-Cottage bringen und du haust dich direkt auf’s Ohr. Oder du bestellst dir vorher noch eine Kleinigkeit zu essen …«
Josh hörte heraus, es gab noch eine dritte Option. »Oder?«
»Du wusstest, dass ich noch ein Ass im Ärmel habe.« Sie lächelte breit. »Du kannst den Abend auch mit uns ausklingen lassen.«
»Das ist doch eine private Feier, da will ich nicht stören.«
»Ach, weißt du«, sie sah ihn wieder mit diesem melancholischen, fast schon suchenden Blick an, »die Crew gehört zu meinen besten Freunden, aber manchmal ist es ganz schön anstrengend als Single zwischen zwei Pärchen, die jeden Tag auf Wolke sieben schweben.«
Josh lächelte. »Verstehe, du brauchst einen Außenstehenden, damit der Romance-Pegel fällt.«
Rebecca legte den Kopf leicht in den Nacken. »Ich habe nichts gegen Romance, im Gegenteil. Ich bezeichne mich selbst als hoffnungslose Romantikerin. Wahrscheinlich ist das einer der Gründe für mein Single-Dasein und …« Sie verstummte und sah plötzlich aus, als wäre sie von ihren eigenen Worten überrascht. »Entschuldigung, ich habe nur laut gedacht«, fügte sie schnell hinzu. »Möchtest du mit an unseren Tisch kommen oder nicht?«
»Danke, ich werde besser auf mein Zimmer gehen.« Josh war nicht ganz wohl dabei, einfach so in eine anscheinend eingeschworene Gemeinschaft hineinzuplatzen.
Da traf ihn der Blick des älteren Mannes mit der Latzhose. Er stellte sein Glas ab und kam zu ihnen hinübergeschlurft.
»Hallo Josh«, begrüßte er ihn und klopfte ihm auf die Schulter, als würden sie sich schon ewig kennen.
Hatte ihn Rebeccas Einladung schon überrumpelt, so war er nun völlig baff. »Woher …?«
Der Mann winkte ab, wobei ihm einer der Träger seiner Latzhose über die Schulter rutschte. »Ich bin Ian. Lennox und ich kennen uns ganz gut. Er hat dich angekündigt, als er vor ein paar Wochen mit Rosie hier war.«
Lennox mal wieder, dachte er und lächelte beim Gedanken an seinen Freund. Das erklärte alles.
»Komm doch mit rüber, und setz dich zu uns. Wir haben etwas zu feiern und Unmengen an Essen übrig.«
»Wenn das so ist …« Josh setzte an, Ian zu folgen, doch Rebecca blieb stehen.
»Ach so, da muss erst der Clanälteste kommen, damit du eine Einladung annimmst. Verstehe«, sagte sie und verschränkte gespielt beleidigt die Arme vor der Brust.
»Danke für das Kompliment, Becca«, murmelte Ian und schlurfte weiter voran.
Rebecca schüttelte den Kopf, lachend über Ians Art. Dann folgte sie ihm schließlich, wobei sie nebeneinander gingen. »Ich wollte dir gerade Wollsocken anbieten. Doch mein Angebot würdest du wohl sowieso nicht annehmen. Du kannst ja Ian fragen.«
Josh grinste sie an. »Nein, gern. Ich meine, ja, gern.« Er geriet ins Stammeln. »Also, nein zu Ian, aber ja zu deinen Socken. Ich habe wirklich extrem kalte Füße bekommen.«
»Wörtlich oder bildlich?«, fragte sie.
»Wo ist da der Unterschied?«
»Entweder hast du wirklich kalte Füße oder du willst einen Rückzieher machen.«
»Ich habe sogar Eisfüße, bin übermüdet und habe Hunger.« Er ließ die Schultern hängen. Es störte ihn, dass sein Kopf gerade so langsam war. »Ach, ich wünschte, wir wären uns in einem Moment begegnet, in dem ich dir meine energiegeladene, charmante Seite hätte zeigen können.«
»Du bist nicht uncharmant«, versicherte sie, was ihm zumindest seine Selbstironie zurückbrachte.
»Nur gerade ein bisschen k. o. – und deshalb eventuell etwas schwer von Begriff«, gestand er und lächelte.
Einen kurzen Moment strahlte sie ihn an, doch dann senkte sie die Augen wieder zu Boden. Hatte er sie mit seiner flapsigen Art in Verlegenheit gebracht?
»Dann nimm doch schon mal Platz, und ich hole dir die Wollsocken. Wäre doch gelacht, wenn wir dich nicht innerhalb kürzester Zeit auf Betriebstemperatur bekämen.«
»Gehört das zum Service des Cottage?«
Rebecca lachte und sah dabei unglaublich schön aus. So bezaubernd und harmonisch wie ein Sonnenaufgang am Cinnamon Beach. Josh fiel auf, dass ihr braunes Haar im Lichtschein des Kaminfeuers sogar einen leichten Zimtton annahm.
»Hey, flirtet ihr beide noch, oder darf ich dich jetzt unserer Cottage-Crew vorstellen?«, fragte Ian und funkelte ihn keck aus seinen kleinen grauen Augen an.
»Die Socken«, wiederholte Rebecca und verließ eilig den Saal.
Schade. Er hätte sie gern noch länger angeschaut.
Gleichzeitig war Josh verwirrt. Er konnte ihr Verhalten nicht richtig einordnen. Einerseits hatte sie offen und entgegenkommend gewirkt, dann wieder schüchtern, beinahe beschämt. Woher kam das wohl bei ihr? Oder hatte er etwas falsch gemacht?