In den Armen eines Gentlemans - Tessa Dare - E-Book

In den Armen eines Gentlemans E-Book

Tessa Dare

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Beschreibung

Nur die Berührung dieser Frau kann ihn vor den Schatten seiner Vergangenheit retten.

Kate Taylor war zeit ihres Lebens auf sich gestellt – doch sie glaubt an die Liebe und sehnt sich nach Romantik und Zweisamkeit. Nie hätte sie dabei an Corporal Thorne gedacht: Er ist eiskalt – aber auch unwiderstehlich attraktiv. Als ein mysteriöser Fremder nach Spindle Cove kommt und nach Kate sucht, gibt Thorne vor, ihr Verlobter zu sein. Er weiß jedoch, dass Kate mit einem Mann wie ihm nicht glücklich würde, und versucht, ihr bezauberndes Lächeln aus seinen Gedanken zu verbannen. Der Kampf mit seinen Gefühlen ist die härteste Schlacht, die Thorne je schlagen musste. Und es sieht aus, als würde er sie verlieren …

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Seitenzahl: 532

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Buch

Jahrelang hat Kate Taylor sich allein durchgeschlagen, doch sie hat nie aufgehört, an die Liebe zu glauben, und sehnt sich nach wahrer Romantik in ihrem Leben. Als ein mysteriöser Fremder nach Spindle Cove kommt und nach Kate sucht, kommt ihr überraschend der charismatische Corporal Thorne zu Hilfe und behauptet, ihr Verlobter zu sein. Kate gegenüber betont er immer wieder, er habe dabei nur ihre Sicherheit im Sinn.

Vor langer Zeit schwor Samuel Thorne sich, immer dafür zu sorgen, dass es Kate Taylor gut geht. Er will das Beste für sie – aber er weiß auch, dass eine Ehe mit einem Mann wie ihm sie nicht glücklich machen würde. Zwar geben sich die beiden vorübergehend als Liebespaar aus, aber Thorne versucht, Kates bezauberndem Lächeln zu widerstehen. Doch in seinem Kuss liegt eine glühende Leidenschaft, wie Kate sie zuvor noch nie erlebt hat.

Autorin

Tessa Dare ist halbtags Buchhändlerin und ganztags Mutter. Als Kind ist sie ständig umgezogen und hat schnell gelernt: Egal wie oft sie den Wohnort wechselt, eine bestimmte Sorte von Freunden bleibt ihr immer – die Helden aus den Romanen, die sie gelesen hat. Aus diesem Grund entschied sie eines Tages, sich ihre eigenen Freunde zu schaffen und Romane zu schreiben. Sie lebt mit ihrem Mann, ihren zwei Kindern und ihrem Hund in Kalifornien.

Von Tessa Dare bereits erschienen

Wirbelsturm der Liebe · Leidenschaftliche Rache · Ein verführerischer Tanz · Zwei sündige Herzen · Drei sinnliche Nächte · Süßer Sieg der Leidenschaft · Eine sündige Lektion

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Tessa Dare

In den Armeneines Gentlemans

Roman

Deutschvon Beate Darius

Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel»A Lady by Midnight« bei Avon Books,an Imprint of HarperCollinsPublishers, New York.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

1. AuflageCopyright der Originalausgabe © 2012 by Eve OrtegaCopyright der deutschsprachigen Ausgabe© 2016 by Blanvalet in der VerlagsgruppeRandom House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenRedaktion: Melike KaramustafaUmschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesignUmschlagmotiv: © John EnnisBS · Herstellung: kwSatz: DTP Service Apel, HannoverISBN 978-3-641-18094-2V001www.blanvalet.de

Für Tessa Woodward und Helen Breitwieser,mit unendlich viel Dankbarkeit.

1

Sommer 1814

Corporal Thorne konnte eine Frau über die Entfernung eines Raums hinweg erbeben lassen. Ein unliebsames Talent, soweit es Kate Taylors Meinung betraf. Der Mann brauchte sich nicht einmal anzustrengen, stellte sie mit einem Anflug von Bedauern fest. Alles, was er dafür tun musste, war, in das Bull and Blossom zu schreiten, einen Barhocker mit Beschlag zu belegen, finster in einen zinnernen Bierkrug zu starren und seinen breiten, gestählten Rücken dem Schankraum zuzuwenden. Und ohne ein Wort, ohne auch nur einen flüchtigen Blick brachte er die Finger der armen Miss Elliott zum Erzittern, kaum dass sie diese auf die Tasten des Klaviers legte.

»Oh, ich kann nicht«, wisperte das Mädchen. »Ich kann jetzt nicht singen. Nicht solange er hier ist.«

Wieder eine Musikstunde ruiniert. Bis vor einem Jahr hatte Kate dieses Problem nicht gekannt. Davor war Spindle Cove vornehmlich von Damen bewohnt gewesen, und das Bull and Blossom war ein reizender Teesalon gewesen, in dem mit Zuckerglasur verzierte Törtchen und mit Konfitüre gefüllte Biskuittorten serviert wurden. Doch seitdem eine örtliche Miliz eingerichtet worden war, war das Etablissement sowohl Teesalon für die Damen als auch Taverne für die Gentlemen geworden. Sie hatte beileibe nichts dagegen zu teilen, nur dass dies mit Corporal Thorne schlicht unmöglich war. Seine strenge, unnahbare Präsenz schien den gesamten Raum einzunehmen.

»Versuchen wir es noch einmal«, forderte Kate ihre Schülerin auf, beflissen, die Furcht einflößende Silhouette auszublenden, die am Rande ihres Blickfelds aufragte. »Vorhin hatten Sie es beinahe.«

Miss Elliott errötete und rang die Finger im Schoß. »Ich werde es nie vernünftig hinbekommen.«

»Doch, doch, das werden Sie. Es ist lediglich eine Sache der Übung, und Sie werden nicht allein sein. Wir werden weiter an dem Duett arbeiten und uns zu einer Generalprobe auf dem Salon am kommenden Samstag einfinden.«

Bei dem Wort »Generalprobe« nahmen die Wangen des jungen Mädchens eine tiefrote Färbung an. Annabel Elliott war eine hübsche junge Dame, eine zierliche Erscheinung mit hellem Teint, doch das arme Ding errötete viel zu leicht. Wenn sie aufgeregt oder nervlich angespannt war, glühte ihr blasses Gesicht, als hätte man ihr zwei saftige Backpfeifen verpasst. Und unglücklicherweise war sie die allermeiste Zeit aufgeregt oder nervlich angespannt.

Einige junge Damen kamen nach Spindle Cove, um von Schüchternheit zu genesen, von Skandalen oder einem schwächenden Fieber. Miss Elliott war in der Hoffnung auf anders geartete Heilung hergeschickt worden: einem Auskurieren des Lampenfiebers. Kate unterrichtete sie lange genug, um zu wissen, dass Miss Elliotts Problem keinesfalls mit einem Mangel an Begabung oder Vorbereitung zu tun hatte. Ihr fehlte es einzig an Selbstvertrauen.

»Vielleicht wären einige neue Notenblätter hilfreich«, schlug Kate vor. »Ich für meinen Teil empfinde einen Folianten mit raschelnden, duftenden Musikbögen um einiges aufbauender für meine Gemütsverfassung als eine neue Haube.« Ihr kam ein Gedanke. »Ich werde diese Woche einen Abstecher nach Hastings unternehmen und sehen, was ich finden kann.« In Wahrheit hatte sie geplant, Hastings aus einem völlig anders gearteten Anlass aufzusuchen. Sie hatte dort einen Höflichkeitsbesuch abzustatten, den sie bislang aufgeschoben hatte. Der Erwerb neuer Partituren bot einen exzellenten Vorwand dafür.

»Ich weiß nicht, wie es sein kann, dass ich so töricht bin«, jammerte das immer noch glühende Mädchen. »Ich habe über Jahre hinweg hervorragenden Unterricht genossen. Und ich liebe es zu spielen. Wahrhaftig, das tue ich. Aber sobald andere zuhören, fühle ich mich wie gelähmt. Ich bin hoffnungslos.«

»Sie sind nicht hoffnungslos. Keine Situation ist jemals hoff…«

»Meine Eltern …«

»Ihre Eltern glauben gleichfalls nicht, dass Sie es nicht schaffen können, ansonsten hätten sie Sie nicht hergeschickt«, befand Kate.

»Meinen Eltern ist daran gelegen, dass meine Saison von Gelingen begleitet wird. Und Sie wissen mitnichten um den Druck, den meine Familie auf mich ausübt, Miss Taylor. Sie vermögen wahrlich nicht zu verstehen, wie das ist.«

»Nein«, räumte Kate ein, »ich vermute, das kann ich tatsächlich nicht.«

Miss Elliott blickte sie betroffen an. »Es tut mir aufrichtig leid. Ich habe das nicht so gemeint. Wie gedankenlos von mir.«

Kate winkte ab. »Seien Sie nicht töricht. Es ist eine Tatsache. Ich bin eine Waise. Sie haben absolut recht, ich weiß am allerwenigsten, wie es ist, Eltern mit solch großen Erwartungen und hochfliegenden Hoffnungen zu haben.« Obschon ich alles dafür geben würde, darum zu erfahren, und sei es nur für einen einzigen Tag. »Aber ich weiß sehr wohl, was für einen Unterschied es macht, dass Sie unter Freunden sind. Dies ist Spindle Cove. Wir alle hier sind ein wenig außergewöhnlich. Bringen Sie sich schlicht in Erinnerung, dass jeder im Dorf auf Ihrer Seite steht.«

»Jeder?« Miss Elliotts Blick glitt zaghaft zu dem hünenhaften, einzelgängerischen Mann, der an der Theke thronte. »Er ist so groß«, wisperte sie. »Und so Furcht einflößend. Jedes Mal, wenn ich zu spielen anfange, kann ich sehen, wie er zusammenzuckt.«

»Sie dürfen das nicht persönlich nehmen. Er ist ein Soldat, und wie Sie sicherlich wissen, sind diese allesamt seelisch von den vielen Bombenexplosionen in Mitleidenschaft gezogen.« Kate tätschelte Miss Elliott begütigend den Arm. »Beachten Sie ihn nicht. Kopf hoch, meine Liebe. Zaubern Sie ein Lächeln auf Ihr Gesicht, und setzen Sie Ihr Spiel fort.«

»Ich werde es versuchen, aber er ist … er ist recht schwierig zu ignorieren.«

Jawohl, das war er. Als hätte Kate das nicht selber gewusst. Auch wenn Corporal Thorne sich darin auszeichnete, sie zu ignorieren, konnte sie seine Wirkung auf ihre eigene Person nicht leugnen. Ihre Haut prickelte, wann immer er in der Nähe war, und bei dem seltenen Zufall, dass er in ihre Richtung sah, hatte sein starrender Blick eine Art, sie aufzuschlitzen wie ein Seziermesser. Doch um Miss Elliotts Selbstvertrauen willen stellte Kate ihre persönlichen Befindlichkeiten hintenan. »Das Kinn hochgereckt«, ermahnte sie Miss Elliott und sich selbst leise. »Lächeln Sie.«

Kate begann, die tiefere Stimme des Duetts zu spielen. Doch als die Zeit für Miss Elliotts Einsatz kam, stockte die jüngere Dame schon nach wenigen Takten.

»Verzeihen Sie, ich war soeben …« Miss Elliott brach ab.

»Ist er wieder zusammengezuckt?«

»Nein, schlimmer«, stöhnte sie. »Dieses Mal ist er wahrlich erschaudert.«

Mit einem kleinen Seufzer der Empörung reckte Kate den Hals, um zum Tresen zu blicken. »Nein. Das tat er nicht.«

Miss Elliott nickte heftig. »Doch. Es war entsetzlich.«

Dies war die Krönung. Dass er ihre Schüler mit Nichtachtung strafte, war eine Sache. Zusammenzucken war eine andere. Aber für Schaudern gab es keine Entschuldigung. Das war jenseits der Grenzen des Erlaubten. »Ich werde mit ihm reden.« Kate erhob sich von der Klavierbank.

»Oh, tun Sie das nicht. Ich bitte Sie.«

»Keine Sorge«, versicherte Kate. »Ich fürchte mich nicht vor ihm. Er mag ein unzivilisierter Grobian sein, aber ich glaube nicht, dass er beißt.« Sie durchquerte den Schankraum und blieb direkt hinter Corporal Thorne stehen. Fast hätte sie sogar den Mut gefunden, auf das quastengeschmückte Schulterstück seiner roten Uniform zu tippen. Fast. Stattdessen räusperte sie sich jedoch nur. »Corporal Thorne?«

Er drehte sich um.

Zeit ihres jungen Lebens hatte Kate keinen Mann kennengelernt, der einen so harten Ausdruck in den Augen hatte. Sein Gesicht war steinern – geformt aus scharf geschnittenen Kanten und frostig starren Flächen. Sein schroffes Terrain bot ihr keinerlei Schutz, nirgends ein Versteck. Sein Mund war lediglich ein grimmiger Strich, die dunklen Brauen hatte er missbilligend zusammengezogen. Und seine Augen … seine Augen hatten das Blau von Flusseis in der kältesten, harschesten Winternacht.

Kopf hoch. Lächle!

»Wie Sie vielleicht bemerkt haben«, sagte Kate leichthin, »befinde ich mich mitten in einer Musikstunde.«

Keine Antwort.

»Wissen Sie, Miss Elliott ist ängstlich, wenn sie vor Fremden spielen muss.«

»Sie wünschen, dass ich aufbreche.«

»Nein.« Ihre eigene Antwort überraschte Kate. »Nein, ich wünsche nicht, dass Sie aufbrechen.«

Das würde ihn zu leicht davonkommen lassen. Er brach jedes Mal auf. Das war ihre übliche Unterredung. Kate sammelte ihren Mut zusammen und versuchte, freundlich zu bleiben. Er fand immer irgendeinen Vorwand, spontan den Raum zu verlassen. Es war ein lächerliches Spiel, und sie war dessen müde. »Ich ersuche Sie nicht darum zu gehen«, erklärte sie. »Miss Elliott bedarf der Übung. Meine Schülerin und ich werden ein Duett spielen. Ich lade Sie ein, uns Ihre Aufmerksamkeit zu schenken.«

Er starrte sie an.

Kate war befremdlichen Blickkontakt gewöhnt. Wann immer sie neue Bekanntschaften machte, wurde sie sich schmerzlich bewusst, dass die Leute nur den auffälligen portweinfarbenen Fleck an ihrer Schläfe sahen. Jahrelang hatte sie versucht, ihr Geburtsmal mit breitkrempigen Hauben oder kunstvoll drapierten Kringellöckchen zu kaschieren, indes ohne Erfolg. Die Leute starrten geradewegs hindurch. Sie hatte gelernt, den anfänglichen Schmerz zu ignorieren. Mit der Zeit wurde sie, die lediglich ein Geburtsmal gewesen war, wenigstens zu einer Frau mit einem Geburtsmal, und letztlich schauten die Leute sie an und sahen einzig Kate. Corporal Thornes Blick war anders. Sie wusste nicht recht, wer sie in seinen Augen war. Die Ungewissheit ließ sie auf Messers Schneide balancieren, und sie kämpfte fortwährend darum, ihr Gleichgewicht zu finden.

»Bleiben Sie«, forderte sie ihn beherzt auf. »Bleiben Sie und lauschen Sie, derweil wir für Sie spielen. Applaudieren Sie, wenn wir enden. Wippen Sie meinethalben mit den Zehen zum Takt der Musik, wenn es Ihnen beliebt. Schenken Sie Miss Elliott ein wenig Ermutigung. Und schockieren Sie mich bis in die Spitzen meiner Fingernägel, indem Sie beweisen, dass Sie einen Funken Mitgefühl besitzen.«

Äonen verstrichen, ehe er schließlich seine knappe, kiesig knirschende Antwort gab. »Ich werde aufbrechen.« Er erhob sich und warf eine Münze auf den Tresen. Dann schritt er aus der Taverne, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen.

Als die rot gestrichene Tür in ihren geölten Angeln geräuschvoll ins Schloss fiel, schüttelte die junge Frau den Kopf. Der Mann war unsäglich.

Am Pianoforte nahm Miss Elliott ihr Spiel mit einem leichten Arpeggio wieder auf.

»Ich vermute, das löst ein Problem«, murmelte Kate, üblicherweise bemüht, die positive Seite der Dinge zu sehen. Keine Situation war jemals hoffnungslos.

Der Tavernenbesitzer Mr. Fosbury, ein Mann in mittleren Jahren, erschien, um Thornes Bierkrug abzuräumen. Er schob eine Tasse Tee in Kates Richtung. Eine waffeldünne Scheibe Zitrone schwamm in der Mitte, und das Aroma von Brandy schwebte auf einer Wolke Dampf zu ihr hinüber. Es wärmte sie innerlich, noch bevor sie überhaupt einen Schluck getrunken hatte. Die Fosburys waren gut zu ihr. Gleichwohl waren sie kein Ersatz für eine richtige Familie. Was das betraf, würde sie weiterhin danach suchen müssen. Und sie würde nicht aufgeben, gleich wie viele Türen ihr dabei ins Gesicht schlügen.

»Ich hoffe, Sie nehmen sich Thornes ungehobeltes Benehmen nicht zu Herzen, Miss Taylor.«

»Wer, ich?« Sie zwang sich zu einem kleinen Lächeln. »Oh, was das angeht, bin ich sehr vernunftgeprägt. Weswegen sollte ich mir die Worte eines herzlosen Mannes zu Herzen nehmen?« Gedankenverloren fuhr sie mit einer Fingerspitze um den Rand der Teetasse. »Aber tun Sie mir freundlicherweise einen Gefallen, Mr. Fosbury.«

»Was immer Sie wünschen, Miss Taylor.«

»Das nächste Mal, wenn ich versucht bin, Corporal Thorne einen Olivenzweig der Freundschaft zu reichen«, sie hob eine Augenbraue und schenkte ihm ein schelmisches Lächeln, »erinnern Sie mich daran, ihm damit stattdessen eins über den Schädel zu ziehen.«

2

Noch etwas Tee, Miss Taylor?«

»Nein, haben Sie vielen Dank.« Kate nippte an dem dünnen Gebräu in ihrer Tasse und versuchte, dabei nicht das Gesicht zu verziehen. Die Blätter mussten mindestens zum dritten Mal aufgegossen worden sein. Die letzte schwache Erinnerung an Tee schien bereits vollkommen ausgewaschen. Wie passend, dachte sie. Schwache Erinnerungen waren das Gebot des Tages.

Miss Paringham stellte die Teekanne beiseite. »Wo, sagten Sie, leben Sie jetzt?«

Kate lächelte die weißhaarige Frau im Sessel gegenüber an. »In Spindle Cove, Miss Paringham. Es ist ein beliebter Ferienort für wohlerzogene junge Damen. Ich verdiene mir meinen Lebensunterhalt, indem ich Musikstunden gebe.«

»Ich bin froh zu hören, dass Ihre Schulbildung Sie mit einem ehrlichen Einkommen versorgt. Das ist mehr als eine unglückliche Kreatur wie Sie sich erhofft haben kann.«

»Oh, in der Tat. Ich bin sehr glücklich.«

Während sie ihren »Tee« beiseitestellte, warf Kate einen verstohlenen Blick auf die Kaminuhr. Die Zeit drängte. Sie verabscheute es, kostbare Minuten an den Austausch von Höflichkeiten zu verschwenden, wenn es dringliche Fragen gab, die ihr auf der Zunge brannten. Doch Schroffheit würde ihr keine Antworten einbringen. Ein verschnürtes Päckchen lag in ihrem Schoß. Sie schloss die Finger um das Einwickelband. »Ich war ungemein überrascht zu erfahren, dass Sie hierhergezogen sind. Man stelle sich vor, meine alte Erzieherin wohnt nach ihrer Pensionierung nur wenige Stunden Fahrt von mir entfernt. Ich konnte nicht widerstehen, Ihnen einen Besuch abzustatten, um über die alten Zeiten zu plaudern. Ich habe solch schöne Erinnerungen an meine Margate-Jahre.«

Miss Paringham hob eine Augenbraue. »Tatsächlich.«

»O ja.« Kate strengte ihr Gedächtnis auf der Suche nach Beispielen an. »Ich vermisse im Besonderen die … die nahrhafte Suppe. Und unsere regelmäßigen Gebete. Es ist doch recht schwierig heutzutage, zwei volle Stunden zu erübrigen, um die Predigt zu lesen.«

Was das Leben eines Waisenkindes betraf, so wusste Kate, dass sie es um vieles besser getroffen hatte als die meisten. Das Regiment an der Margate School for Girls mochte streng gewesen sein, doch war sie weder gezüchtigt worden, noch hatte sie Hunger leiden oder in Lumpen gehen müssen. Sie hatte Freundschaften geschlossen und eine sinnvolle Schulbildung genossen. Und, das Wichtigste von allem, sie war in Musik unterwiesen und ermutigt worden, selbst Unterricht zu geben. Wahrlich, sie konnte sich nicht beklagen. Margate hatte sich ihrer sämtlichen Bedürfnisse angenommen, nur eines war ausgespart worden: die Liebe. In all den Jahren dort hatte sie niemals wirkliche Zuneigung erfahren. Einzig einen blassen, zutiefst verwässerten Eindruck davon. Ein anderes Mädchen wäre vielleicht verbittert geworden, aber Kate war nicht für Trübsinnigkeit geschaffen. Auch wenn ihr Verstand sich nicht darauf besann, ihr Herz hielt eine Zeit vor Margate in sich verschlossen. Eine vage Erinnerung an glückliche Tage hallte in jedem seiner Schläge wider. Sie war einstmals geliebt worden, das wusste sie einfach. Sie konnte keinen Namen und kein Gesicht damit verbinden, aber das machte die Emotion nicht weniger real. Vor langer Zeit hatte sie irgendwo zu jemandem gehört. Die betagte Erzieherin war vermutlich ihre letzte Hoffnung, Näheres darüber zu erfahren oder vielleicht eine Verbindung herzustellen.

»Können Sie sich an den Tag erinnern, als ich in Margate eintraf, Miss Paringham? Ich muss ein solch kleines Ding gewesen sein.«

Die Angesprochene schürzte die Lippen. »Fünf Jahre, höchstens. Wir hatten keinerlei Möglichkeit, letzte Gewissheit zu gewinnen.«

»Nein. Natürlich hatten sie dergleichen nicht.«

Niemand kannte Kates wirklichen Geburtstag, am allerwenigsten sie selbst. Als Schulleiterin hatte Miss Paringham entschieden, dass ihre Schutzbefohlenen sämtlich den Geburtstag des Herrn teilten, den ersten Weihnachtsfeiertag. Demzufolge sollten sie Trost finden im Gedenken an ihre himmlische Familie, wenn alle anderen Mädchen über die Festtage zu ihren Angehörigen heimkehrten. Indessen hatte Kate stets vermutet, dass hinter der Wahl ein eher praktisches Motiv steckte. Wenn ihre Geburtstage auf Weihnachten fielen, dann bestand nie irgendeine Veranlassung, sie zu feiern. Es wurden keine zusätzlichen Geschenke erforderlich. Mündel der Schule hatten sich mit dem alljährlich wiederkehrenden Festtagspäckchen zufriedenzugeben: einer Apfelsine, einem Haarband und einer akkurat gefalteten Bahn gemusterten Musselinstoffs. Miss Paringham hielt nichts von Naschwerk.

Augenscheinlich hatte sich daran nichts geändert. Kate biss eine winzige Ecke von dem trockenen, fad schmeckenden Keks ab, der ihr angeboten worden war, ehe sie ihn auf den Teller zurücklegte. Auf dem Kaminsims schien sich das Ticken der Uhr zu beschleunigen. Nur noch zwanzig Minuten, bevor die letzte Postkutsche in Richtung Spindle Cove aufbrach. Wenn sie diese verpasste, würde sie die ganze Nacht in Hastings festsitzen. Sie stählte ihre Nerven. Keine weiteren Ablenkungen. »Wer waren sie?«, forschte sie. »Wissen Sie es?«

»Wen um alles in der Welt meinen Sie?«

»Meine Eltern.«

Miss Paringham schnaubte. »Sie waren ein Mündel der Margate School. Sie haben keine Eltern.«

»So viel ist mir bekannt.« Kate lächelte, beflissen, der Situation eine gewisse Leichtigkeit zu verleihen. »Aber ich schlüpfte gewiss nicht aus einem Ei, nicht wahr? Ich krabbelte auch nicht unter einem Kohlblatt hervor. Ich hatte einmal eine Mutter und einen Vater. Vielleicht nur für die kurze Dauer von fünf Jahren. Ich habe angestrengt darüber nachgedacht. All meine Erinnerungen sind so vage, so diffus. Ich erinnere mich, mich geborgen gefühlt zu haben. Und dann sind da diese Impressionen von Blau. Ein Raum mit blauen Wänden vielleicht, aber da bin ich mir nicht sicher.« Sie zwickte sich in den Nasenrücken und blickte stirnrunzelnd auf die verknoteten Teppichfransen zu ihren Füßen. »Vielleicht will ich mich bloß so verzweifelt erinnern, dass ich mir Dinge einbilde.«

»Miss Taylor …«

»Ich erinnere mich vor allem an Geräusche.« Sie schloss die Augen und tauchte in ihr Unterbewusstsein ein. »Klänge ohne Bilder. Irgendjemand sagte zu mir: ›Sei tapfer, meine Katie‹. War es meine Mutter? Mein Vater? Die Worte sind in mein Gedächtnis eingemeißelt, aber ich kann ihnen kein Gesicht zuordnen, gleich, wie ich mich bemühe. Und dann ist da die Musik. Endlose Klaviermusik und immer dasselbe kleine Lied …«

»Miss Taylor.« Als sie Kates Namen wiederholte, schien die Stimme der betagten Lehrerin geradezu nach ihr zu schnappen. Sie klirrte nicht wie feines Chinaporzellan, sondern knallte wie ein Peitschenhieb.

In einer reflexhaften Bewegung richtete sich Kate kerzengerade in ihrem Sessel auf.

Miss Paringham maß sie mit einem scharfen Blick. »Miss Taylor, ich rate Ihnen, diese Methode der Befragung umgehend einzustellen.«

»Wie kann ich das? Sie müssen verstehen. Ich habe all die Jahre mit diesen Fragen gelebt, Miss Paringham. Ich habe versucht zu tun, wie von Ihnen angeraten, und zufrieden mit dem zu sein, was das Leben mir als glückliche Fügung geschenkt hat. Ich habe Freunde. Ich habe ein Einkommen. Ich habe die Musik. Aber die Wahrheit habe ich bislang nicht. Ich wünsche zu wissen, woher ich komme, selbst wenn es schwerfällt, das zu hören. Ich weiß, dass meine Eltern inzwischen tot sind, aber vielleicht besteht noch Hoffnung, Kontakt zu anderen Verwandten aufzunehmen. Irgendwo muss es jemanden geben. Das kleinste Detail könnte sich als nützlich erweisen. Ein Name, eine Stadt, ein …«

Die alte Frau pochte laut mit dem Stock auf die Bodendielen. »Miss Taylor! Selbst wenn ich Informationen darüber hätte, würde ich sie niemals teilen. Ich würde sie mit ins Grab nehmen.«

Kate lehnte sich in ihrem Sessel vor. »Aber … warum?«

Miss Paringham antwortete nicht, sondern presste nur die schmalen Lippen zu einer dünnen Linie des Missfallens zusammen.

»Sie mochten mich nie«, flüsterte Kate. »Ich wusste es. Sie machten fortwährend in kleinen, unmissverständlichen Gesten deutlich, dass, wenn Sie mir Freundlichkeit entgegenbrachten, dies nur widerwillig taten.«

»Wahrhaftig, Sie haben recht. Ich mochte Sie nie.«

Sie betrachteten einander. Nun war die Wahrheit heraus.

Kate zwang sich, nicht das leiseste Anzeichen von Enttäuschung oder Schmerz preiszugeben. Doch ihr eingewickeltes Päckchen mit Notenblättern fiel zu Boden, woraufhin Miss Paringham die Lippen zu einem herablassenden Lächeln verzog.

»Darf ich fragen, aus welchem Grund ich so geschmäht wurde? Ich war ausnehmend dankbar für jede noch so kleine Wohltat, die mir zuteilwurde. Ich richtete keinerlei Unfug an. Ich beklagte mich nie. Ich besuchte meine Unterrichtsstunden und erzielte gute Noten.«

»Genau das ist es. Sie zeigten keinerlei Demut. Sie benahmen sich, als hätten Sie genauso viel Anspruch auf Frohsinn wie jedes andere Mädchen in Margate. Immer singend. Immer lächelnd.«

Die Vorstellung war so absurd, dass Kate sich ein Auflachen nicht versagen konnte. »Sie verachteten mich, weil ich zu viel lächelte? Hätte ich melancholisch und grüblerisch sein sollen?«

»Beschämt!« Miss Paringham bellte das Wort geradezu heraus. »Ein Kind der Schande sollte in Beschämung leben.«

Kate rang vor lauter Verblüffung nach Luft. Ein Kind der Schande? »Wie können Sie eine derartige Behauptung aufstellen? Ich dachte stets, ich sei verwaist. Sie sprachen nie …«

»Arglistiges Ding. Ihre Schande steht außer Frage. Gott selber hat Sie gezeichnet.« Miss Paringham deutete mit einem knochigen Finger auf ihr Gesicht.

Kate vermochte nicht zu antworten. Zitternd hob sie eine Hand an die Schläfe und begann, mit den Fingerspitzen heftig an dem Mal zu reiben. In derselben Weise, in der sie es als junges Mädchen getan hatte. Als ließe es sich so von ihrer Haut entfernen. Zeit ihres Lebens war sie in dem Glauben gewesen, ein geliebtes Kind gewesen zu sein, dessen Eltern eines frühen Todes starben. Wie entsetzlich zu denken, dass sie verstoßen worden war wie ein ungewollter Bastard. Sie verharrte in der Bewegung. Vielleicht genau deswegen verstoßen.

»Sie törichtes Mädchen.« Das Lachen der alten Frau war nicht mehr als ein hämisches Krächzen. »Sie träumen immerzu von einem Märchen, oder? Denken Sie, dass eines Tages ein Kurier an Ihre Tür klopfen wird, um Sie zu einer lang verschollenen Prinzessin zu erklären?«

Kate ermahnte sich, ruhig zu bleiben. Zweifellos war Miss Paringham eine einsame, verschrobene alte Frau, deren Lebensinhalt mittlerweile darin bestand, andere schlecht zu reden. Sie wollte dem gehässigen Weib mitnichten die Genugtuung geben, Zeugin zu werden, wie sie ihre Fassung verlor. Überdies war sie nicht bereit, auch nur einen Augenblick länger hier auszuharren.

Sie bückte sich, um das eingewickelte Päckchen mit den Partituren vom Boden aufzuheben. »Es tut mir leid, Sie gestört zu haben, Miss Paringham. Ich werde aufbrechen. Sie brauchen dem nichts mehr hinzuzufügen.«

»O doch, das werde ich. Dummes Ding, das Sie sind, haben Sie das Alter von dreiundzwanzig Lenzen erreicht, ohne das Wesentliche zu begreifen. Wie ich sehe, habe ich das Joch zu tragen, Sie eine letzte Lektion zu lehren.«

»Bitte bemühen Sie sich nicht.« Kate, die sich bereits aus dem Sessel erhoben hatte, deutete einen Knicks an. Das Kinn gereckt, schob sich ein verächtliches Lächeln in ihre Züge. »Danke für den Tee. Ich muss jetzt wirklich aufbrechen, wenn ich die Postkutsche noch erreichen will. Ich finde schon selber hinaus.«

»Ungehöriges Mädchen!« Die alte Frau holte mit dem Gehstock aus und traf Kate in den Kniekehlen.

Kate stolperte und fing sich im Eingang zum Salon wieder. »Sie haben mich geschlagen. Ich kann es nicht glauben, Sie haben mich wirklich geschlagen.«

»Das hätte ich Jahre eher tun sollen. Ich hätte Ihnen dieses Lächeln geradewegs aus Ihrem Gesicht prügeln können.«

Kate lehnte sich mit der Schulter an den Türrahmen. Die Qualen der Demütigung waren weitaus größer als der körperliche Schmerz. Ein Teil von ihr focht mit dem Wunsch, sich auf dem Boden zu einer winzigen Kugel zusammenzukrümmen, doch war ihr gewärtig, dass sie diesem Ort entfliehen musste. Mehr als das, sie musste diesen Worten entfliehen. Diesen scheußlichen, unfassbaren Äußerungen, die sie innerlich wie äußerlich schlimm gezeichnet zurücklassen würden.

»Guten Tag, Miss Paringham.« Sie verlagerte das Gewicht auf ihre schmerzenden Knie und rang nach Atem. Sie war nur Schritte von der Welt dort draußen entfernt.

»Keiner wollte Sie damals.« Die Stimme der alten Frau troff vor Häme. »Wer auf dieser Welt, glauben Sie, wird Sie jetzt wollen?«

Irgendjemand, beharrte Kates Herz. Irgendwo.

»Niemand.« Boshaftigkeit verzerrte das Gesicht der Alten, als sie den Krückstock abermals schwang.

Kate hörte das scharfe Klack, als sie den Türrahmen traf, doch da hatte sie bereits mit fahrigen Fingern den vorderen Riegel aufgeschoben. Sie hob ihre Röcke und stürzte hinaus auf das gepflasterte Trottoir. Ihre flachen Stiefelchen waren an den Sohlen dünn abgelaufen, und sie schlingerte und stolperte beim Laufen. Die Straßen von Hastings waren eng und verwinkelt, gesäumt von geschäftigen Läden und Schenken. Es schien unmöglich, dass die griesgrämige Frau ihr folgen könnte. Dennoch gab sie Fersengeld. Sie lief und verwendete kaum einen Gedanken darauf, welche Richtung sie einschlug, solange es nur fort von diesem schrecklichen Ort war. Wenn sie nur schnell genug weiterrannte, würde die Wahrheit sie vielleicht ebenfalls niemals einholen. Als sie in Richtung der Felder abbog, erfüllte der donnernde Schlag einer Kirchenglocke ihr Innerstes mit Angst und Schrecken. Eins, zwei, drei, vier …

O nein. Aufhören. Bitte schlag nicht wieder!

Fünf. Ihre Hoffnung sackte ins Bodenlose. Miss Paringhams Kaminuhr musste nachgegangen sein. Sie kam zu spät. Die Postkutsche war sicherlich schon ohne sie abgefahren, und bis zum Morgen käme keine weitere. Der Sommer hatte das Tageslicht zu seiner größten Länge gestreckt, gleichwohl würde in ein paar Stunden die Nacht hereinbrechen. Sie hatte das Meiste ihrer Barschaft in der Musikalienhandlung ausgegeben und lediglich genügend Geld für ihre Rückfahrkarte nach Spindle Cove aufgehoben. Sie besaß keinen überzähligen Schilling für die Übernachtung in einer Taverne oder eine Mahlzeit.

Kate blieb mitten auf der belebten Straße stehen. Menschen drängten rechts und links an ihr vorbei, streiften sie im Vorüberhasten. Indes gehörte sie zu keinem von ihnen. Niemand würde ihr helfen. Verzweiflung bahnte sich kalt und schwarz einen Weg durch ihre Venen. Ihre schlimmsten Ängste hatten sich bewahrheitet. Sie war allein. Nicht bloß heute Abend, sondern für immer. Ihre eigenen Angehörigen hatten sie Jahre zuvor verstoßen. Niemand wollte sie. Sie würde einsam und allein in irgendeiner schäbigen Pensionärsunterkunft wie der von Miss Paringham wohnen, drei Mal wieder aufgebrühten Tee trinken und an ihrer eigenen Bitterkeit ersticken.

Sei tapfer, meine Katie! Ihr Lebtag lang hatte sie sich an die Erinnerung dieser Worte geklammert. Sie hatte an dem Glauben festgehalten, dass sie irgendjemandem auf der Welt etwas bedeutete. Sie würde diese Stimme nicht enttäuschen. Diese Art von Kurzschlusshandlung passte nicht zu ihr, und sie war auch zu nichts gut. Sie schloss die Augen, atmete tief durch und zog im Stillen Bilanz. Sie hatte ihren Verstand. Sie hatte ihre Talente. Sie hatte einen jungen gesunden Körper. Niemand konnte ihr diese Dinge fortnehmen. Nicht einmal diese boshafte Runzelhexe mit ihrem Stock und dem dünnen Teegebräu.

Es musste eine Lösung geben. Hatte sie irgendetwas, das sich zu Geld machen ließ? Ihr rosarotes Musselinkleid war recht hübsch. Ein weitergereichtes Geschenk von einer ihrer Schülerinnen, das mit Bändern und Spitze abgepaspelt war. Allerdings konnte sie schlecht die Sachen verkaufen, die sie am Leib trug. Sie hatte ihre beste Sommerhaube bei Miss Paringham liegen lassen, und eher wollte sie auf der Straße schlafen, als dorthin zurückzukehren. Wenn sie es letzten Sommer nicht so kurz gestutzt hätte, hätte sie versuchen können, ihr Haar zu verkaufen. Doch die Locken reichten ihr jetzt kaum bis über die Schultern, außerdem waren sie von einem unspektakulären Braunton. Kein Perückenmacher würde dergleichen haben wollen.

Ihre größte Hoffnung war die Musikalienhandlung. Wenn sie ihre missliche Lage schilderte und sehr höflich anfragte, wäre der Inhaber vielleicht bereit, die Noten zurückzunehmen und ihr den Kaufpreis zu erstatten. Damit hätte sie genug Geld für ein Zimmer in einer respektablen Pension. Auf sich allein gestellt zu sein, war nie ratsam, und sie hatte nicht einmal ihre Pistole dabei. Aber sie könnte einen Sessel vor die Kammertür schieben und die ganze Nacht mit dem Schürhaken in der Hand wach bleiben und zur Not um Hilfe schreien. Gut, immerhin hatte sie jetzt einen Plan.

Kaum, dass Kate sich anschickte, die Straße zu überqueren, stieß ein Ellbogen sie aus dem Gleichgewicht.

»Och«, brummte dessen Besitzer, »geben Sie bessa Obacht, Miss.«

Sie rappelte sich auf und stammelte eine Entschuldigung. Die Schnur an ihrem Päckchen war zerrissen. Weiße Seiten flogen und flatterten in den dunstigen Sommernachmittag wie eine Schar aufgeschreckter Tauben. »O nein! Die Partituren.« Hektisch fuchtelte sie mit beiden Händen in der Luft herum. Ein paar Notenblätter wurden hoch in die Luft getragen, um wahrscheinlich in den Weiten der Felder zu verschwinden, andere segelten auf den gepflasterten Bürgersteig, wo Passanten sogleich darauf trampelten. Das sperrige Päckchen selbst landete, nach wie vor zum Teil in braunes Packpapier gehüllt, mitten auf dem Fahrweg. Kate sprang wie wild umher, um verzweifelt zu retten, was noch zu retten war.

»Machen Sie schnell!«, brüllte ein Mann.

Wagenräder knackten. Irgendwo, viel zu nahe, bockte ein Pferd und wieherte. Von dort, wo sie auf der Straße kauerte, blickte Kate auf, um zwei auskeilende, eisenbeschlagene Hufe auszumachen, groß wie Speiseteller, und im Begriff, sie zu zermalmen.

Eine Frau schrie.

Kate warf sich mit ihrem ganzen Gewicht auf eine Seite. Die Pferdehufe landeten unmittelbar zu ihrer Linken. Mit einem kreischenden Zischen der Bremse kamen die Kutschenräder knirschend zum Halten – nur Zehntelsekunden, bevor sie ihr Bein zerquetscht hätten. Das Päckchen mit den Notenblättern blieb einige Meter weiter liegen. Ihr »Plan« war jetzt ein vor Schmutz starrender und von Wagenspuren gezeichneter Haufen Unrat auf der Straße.

»Der Teufel sollte Sie holen«, verwünschte der Fuhrmann sie vom Kutschbock aus und schwang seine Peitsche. »Ein feines kleines Frauenzimmer sind Sie. Hätten beinahe die ganze Kutsche zum Umstürzen gebracht.«

»Ich … ich bin untröstlich, Sir. Es war ein Unfall.«

Er knallte mit der Peitsche gegen die Pflastersteine. »Aus dem Weg jetzt, Sie widerwärtiges kleines …«

Als er abermals ausholte, zuckte Kate zusammen und duckte sich.

Doch der Schlag blieb aus.

Ein Mann trat zwischen sie und das Fuhrwerk. »Drohen Sie ihr noch einmal«, hörte sie ihn den Kutscher in einem tiefen, fast unmenschlichen Knurren warnen, »werde ich Ihnen das Fleisch von Ihren erbarmenswerten Knochen peitschen.« Die Worte klangen schneidend, und sie verfehlten nicht ihre Wirkung. Das Fuhrwerk rollte eilig davon.

Derweil starke Arme sie auf die Füße zogen, geriet ein wahrer Berg von Mann in Kates Blickfeld. Sie wurde schwarz polierter Stiefel gewahr, Reithosen spannten über granitharten Schenkeln. Ein unverkennbarer rotwollener Offiziersrock. Kates Herz machte eine Satz. Sie kannte diesen Rock. Sie hatte möglicherweise sogar die Messingknöpfe an ebendiese Ärmelstulpen genäht. Dies war die Uniform der Miliz von Spindle Cove. Sie befand sich in vertrauten Armen. Gerettet. Als sie den Kopf hob, war sie sich sicher, in ein freundliches Gesicht zu blicken, doch stattdessen …

»Miss Taylor?«

Stattdessen war er es. »Corporal Thorne«, flüsterte sie. An einem anderen Tag hätte Kate über die Ironie zu lachen vermocht. Von allen Männern, die zu ihrer Rettung hätten kommen können, war es ausgerechnet dieser eine.

»Miss Taylor, was in Himmelherrgottsnamen tun Sie hier?«

Angesichts seines unwirschen Tons spannte sie sich unwillkürlich an. »Ich … ich kam in die Stadt, um neue Notenblätter für Miss Elliott zu erwerben und um …« Sie brachte es nicht über sich zu erwähnen, dass sie Miss Paringham besucht hatte. »Aber das Päckchen entglitt meinen Händen, und jetzt habe ich die Postkutsche nach Hause verpasst. Dummes Mädchen, das ich bin.«

Dummes, törichtes, von Schande gezeichnetes, verstoßenes Mädchen, das du bist.

»Nun sitze ich leider Gottes hier fest. Wenn ich bloß ein bisschen mehr Geld eingesteckt hätte, könnte ich mir ein Zimmer für die Nacht erlauben und morgen nach Spindle Cove zurückkehren.«

»Sie haben kein Geld?«

Sie wandte ihr Gesicht ab, außerstande, die Zurechtweisung in seinem Blick zu ertragen.

»Was dachten Sie sich dabei, diese weite Strecke alleine zu reisen?«

»Ich hatte keine Wahl.« Ihre Stimme zitterte. »Ich bin gänzlich auf mich allein gestellt.«

Er schloss die Hände um ihre Arme. »Ich bin hier. Sie sind nicht mehr allein.«

Schwerlich Poesie, diese Worte. Eine schlichte Feststellung von Tatsachen. Kaum anzunehmen, dass sie dasselbe Grundverständnis von Liebenswürdigkeit teilten. Wenn wahrer Trost ein nahrhaftes Vollkornbrot wäre, dann waren das, was er ihr anbot, höchstens ein paar trockene Brotkrumen. Sei’s drum. Es war ohne Belang. Sie ersehnte sich Zuwendung und war außerstande, sich in diesem Augenblick in würdevoller Zurückhaltung zu üben.

»Ich bin untröstlich«, brachte sie heraus und versucht, ein Schluchzen zu unterdrücken. »Dies wird Ihnen gewiss nicht gefallen.« Und mit diesen Worten sank sie in seine wuchtige, warme, widerstrebende Umarmung – und weinte.

Sie brach wahrhaftig in Tränen aus. Mitten auf der Straße. Sie verzog das hübsche Gesicht, lehnte sich vor, bis ihre Stirn auf seine Brust traf, und dann erging sie sich in einem lauten, gepressten Schluchzen. Ein zweites folgte, dann ein drittes.

Sein Wallach tänzelte zur Seite, Thorne teilte das Missbehagen des Tiers. Vor die Wahl gestellt, mitanzusehen, wie Miss Kate Taylor weinte, oder seine eigene Leber hungrigen Aasvögeln zum Fraß anzubieten, hätte er sein Messer gezückt und geschärft, noch ehe die erste Träne über ihr Gesicht gerollt wäre. Er schnalzte leise mit der Zunge, was das Pferd ein wenig beruhigte. Doch es hatte keinerlei Wirkung auf das Mädchen. Ihre schmalen Schultern zuckten, derweil sie in seinen Offiziersrock weinte. Die Hände hatte er noch immer um ihre Arme geschlossen. In einer verzweifelten Geste ließ er sie hinaufgleiten. Dann hinunter. Es half nichts.

Was ist geschehen?, drängte es ihn zu fragen. Wer hat Sie brüskiert? Wen kann ich zum Krüppel machen oder dafür meucheln, dass er Sie derart in Kummer gestürzt hat?

»Ich bin untröstlich«, murmelte sie, als sie sich einige Minuten später von ihm löste.

»Weswegen?«

»Dafür, dass ich mich an Ihrer Schulter ausweine. Dass ich Ihnen aufnötige, mich zu halten. Ich weiß, dass Sie das verabscheuen.« Sie fischte ein Taschentuch aus dem Ärmel und tupfte ihre Wangen trocken. Nase und Augen waren gerötet. »Ich meine nicht, dass es Ihnen missfällt, Frauen in den Armen zu halten. Jeder in Spindle Cove weiß, dass Sie dem weiblichen Geschlecht zugetan sind. Ich habe weitaus mehr gehört, als mir lieb ist, über Ihre …« Sie erblasste und verstummte.

Umso besser. Er ergriff das Zaumzeug des Pferdes mit einer Hand, die andere legte er auf Miss Taylors Rücken, um sie von der Straße zu geleiten. Sobald sie das Dorfgrün erreicht hatten, schlang er die Zügel um einen Pfosten und lenkte sein Augenmerk darauf, es ihr bequem zu machen. Doch nirgends gab es einen Platz für sie zum Niederlassen. Keine Bank, keinen Mauervorsprung. Das stimmte ihn über jede Vernunft verdrossen. Er ließ den Blick zu einer Taverne auf der anderen Straßenseite wandern – die Art von Etablissement, welche zu betreten er ihr niemals zugestehen würde. Er überlegte stattdessen ernsthaft, die Straße zu überqueren, den ersten verfügbaren Trunkenbold von seinem Sitz zu kippen und den leeren Stuhl für sie ins Freie zu schleppen. Eine Frau sollte nicht weinen, solange sie stand. Das schien nicht recht.

»Bitte. Können Sie mir nicht ein paar Schillinge leihen?«, fragte Kate. »Damit kann ich eine Pension für die Nacht finden und falle Ihnen nicht länger zur Last.«

»Miss Taylor, ich kann Ihnen kein Geld leihen, um die Nacht allein in der Herberge einer Kutschenstation zu verbringen. Es wäre nicht sicher.«

»Ich habe keine Wahl als hierzubleiben. Bis zum Morgen fährt keine Postkutsche zurück nach Spindle Cove.«

Thorne blickte zu seinem Wallach. »Ich besorge Ihnen ein Pferd, sofern Sie reiten können.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich hatte nie auch nur eine einzige Reitstunde.«

Teufel auch. Wie sollte er in dieser Situation für Abhilfe sorgen? Er hatte zweifelsohne das Geld, ein weiteres Pferd anzumieten, aber bei Weitem nicht genügend Bares in der Tasche für eine private Kutsche. Er könnte sie zwar in einer Pension unterbringen, aber niemals alleine dort zurücklassen. Ein gefahrvoller Gedanke ergriff von ihm Besitz, krallte sich tief in sein Bewusstsein. Er könnte bei ihr bleiben. Nicht in anstößiger Weise, redete er sich ein. Einzig als ihr Beschützer. Er könnte vorerst einen Platz für sie finden, an dem es ihr möglich war, sich auszuruhen, und dafür Sorge tragen, dass sie eine warme Mahlzeit bekam und Decken. Er könnte Wache halten, derweil sie schlief, und sicherstellen, dass sie nicht gestört wurde. Er könnte da sein, wenn sie aufwachte. Nach all diesen Monaten hoffnungslosen Begehrens wäre das vielleicht genug.

Genug? Ganz recht …

»Gütiger Himmel.« Sie trat eilig einen Schritt zurück.

»Was haben Sie denn?«

Sie senkte den Blick und schluckte vernehmlich. »Etwas an Ihnen bewegt sich immerzu.«

»Nein, gewiss nicht.« Thorne unterzog sein körperliches Inventar einer raschen, stillschweigenden Überprüfung. Er fand alles in ordnungsgemäßem Zustand. Bei anderer Gelegenheit – einer mit weniger Tränen – hätte dieser Grad von Nähe zweifellos seine Lust erregt. Heute jedoch berührte Kate etwas in ihm, das um einiges höher als sein Unterkörper gelagert war. Das Gefühl bohrte sich in seine Eingeweide und stocherte in dem Häufchen rauchender schwarzer Asche, die von seinem Herzen übrig war.

»Ihr Beutel.« Sie zeigte auf die lederne Satteltasche, die quer über seiner Brust hing. »Er … zuckt und zappelt.«

Oh, das. In all der Aufregung hätte er die Kreatur fast vergessen. Er fasste unter die rehlederne Lasche, hob den Urheber des Zappelns heraus und hielt ihn Kate zur Begutachtung hin. »Es ist lediglich er hier.«

Mit einem Mal war alles anders. Als hätte die gesamte Erdachse einen Hieb eingesteckt und sich in einem neuen Winkel ausgerichtet. In weniger Zeit, als ein Männerherz für einen Aussetzer benötigte, verwandelte sich Miss Taylors Gesichtsausdruck. Die Tränen waren vergessen. Erstaunt hob sie die fein geschwungenen Brauen. Ihre Augen leuchteten voller Leben, glitzerten wahrhaftig wie zwei Sterne. Sie öffnete die Lippen für ein entzücktes Seufzen. »Oh.« Sie presste eine Hand an die Wange. »Oh, es ist ein Hündchen.«

Sie lächelte. Herrgott, wie sie lächelte. Einzig wegen dieses zappelnden Balls aus Schnauze und Fell, der ihr so sicher auf die Schuhe pinkeln würde, wie er sie in wenigen Minuten zerkaut hätte.

Sie streckte die Hände danach aus. »Darf ich?«

Als wenn er ihr etwas abschlagen könnte. Thorne legte den Welpen in ihre Arme.

Sie wiegte und verzärtelte ihn wie ein Baby. »Wo kommst du denn her, mein Kleiner?«

»Von einem Gutshof in der Nähe«, antwortete Thorne. »Dachte, ich sollte ihn mit zum Schloss nehmen. Kann dringend einen Jagdhund gebrauchen.«

Sie neigte den Kopf und sah auf den Welpen hinab. »Ist er denn ein Jagdhund?«

»Das wird sich zeigen.«

Mit einem Finger streichelte sie über einen rostfarbenen Fleck über dem rechten Auge des Hundes. »Ich vermute, er hat viele Begabungen, nicht wahr? Aufgeweckter kleiner Bursche.« Sie umschloss das Hundebaby sanft mit beiden Händen und betrachtete es Nase an Nase, dabei schürzte sie die Lippen und artikulierte leise zirpende Laute. Der Hund leckte ihr zum Dank über das Gesicht.

Glücklicher Köter.

»Hat der böse Corporal Thorne dich in eine dunkle, schmutzige Satteltasche eingesperrt?« Sie schüttelte den Welpen spielerisch. »Dir gefällt es viel besser hier draußen bei mir, nicht wahr? Aber gewiss doch.«

Der Hund jaulte. Sie lachte, drückte ihn inniger an die Brust und beugte sich über seinen flauschigen Nacken.

»Du bist ein Segen«, hörte er sie flüstern. »Du bist genau das, was ich heute brauche.« Sie streichelte das Fell des Welpen. »Danke.«

Thorne fühlte ein scharfes Ziehen in der Brustgegend. Wie etwas Eingerostetes und Verbogenes, das sich loszuwinden versuchte. Dieses Mädchen hatte eine Art an sich, die ihn selbiges fühlen ließ. Das war nie anders gewesen, selbst Jahre um Jahre in der Vergangenheit nicht. Jene längst verstrichene Zeit schien weiter zurückzuliegen als ihre frühesten Erinnerungen. Eine wahrhafte Gnade für sie. Thorne hingegen erinnerte sich. An alles. Er räusperte sich vernehmlich. »Wir machen uns besser auf den Weg. Es wird dunkel sein, bis wir Spindle Cove erreichen.«

Sie löste ihr Augenmerk von dem Hund und warfThorne einen forschenden Blick zu. »Aber wie?«

»Sie reiten mit mir. Alle beide. Ich werde Sie zu mir in den Sattel heben, Sie halten den Hund.«

Gleichsam als wollte sie alle betroffenen Parteien zurate ziehen, spähte sie zu dem Pferd hinüber, dann betrachtete sie den Welpen. Zuletzt sah sie Thorne an. »Sie sind sicher, dass wir zusammen darauf passen?«

»Gewiss.«

Mit zweifelnder Miene nagte sie an ihrer Unterlippe.

Ihre spontanen Bedenken gegen seinen Einfall waren offensichtlich. Und begreiflich. Thorne strotzte seinerseits nicht vor Überschwang, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Ein dreistündiger Ritt mit Miss Kate Taylor, zwischen seine Schenkel geschmiegt? Folter der reinsten Sorte. Andererseits wusste er keinen besseren Weg, sie schnell und sicher heimzubringen. Er würde es bewerkstelligen. Wenn er es ein Jahr mit ihr im selben winzigen Dorf ausgehalten hatte, dann war er gewiss imstande, ein paar Stunden Nähe zu ertragen.

»Ich werde Sie nicht hier zurücklassen«, bekundete er. »Wir werden es so machen, wie von mir vorgeschlagen.«

Um ihre Lippen zuckte ein süßes, befangenes Lächeln. Es war beruhigend und zur selben Zeit verheerend. »Wenn Sie es auf diese Weise darlegen, dann sehe ich mich außerstande abzulehnen.«

Um Gottes willen, sagen Sie das nicht!

»Danke«, fügte sie hinzu und legte eine Hand sanft auf seinen Ärmel.

Um Ihretwillen, tun Sie das nicht!

Als Thorne sich ihrer Berührung entzog, sah sie tatsächlich ein wenig gekränkt aus. Was in ihm den sofortigen Wunsch aufkeimen ließ, sie zu besänftigen, doch den Versuch zu wagen, getraute er sich nicht. »Geben Sie Acht auf den Hund«, sagte er stattdessen nur.

Er half Kate in den Sattel, indem er ihr Knie anstelle ihres Schenkels stützte, was letzthin zweckdienlicher gewesen wäre. Dann schwang er sich selbst hinter ihr auf den Wallach. Mit einer Hand umfasste er die Zügel, die andere legte er an ihre Taille. Als er das Pferd zum Schritt antrieb, sank sie weich und warm gegen ihn. Mit den Schenkeln umklammerte er ihre. Ihr Haar roch nach Gewürznelken und Zitrone. Der Duft berauschte seine Sinne, ehe er noch wusste, wie ihm geschah. Verflucht, verflucht, verflucht! Er konnte sie ermutigen, mit ihm zu plaudern, ihn zu berühren. Er konnte sie ablenken, indem sie sich mit dem Hund beschäftigte. Aber wie sollte er sie daran hindern, ihn mit ihren vollendeten weiblichen Formen zu reizen und den Duft des Paradieses zu verströmen? Trotz der Schläge, der Peitschenhiebe, der Jahre im Kerker hatte Thorne nicht den geringsten Zweifel, dass die nächsten drei Stunden die härteste Strafe in seinem ganzen Leben werden würden.

3

Während ihrer ersten Stunde zu Pferd geschah etwas ungemein Merkwürdiges. Vor Kates Augen verwandelte sich Corporal Thorne in einen vollkommen anderen Mann. In einen gut aussehenden Mann. Das erste Mal, als sich ihr Blick zu ihm stahl und sie ihn langsam von seinem Revers zu seinem Gesicht wandern ließ, fand sie seine Erscheinung hart und einschüchternd wie eh und je. Seine Miene wurde von den letzten glühenden Strahlen der Nachmittagssonne erhellt. Aber dann, ein paar Hundert Meter die Landstraße hinunter, spähte sie erneut zu ihm auf, als sie unter einem Spalier von Bäumen hindurchritten. Dieses Mal erhaschte sie ihn im Profil, seine Züge waren von Schatten überzogen. Sie bildete sich ein, dass er weniger unnahbar als beschützerhaft wirkte. Stark. Der Wall aus erhitzten Muskeln in ihrem Rücken verstärkte diesen Eindruck zusätzlich. Genau wie der gestählte Arm, der sich um ihre Körpermitte spannte, und die mühelose Art, mit der er das Pferd lenkte. Kein Drohgebaren oder Peitschenschnalzen, einzig sanftes Anspornen mit den Hacken und gelegentlich ein ruhiges Wort trieben das Tier an. Seine dunkle Stimme flutete durch Kates Körper wie Celloklänge und löste ein leise erregendes Vibrieren an ihrem Rückgrat aus. Sie schloss die Augen. Tiefe Laute berührten sie an tief verborgenen Orten. Von diesem Augenblick an hielt sie den Blick hartnäckig auf die vor ihr liegende Straße gerichtet. Nichtsdestotrotz veränderte sich das Bild, dass sie von Thorne gehabt hatte, weiter vor ihrem geistigen Auge. Dort verwandelte er sich von einem unnahbaren und verschlossenen Mann in einen fürsorglichen, patenten und … attraktiven. Ungeheuer, unfassbar, unerhört attraktiv. Nein, das konnte einfach nicht sein. Ihre Fantasie spielte ihr Streiche. Kate wusste, dass etliche von den Dienstmägden in Spindle Cove ein Auge auf Corporal Thorne geworfen hatten, doch hatte sie nie verstanden, warum. Sein Gesicht übte keinerlei Anziehung auf sie aus. Vermutlich weil er seine Mimik bei den seltenen Gelegenheiten, zu denen er überhaupt in ihre Richtung blickte, für gewöhnlich nur bemühte, um ein Stirnrunzeln oder Funkeln in ihre Richtung zu schicken.

Nachdem sie einige Kilometer zurückgelegt hatten, war der Welpe in ihren Armen eingeschlummert. Kate hatte in Gedanken die vielen unliebsamen Begegnungen mit dem Mann im Sattel hinter ihr hervorgekramt, und es war ihr geglückt, sich selbst zu überzeugen, dass sie ihn nicht attraktiv fand. Ein letztes Mal werde ich ihn noch ansehen, redete sie sich ein, bloß zur Bestätigung. Doch als sie zu ihm aufschaute, geschah das Allerschrecklichste. Sie stellte fest, dass er im selben Moment auf sie hinuntersah.

Ihre Blicke verschmolzen. Das stechende Blau seiner Iris dranginihr Bewusstsein. Zu ihrem großen Schrecken seufzte sie laut auf. Sogleich beeilte sie sich, woanders hinzuschauen, irgendwohin. Doch sein Äußeres war in ihr Gedächtnis eingebrannt. Wenn sie die Lider schloss, dann schien es, als wäre der Hintergrund mit jenem intensiven, verstörenden Blau bemalt. Mit einem Mal schwante ihr, dass er womöglich der attraktivste Mann war, den sie je kennengelernt hatte – eine Einschätzung, die jeder vernunftmäßigen Grundlage entbehrte. Kate erkannte, dass sie ein schwerwiegendes Problem hatte. Sie war betört. Oder zumindest leicht überspannt. Vermutlich beides. Vor allem aber war ihr erbärmlich zumute. Ihr Herz klopfte wild in der Brust, und sie wusste, dass er es fühlen musste, so nah, wie sie in diesem Sattel beieinandersaßen. Grundgütiger, er konnte es wahrscheinlich sogar hören. Jenes rasende, verräterische Trommeln plauderte ihre sämtlichen Geheimnisse aus. Sie hätte ebenso gut die Stimme erheben können, um herauszuposaunen: Ich bin eine anlehnungsbedürftige, wirrköpfige Närrin, die einem Mann noch niemals so nahe gewesen ist.

Verzweifelt versucht, wenigstens einen kleinen Puffer zwischen ihnen zu schaffen, straffte sie ihr Rückgrat und lehnte sich vor. Just in diesem Augenblick trat der Wallach jedoch in eine Furche, und Kate schwankte bedrohlich zu einer Seite. Für eine Sekunde hatte sie das Gefühl zu stürzen.

Und dann, genauso schnell, wurde sie aufgefangen. Thorne korrigierte das Pferd mit einem Anspannen beider Schenkel. Er zog an den Zügeln und schlang den Arm fester um ihre Taille. Seine Bewegungen waren fließend, kraftvoll und instinktiv. Als wäre sein ganzer Körper eine Faust, mit der er sie unnachgiebig gepackt hielt. »Ich halte Sie«, sagte er.

O ja, das tat er. Er hielt sie so fest und so innig an sich gepresst, dass ihre Korsettstangen vermutlich kleine Male auf seiner Brust hinterließen.

»Sind wir bald da?«, fragte sie.

»Nein.«

Kate unterdrückte ein wehleidiges Seufzen.

Als sich die Sonne dem Horizont näherte, hielten sie an einem Schlagbaum. Kate wartete mit dem Hund, derweil Thorne einen kleinen Bottich Milch und drei Laibe ofenfrischen, knusprigen Brots von einem der Dörfler kaufte. Sie folgte ihm, als er die kleine Mahlzeit über einen Hügel zu einer nahe gelegenen Aue trug. Sie setzten sich nebeneinander auf die Wiese, die vor blühendem Heidekraut nur so funkelte. Das allmählich schwindende Sonnenlicht tauchte jede winzige purpurne Blüte in flammendes Orange.

Kate faltete ihren Schal zu einem Rechteck, und der Welpe umkreiste es mehrere Male, ehe er sich niederließ, um sich über die Fransen des Umhängetuchs herzumachen.

Thorne reichte ihr einen der Laibe. »Es ist nicht viel.«

»Es ist fabelhaft.«

Der Brotlaib wärmte ihre Hände und ließ ihren Magen knurren. Als sie ihn entzweibrach, stieg eine Wolke köstlichen Hefedufts in die Luft. Derweil Kate aß, schien das Brot etwas von der gähnenden Einfalt in ihrem Hirn zu stopfen. Vernunftgeprägtes Denken war mit einem vollen Magen leichter zu bewältigen. Sie ertrug es beinahe wieder, ihn anzuschauen. »Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet«, hob sie an. »Zu meiner Beschämung bin ich nicht sicher, ob ich diesen bereits zum Ausdruck gebracht habe. Aber ich bin Ihnen überaus dankbar für Ihre Hilfe. Ich hatte den scheußlichsten Tag meines Jahres, und Ihr Gesicht zu sehen …«

»Machte es noch schlimmer.«

Sie lachte. »Nein, das meinte ich nicht.«

»Soweit ich mich entsinne, brachen Sie in Tränen aus.«

Sie ließ das Kinn auf die Brust sinken und schickte ihm einen Seitenblick. »Ist dies ein Anflug von Humor? Und das von dem ernsten, einschüchternden Corporal Thorne?«

Er erwiderte nichts, sondern fütterte stattdessen den kleinen Hund mit in Milch getunkten Brotstückchen.

»Meine Güte«, fuhr sie fort. »Ich frage mich, was als Nächstes kommen wird. Ein Blinzeln? Ein Lächeln? Lachen Sie bloß nicht laut los, sonst falle ich auf der Stelle in Ohnmacht.« Ihr Ton war scherzhaft, doch es war ihr mit jedem Wort ernst. Allein aufgrund seiner Blicke und seiner Anziehungskraft litt sie bereits unter heftigen Anwandlungen von Schwärmerei. Sollte er jetzt auch noch wider Erwarten einen Hauch von scharfzüngigem Witz offenbaren, könnte sie in ernste Bedrängnis geraten.

Zum Glück antwortete er jedoch mit der üblichen Absenz von Charme. »Während Lord Rycliffs Abwesenheit bin ich der Befehlshaber der Spindle Cove Miliz. Sie sind eine Bewohnerin des Dorfes. Es ist meine Pflicht, Ihnen zu helfen und Sie sicher nach Hause zu bringen. Das ist alles.«

»Fürwahr«, sagte sie, »ich bin froh und dankbar, dass ich in den Bereich Ihrer Zuständigkeit falle. Der leidige Zwischenfall mit dem Droschkenkutscher war in der Tat mein Verschulden. Ich war auf die Straße gestürmt, ohne nach links oder rechts zu schauen.«

»Was geschah davor?«, forschte er.

»Was gibt Ihnen Anlass zu der Annahme, dass davor irgendetwas geschah?«

»Es sieht Ihnen nicht ähnlich, derart abgelenkt zu sein.«

Es sieht Ihnen nicht ähnlich. Kate knabberte versonnen an ihrem Brotkanten. Er hatte recht, dennoch war es verwunderlich, dass ausgerechnet er dergleichen sagte. Er mied sie wie ein Spatz den Schnee. Welches Recht hatte er zu entscheiden, was ihr ähnlich sah und was nicht? Andererseits hatte sie niemanden zum Reden und keinerlei Grund, die Wahrheit vor ihm geheim zu halten. Sie schluckte den Bissen Brot hinunter und schlang die Arme um die Knie. »Ich habe meiner alten Lehrerin einen Besuch abgestattet. Ich hoffte, Näheres über meine Herkunft zu erfahren. Über meine Eltern und andere Angehörige.«

Eine Pause entstand, bis Thorne fragte: »Und, haben Sie das?«

»Nein. Sie sagte, sie würde mir nicht helfen, sie ausfindig zu machen, selbst wenn sie die entsprechenden Kenntnisse hätte. Weil sie nicht gefunden werden wollen. Ich war immer in dem Glauben, eine Waise zu sein, aber offenbar bin ich …« Sie blinzelte. »Es scheint, ich wurde verstoßen. Ein Kind der Schande, so nannte sie mich. Niemand wollte mich damals, und niemand will mich jetzt.«

Sie sahen beide zum Horizont, wo die flirrende dottergelbe Sonne dicht über den Kalksteinfelsen schwebte.

Kate wagte es, ihm einen weiteren Blick zuzuwerfen. »Sie haben dazu nichts zu sagen?«

»Nichts, was für die Ohren einer Lady bestimmt wäre.«

Sie lachte leise und melodisch auf. »Aber ich bin keine Lady. Wenn ich auch nichts über meine Herkunft weiß, dessen bin ich mir gewiss.«

Kate wohnte in derselben Pension wie alle Damen in Spindle Cove, und einige von ihnen waren ihr gute, wirkliche Freundinnen geworden. So wie Lady Rycliff oder Minerva Highwood, seit Kurzem die frisch vermählte Viscountess Payne. Doch viele andere vergaßen sie, wenn sie abreisten. In ihren Augen gehörte sie in die gleiche Schublade wie Gouvernanten und Gesellschafterinnen. Sie mochte zur Not als nette Bekanntschaft herhalten, aber nur, solange niemand Besseres verfügbar war. Mitunter schrieben sie ihr eine Weile, und wenn ihre Koffer zu voll waren, überließen sie Kate bei der Abreise ihre ausgemusterte Garderobe. Sie strich über den schmutzverkrusteten Rock ihres rosaroten Musselinkleides. Unwiederbringlich ruiniert.

Zu ihren Füßen war der Welpe halb in den Milchbottich gekrabbelt und leckte sich eifrig den Weg wieder hinaus. Kate griff nach dem Hund und drehte ihn auf den Rücken, um ihm sanft den Bauch zu kraulen. »Wir sind verwandte Seelen, nicht wahr?«, sagte sie zu dem Kleinen. »Keine rechte Heimat, gar nicht zu reden von einem berühmten Stammbaum. Und wir sehen beide ein wenig seltsam aus.«

Corporal Thorne unternahm keinen Versuch, ihren Äußerungen zu widersprechen. Geschah ihr ganz recht, vermutete Kate, dass sie im Trüben fischte, was Komplimente anbetraf.

»Was ist mit Ihnen, Corporal Thorne? Wo sind Sie aufgewachsen? Haben Sie noch lebende Verwandte?«

Angesichts des freimütigen Charakters ihrer Frage blieb er für eine lange Zeit stumm, bis er sagte: »Gebürtig in Southwark nahe London. Aber ich habe den Ort seit nahezu zwanzig Jahren nicht mehr gesehen.«

Sie betrachtete ihn. Trotz der Ernsthaftigkeit seiner Züge schätzte sie ihn nicht viel älter als dreißig. »Sie müssen Ihre Heimat recht jung verlassen haben.«

»Nicht so jung wie manch anderer.«

»Jetzt, nachdem der Krieg vorüber ist, verspüren Sie da nicht den Wunsch, zurückzukehren?«

»Mitnichten.« Sein Blick blieb für einen Moment an ihrem hängen. »Es ist besser, die Vergangenheit hinter sich zu lassen.«

Wie recht er hat, sann Kate, angesichts des Desasters, das ich an diesem Tag erlebt habe. Sie pflückte einen langen Grashalm und schwenkte ihn vor dem Welpen, damit er danach schnappte. Freudig wedelte er mit dem langen, dünnen Schwanz hin und her. »Welchen Namen wollen Sie ihm geben?«, erkundigte sie sich.

Er zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht recht. Fleck, hatte ich gedacht.«

»Aber das ist fürchterlich. So können Sie ihn unmöglich rufen.«

»Weswegen denn nicht? Er hat doch einen Fleck, oder?«

»Ja, und das ist exakt der Grund, weshalb Sie ihn nicht so nennen dürfen.« Kate hob den Hund in die Arme und streichelte den Tupfen rostfarbenen Fells, der sein rechtes Auge rahmte. Sie senkte vertraulich die Stimme. »Er wird schwermütig werden. Ich trage einen Fleck im Gesicht, und es würde mir missfallen, danach benannt zu sein. Es ist nicht so, als bedürfte ich einer Erinnerung, dass da dieses Mal ist.«

»Das ist etwas anderes. Er ist ein Hund.«

»Das bedeutet nicht, dass er keine Gefühle hat.«

Corporal Thorne schnaubte abfällig. »Er ist und bleibt ein Tier.«

»Sie sollten ihn Rex nennen«, befand sie und wiegte nachdenklich den Kopf. »Oder Duke. Oder vielleicht Prince.«

»Warum wollen Sie ihn nicht gleich mit Königliche Hoheit anreden?«

»Aber nein, nicht doch.« Kate setzte den Welpen ab und beobachtete, wie er durch das Heidekraut setzte. »Genau das ist der Punkt. Sie machen seine bescheidene Herkunft wett, indem Sie ihm einen grandios klingenden Namen geben. Dergleichen nennt man Ironie, Corporal Thorne. So als würde ich Sie einen Ritter in schimmernder Rüstung nennen. Oder Sie mich Helena von Troja.«

Er überlegte kurz und runzelte dann die Stirn. »Wer ist Helena von Troja?«

Beinahe hätte Kate ihr Erstaunen über seine Frage preisgegeben. Gottlob fing sie sich gerade noch rechtzeitig. Sie besann sich darauf, dass Corporal ein niederer militärischer Offiziersrang war, und Unteroffiziere hatten gewöhnlich eine mäßige Schulbildung. Deswegen erklärte Kate geduldig: »Helena von Troja war eine Königin im antiken Griechenland. Ihr Antlitz, so die Überlieferung, ließ Tausende von Männern mit ihren Schiffen in See stechen. Sie war so wunderschön, dass jeder sie begehrte. Sie fochten Kriege um sie aus.«

Thorne schwieg für eine längere Weile. »Sie so zu benennen, nach Helena von …«

»Helena von Troja.«

»Ganz recht. Helena von Troja.« Eine kleine Furche bildete sich zwischen seinen dunklen Augenbrauen. »Wieso wäre das ironisch?«

Sie lachte. »Ist das nicht offenkundig? Schauen Sie mich nur an.«

»Ich sehe Sie an.«

Gütiger Himmel. Ja, das tat er. Und zwar in der gleichen Weise, wie er alles tat – intensiv und mit unerschütterlicher Willenskraft. Sie konnte förmlich seine stählernen Muskeln in diesem Blick spüren. Es machte sie nervös. Aus einer Gewohnheit heraus hob sie zwei Finger an ihr Geburtsmal, ertappte sich dabei und strich sich stattdessen schnell eine vorwitzige Locke hinters Ohr.

»Sie sehen es doch selbst, nicht wahr? Es ist ironisch, weil ich keine sagenumwobene Schönheit bin. Männer schlagen um meinetwillen keine Schlachten.« Sie setzte ein Lächeln auf. »Das würde mindestens zwei Männer mit Interesse an mir erfordern. Ich bin dreiundzwanzig Jahre alt, und bislang hat es nicht einmal einen gegeben.«

»Sie wohnen in einem Ort der Frauen.«

»In Spindle Cove leben nicht ausschließlich Frauen. Es gibt auch einige Männer. Da ist der Schmied zu nennen. Und der Vikar.«

Er wischte die Beispiele mit einer abfälligen Geste beiseite.

»Nun … und da sind Sie«, sagte Kate.

Thorne blieb stumm wie ein Stein und rührte sich nicht.

So, jetzt war es heraus. Vermutlich hätte sie ihn nicht in die Enge treiben sollen, aber andererseits war er derjenige, der das Thema forciert hatte. »Ja, Sie«, wiederholte sie. »Und Sie können es kaum ertragen, die gleiche Luft zu atmen wie ich. Ich versuchte, freundlich zu sein, als Sie damals in unserem Dorf eintrafen, doch das wurde anscheinend nicht gut aufgenommen.«

»Miss Taylor …«

»Es verhält sich mitnichten so, dass Sie kein Interesse an Frauen hätten. Ich weiß, Sie hatten andere.«

Er blinzelte, und die kleine Regung bewirkte, dass sie sich mit einem Mal unbehaglich in ihrer Haut fühlte. Eigenartig. Die winzige Bewegung hatte die gleiche Wirkung auf sie, als wenn ein anderer Mann mit der Faust in seine Handfläche geschlagen hätte.

»Nun, es ist hinlänglich bekannt«, fuhr sie fort, während sie nervös eine Schuhspitze in den Boden bohrte. »Im Dorf sind Ihre … Arrangements … das Thema überaus vielfältiger Spekulationen. Selbst wenn ich die Ohren davor verschließe, erfahre ich hinterher trotzdem davon.«

Thorne erhob sich und begann, in Richtung Straße zu schreiten. Seine breiten Schultern waren gestrafft, die schweren Schritte maßvoll.

Da ging er also einmal mehr. Einfach auf und davon. Kate hatte genug. Sie war es müde, seine Zurückweisungen abzuschütteln, die Kränkungen mit einem gutmütigen Lachen abzutun. »Verstehen Sie denn nicht?« Kate stand auf und lief in Eile durch das Heidekraut, um den Saum seines langen, gewaltigen Schattens zu erreichen. »Das ist exakt, was ich meine. Wenn ich in Ihre Richtung lächle, drehen Sie sich weg. Wenn ich einen Sitzplatz neben Ihnen finde, beschließen Sie, dass Sie vorziehen zu stehen. Bereite ich Ihnen Juckreiz, Corporal Thorne? Lässt der Duft meines Puders Sie niesen? Oder ist irgendetwas an meinem Verhalten, dass Sie als störend oder unerträglich empfinden?«

»Seien Sie nicht albern.«

»Dann gestehen Sie es ein. Sie meiden mich.«

»Ganz recht.« Er verharrte. »Ich meide Sie.«

»Nun, dann enthüllen Sie mir warum.«

Er wandte sich zu ihr um und bohrte den Blick aus seinen eisblauen Augen in ihre. Doch er sagte kein Wort.

Kate atmete mit einem tiefen Seufzen aus und ließ die Schultern nach vorne sacken. »Kommen Sie«, redete sie ihm zu. »Sagen Sie es. Es ist schon recht. Nach all diesen Jahren wäre es ein Segen zu hören, wie endlich jemand die Wahrheit ausspricht. Nur zu, seien Sie aufrichtig mit mir.« In einer impulsiven Bewegung ergriff sie seine Hand und legte sie so an ihr Gesicht, dass seine Fingerspitzen ihr Geburtsmal berührten.

Er versuchte, die Hand zurückzuziehen, doch war sie nicht willens, ihn entkommen zu lassen. Wenn sie mit diesem entstellenden Ungemach Tag um Tag zu leben hatte, dann musste er es ertragen, es lediglich dieses eine Mal zu berühren.

Sie trat näher, während sie seinen Handteller weiter an ihre Schläfe mit dem dunkel pigmentierten Fleck presste. Seine Haut war kühl. »Das ist der Grund. Ist es nicht so? Der Grund, weswegen Sie keinerlei Interesse an mir haben. Der Grund, weshalb kein Mann Notiz von mir nimmt.«

»Miss Taylor, ich …« Vor Anspannung traten die Sehnen an seinem Kinn hervor. »Nein. Es liegt nicht daran.«

»Was ist es dann?«

Keine Erwiderung.

Ihr Gesicht glühte. Sie focht gegen das Verlangen an, auf seinen Brustkorb einzutrommeln, ihn zum Zerbersten zu bringen. »Was ist es? Um Gottes willen, was ist es, das ich an mir habe, dass Sie als so unerträglich empfinden? So grauenerregend unerträglich, dass Sie es nicht einmal aushalten, im gleichen Raum mit mir zu sein?«