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Das ultimative Raubtier
Genetiker entwickeln eine DNA, die Millionen von Schwerkranken wieder hoffen lässt. Daraus lassen sich Lebewesen züchten, die als Organspender dienen können. Doch das Experiment, höchst illegal und auf einer entlegenen Station in der Arktis durchgeführt, hat einen tödlichen Ausgang: Die Kreaturen sind perfekte Raubtiere, und plötzlich steht der Mensch nicht mehr an der Spitze der Nahrungskette.
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Seitenzahl: 745
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Vollständige deutsche Erstausgabe 12/2010
Copyright © 2010 by Scott Sigler
Copyright © 2010 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Stefan Rohmig Umschlagabbildung: © Christian Kargl/Westend61/Corbis Umschlaggestaltung: yellowfarm GmbH, S. Freischem Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-06678-9V002
www.heyne.de
Weltweit ist der Bedarf nach Transplantationsorganen gewaltig – oft warten Patienten vergebens auf ein geeignetes Herz, eine Niere oder eine Leber. Was wäre, wenn es eine Technologie gäbe, die diese lebensrettenden Organe billig und in ausreichender Menge zur Verfügung stellen könnte? Ein großer Technologiekonzern scheut keine Kosten und Mühen, um diese Vorstellung Wirklichkeit werden zu lassen. Auf einer Insel in der Arktis werden Lebewesen mit computergenerierter DNA gezüchtet, deren Organe voll implantationsfähig sein sollen. Das illegale Experiment gerät außer Kontrolle: denn die Kreaturen sind groß, gefährlich und hungrig ...
Schon zu Schulzeiten schrieb Scott Sigler seine ersten Geschichten. Als Autor von Kurzgeschichten, Drehbüchern und Romanen im Spannungsfeld zwischen Wissenschaftsthriller und modernem Horror hat er sich einen Namen gemacht Die großen Verlage wurden auf ihn aufmerksam, nachdem er den Thriller EarthCore als weltweit ersten exklusiven Podcast-Roman in zwanzig Episoden veröffentlichte und auf Anhieb rund 10 000 Abonnenten fand. Scott Sigler lebt mit seiner Frau Jody und zwei Hunden in San Francisco.
Besuchen Sie den Autor im Internet unter www.scottsigler.com
LIEFERBARE TITEL
Infiziert – Virulent – EarthCore
Die Originalausgabe ANCESTOR erschien bei Crown Publishers, New York
Für die »Junkies« – das hier ist für euch, denn euch verdanke ich alles.
»Die Walküre an meiner Seite johlt und lacht mit der reinen, hasserfüllten, blutdurstigen Lust am Gemetzel … genau wie ich.«
– Frank Miller, Sin City
Paul Fischer hatte sich den Weltuntergang immer ein bisschen … na ja, technisierter vorgestellt. Laute Maschinen, ineinanderkrachende Autos, schreiende Menschen, Feuer aus allen Rohren. Vielleicht eine Massenvernichtungswaffe, die die Erde in kleine Stücke riss. Aber hier in Grönland? Nichts als dicht gepackter Schnee, endlose Felsen und turmhoch aufragende weiße Gletscher am Horizont. Keine brennenden Städte, keine zurückgelassenen Autos – überhaupt nichts von diesem Quatsch. Nur ein winziges Virus und ein paar Schweine.
Paul sprang aus dem UH-60-Black-Hawk-Hubschrauber auf ein schneebedecktes Feld, das in das Licht der anbrechenden Morgendämmerung getaucht war. Eine Frau in Uniformjacke der Air Force erwartete ihn; die pelzbesetzte Kapuze eng um ihren Kopf gezurrt, um die Kälte und den beißenden Wind abzuhalten.
Sie salutierte stramm. »Colonel Fischer?«
Paul nickte und erwiderte lässig ihren Gruß.
»Second Lieutenant Laura Burns, Colonel. General Curry erwartet Sie bereits. Hier entlang, Sir.«
Sie drehte sich um und ging auf drei weiße Wellblechhütten zu, deren gewölbte Dächer mit der Landschaft zu verschmelzen schienen. Zwei Tunnel verbanden die Hütten und vervollständigten die kleine menschliche Hamsterstadt, die weniger als vierundzwanzig Stunden zuvor errichtet worden war. Er hörte das Summen eines Dieselgenerators und sah die Wölbung zweier Satellitenschüsseln, die auf den Dächern der Hütten angebracht waren.
Paul folgte der jungen Frau, ihre beiden Schatten vereinigten sich zu einer langen, unregelmäßig geformten grauen Silhouette, die sich über den aufgewirbelten Schnee bewegte.
Er wollte nach drinnen, hoffte, dass es dort warm wäre – diese Kälte war die Hölle für sein linkes Knie. Paul fragte sich gedankenverloren, ob die junge Frau verheiratet war und ob sie zu dem Typ Frau gehörte, den sein Sohn interessant fand. Er hätte gerne gewusst, ob sein Sohn vorhatte, irgendwann sesshaft zu werden und sich der Zeugung einiger Enkelkinder zu widmen, die Paul dann hemmungslos würde verwöhnen können.
Zwei F-16 rasten über sie hinweg. Das Echo ihrer Düsen dröhnte über dem Talgrund. Wahrscheinlich eine Schwadron aus Reykjavik, die die Aufgabe hatte, die Flugverbotszone zu sichern. Sie war eingerichtet worden, kurz nachdem Novozyme den Alarm wegen des Auftretens einer Biogefährdung ausgelöst hatte.
Während er weiterging, warf Paul einen Blick in das flache Tal. In drei Kilometern Entfernung konnte er die Station von Novozyme erkennen: ein Hauptgebäude, in dem die Forschungslabore und die Räume der Angestellten untergebracht waren, eine Landebahn, Beleuchtungsmasten, ein metallener Wachturm, zwei kleine, makellose Walzblechschuppen für die Schweine und ein mannshoher elektrischer Zaun, der das ganze Areal umgab.
Die junge Frau – Second Lieutenant Burns, korrigierte sich Paul – führte ihn zur mittleren Hütte. Keine Luftschleuse. Weil die Zeit nicht ausgereicht hatte, um ein voll funktionstüchtiges Lagezentrum einzurichten, wie es bei einer Biogefährdung eigentlich vorgesehen war, hatten die Jungs von der Thule Air Force Base lediglich die Kommunikations- und Kommandoeinheit eines transportablen Harvest-Falcon-Quartiers aufgebaut. Was keine große Rolle spielte. Die Geheimdienstinformationen ließen den fast sicheren Schluss zu, dass keine Viren über die Station von Novozyme hinaus in die Umwelt gelangt waren.
Das entscheidende Wort lautete fast.
Paul öffnete die Tür und trat in die beheizte Hütte. General Evan Curry sah auf und winkte ihn zur Reihe der Monitore heran, die die hintere Wand bedeckten. Mehrere amerikanische Soldaten saßen dicht an dicht vor ihren Konsolen. Einige hochrangige dänische Offiziere standen daneben und sahen ihnen zu.
Curry hatte das mürrische Aussehen und den grau melierten Bürstenschnitt eines typischen Hollywood-Generals, doch seine Größe von eins fünfundsechzig und seine tiefschwarze Haut wichen deutlich von den üblichen Filmskripts ab. Das Einzige, was wirklich zählte, war ohnehin nur das Glänzen seiner vier Sterne.
»Hallo, Paul.« Curry schüttelte seine Hand mit festem Griff. »Ich würde gerne sagen, wie schön es ist, Sie wiederzusehen, doch das hier ist genauso übel wie bei unserer letzten Begegnung. Wie lange ist das jetzt her? Drei Jahre?«
»Auf den Tag genau drei Jahre«, sagte Paul
»Wirklich? Sie haben ein verdammt gutes Gedächtnis.«
»Das alles kann man wohl nicht so leicht vergessen, Sir.«
Curry nickte ernst. Auch unter seinem Kommando waren bereits Menschen gestorben. Er wusste, wie das war.
Der General wandte sich an die dänischen Offiziere. »Gentlemen, das ist Colonel Paul Fischer vom Medizinischen Forschungsinstitut für Infektionskrankheiten der amerikanischen Armee, dem USAMRIID.« Curry sprach das Akronym Ju-sam-rid aus. »Er gehört zur Abteilung für besondere Bedrohungen, und er entscheidet, wie wir weiter vorgehen. Irgendwelche Fragen?«
Die Art, in der Curry die Worte besondere Bedrohungen und irgendwelche Fragen aussprach, machte deutlich, dass er keine Fragen hören wollte. Die Dänen nickten nur.
Curry drehte sich wieder zu Paul um. »Ich habe einen Anruf von Murray Longworth bekommen. Er sagte, dass Sie jetzt am Ball sind. Ich bin hier, um Ihre Befehle umzusetzen, wie immer sie auch lauten mögen.«
»Danke, General«, sagte Paul, obwohl ihm nicht nach Dank zumute war. Wenn er die bevorstehenden Entscheidungen jemand anderem hätte anvertrauen können, hätte er das nur allzu gerne getan. »Womit haben wir es zu tun?«
Curry deutete auf den großen Hauptmonitor der Wellblechhütte.
Irgendwie hatte Paul verschwommene Bilder erwartet. In Weltuntergangsfilmen wurde die Katastrophe unweigerlich von jeder Menge statischem Rauschen, flackernden Lichtern und Schiebetüren begleitet, die sich völlig willkürlich öffneten und schlossen. In allen modernen Visionen des Jüngsten Tages schien aus irgendeinem Grund die Elektronik hinter ihrer tatsächlichen Leistungsfähigkeit zurückzubleiben.
Doch das hier war nicht Hollywood. Die Beleuchtung war ausgezeichnet, und die Bilder waren gestochen scharf.
Der Monitor zeigte die von der Decke gefilmte Aufnahme einer Sicherheitskamera. Ein einzelner Mann kroch langsam über den Boden eines Labors. Er hustete immer wieder. Sein Husten war heftig und feucht, von der Art, die einem das Zwerchfell viel zu lange zusammenzieht, so dass man sich fragt, ob man jemals wieder Luft holen kann.
Jeder Hustenanfall schleuderte gelb-rosafarbenen Schaum aus dem Mund des Mannes. Die Schaumfetzen spritzten auf den Schleim, der bereits über das Kinn des Mannes rann und seinen weißen Laborkittel beschmutzte.
Mit jedem Stück, das sich der Mann weiterschleppte, indem er mühsam einen Arm vor den anderen schob, stieß er leise ein Wort aus: geenuuuhhg. Am unteren Bildschirmrand standen die Worte DR. PONS MATAL.
»Oh, Pons«, sagte Paul. »Verdammt.«
»Kennen Sie ihn?«
»Ein wenig. Ich habe seine Arbeiten gelesen und mit ihm bei einigen Virologie-Konferenzen an Podiumsdiskussionen teilgenommen. Einmal haben wir etwas zusammen getrunken. Ein kluger Mann.«
»Er stirbt einen üblen Tod«, sagte Curry. Sein Kiefer war angespannt, und er mahlte leicht mit den Zähnen, während er den Mann beobachtete. »Was hat er?«
Paul kannte die Antwort nur zu gut. Vor genau drei Jahren hatte er schon einmal miterlebt, wie Menschen auf genau diese Art starben. »Doktor Matals Lungen füllen sich mit Schleim und Eiter, wodurch sie langsam steif werden. Dadurch fällt es ihm schwer, Luft zu holen. Er ertrinkt in seinen eigenen Körperflüssigkeiten.«
»So also stirbt er? Er ertrinkt?«
»Das ist jedenfalls gut möglich. Wenn zu viel Gewebe geschädigt ist, könnte die Pulmonalarterie betroffen sein. Er würde verbluten.«
»Und wie können wir wissen, wann das passiert?«
»Das werden Sie wissen, glauben Sie mir«, sagte Paul. »Wie viele Überlebende gibt es?«
»Keine. Doktor Matal ist der Letzte, der noch übrig war. Die Station von Novozyme hatte siebenundzwanzig weitere Mitarbeiter. Alle Leichen wurden lokalisiert.«
Curry nickte einem der Soldaten an einer kleinen Konsole zu. Während der Hauptmonitor auch weiterhin Matals vergebliches Kriechen zeigte, erschien auf mehreren kleineren Bildschirmen eine Reihe vermeintlicher Standfotos. Es dauerte einen Augenblick, bis Paul begriff, dass es sich bei den Aufnahmen nicht um Fotos handelte. Es waren Live-Videos, aber niemand bewegte sich.
Jede Aufnahme zeigte eine auf dem Boden liegende Leiche. Einge hatten gelb-rosafarbene Flecken auf ihren Hemden wie Matal. Bei anderen waren der Mund und die Kleider mit Blut bedeckt. Und ein paar wiesen eine offensichtlichere Todesursache auf: Schusswunden. Jemand – wahrscheinlich Matal – war zu dem Schluss gekommen, dass die Varietät dieses Erregers zu tödlich war. Dieser Jemand hatte die Menschen daran gehindert, die Station zu verlassen, gleichgültig ob der Betreffende Symptome zeigte oder nicht.
Angesichts der Aufnahmen krampfte sich Pauls Magen zusammen – erst recht, als er die Frauen sah. Rosafarbener Schaum bedeckte ihre Münder, ihre Augen starrten ins Leere. Sie erinnerten ihn an die Ereignisse drei Jahre zuvor. Wie Pons war Paul gezwungen gewesen, einen Anruf zu machen … und Clarissa Colding war gestorben.
Paul holte tief Luft und versuchte, die Erinnerungen beiseitezuschieben. Er hatte eine Aufgabe zu erledigen. »General, wann wurde die erste Infektion bestätigt?«
»Vor weniger als sechsunddreißig Stunden«, sagte Curry und warf einen Blick auf seine Uhr. »Laut seinen eigenen Notizen hat Matal sieben Menschen erschossen. Zwanzig starben durch die Infektion. Wie immer der Erreger auch aussehen mag, er breitet sich sehr schnell aus.«
Eine Untertreibung. Paul hatte noch nie eine Infektion erlebt, die sich so schnell ausbreitete, die so schnell tötete. Niemand hatte das.
»Die Messgeräte der Station, die eine mögliche Kontamination feststellen sollen, sind mit ihren Werten allesamt im grünen Bereich«, sagte Curry. »Es gibt nur zwei Zugänge. Beide sind mit Unterdruck-Luftschleusen ausgestattet, und beide sind voll funktionstüchtig. Die Luftreinigungssysteme werden in Echtzeit überwacht. Sie sind absolut einwandfrei. «
Paul nickte. Der Unterdruck war das Entscheidende. Wenn es irgendwelche Risse in den Wänden, Türen oder Fenstern des Gebäudes gab, dann würde frische Luft hinein strömen; die kontaminierte Luft könnte nicht nach außen dringen. »Und Sie sind sicher, dass sämtliche Mitarbeiter lokalisiert wurden?«
Curry nickte. »Novozyme ist straff organisiert. Die Verwaltung hat uns dabei geholfen, jeden zu finden, der nicht vor Ort war, als das Gebäude abgeriegelt wurde. Alle fraglichen Personen sind in Quarantäne, und niemand zeigt bisher irgendwelche Symptome. Die Sache wurde eingedämmt.«
Der Bildschirm zeigte, dass Matal jetzt immer langsamer kroch. Er atmete schneller. Jedes Mal, wenn er die Luft ausstieß, hörte man den Schleim aus seinem Mund spritzen. Paul schluckte heftig. »Hat Doktor Matal irgendwelche Aufzeichnungen für uns angefertigt, die sich direkt auf die Krankheit beziehen?«
Curry griff nach einem Klemmbrett und reichte es ihm. »Matal sagte, es handle sich um eine neue Influenza-A-Varietät. Sie kommt irgendwie von den Schweinen. Er nannte es, glaube ich, Zeno Zoo Nase.«
»Xenozoonose«, sagte Paul. Er sprach das Wort sorgfältig aus.
»Genau«, sagte Curry. »Matal meinte, die Varietät sei schlimmer als die Spanische Grippe von 1918.«
Paul warf einen raschen Blick auf die Notizen. Matal hatte nicht genügend Zeit gehabt, um das Virus eindeutig zu identifizieren, doch er war der Ansicht, dass es sich um eine H5N1-Variante handelte oder um eine Mutation des H3N1-Typs. Paul überflog die Zeilen in besorgter Vorahnung dessen, was er würde lesen müssen, und er zuckte zusammen, als er es tatsächlich las: Matals Kollegen hatten Oseltamivir und Zananivir eingesetzt, zwei antivirale Medikamente, mit denen sich die Folgen einer Schweinegrippeinfektion abmildern ließen. Keines der beiden Mittel hatte irgendeine Wirkung gezeigt.
»Ich bin kein Wissenschaftler, Fischer«, sagte General Curry. »Aber sogar ich weiß, dass es kein Virus gibt, das absolut jeden Menschen umbringt. Deshalb bin ich überrascht, dass ein Zivilist wie Matal seine eigenen Leute erschossen hat.«
»Er hat gesehen, wie schnell sich der Erreger ausbreitet, und er war nicht in der Lage, ihn zu stoppen. Matal kam zu dem Schluss, dass sein eigener Tod und der Tod seiner Mitarbeiter einem möglicherweise millionenfachen Sterben vorzuziehen war.«
»Oh, ich bitte Sie«, sagte Curry. »Ich habe zwar nicht vor, Matal diesen rosafarbenen Schleim vom Kinn zu lecken, aber wie schlimm kann das denn wirklich sein?«
»Bei der Epidemie von 1918 sind fünfzig Millionen Menschen gestorben. Damals betrug die Weltbevölkerung zwei Milliarden. Jetzt sind es fast sieben Milliarden. Bei derselben Sterblichkeitsrate hätten wir heute siebzig Millionen Tote. Damals gab es keine Flugzeuge, General. Es gab noch nicht einmal Autobahnen. Heute können Sie in weniger als einem einzigen Tag überall auf der Erde hinfliegen, und die Leute tun das auch. Ständig.«
»Aber wir haben doch gerade eben die Schweinegrippe überstanden«, sagte Curry. »Dieses H1N1-Ding. Wie viele Menschen sind daran gestorben? Einige tausend? Entschuldigen Sie, Fischer, ich bin zwar nur ein Laie, aber diesen H1N1-Pandemie-Scheiß lasse ich mir nicht einreden.«
Paul nickte. »H1N1 hätte in der Station von Novozyme überhaupt niemanden umgebracht. Die Einrichtung verfügt über die entsprechende medizinische Ausrüstung, über Ärzte, über antivirale Medikamente … die Leute hier wussten, was sie taten. Das ist keine Schrottfirma irgendwo in der Dritten Welt, das ist ein biotechnologisches Institut von Weltklasseniveau. Und das Wort Pandemie bedeutet nur, dass sich eine Infektion über ein großes Gebiet ausgebreitet hat. Der erste H1N1-Fall wurde in Mexiko gemeldet. Nur sechs Wochen nach dem ersten Bericht wurden weitere Infektionen in dreiundzwanzig Ländern bestätigt. Die Ausbreitung war global. Hätte es sich um Matals Virus gehandelt, hätten wir es mit einer Sterblichkeitsrate von fünfundsiebzig Prozent zu tun gehabt – und zwar überall auf der Welt. Wissen Sie, wie viele Menschen dabei umgekommen wären?«
»Fünf Milliarden«, sagte Curry. »Ja, ich kann rechnen. Man sollte es zwar nicht für möglich halten, aber wenn man General werden will, muss man doch tatsächlich ein paar Grundkenntnisse in Mathematik nachweisen.«
»Entschuldigen Sie, Sir«, sagte Paul.
Curry sah zu Matal. Der General schien ein paar Sekunden lang auf einem imaginären Kaugummi herumzukauen, bevor er sprach. »Fischer, Sie entwerfen da ein verdammt beängstigendes Bild.«
»Ja, Sir, genau das tue ich.«
Zwei weitere Bisse in den imaginären Kaugummi, dann eine Pause. »Ich weiß, was ich tun würde, wenn ich an Ihrer Stelle wäre. Ich würde mich ganz tief reinhängen. Bis zu den Eiern.«
»Und wenn ich mich ganz tief reinhängen will, General«, sagte Paul, wobei er auf den Ausdruck bis zu den Eiern verzichtete, »welche Möglichkeiten habe ich dann?«
»Die dänische Regierung und der Premierminister Grönlands haben uns ihre volle Kooperation zugesichert. Sie wollen, dass dieser Erreger vernichtet wird, und sie sind bereit, jede Story zu unterstützen, die wir der Öffentlichkeit präsentieren werden. In Thule befindet sich ein einsatzbereiter Bone mit acht BLU-96ern.«
Paul nickte. Ein Bone war ein B1-Bomber, eine BLU-96 war eine 2000-Pfund-Brandbombe. Diese Bombe öffnet sich bei einer zuvor festgelegten Höhe, wodurch Benzin zerstäubt wird, das sich mit der umgebenden Luft mischt. Dabei entsteht ein extrem instabiles Benzin-Luft-Gemisch. Wenn man es zündet, erreichen die Temperaturen eine Größenordnung von über eintausend Grad Celsius. In einem Radius von fast zwei Kilometern verbrennt alles – einschließlich sämtlicher Viren und den Objekten in oder auf denen sie sich befinden.
»General, haben wir noch andere Optionen?«
»Klar«, sagte Curry. »Noch zwei. Wir können mehrere Teams in biologischer Schutzkleidung einsetzen, um die Gegend zu untersuchen, und dabei das Risiko eingehen, dass wegen irgendeiner kleinen Nachlässigkeit das Virus freigesetzt wird. Oder wir konzentrieren uns ganz auf die Schadensbegrenzung und ziehen dieselbe Sache durch wie in Detroit.«
Paul sah den General an. »Eine Atombombe? Sie haben eine Atombombe?«
»Weniger als eine Megatonne Sprengkraft«, sagte Curry. »Aber in einem Radius von fünf Kilometern können Sie sich dann von allem verabschieden. Die Evakuierungshubschrauber stehen bereit. Wir schaffen unsere Leute in sichere Entfernung und lassen alles zurück. Dann zünden wir hier den Weihnachtsbaum an.«
Curry war es ernst damit. Eine verdammte Atombombe. Fischer warf einen Blick auf den Bildschirm, der eine Außenaufnahme der Station von Novozyme zeigte. Vor einem der Ställe konnte man Schweine erkennen, die die Erde durchwühlten. Matal und Novozyme hatten gehofft, die Schweine zu einer Herde von Organspendern für Menschen zu machen. Sie hatten sich mit Xenotransplantation beschäftigt, bei der die Organe eines Tieres in den Körper eines anderen verpflanzt werden. Hunderte von Biotechnologiefirmen widmeten sich ähnlichen Forschungen, und jedes einzelne Projekt barg eine versteckte Gefahr. Versteckt, aber durchaus real, wie durch die Szene vor ihren Augen höchst anschaulich demonstriert wurde.
Ironischerweise wirkten die Schweine überhaupt nicht krank. Sie sahen so glücklich aus, wie Schweine überhaupt nur aussehen können – sie fraßen, wühlten den halbgefrorenen, schlammigen Boden auf oder schliefen. Paul war seltsam traurig zumute, als er daran dachte, dass die Tiere sterben mussten.
»Wie lange dauert es, bis die B1 ihre Brandbomben abwerfen kann?«
»Zwei Minuten, nachdem ich den Befehl dazu gegeben habe«, sagte Curry. »Die Bone ist in Bereitschaft.«
Paul nickte. »Tun Sie’s.« Er hoffte, die Bomben würden so früh gezündet werden, dass sie Matals Schmerzen ein Ende bereiteten, bevor seine Lungen endgültig versagten.
Curry griff nach einem Telefon und gab den kurzen Befehl. »Freigabe erteilt.«
Auf dem Monitor krümmte sich Matals Körper unter einem neuen Hustenanfall in Fötusposition zusammen. Er zuckte schwach hin und her und rollte dann auf den Rücken. Er hob die Arme, die Finger zu Krallen gekrümmt. Mühsam gelang es ihm noch einmal, Atem zu holen, doch dann schüttelte ein neuer Anfall seinen Körper. Blut schoss aus seinem Mund wie Wasser aus einem Feuerwehrschlauch; der Strahl war so mächtig, dass er gegen die Neonleuchten an der Decke spritzte. Sein Körper wurde schlaff. Die rote Flüssigkeit warf auf seinen Lippen noch immer Blasen und tropfte von der Decke auf ihn herab.
»Mann«, sagte Curry, »das ist wirklich eine Riesenscheiße. «
Paul hatte genug gesehen. »Ich brauche eine sichere Leitung nach draußen.«
Curry deutete auf ein weiteres Telefon; es war in ein umfangreiches elektronisches Steuerungsmodul eingebaut. »Das ist eine direkte Verbindung nach Langley. Longworth wartet auf Ihren Anruf.«
Murray Longworth, einer der stellvertretenden Direktoren der CIA, war der offizielle Vorgesetzte von Pauls Einheit für besondere Bedrohungen beim USAMRIID. Longworth leitete eine Gruppe von Einsatzkräften, die sich aus Mitgliedern der CIA, des FBI, des USAMRIID, des Heimatschutzministeriums und anderer Organisationen zusammensetzte.
Die Gruppe war eine Task Force, deren Aufgabe in der Bekämpfung biologischer Bedrohungen bestand; sie besaß keine eigene Bezeichnung. Ihre Legalität? Bestenfalls fragwürdig. Die Geheimhaltung? Absolut. Ihre Autorität? Die stand nie ernsthaft außer Frage – nicht wenn Murray Longworth im Namen des Präsidenten selbst sprach.
Paul nahm den Hörer ab. Sein Vorgesetzter meldete sich beim ersten Klingeln.
»Hier Longworth. Was haben Sie zu melden, Colonel?«
»Ich habe General Curry befohlen, die Brandbomben einzusetzen. «
Eine kurze Pause entstand. »Ich kann das immer noch nicht glauben«, sagte Longworth. »Alles wegen einem gottverdammten Schwein? Wie kann ein Schweinevirus Menschen infizieren?«
Paul seufzte. Longworth hatte das Sagen, aber er verstand überhaupt nichts. Und wahrscheinlich würde er auch in Zukunft nicht viel mehr verstehen. Einer der Hauptmonitore schaltete von der endlosen Reihe der Toten auf eine zittrige, verschwommene und aus großer Höhe aufgenommene Darstellung der Station von Novozyme. Die der Bomber-Kamera.
»Das Genom des Schweins wurde so modifiziert, dass es menschliche Proteine enthielt«, sagte Paul. »Das muss so sein, wenn man die Organe eines Schweins in den Körper eines Menschen transplantieren will. Diese Proteine wurden von einer neuen Varietät der Schweinegrippe befallen, die dann von einer Spezies auf die andere übergesprungen ist.«
»Erklären Sie mir das so, dass ich es verstehen kann.«
»Rasche Ausbreitung, Übertragung durch die Luft, keine Behandlungsmöglichkeiten bekannt, drei von vier Infizierten sterben einen grauenhaften Tod. Acht Wochen, dann ist die Verbreitung global. Auf einer Skala von eins bis zehn ist das eine Acht, und meine Zehn entspricht der vollständigen Ausrottung der Menschheit. Wir können hier nur noch verbrannte Erde hinterlassen, Sir.«
Paul hörte, wie Longworth tief seufzte.
»Bringen Sie das da oben so schnell wie möglich zu Ende. Dann schieben Sie Ihren Arsch wieder zurück nach D.C.«, sagte Longworth. »Präsident Guttierez wird ein Geheimtreffen einberufen. Alle europäischen Nationen, Indien, China und jeder andere Staat, der Forschungen dieser Art durchführen kann. Wir machen alles so lange dicht, bis die WHO eine Überwachungsmöglichkeit eingerichtet hat. Ich brauche Sie bei diesem Treffen.«
»Verstehe«, sagte Paul. Ein Geheimtreffen. Es fehlte nicht mehr als eine kaputte Luftschleuse, damit eine Katastrophe biblischen Ausmaßes über sie hereinbrach, und die Führer der Welt trafen sich in aller Verschwiegenheit, um über mögliche Optionen zu diskutieren. Niemand würde je davon erfahren.
Nicht einmal Matals Familie.
Auf dem Monitor, der die Aufnahmen der Bomberkamera zeigte, erkannte Fischer das Flugfeld, über das er gerade gekommen war, und dann die weiße Hamsterstadt aus Wellblechhütten. Sekundenbruchteile später hörte er das Dröhnen der Triebwerke des Jets. Jetzt dauerte es nur noch wenige Augenblicke.
»Nach der Besprechung in D.C. kümmern Sie sich um Genada«, sagte Murray. »Wir machen alles dicht, und mit der Station von Genada auf Baffin Island fangen wir an.«
Der Monitor zeigte eine neue Aufnahme. Sie stammte offensichtlich von einer Kamera, die in der Nähe der Radarschüsseln auf dem Dach der Hütten angebracht worden war. Für einen kurzen Augenblick konnte man die Station von Novozyme erkennen, dann erfüllte ein gewaltiger orangefarbener Blitz den Bildschirm. Die Erde zitterte. Eine kleine, pilzförmige Wolke stieg in der Morgendämmerung zum Himmel auf.
»Sir«, sagte Paul, »ich glaube, ich sollte vor Ort sein, wenn es um die Station von Monsanto in Südafrika oder um die Einrichtung von Genzyme in Brasilien geht.«
»Genada zuerst«, sagte Longworth. »Wir wissen bereits, dass die verdammten Paglione-Brüder Experimente an Menschen durchgeführt haben. Sie sind eine eindeutige Gefahr. Irgendwelche Fortschritte bei der Suche nach dieser jungen Russin?«
Die junge Russin. Dr. phil. Galina Poriskova. Sie hatte damit gedroht, Genadas Experimente an Menschen an die Öffentlichkeit zu bringen. Sie hatte Kontakt zu Fischer aufgenommenen, sich mit ihm getroffen und behauptet, über die entsprechenden Beweise zu verfügen, doch dann hatte sie sich von den Pagliones kaufen lassen, bevor es zur Übergabe des Materials gekommen war.
»Ich verfolge im Augenblick einige Spuren finanzieller Transaktionen«, antwortete Paul. »Investitionen und dergleichen. Die NSA ist ziemlich sicher, dass sie sich in Moskau aufhält, aber bisher konnten wir die Russen nicht dazu bringen, mit uns zu kooperieren.«
»Ich vermute, jetzt werden sie mit uns zusammenarbeiten«, sagte Longworth. »Ich werde das Außenministerium informieren. P. J. Colding hat alle Unterlagen über Menschenversuche verschwinden lassen, als wir Genada das letzte Mal auf den Fersen waren. Und er hat Poriskova direkt vor unserer Nase verschwinden lassen. Also fangen wir mit Genada an, bevor er noch einmal so einen Scheiß durchziehen kann.«
Paul schloss die Augen und schluckte. Er hätte wissen müssen, dass P. J. Coldings Name wieder auftauchen würde.
»Verstanden, Sir«, sagte Paul. »Aber ich möchte Sie daran erinnern, dass ich jemanden auf Baffin Island eingeschleust habe. Ich könnte eine Nachricht losschicken. Sollte irgendetwas merkwürdig aussehen, könnte diese Person die Transportverbindungen der Firma lahmlegen, wodurch Colding und das gesamte Projekt völlig isoliert wären.«
»Es geht mir immer noch ganz schön auf die Eier, dass Sie mir nicht sagen wollen, wen Sie dort eingeschleust haben.«
»Solange Ihre Leute nicht herausgefunden haben, wie sich Magnus und Danté Paglione vertrauliche Informationen der CIA verschaffen konnten, ist es das Beste, wenn ich der Einzige bin, der weiß, um wen es sich dabei handelt.«
»Ich sagte, es geht mir auf die Eier. Ich habe nicht gesagt, dass das nicht die richtige Strategie ist. Aber Colonel, kann sich diese Person auch mit Ihnen in Verbindung setzen?«
Paul knirschte mit den Zähnen. Er wusste genau, wohin diese Unterhaltung führen würde. »Nein, Sir.«
»Und das bedeutet, Sie würden nichts davon mitbekommen, wenn die Pagliones von der Bombe erfahren, die Sie gerade abgeworfen haben. Wenn die herausfinden, was passiert ist, wird Colding sich mit der ganzen Station absetzen. Ich bin nicht scharf darauf, den Präsidenten darüber informieren zu müssen, dass wir ein illegales Xenotransplantationsprojekt aus den Augen verloren haben – nicht nach dem, was da gerade vorgefallen ist. Während Sie an der Besprechung in D. C. teilnehmen, werde ich das für besondere Bedrohungslagen vorgesehene CBRN-Team in Alarmbereitschaft versetzen. Sie gehen mit Ihnen rein.«
Das CBRN-Team für besondere Bedrohungslagen. Chemisch, biologisch, radiologisch und nuklear. Da Paul nicht über die nötige Sicherheitsfreigabe verfügte, wusste er nicht viel über diese Männer, doch er war sicher, dass es sich bei ihnen nicht nur um gewöhnliche Soldaten in biologischen Schutzanzügen handelte. Es musste eine Spezialtruppe sein. Killer mit eiskaltem Verstand.
»In Thule steht ein Flugzeug für Sie bereit«, sagte Longworth. »Sagen Sie der Person, die Sie eingeschleust haben, dass sie das Transportsystem lahmlegen soll, damit Colding und die Leute von Genada sich nicht aus dem Staub machen können.«
Vom Regen in die Traufe. Wenn Paul so vorging, blieb die Verbindung, die er vor Ort hatte, bis zur Landung des CBRN-Teams ganz auf sich allein gestellt. Wenn man wusste, wie sich der Sicherheitsdienst von Genada zusammensetzte, konnte das wirklich sehr übel werden.
»Sir, ich schlage vor, dass wir noch warten. In der Station befinden sich fünfzig Tiere. Damit können sie innerhalb von zehn Stunden nicht sehr weit kommen.«
»Colonel Fischer, wir sind fertig hier. Sobald ich die Einwilligung der Kanadier habe, geben Sie die Anweisung, dass Ihre eingeschleuste Verbindung alle Transportmöglichkeiten zerstört, den Zugriff auf sämtliche Forschungsdaten unmöglich macht und die Paviane tötet.«
»Kühe, Sir«, korrigierte Paul. »Monsanto benutzt Paviane. Genada benutzt Kühe.«
»Dann bringen Sie eben alle Kühe um. Hören Sie auf, mit mir zu diskutieren.«
Frustriert rieb sich Paul über das Gesicht. Seine Ex-Frau Claire hatte immer zu ihm gesagt, dass er dabei wie ein kleiner Junge aussah, der sich unbedingt ein wenig hinlegen musste. Er hatte diese Angewohnheit nie abgelegt, und jetzt dachte er jedes Mal daran, wie sie an ihm herumgenörgelt hatte, damit aufzuhören.
»Colonel Fischer«, sagte Longworth, »werden Sie meine Anweisungen befolgen oder nicht?«
»Ja, Sir. Ich werde den Befehl rausschicken, sobald Sie mir grünes Licht geben.«
Hört auf, Hände.
Ihre Finger strichen ihr das lange schwarze Haar aus den Augen. Langsam, fast als schwebe es durch die Luft, fiel das Haar wieder zurück, so dass sie es sich noch einmal aus dem Gesicht streichen musste. Ihre kleinen Hände bewegten sich, als hätten sie einen eigenen Willen – sie griffen zu, legten die Stiche fest und nähten.
Hört auf, Hände, wollte sie sagen, doch sie konnte nicht sprechen. Sie konnte nur zusehen.
Es war falsch.
Es war gefährlich.
Es war, was sie verdiente. Sie verdiente es, weil sie böse war. Dumpfe Furcht erfüllte ihr Denken, eine verhängnisvolle metallisch-graue Wolke.
Sie hielt einen flauschigen ausgestopften schwarz-weißen Panda in den Händen. Doch ihr Lieblingsspielzeug sah nicht mehr so aus, wie sie es in Erinnerung hatte. Sie hatte zwar den Rumpf des Pandas vor sich, doch ihm fehlten die Arme, die Beine und der Kopf.
Die besessenen Hände griffen unter sich und förderten das orange und schwarz gestreifte Bein eines ausgestopften Tigers zutage. An der Stelle, an der es mit der Schulter verbunden gewesen war, war der Stoff zerrissen; weißes Füllmaterial hing in langen Fetzen heraus. Liu Jian Dans Hände fingen an zu nähen. Immer wieder blitzte die Nadel auf. Das Bein des Tigers verband sich mit dem Rumpf.
Sie spürte einen schmerzhaften Nadelstich.
Jian betrachtete ihre besessene Hand. Ein dünner Streifen Blut rann über ihren kurzen dicken Finger. Die Tropfen sammelten sich zwischen ihren Fingern, fielen auf den Körper des Panda und beschmutzten sein flauschiges weißes Fell.
Die Angst jagte ihr ein Brennen über die Haut, als ob Milliarden gefräßiger Bakterien ihr milliardenmal ins Fleisch bissen. Ihr kleiner Körper erschauderte.
Wieder griffen ihre Hände nach unten. Diesmal hielten sie das lange, baumelnde, grau-weiß gemusterte Bein eines Strickäffchens.
Die Nadel blitzte auf. Noch mehr Stiche. Die besessenen Hände befestigten das Bein am Körper des Pandas, dessen schwarz-weißes Fell inzwischen von dünnen roten Streifen gezeichnet war.
»Shou, ting xia lai«, brachte sie schließlich hervor. Hört auf, Hände. Doch die Hände ignorierten sie.
Warum hatte sie Mandarin gesprochen? Sie benutzte es inzwischen nur noch sehr selten. Aber nein, das stimmte nicht, denn sie war fünf Jahre alt, und das war die einzige Sprache, die sie kannte.
Das lohfarbene Bein eines Löwen.
Mehr Schmerz.
Mehr Blut.
Der rosarote Arm einer Plastikpuppe.
Noch mehr Schmerz.
Noch mehr Blut.
»Shou, ting xia lai«, sagte sie, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Qing ting xia lai.«
Hört auf, Hände. Bitte, hört auf.
Die Hände ignorierten sie. Wieder griffen sie zu, doch diesmal fanden sie kein Kunstfell und kein Plastik. Es war etwas Kaltes und Festes.
Ein kleiner abgetrennter Kopf. Klebriges schwarzes Fell, von Streifen nassen Bluts bedeckt. Ein breites Maul, tote schwarze Augen. Ein Wesen wie dieses hatte noch nie gelebt, es würde nie so ein Wesen geben. Es sei denn, jemand erschuf es.
Jian begann zu schluchzen.
Die Hände nähten weiter.
Das Video-Telefon stieß sein schrilles, unmöglich zu ignorierendes Klingeln aus. P. J. Colding erwachte mit einem Ruck. Blinzelnd musterte er die roten Ziffern der Uhr, die in die Basis des Video-Telefons eingearbeitet war – 6:14 Uhr morgens. Die Tageszeit war schon schlimm genug, doch die Uhr zeigte auch das Datum an.
7. November.
Fuck. Er hatte gehofft, den größten Teil dieses Tages verschlafen zu können. Langsam streckte er die Hand aus und drückte den Knopf, der die Verbindung herstellte.
Gunther Jones’ müdes melancholisches Gesicht erschien auf dem kleinen Flachbildschirm. Wegen seiner großen Lippen und der schläfrigen Augen sah es immer so aus, als sei Jones high.
»Bei ihr ist es wieder so weit«, sagte Gunther. Seine Stimme klang nicht viel wacher als die Coldings. »Zweiundfünfzig Jahre – und sie hat Alpträume wie ein kleines Kind.«
»Dafür kann sie nichts, Gun. Du solltest sie deswegen nicht bedrängen. Gib mir eine Aufnahme von ihrem Zimmer. Vielleicht ist es diesmal nicht so schlimm.«
Gunther sah nach unten. Seine Hände suchten etwas, das auf dem Bildschirm nicht zu sehen war. Üblicherweise übernahm er die Wache während der Nachtschicht. Er hatte sich im Überwachungsraum häuslich niedergelassen und kümmerte sich um zwei Dutzend Kameras. Die Kameras zeigten das Ödland, das Genadas Station auf Baffin Island umgab, den übergroßen Hangar, in dem sich die Kühe und die Fahrzeuge befanden, sowie die Flure des Hauptgebäudes und die Labore. Auch in den acht Apartments der Mitarbeiter befanden sich Kameras, doch auf Coldings Anweisung hin waren sie deaktiviert worden. Jians Apartment war die Ausnahme; ihre Kameras waren immer eingeschaltet. Gunther verbrachte den größten Teil seiner Schicht damit, verrückte Vampir-Romanzen zu schreiben, doch Jian behielt er immer im Auge. Das war die Hauptverantwortung während seiner Schichten. Er musste dafür sorgen, dass Jian nicht versuchte, sich umzubringen.
Die Aufnahme auf dem Display des Video-Telefons wechselte von Gunthers Gesicht zu einem von oben aufgenommenen Schwarz-Weiß-Bild. Zu sehen war eine übergewichtige Frau, die sich in ihrem Bett hin und her warf und deren dichtes schwarzes Haar den größten Teil ihres Gesichts bedeckte. Colding konnte sehen, wie sich ihre Lippen bewegten, und er sah den Ausdruck der Angst auf ihrem Gesicht.
Er würde sich nicht noch einmal hinlegen können. »Okay, Gun. Ich kümmere mich um sie.«
Er drückte auf den Knopf, um die Verbindung zu beenden, der Bildschirm wurde schwarz. Colding schob sich aus dem Bett. Seine nackten Füße landeten auf dem kalten Boden. Egal wie hoch sie auch die Heizung aufdrehten, der Boden blieb immer eiskalt. Colding schlüpfte in seine uralten Flip-Flops, warf einen Bademantel über und schob sich einen Ohrhörer ins Ohr.
»Gunther, hörst du mich?«
»Alles klar, Boss.«
»Okay. Ich bin unterwegs. Melde dich, falls sie aufwacht, bevor ich bei ihr bin.«
Colding ließ seine Beretta in der Schublade des Nachttischchens. Eine Waffe war nicht nötig. Er machte sich auf den Weg zu Jians Apartment.
Unter ihren blutenden Fingern war der schwarz-weiße Panda schwarz und rot geworden. Der Rumpf eines Pandas, das Bein eines Tigers, das Bein eines Strickäffchens, das Bein eines Löwen, der Arm einer Plastikpuppe und der schwarze Kopf mit einem Maul voller spitzer Zähne. Sie hielt diese seltsame Schöpfung in ihren besessenen Händen – ein unförmiger, entstellter Dr. Seuss Frankenstein.
»Nicht schon wieder«, flüsterte Jian mit ihrer Kleinmädchenstimme. »Bitte, nicht schon wieder.«
Sie bettelte inständig, doch wie bei der Wiederholung einer vertrauten Fernsehserie wusste sie, was als Nächstes kommen würde. Sie fing bereits einen Augenblick vorher zu schreien an – unmittelbar bevor sich die schwarzen Augen zuckend öffneten und ihr direkt ins Gesicht sahen. Primitiv, gefühllos, aber eindeutig hungrig.
Etwas schüttelte sie, schüttelte sie. Das wahllos zusammengestoppelte Tier öffnete sein Maul und schien zu lächeln. Das Lächeln des Teufels. Zwei verschiedene Arme – plastikrosa mit Tigerstreifen – regten sich und griffen nach ihr.
Gerade als die Kreatur ihr Maul öffnete, um zuzubeißen, wurde Jian noch heftiger geschüttelt.
Sanft schüttelte Colding Jian noch einmal. Sie erwachte blinzelnd, noch immer standen ihr Verwirrung und Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Ihr seidiges Haar klebte auf ihrer von Schweiß und Tränen bedeckten Haut.
»Jian, alles ist gut.«
Schon seit zwei Jahren kümmerte er sich um diese Frau und versuchte, ihr zu helfen, denn erstens war das seine Aufgabe und zweitens war sie eine gute Freundin für ihn geworden. Für Jian waren manche Tage besser als andere. Die schlechten Tage taten Colding weh; dann fühlte er sich unfähig und machtlos. Aber dann rief er sich ins Bewusstsein, dass sie noch am Leben war, und dass das auch schon etwas war. Sie hatte zweimal versucht, sich umzubringen; und beide Male war er es gewesen, der diese Versuche unterbunden hatte.
Jian blinzelte noch einmal, vielleicht versuchte sie, durch ihr Haar hindurch zu sehen. Dann drückte sie sich in einer heftigen Umarmung an Colding. Er erwiderte ihre Umarmung und bemühte sich, ihre Angst zu vertreiben, indem er ihr den Rücken tätschelte, als sei sie seine Tochter und nicht zwanzig Jahre älter als er.
»Ich habe wieder geträumt, Mister Colding.«
»Es ist alles in Ordnung«, sagte Colding. Er spürte ihre Tränen an seinem Hals und auf seiner Schulter. Jian nannte jeden Mann Mister, auch wenn es bei ihrem starken Akzent wie mii-sta klang. Er hatte sie nie dazu bringen können, ihn bei seinem Vornamen zu nennen.
»Es ist alles in Ordnung, Jian. Versuchen Sie einfach, noch ein bisschen zu schlafen.«
Sie drückte sich weg von ihm und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen ab. »Nein«, sagte sie. »Kein Schlaf.«
»Jian, ich bitte Sie. Versuchen Sie’s. Ich weiß, dass Sie in den letzten drei Tagen nicht mehr als sechs Stunden geschlafen haben.«
»Nein.«
»Wollen Sie es nicht doch versuchen?«
»Nein!« Sie drehte sich zur Seite und schlüpfte unter der Decke hervor. Ihre Bewegungen waren erstaunlich graziös für eine Frau, die bei einer Größe von einem Meter achtundsechzig 225 Pfund wog. Colding erkannte zu spät, dass sie keine Pyjamahose trug. Verlegen drehte er sich um, doch Jian schien es nicht einmal zu bemerken.
»Wenn ich wach bin, kann ich ein paar Arbeiten erledigen«, sagte sie. »Wir machen heute Morgen einen weiteren Immunreaktionstest.«
Colding rieb sich die Augen – unter anderem deshalb, weil er nicht den Eindruck erwecken wollte, als bemühe er sich, nicht hinzusehen. Er starrte auf das vertraute Schachbrett, das auf ihrer Frisierkommode stand. Sie hatte ihn siebenundneunzigmal hintereinander besiegt, aber eigentlich hatte er aufgehört mitzuzählen.
Gleich neben dem Schachbrett stand ihre Medizin. Ein durchsichtiger Streifen an der Seite des Fläschchens zeigte ihm, wie viel Flüssigkeit sich noch darin befand. Auf dem Streifen standen in fein säuberlichen schwarzen Buchstaben die Daten in absteigender Reihenfolge: ganz oben der 1. November, ganz unten der 30. Die Flüssigkeit reichte bis hinauf zum 7. November.
»Ja, ich nehme meine Medizin«, sagte Jian. »Ich mag ja verrückt sein, aber ich bin nicht dumm.«
Aber nahm sie ihre Medizin tatsächlich? Ihr Zustand hatte sich immer weiter verschlechtert, ihre Alpträume kamen immer häufiger, und sie wurden intensiver. »Sie sollten nicht so von sich sprechen, Jian. Ich glaube nicht, dass Sie verrückt sind.«
»Sie glauben auch nicht, dass Sie hübsch sind«, sagte Jian. »Das zeigt, dass Ihr Urteil höchst fragwürdig ist.«
Das Knirschen des Reißverschlusses ihrer Hose verriet ihm, das er wieder in ihre Richtung sehen konnte. Sie streifte gerade ein Hawaiihemd – limonengrün mit gelben Azaleen – über ihr verschwitztes weißes T-Shirt. Ihr dichtes schwarzes Haar hing ihr immer noch feucht ins Gesicht, doch selbst durch das Haar hindurch konnte er die dunklen Ringe unter ihren blutunterlaufenen, gehetzt wirkenden Augen erkennen.
Sie ging zu ihrem bizarren Computertisch, setzte sich und schaltete die Geräte ein. Sieben Flachbildschirme erwachten zum Leben und hüllten ihr Gesicht in ein weißliches Leuchten. Drei der Monitore befanden sich auf der Höhe des Tisches, die beiden äußeren waren leicht nach innen abgewinkelt. Darüber hingen vier weitere Monitore, die leicht nach vorn und nach innen geneigt waren, so dass sie ihren Kopf hin und her drehen musste, wenn sie alle im Blick behalten wollte.
Colding stellte das Medizinfläschchen zurück und trat an Jians Computertisch. Alle sieben Bildschirme zeigten abrollende Folgen der Buchstaben A, G, T und C. Manchmal hatten die einzelnen Buchstaben verschiedene Farben, manchmal leuchtete gleichzeitig eine ganze Reihe von ihnen in hellen Farben auf, und manchmal war beides der Fall. Für Colding sah alles wie buntes, digitales Erbrochenes aus.
Die Immunreaktion war das Hindernis, das die heilige wissenschaftliche Dreifaltigkeit der Genies, die bei Genada arbeiteten – Claus Rhumkorrf, Erika Hoel und Jian –, einfach nicht überwinden konnte. Die letzte große theoretische Hürde, die Genada davon trennte, pro Jahr mehrere hunderttausend Leben zu retten. Jetzt, da Jian wach war, würde sie den Test in die Wege leiten – oder genauer gesagt: Sie würde sich auf einen neuen Misserfolg und die daraus resultierende Wut von Dr. Claus Rhumkorrf vorbereiten.
»Brauchen Sie noch etwas?«, fragte Colding.
Jian schüttelte den Kopf. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt bereits einem der großen Monitore. Colding wusste aus Erfahrung, dass sie wahrscheinlich auf kein einziges seiner Worte mehr reagieren würde. Ohne den Blick von den Buchstabenfolgen zu wenden, öffnete Jian unter ihrem Tisch einen kleinen Kühlschrank, der eher in das Zimmer eines Studentenwohnheims gepasst hätte, und holte eine Flasche Dr. Pepper heraus. Ihre Hand zitterte ein wenig, als sie die Flasche öffnete und einen tiefen Schluck nahm.
»Nun, ich denke, ich gehe dann mal wieder ins Bett«, sagte Colding. »Rufen Sie mich, wenn Sie irgendetwas brauchen, okay?«
Jian gab ein Grunzen von sich, doch Colding wusste nicht, ob es ihm oder einer Datensequenz galt, die sie vor sich hatte.
Er war schon fast aus dem Zimmer, als sie sich noch einmal an ihn wandte.
»Mister Colding?«
Er drehte sich um. Jian deutete auf einen der Computerbildschirme.
»Ich sehe gerade, heute ist der siebte November«, sagte sie. »Es tut mir so leid. Ich wollte, ich hätte sie gekannt.«
Plötzlich stiegen ihm Tränen in die Augen. Er schluckte, versuchte den Kloß in seinem Hals zu lösen und biss die Zähne zusammen, wegen des Stechens in seiner Brust.
»Danke«, sagte er.
Jian nickte. Dann wandte sie sich wieder ihren zahlreichen Monitoren zu. Colding ging, bevor sie ihn weinen sehen konnte.
Es war auf den Tag genau drei Jahre her, seit Clarissa gestorben war. Manchmal schien seither kaum Zeit vergangen zu sein; es war, als hätte er sie erst gestern noch geküsst. Doch manchmal konnte er sich kaum mehr daran erinnern, wie sie ausgesehen hatte, und es war, als habe er sie in Wirklichkeit überhaupt nie gekannt. Doch immer, jede Minute jedes einzelnen Tages, hing der Schmerz ihrer Abwesenheit wie ein Mühlstein an ihm.
Er tat, als müsse er husten, was ihm die Gelegenheit gab, sich die Augen abzuwischen, falls Gunther ihn über die Kameras im Flur beobachtete. Colding ging zu seinem Zimmer. Das Forschungsinstitut erinnerte ihn noch immer an ein Schulgebäude: in neutralem Grauton gestrichene Wände aus Leichtbausteinen, ein fleckiger Fliesenboden, Feuerlöscher samt Feuerwehräxten in jedem Korridor. Es gab sogar kleine Griffe in Schulterhöhe mit der Aufschrift »Hier ziehen«, doch die hatten nichts mit einem möglichen Feueralarm zu tun. Mit ihnen schloss man die Luftschleusen, falls es zu einer Kontamination durch Viren kommen sollte.
Colding erreichte sein Zimmer. Er trat ein und schloss hinter sich ab. »Alles geklärt, Gun.«
»Mir gefiel besonders die Stelle, als sie sagte, sie sei nicht dumm«, antwortete Gunther. »Die Untertreibung des Jahrhunderts.«
»Als ob ich das nicht wüsste.«
»Geh wieder ins Bett, Boss. Ich behalte sie im Auge.«
Colding nickte, obwohl niemand im Zimmer war, der diese Geste hätte sehen können. Er würde unmöglich wieder einschlafen können. Nicht heute. Außerdem wurden Jians Träume immer schlimmer. Als es die letzten beiden Male so heftig geworden war, hatte sie ein paar Wochen später Halluzinationen bekommen und schließlich versucht, sich umzubringen. Bei ihrem letzten Versuch hatte sie sich in einem der Badezimmer eingeschlossen und darin Stickstoff freigesetzt. Ihr Assistent Tim Feely hatte bemerkt, was sie vorhatte, er hatte Hilfe geholt. Colding hatte zwar keineswegs erst »in letzter Sekunde« die Tür aufgebrochen, wie das bei solchen Gelegenheiten gerne formuliert wird, aber es ging gar nicht darum, wie knapp das alles gewesen war. Das Entscheidende war das Muster: Alpträume, dann Halluzinationen, schließlich ein Selbstmordversuch. Doc Rhumkorrf hatte Jians Medikation bereits entsprechend eingestellt, aber wer konnte schon wissen, ob das immer funktionieren würde.
Colding würde die Sache berichten müssen. Claus Rhumkorrf war brillant, Erika Hoel war eine Legende, aber ohne Liu Jian Dan gäbe es schlichtweg kein Projekt mehr.
Mit hängenden Schultern betrat Colding das Büro mit der sicheren Kommunikationsverbindung und setzte sich an den Schreibtisch. Inzwischen trug er seine übliche Tageskleidung: Jeans und eine Schneehose, Schneestiefel und eine große, schwarze Daunenjacke, die auf der linken Brust mit dem roten G-Logo Genadas bestickt war. Er konnte sich mit seinem Arbeitgeber schließlich nicht im Bademantel unterhalten.
Dieser Terminal war der einzige Teil der Station, über den irgendwelche Nachrichten nach draußen geschickt oder von dort empfangen werden konnten. Die Verbindung führte an einen einzigen Ort – zu Genadas Hauptsitz in der Nähe von Leaf Rapids, Manitoba. Das Genada-Logo drehte sich als Bildschirmschoner auf dem Monitor. Colding drückte die Leertaste. Der Rechner hatte nur eine einzige Aufgabe, weshalb das Logo verschwand und die Verbindung aufgebaut wurde.
In diesen Sekunden läutete Dantés Handy mit einem besonderen Klingelton, was ihn dazu veranlasste, sich seinerseits an einen sicheren Terminal zu begeben.
Colding wartete geduldig und dachte dabei darüber nach, wie er seinen Bericht formulieren sollte. Nach etwas mehr als zwei Minuten erschien Dantés lächelndes Gesicht.
»Guten Morgen, P. J. Wie ist das Wetter?«
Coldig zwang sich zu einem Grinsen, als er diesen uralten Witz hörte. Baffin Island lag auf dem fünfundsechzigsten Breitengrad, und hier gab es nur zwei Temperaturen: verdammt kalt und verdammt, sogar noch kälter.
»Gar nicht so schlecht, Sir. Aber vergessen Sie nicht, dass ich nicht allzu oft draußen bin. In der Station selbst läuft alles großartig.«
Danté nickte. Colding hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass sein Arbeitgeber immer etwas Positives hören wollte, was Colding »ein Zuckerchen geben« nannte. Er konnte Danté diesen Wunsch nicht verübeln. Hätte Colding selbst eine halbe Milliarde Dollar in ein Projekt investiert, würde er auch gute Nachrichten hören wollen.
Dantés Haut zeigte die üppige Bräune eines Mannes, dem es selbst in der tiefsten und dunkelsten Einsamkeit Manitobas gelungen war, sich einen Ort zu schaffen, an dem er sich erholen konnte. Sein dichtes, rabenschwarzes Haar wirkte, als habe er sich gerade aus dem Stuhl eines Hollywood-Friseurs erhoben, und sein strahlend weißes Lächeln, als ob es die Kinder seines Zahnarzts durchs College gebracht hatte. Sein absurd großer Kiefer spielte in Karikaturen und politischen Witzzeichnungen eine besonders auffällige Rolle. Dieser Mann war das Gesicht einer milliardenschweren Biotechnologiefirma, ein Gesicht, das die Investoren in anhaltende Aufregung und Begeisterung versetzte.
»Ich wollte Sie ohnehin gerade anrufen«, sagte Danté. »Wir haben einige zusätzliche Säugetiergenome erworben. Während wir uns unterhalten, fliegt Valentine sie bereits zu Ihnen raus. Er müsste in etwa dreißig Minuten bei Ihrer Station landen. Sorgen Sie dafür, dass alles vorbereitet ist. Ich brauche ihn sofort wieder hier bei mir.«
»Betrachten Sie’s als erledigt«, sagte Colding.
Danté beugte sich näher an die Kamera heran. Es war nur eine kleine Bewegung, doch sein Gesicht trug einen erwartungsvollen Ausdruck. »Aber eigentlich haben Sie ja mich angerufen, und deshalb vermute ich, dass Sie gute Neuigkeiten über den letzten Immunreaktionstest für mich haben.«
»Der läuft in diesen Minuten«, sagte Colding. »Wir bekommen die Ergebnisse erst in ein paar Stunden.«
»Diesmal muss es einfach funktionieren. Es muss! Wenn nicht, wird es so langsam Zeit, dass wir neue Leute hinzuziehen. Absolute Spitzenleute.«
Colding schüttelte den Kopf. »Ich möchte mich nachdrücklich dagegen aussprechen. Im Augenblick ist hier alles gut gesichert. Wenn Sie weitere Mitarbeiter ins Spiel bringen, dann öffnen Sie der CIA Tür und Tor.«
»Aber wir überprüfen den Hintergrund der – «
»Lassen Sie’s, Danté«, unterbrach ihn Colding, der diese Diskussion nicht schon wieder führen wollte. »Genau aus diesem Grund haben Sie mich engagiert. Wir sind eine schlanke Operation. Vier Wissenschaftler, vier Sicherheitsbeamte. Mehr brauchen wir nicht.«
»Anscheinend brauchen wir sehr wohl mehr!«, sagte Danté knurrend und kniff die Augen plötzlich zu schmalen Schlitzen zusammen.
»Ich kenne dieses Team. Ich habe das Projekt schon einmal gerettet, können Sie sich noch erinnern?«
Danté lehnte sich zurück. Er holte tief Luft und atmete dann langsam aus. »Ja, P. J. Sie haben das Projekt tatsächlich gerettet. Schön. Aber wenn Sie mich nicht anrufen, weil Sie gute Neuigkeiten haben, dann rufen Sie mich an, weil es schlechte gibt.«
»Es geht um Jian. Sie … hat wieder Alpträume. Ich wollte, dass Sie das wissen.«
»So schlimm wie vorher?«
Colding schüttelte den Kopf. »Nein. Wenigstens noch nicht.«
»Was sagt Rhumkorrf dazu?«
»Er hat ihre Medikation neu eingestellt. Er glaubt nicht, dass es ein größeres Problem werden wird, und er ist sicher, dass wir es unter Kontrolle halten können.«
Danté nickte. Die Muskeln seines großen Kiefers zuckten leicht. »Diese alte Frau macht mich verrückt. Kein Wunder, dass die Chinesen sie loswerden wollten.«
Was für ein Idiot. Sie loswerden wollten? Danté hatte die Chinesen fast angefleht, damit sie ihm erlaubten, Jian bei Genada mitarbeiten zu lassen. »Danté, ich bitte Sie. Sie wissen doch ganz genau, dass wir bei diesem Deal am meisten gewonnen haben.«
»Aber dieser Deal war nur dann wirklich gut, wenn sie Erfolg hat und wir endlich Gewinn machen. Wenn sie versagt, werden viele Menschen eines elenden Todes sterben.«
»Ich bin mit den Konsequenzen eines Scheiterns durchaus vertraut, Danté.«
Dantés knurrige Miene entspannte sich ein wenig. »Natürlich, P. J. Entschuldigen Sie. Aber wir können dieses Fass ohne Boden nicht ewig finanzieren. Unser Investor will Ergebnisse sehen. Rufen Sie mich an, wenn sich irgendwas ergibt. «
»Ja, Sir«, sagte Colding und beendete die Verbindung. Auf dem Bildschirm drehte sich wieder das Logo von Genada. Das Unternehmen hatte viele Investoren, aber es gab nur einen, der Danté wirklich Sorgen machte – die chinesische Regierung.
Wenn Danté so schroff war wie heute, konnte das nur bedeuten, dass die Chinesen ihn bedrängt hatten. Sie wollten endlich sehen, dass ihre beträchtliche, wenn auch geheime Investition ihnen etwas einbrachte.
Und das bedeutete, dass ihnen die Zeit davonlief.
Colding trat durch die Luftschleuse des Hauptgebäudes hinaus in die morgendliche Kälte. Auch nach vielen Monaten hatte er sich noch nicht an diese Temperaturen gewöhnt. Mit den ungeschickten Bewegungen eines Mannes, der auf keinen Fall seinen Mantel verlieren will, rannte er los und brachte rasch die fünfzig Meter zum Hangar hinter sich.
Der Hangar wirkte in der schneebedeckten, kargen Landschaft völlig fehl am Platz. Er war sieben Stockwerke hoch, 150 Meter lang und 100 Meter breit. Zwei gewaltige Schiebetüren waren groß genug für ein Flugzeug, doch weil das wahrscheinlich niemals kommen würde, diente der Hangar als Stall für die Kühe und als Garage für die beiden Fahrzeuge der Station. Unten in der linken Schiebetür befand sich ein normaler, mannshoher Eingang. In einer Mischung aus Watscheln und Rennen stürmte Colding darauf zu und schlüpfte hinein.
Drinnen war es warm, dem Himmel sei Dank. Er ging zu einem der Heizgeräte und drückte immer wieder auf den Knopf, mit dem man die Temperatur erhöhte, bis das Gerät schließlich auf Höchstleistung eingestellt war. Er hörte, wie das Erdgas durch die PVC-Röhre strömte, während er seine Handschuhe auszog und seine Hände vor den Heizungsrost hielt. Der Computer im Sicherheitsraum kontrollierte dieses Heizgerät ebenso wie die fünfzig oder sechzig anderen, die sich am Boden und an der Decke entlangzogen, doch es war himmlisch, sich kurzfristig über die Steuerung hinwegzusetzen.
»Oh, ich bitte dich!«, rief eine hohe Stimme. »Hast du die Temperatur hochgedreht? Hier wird man ja getoastet.«
»Das kommt dir nur deshalb so vor, weil du ein Mutant aus Kanada bist«, rief Colding über seine Schulter. »Du wurdest wahrscheinlich in einem Iglu geboren.« Er riss die Hände zurück, weil er sich fast verbrannt hätte. Ja, so war es besser.
Colding zog die Handschuhe wieder an, um die Wärme zu isolieren, die jetzt von seiner Haut abstrahlte. Er drehte sich um und sah, wie der stämmige Brady Giovanni den Dieselmotor des kleinen Tankfahrzeugs startete, mit dem sie Bobby Valentines Hubschrauber auftankten.
Man wurde im Hangar nicht gerade getoastet, wie Brady gesagt hatte, doch die Temperaturen lagen weit über null. Am anderen Ende des fünfzehntausend Quadratmeter umschließenden Gebäudes befanden sich fünfzig Holstein-Kühe. Sie waren mehr als sechzig Meter entfernt, was einem klarmachte, wie gewaltig der Hangar war. Die großen schwarz-weißen Tiere kauten ihr Futter. Gelegentlich stieß eins von ihnen ein lautes Muhen aus, das vom Walzblechdach sieben Stockwerke über ihnen als Echo zurückgeworfen wurde.
An diesem Ende des Hangars befanden sich das Tankfahrzeug und ein Humvee. Der Hummer wurde kaum benutzt. Wenn man ihn überhaupt einsetzte, dann zur wöchentlichen Überprüfung des ausgelagerten Sicherheitsdatenspeichers, der am Ende des sechzehnhundert Meter langen Landestreifens der Station lag. Darüber hinaus fuhr Erika Hoel damit zu den wöchentlichen Check-ups der beiden Kontrollherden, die sich ebenfalls auf Baffin Island befanden. Jede dieser Herden war fünzig Kilometer weit entfernt, was eine Rundfahrt von einhundert Kilometern ergab, die Hoel so sehr genoss wie einen Einlauf mit Stacheldraht.
Brady sprang aus dem Tankfahrzeug, während der Motor im Leerlauf brummte. »Alles klar für Bobby«, sagte er. »Sobald er gelandet ist, tanke ich ihm seinen Hubschrauber wieder voll.«
»Es ist verflucht kalt heute Morgen«, sagte Colding. »Wenn du das Tor aufmachst, stell die Temperatur so ein, dass sich die Kühe nicht erkälten.«
»Klar. Ich drehe die Heizung für sie hoch. Man könnte sagen, dass wir in dieser alten Stadt eine wirklich heiße Zeit haben werden … heute Morgen.«
Wie üblich lachte Brady über seinen eigenen Witz. Colding konnte nur lächeln und vage nicken, während er höflich versuchte, den Humor zu verstehen. Bradys Lachen ähnelte seiner Stimme: Es war ein wenig schrill und hätte eher zu einem fünfzehnjährigen Mädchen gepasst als zu einem Mann, der über einen Meter neunzig groß war und zweihundertsiebzig Pfund wog. Als Sicherheitsbeamter war Brady von beeindruckender Statur, doch niemand verstand seine Witze, nicht einmal Gunther und Andy Crosthwaite, die beide mit ihm zusammen bei den kanadischen Special Forces gewesen waren.
Was Andy betraf … Colding sah auf seine Uhr. Es war kurz nach halb elf. Unfassbar, aber Andy »Das Arschloch« Crosthwaite war doch tatsächlich unpünktlich.
»Brady, hast du was von Andy gehört?«
Brady schüttelte den Kopf.
»Scheiße. Na ja, er wird wahrscheinlich bald kommen und dir beim Auftanken helfen. Ich geh mal für einen Augenblick raus. Du hältst die Stellung hier.«
Brady stieß sein schrilles Gelächter aus. »Du hältst die Stellung hier. Das ist gut!«
Colding lächelte und nickte. Es war schon schwierig genug, Bradys Witze zu verstehen, aber jetzt begriff er anscheinend nicht einmal mehr seine eigenen.
Er trat durch die kleine Personaltür des Hangars hinaus in die blendend weiße, eisige Kälte. Als er vom Hangar wegging, knirschte der dicht gepackte Schnee unter seinen Füßen, und als er das eigentliche Gelände verließ, versank er bis zu den Waden in einer unberührten Schneewehe. Er blieb stehen und blickte in die weißen Weiten von Baffin Island. Da das Labor in seinem Rücken lag, war nirgendwo mehr ein weiteres Gebäude zu erkennen.
Drei Jahre. Pfeif auf mehr Schlaf. Du hättest dich betrinken sollen. Vielleicht würde er sich nach dem Experiment heute Morgen mit Tim Feely zusammensetzen. Tim war einem Drink nie abgeneigt und hatte auch immer eine Flasche in Griffweite.
Drei Jahre.
»Wenn du doch nur wieder hier wärst«, murmelte Colding. Aber Clarissa würde nie mehr wiederkommen, ganz egal, wie sehr er sich das auch wünschte. Der Schmerz, der in seiner Brust saß, wollte einfach nicht nachlassen. Er konnte nur eins tun – er konnte dieses gottverdammte Projekt zum Laufen bringen und damit Hunderttausenden ersparen, denselben Schmerz zu durchleben wie er.
Er drehte sich um in Richtung der Station, die seit fast zwei Jahren sein Zuhause war. Etwa fünfzig Meter südwestlich des Hangars stand das dritte Gebäude. Die quadratische, aus Leichtbausteinen bestehende Einrichtung wirkte simpel, doch sie war es nicht. Die beiden Zugänge bestanden aus Luftschleusen, die für einen leichten Unterdruck sorgten. Der Gedanke war ernüchternd. Coldings Zuhause war ein Ort, der sicherstellen sollte, dass der Tod innerhalb der eigenen vier Wände blieb.
Das Gebäude enthielt mehrere gentechnische Labore auf dem neuesten wissenschaftlichen Stand, Computer und eine veterinärmedizinische Ausstattung sowie eine kleine Caféteria, einen Entspannungsraum und neun Apartments, von denen jedes etwa siebzig Quadratmeter groß war. Der zur Verfügung stehende Platz war großzügig bemessen, doch nach zwanzig Monaten in dieser Einöde hätte selbst der Trump Tower auf die Bewohner klaustrophobisch gewirkt.
Zwischen dem Hangar und dem Hauptgebäude befand sich eine metallene Plattform, auf der eine drei Meter große Satellitenschüssel stand. Die Plattform, der Hangar und das Hauptgebäude stellten alles an Zivilisation dar, was Genadas Basis auf Baffin Island aufzuweisen hatte.
Das Echo des fernen Dröhnens von Rotorblättern breitete sich über die Landschaft aus. Colding drehte sich um und sah den dunklen Fleck am Horizont. Schnell wuchs der Fleck zum vertrauten Bild eines Sikorski-S-76C-Hubschraubers heran. Colding liebte den Anblick dieser Maschine. Würde man von einem Hubschrauber, wie ihn die meisten Nachrichtensender benutzten, alle Logos entfernen, um ihn dann mattschwarz zu lackieren, dann würde er genauso aussehen wie Bobbys Sikorski. Bei zwölf Sitzen und einer Reichweite von über vierhundert Seemeilen konnte man mit dem Sikorski im Notfall sämtliche Mitarbeiter in Sicherheit bringen.
Der Hubschrauber setzte zum Sinkflug an, schwebte schließlich wie ein lärmender Schatten auf den Landestreifen herab und wirbelte dabei Wolken von Pulverschnee auf. Die Landekufen schoben sich aus dem Rumpf. Bobby Valentine setzte die Maschine sanft auf.
Nach einer kurzen Pause erfüllte ein metallisches Rasseln die Schneelandschaft. Die gewaltigen Türen des Hangars – 80 Meter breit und über 23 Meter hoch – glitten langsam in der Mitte auseinander und öffneten sich gerade so weit, dass das Tankfahrzeug genügend Platz hatte. Brady fuhr nach draußen und hielt in der Nähe des Sikorski. Colding ging auf den Hubschrauber zu, während er den Hangar im Auge behielt, um zu sehen, ob sich die Türen schlossen.
Sie blieben offen. Was nur bedeuten konnte, dass Andy Crosthwaite nicht vor Ort war, um den Hangar wieder dicht zu machen.
Die Luftschleuse des Hauptgebäudes öffnete sich. Colding erwartete, Andy zu sehen, doch statt dessen trottete Gunther Jones hinaus in die Kälte. Mit seinen knapp ein Meter neunzig war Gunther so groß wie Colding, doch er war viel magerer. Seine Genada-Jacke hing an seinem Körper herab wie ein Hemd an einem Drahtkleiderbügel.
»Gun, wo zum Teufel ist Das Arschloch?«
»Schläft. Aber ich wollte euch Jungs hier draußen nicht im Stich lassen.« Er reichte Colding ein Walkie-Talkie. »Es ist auf das Video-Telefon in Andys Zimmer eingestellt.«
Colding seufzte und drückte auf den Verbindungsknopf. »Andy, nimm ab.«
Keine Antwort.
»Andy, komm schon. Ich werde keine Ruhe geben, bis du antwortest.«
Das Gerät knisterte. »Ich versuche zu schlafen. Was dagegen?«
»Schaff deinen Arsch hierher, Andy. Gunthers Schicht ist zu Ende.«
»Ist Gunther da draußen?«
»Ja. Er ist rausgekommen, um deinen faulen Arsch zu retten.«
»Dann könnt ihr ja allesamt ein wunderschönes Happy End feiern. Lass mich in Ruhe, Colding.«
»Verdammt, Andy. Komm endlich her und mach deinen Job.«
»Ich passe. Mein SD-Level ist im Augenblick ziemlich niedrig.«
SD? Colding sah Gunther fragend an.
»Sein Scheiß-drauf-Level«, sagte Gunther.
Colding hielt Andy für nur unwesentlich nützlicher als einen Haufen mehrere Tage alter Hundescheiße. Andy war zusammen mit Magnus beim Militär gewesen, und nur deshalb hatte dieser gefährliche kleine Bastard überhaupt einen Job bekommen.
»Andy, ich – «