In den Wipfeln der Kiefer - Alvar Nurmi - E-Book
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In den Wipfeln der Kiefer E-Book

Alvar Nurmi

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Beschreibung

Das rätselhafte Verschwinden seiner Frau Niina ein halbes Jahr zuvor bestimmt noch immer das Denken und den Alltag von Kommissar Mika Hämäläinen aus Helsinki, als ein deutscher Kollege ermordet aufgefunden wird. Sven Hansen sollte die Arbeit der finnischen Beamten drei Wochen lang im Rahmen eines Austauschprogramms begleiten. Hämäläinen ahnt nicht, dass es sich dabei um eine tragische Verwechslung durch den Täter handelte, dessen Rachefeldzug gerade erst seinen Anfang genommen hat …

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Alvar Nurmi

In den Wipfeln der Kiefer

Kriminalroman

Zum Buch

Rache Kommissar Mika Hämäläinen aus Helsinki durchlebt seine dunkelsten Tage. Vor einem halben Jahr ist seine Frau Niina verschwunden. Sie sollte ihre Tochter Anni von der Kindertagesstätte abholen, war aber nicht aufgetaucht. Seitdem fehlt von ihr jede Spur. Mit Hilfe des Privatdetektives Daavid Pesonen versucht er, dem Rätsel auf die Spur zu kommen. Physisch und psychisch angeschlagen wird der Kommissar mit einem neuen Mordfall konfrontiert. Ausgerechnet der Kollege vom Landeskriminalamt Hamburg, der im Rahmen eines Austauschprogramms für drei Wochen die Arbeit der finnischen Beamten begleiten sollte, wird in der Nacht seiner Ankunft ermordet aufgefunden. War es ein geplanter Mord an dem deutschen Kollegen oder eine tragische Verwechslung? Hämäläinen ahnt nicht, dass er es mit einem brandgefährlichen Täter zu tun hat, dessen Rachefeldzug gerade erst seinen Anfang genommen hat …

Unter dem Pseudonym Alvar Nurmi veröffentlicht der Schriftsteller Bernd Keller, Jahrgang 1980, seinen ersten Kriminalroman über Kommissar Mika Hämäläinen aus Helsinki. Der Autor lebt mit seiner Familie in der Region Freiburg. Die Figur des Kommissar Hämäläinen entstand aus seiner Liebe zu Finnland und der Freude daran, anderen Menschen eine spannende Geschichte zu erzählen.

Impressum

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

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[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © niilo isotalo / Unsplash

ISBN 978-3-8392-7878-9

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Vorwort

Liebe LeserInnen,

Finnland ist ein faszinierendes Land. Ich liebe die Weite der Kiefern- und Birkenwälder, die zahllosen Seen, den Klang der finnischen Sprache und die Kultur des Saunierens.

Bestimmte Begriffe und Begebenheiten in meiner Geschichte möchte ich Ihnen zum besseren Verständnis gern erläutern.

Mökki ist die Bezeichnung für das finnische Ferienhaus. Es handelt sich meist um ein Blockhaus, das am Wasser liegt und über eine integrierte Sauna oder ein separates Saunahaus verfügt.

Die Sauna hat in Finnland eine zentrale Bedeutung und gehört fest zur Kultur des Landes.

Puisto ist das finnische Wort für Park.

Floorball ist ein Spiel, das mehr dem Eishockey als dem Hockey ähnelt und meist in Turnhallen gespielt wird.

In Finnland leben auch schwedische Muttersprachler, die sogenannten »Finnlandschweden«. Schwedisch ist neben Finnisch offizielle Landessprache. In vielen Gemeinden und Städten gibt es zweisprachige Straßenschilder, so auch in Helsinki. In meiner Geschichte benutze ich nur die finnischen Straßennamen.

In Helsinki (Helsingin) gibt es zwei Eishockeymannschaften: Helsingin IFK und Jokerit (Helsingin Jokerit ry).

Eine Geschichte zu erzählen bedeutet auch, sich Freiheiten zu nehmen. So habe ich unter anderem die Polizeidienststellen von Helsinki und Turku in andere Straßen verlegt und mir auch bei der Bezeichnung der Dienststellen, von Dezernaten sowie den Rangbezeichnungen innerhalb der Polizei Freiheiten genommen.

Darüber hinaus zieht Kommissar Hämäläinen die Ermittlungen anderer Dienststellen an sich, führt Vernehmungen alleine durch, oder diese werden als Befragungen bezeichnet, Personen können entgegen dem Melderecht unter falschem Namen in Hotels einchecken, ein Privatdetektiv erhält Passagierdaten von Fluggesellschaften, und ein Obduktionsbericht kann auch mal später vorliegen, als es bei einer wahren Ermittlung der Fall wäre.

Die Namen von Hotels, Zeitungen, Restaurants (Aufzählung nicht abschließend) und den handelnden Personen habe ich frei erfunden. Ähnlichkeiten oder Übereinstimmungen mit real existierenden Personen oder Orten sind rein zufällig.

In meiner Geschichte verständigen sich die deutschen und die finnischen Beamten auf Englisch. Das im Englischen gebräuchliche Du wurde hierbei durch das im Deutschen gebräuchliche Sie ersetzt, sofern die Ermittler noch kein persönlicheres Verhältnis für das Du aufgebaut haben.

Herzlichst,

Ihr Alvar Nurmi.

Prolog – Sonntag, Tampere, Finnland, im September

Beharrlich malträtierten seine Zähne den Kaugummi, während er die einzelnen Teile behutsam zusammensteckte, die verbliebenen Ölflecke beseitigte und die gereinigte Waffe zurück auf den schmalen Tisch legte. Mit Waldbeerenaroma warb die Kaugummipackung, die er in einem Tankstellenshop gekauft hatte. In Wahrheit war es ein undefinierbarer künstlicher Geschmack, der sich auf seine Zunge gelegt hatte, um schon nach wenigen Minuten einen geschmacklosen Klumpen zurückzulassen.

Er griff nach den beiden Magazinen und befüllte sie mit je 15 Patronen, wobei er nicht annahm, die gesamte Munition zu benötigen. Die Stimme aus dem Fernseher berichtete währenddessen von einem Massaker in einer somalischen Provinz, deren Name so unaussprechlich klang, dass er ihn sofort wieder vergaß. Auf das Massaker folgte ein schweres Unwetter in Österreich, dessen Wucht einen Erdrutsch ausgelöst hatte.

Zum wiederholten Male wusch er sich danach die Hände. Allmählich wurde die Haut rissig. Er hatte keine Erklärung, woher der Waschzwang rührte. Es störte ihn. Er lenkte die Gedanken in eine andere Richtung und blickte zur Uhr. Kurz vor 17 Uhr am späten Nachmittag. Er schlüpfte ins Bett, ignorierte das schmutzige Laken, schloss die Augen und dachte an das letzte Jahr zurück.

Anfänglich hatte er Unterschlupf in einer kleinen Pension gefunden, die von einer rüstigen alten Dame geführt worden war. Die Pension war nur im örtlichen Telefonverzeichnis aufgeführt, weshalb er sich ein ums andere Mal gefragt hatte, wieso die Zimmer dennoch meist belegt waren. Bedauerlicherweise waren der alten Dame Dauergäste lästig, und so hatte sie eines Morgens die Rechnung präsentiert und auch die Zimmerschlüssel verlangt. Aus Abenteuerlust hatte er die folgende Nacht in dem luftigen, kargen Gemäuer eines leer stehenden Gebäudes verbracht. Die Nacht war kalt, und der Regen hatte einen Weg durch das Dach gefunden. Darum war es bei diesem einmaligen Ausflug geblieben.

An und für sich war die Sache klar. Er war ein Untergetauchter, der erst wieder in Erscheinung treten würde, wenn er seine Verräter für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen hatte. Früher waren sie ein verschworener Haufen gewesen. In diesem Glauben hatte er gelebt. So lange, bis er die Wahrheit begriffen hatte. Er war von Anfang an das Bauernopfer gewesen. Irgendwann war ihnen der Betrug zu gefährlich geworden, und sie hatten ihn erledigen wollen. Sie waren unfassbar geschickt und kaltblütig vorgegangen, hatten alles so aufgebaut und geplant, dass sie ihn als den allein Schuldigen hinstellen konnten. Als geldgierigen und skrupellosen Verbrecher. Sie mussten ihn nur kaltstellen.

Nachdem sie vergeblich versucht hatten, ihren perfiden Plan auszuführen und ihn zu töten, war er abgehauen. In Panik. Er hätte zur Polizei gehen können. Es hätte ihm das Leben gerettet, ihn gleichzeitig aber auch in den Knast gebracht. Wer hätte ihm schon geglaubt? Irgendwann war die Panik gewichen und der Wunsch nach Rache gewachsen. Er war fest entschlossen, und morgen würde seine Mission beginnen.

Er stand von dem durchgelegenen Bett auf, das sich nahtlos in das spärlich eingerichtete Hotelzimmer einfügte, und breitete am Schreibtisch abermals die Landkarte aus. Überall waren Markierungspunkte gesetzt. Sein weiteres Vorgehen war genauestens geplant. Einen festen Zeitplan verfolgte er nicht, da es immer irgendwelche Unwägbarkeiten gab. Bis ins Detail war er unzählige Varianten durchgegangen, hatte Umwege und Verzögerungen eingerechnet. Nun lag es an ihm, sie einen nach dem anderen für das büßen zu lassen, was sie ihm angetan hatten. Zuweilen verblüffte es ihn noch, welche Wandlung er vollzogen hatte. Die Gefühlskälte und das unerbittliche Verfolgen eines Planes widersprachen seinem früheren Wesen. Doch ihr Verrat hatte ihm die Augen geöffnet und ihn zu dem Menschen gemacht, der er heute war.

Nachdem er die Landkarte zusammengefaltet hatte, griff er nach dem Briefkuvert auf dem Nachttisch und zog ein Bündel Geldscheine daraus hervor. Er zählte genau 3.000 Euro, die ihm für die nächsten Wochen ausreichend erschienen.

Am Anfang seiner Nichtexistenz war Geldmangel ein ernsthaftes Problem gewesen. Seine Arbeitslosigkeit hatte ihm wenige Reserven gelassen. Er schmunzelte, wenn er daran zurückdachte, wie er anfänglich ohne jedes Talent eine Karriere als Taschendieb versucht hatte. Am einprägsamsten blieb das Erlebnis mit einer älteren Frau, die völlig hysterisch mit ihrem Gehstock auf ihn eingedroschen hatte, während er vergeblich versuchte, ihr die Handtasche zu entreißen. Er entschied schließlich, kleine Tankstellen auszurauben, die von nur einer Person geführt wurden. Dazu besorgte er sich auf abenteuerliche Weise eine Waffe. Er folgte einem Typen, den er in einer der unzähligen Bars in Tallinn kennengelernt hatte. Der klein gewachsene Kerl, der augenscheinlich aus Nordafrika stammte und kaum älter als 20 Jahre schien, lotste ihn durch Hinterhöfe, Häuserflure und einen dunklen Kellergang, bis sie schließlich vor einer Eisentür standen. Die drei Gestalten, die sich hinter der Tür verbargen, machten ihm Angst. Er stand wuchtigen Typen mit finsteren Mienen und schwarzen Anzügen gegenüber. Bei dieser Gelegenheit begriff er auch, wie nah an der Wirklichkeit die Darstellung der Gangster in Kinostreifen lag. Sie boten ihm drei Waffen zur Auswahl, ohne einen konkreten Preis aufzurufen, und ihn beschlich das Gefühl, dass er diesen Ort nur unversehrt verlassen würde, wenn er ausreichend Geld auf den Tisch legen konnte. 400 Euro hatte er bei sich. Zu seiner Erleichterung durfte er das Häuserlabyrinth bei bester Gesundheit verlassen und besaß für den Preis von 350 Euro eine Pistole.

Seinerzeit völlig unerfahren im Umgang mit Schusswaffen, fasste er den Entschluss, ein intensives Training durchzuführen, das ihn am Ende sogar in die Medien bringen sollte. Er kannte noch heute jedes einzelne Wort aus dem Artikel, der damals in der landesweit bekannten Tageszeitung abgedruckt war.

Helsingin Kuriiri

Unbekannter richtet Rinderherde hin. Tat gleicht einer Hinrichtung.

Wie erst jetzt bekannt wurde, hat ein Unbekannter in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch in der Region Pirkanmaa 15 Rinder erschossen. Das Weideland liegt abseits des Bauernhofes, von dem die Tiere stammten, am südlichen Ausläufer eines unbewohnten Sees, weshalb die Tat völlig unbemerkt verübt werden konnte. Nach Angaben der örtlichen Polizei feuerte der Täter wahllos auf die einzelnen Tiere. Einige der Rinder verendeten qualvoll. Insgesamt zählten die Ermittler 45 Schusswunden in den Kadavern der Tiere. Über ein mögliches Motiv des Täters machten die Ermittler keine Angaben. Besorgte Landwirte fordern verstärkte Kontrollen der örtlichen Polizei und organisierten bereits private Nachtwachen. Der Polizeichef von Tampere, Petri Filppula, warnte davor, Selbstjustiz zu üben.

Er legte das Kuvert mit den Geldscheinen zurück auf den Nachttisch und erprobte ein letztes Mal die Verkleidung. Ein Jahr lang hatte er unzählige Tarnungen ausprobiert, wieder und wieder daran gefeilt. Niemand, da war er sich sicher, würde ihn jetzt erkennen. Nur ein dummer Zufall oder ein unvorhersehbares Ereignis konnte ihm zum Verhängnis werden. Nach kaum fünf Minuten war die Wandlung erfolgt. Er schaute zufrieden in den Spiegel und rauchte entspannt eine Zigarette. Er entschied, die Tarnung nochmals im Alltag zu testen und beim Schnellimbiss um die Ecke ein Sandwich zu essen.

Die Vorbereitungen waren abgeschlossen, er fühlte sich bereit. Mit dem ersten Zug um 7 Uhr würde er Tampere am nächsten Tag verlassen. Es war mild und vereinzelte Wolken huschten einsam über die Stadt, dem Horizont entgegen.

Montag – Helsinki, Finnland

Die Stewardess servierte ein Thunfischbrötchen, das er nur zur Hälfte aß, und einen lauwarmen Kaffee, der mehr nach schwarzem Tee schmeckte. Das Flugzeug schlängelte sich durch die dichte Wolkendecke und legte den Blick auf die Sonne frei. Sven Hansen hatte den ersten Flug um 7.30 Uhr genommen. Er würde schon zur Mittagszeit mit den finnischen Kollegen zusammentreffen.

Seit nunmehr zehn Jahren gab es zur Förderung der Zusammenarbeit der europäischen Polizeiapparate ein Austauschprogramm zwischen der finnischen und der deutschen Polizei. Hansen, Ermittler vom LKA Hamburg, würde für drei Wochen die Arbeit der Polizeidirektion Helsinki im Dezernat für Gewaltverbrechen begleiten. Er würde das dortige Polizeisystem kennenlernen und aktiv an der täglichen Ermittlungsarbeit teilnehmen.

Hansen, 42 Jahre alt, war über 20 Jahre im Polizeidienst tätig. Im Gegensatz zu vielen Kollegen ging er mit Gelassenheit und ohne Unmut seinem Beruf als Polizist nach, auch wenn er deren Standpunkte verstehen konnte. Über die Jahre war ein System gewachsen, das nur noch wenig mit dem Polizeiapparat aus seinen Anfängen als junger Beamter gemein hatte. Schlechter Bezahlung und stetigem Personalabbau gepaart mit unqualifizierten Führungskräften standen steigende Kriminalitätsraten, zunehmende Gewalt gegen Beamte und die Beschränkung der Befugnisse gegenüber. Hansen verschloss keinesfalls die Augen vor dieser Realität. Er befand sich aber in der glücklichen Lage, finanziell abgesichert zu sein. Somit hatte er die Gewissheit, jederzeit aussteigen zu können. Daher betrachtete er vor allem ausbleibende Beförderungen und ungerechte Vorgesetzte aus einem anderen Blickwinkel.

Erstmals hatte Hansen eine Bewerbung für den Erfahrungsaustausch abgegeben und prompt die Zusage erhalten. Ein Grund dafür war zweifellos die Wahl der Stadt gewesen. Auch Montreal und Madrid waren Bestandteil des Programms mit dem LKA Hamburg, und die Mehrzahl der Bewerber gab diesen beiden Standorten den Vorzug.

Er fasste sich an die rechte Wange. Der obere Backenzahn schmerzte seit gestern Mittag, und er fürchtete, in Helsinki wohl oder übel einen Zahnarzt aufsuchen zu müssen. Allein der Gedanke an eine bevorstehende Zahnbehandlung trieb ihm Schweißperlen auf die Stirn.

Bei der Ankunft schien die Sonne, die Arbeiter auf dem Flugvorfeld waren sommerlich gekleidet. Zwei kräftige Männer in gelben Signalwesten wuchteten die ersten Koffer auf den Gepäcktransporter. Hansen konnte es kaum erwarten, wieder aus dem Flieger herauszukommen, musste er doch seit geraumer Zeit auf die Toilette. Flugzeugtoiletten widerstrebten ihm, weshalb er sie nur im äußersten Notfall benutzte. Hansen öffnete das Gepäckfach und griff nach der Jacke. Zufrieden registrierte er, wie die Stewardess die hintere Tür zum Ausstieg öffnete. Passenderweise hatte er in der vorletzten Reihe gesessen.

Die drei Zollbeamten, die sich vor den zwei Durchgängen für zollfreie und anmeldepflichtige Waren aufgestellt hatten, entwickelten kein gesteigertes Interesse daran, ihrer Arbeit nachzugehen. Gelangweilt nickten sie Hansen und den anderen Fluggästen zu und ließen sie die Zollstelle ohne Kontrolle passieren. Behutsam schob Hansen seinen ramponierten Rollkoffer durch das Terminal. Er hatte mit gebrochener Kunststoffverkleidung auf dem Gepäckband gelegen. Am Gepäckschalter »Lost & Found« war niemand zu sehen gewesen, weshalb er auf eine Beschwerde verzichtet hatte. Im Buchladen hielt er vergeblich nach einer deutschen Zeitung Ausschau. Vor dem Terminal schlug ihm kurz darauf die angenehme Spätsommerluft entgegen.

»Sven Hansen?«

Er drehte sich um. Ein dicker uniformierter Mann mit Halbglatze steuerte direkt auf ihn zu. Hansen schätzte ihn auf Mitte 30. In der Hand hielt der finnische Kollege ein Foto. Hansen vermutete, dass er selbst darauf abgebildet war.

»Ja.«

»Jussi Aaltonen. Willkommen in Finnland. Um ein Haar hätte ich mich verspätet. Auf der Zufahrtsstraße hat es einen Auffahrunfall gegeben. Ich hoffe, Ihre Anreise war angenehm?«

»Es lief alles reibungslos, bis ich meinen Koffer auf dem Gepäckband gesehen habe. Ich werde mir einen neuen kaufen müssen, dabei ist dieser hier keine zwei Jahre alt und war nur selten in Gebrauch.«

»Mein Schwager arbeitet in der Entwicklungsabteilung eines Handykonzerns. Wenn es zutrifft, was er sagt, dann haben viele Produkte heutzutage eine vom Hersteller festgelegte Lebensdauer. Vielleicht wurde der Koffer mit Absicht instabil konstruiert?«

Hansen interessierte, was Aaltonen über die festgelegte Lebensdauer von Produkten sagte. Wobei er die Schäden an seinem Koffer eher dem kompromisslosen Umgang der Flughafenmitarbeiter zuordnete. Auf dem Weg zum Wagen bemerkte er den unnatürlichen Gang von Jussi Aaltonen. Er zog das rechte Bein nach und litt offenkundig unter Schmerzen.

»Ich wurde vor einem Monat an einem Zebrastreifen angefahren«, erklärte Aaltonen, als ihn Hansen fragend ansah. »Es war ein Paketdienstfahrer, der am Handy hing. Ich hatte einen Schutzengel. Er hat mich seitlich getroffen und ist noch in die Eisen gestiegen. Ich habe eine starke Prellung und Dutzende Blutergüsse davongetragen.«

»Warum arbeiten Sie? Ihre Schmerzen sind nicht zu übersehen.«

»Die Schmerzen sind immer da. Bei der Arbeit bin ich abgelenkt. Meiner Frau wäre es auch lieber, wenn ich zur Erholung in unser Mökki gefahren wäre.«

Die Fahrt vom Flughafen in die Innenstadt von Helsinki war kurzweilig, die Unfallstelle an der Zufahrtsstraße bereits geräumt. Das Polizeipräsidium lag in der Neitsytpolku und war ein imposanter Bau aus den 40er-Jahren. Raumhohe Fenster zierten die breite Front des massiven Ziegelsteingebäudes. Aufwendig verzierte Marmorsäulen trugen das große Vordach. Der Haupteingang lag am Ende einer gewaltigen Treppe, die sich nahezu über die gesamte Breite der zur Straße gelegenen Seite des Gebäudes erstreckte. Durch eine große Eisentür traten sie in das Innere des Präsidiums. Jussi Aaltonen begrüßte den älteren Mann an der Anmeldung freundlich, wechselte ein paar Worte mit ihm und deutete auf Sven Hansen. Der Alte nickte verstehend und betätigte einen Knopf. Dann schwang die Eingangstür lautlos auf.

Um 13.30 Uhr quälte sich Kommissar Mika Hämäläinen durch einen ärztlichen Befund, der die Verletzungen beschrieb, die einem jungen Chinesen zugefügt worden waren. Dass er sich so schwertat, lag nicht etwa an ihm oder dem Bericht, der gestochen scharf formuliert war. Es waren die Kopfschmerzen, die ihn plagten. Als er sich kaum noch konzentrieren konnte, begann er gedankenverloren, kreuz und quer in den Ermittlungsunterlagen zu blättern, bis die verschiedenen Berichte und die Abzüge, die den verdroschenen Chinesen zeigten, wild über seinem Schreibtisch verteilt lagen.

Dann tauchte Jussi Aaltonen unerwartet mit dem deutschen Kollegen im Zimmer auf. Zum Ärger von Hämäläinen war es im Sekretariat des Präsidiums offensichtlich zu Schlampereien gekommen, was die genaue Weitergabe von Terminen und Uhrzeiten anbelangte, weswegen er noch nicht auf den Besucher aus Deutschland vorbereitet war.

Jussi Aaltonen blickte entsprechend erstaunt auf den Schreibtisch, der einem Wühltisch im Sommerschlussverkauf ähnelte, ehe er den groß gewachsenen Deutschen vorstellte. »Kommissar Sven Hansen vom LKA in Hamburg.«

Hämäläinen schaute erst sichtlich irritiert auf, so zumindest berichtete es ihm Aaltonen später am Tag, und schnellte dann aus dem Stuhl hoch. Er hasste es, überrumpelt zu werden.

»Herzlich willkommen im Polizeipräsidium Helsinki. Mika Hämäläinen«, begrüßte er ihn auf Englisch. Er ließ eine entschuldigende Handbewegung in Richtung des Schreibtisches folgen, verzichtete aber auf rechtfertigende Worte.

»Ich vertrete Dezernatsleiterin Jaana Tiivola, die sich auf einer Fortbildung zur Fallanalytikerin in den USA befindet, was Ihnen im Vorfeld sicherlich mitgeteilt wurde. Ich soll Sie auch in ihrem Namen herzlich willkommen heißen. Sie sollen in den kommenden drei Wochen neben den beruflichen Inspirationen auch die Gelegenheit finden, die Schönheiten unserer Stadt und die finnische Kultur kennenzulernen.«

»Vielen Dank. Ich wünsche mir sehr, Ihre Kultur und Ihre Stadt kennenzulernen. Ich habe es bisher nie weiter in den Norden geschafft als nach Dänemark«, antwortete Sven Hansen, dessen grüne Augen einen wachsamen Eindruck vermittelten und im Einklang mit den kurz geschnittenen schwarzen Haaren standen, die der markanten und faltenlosen Stirn eine besondere Betonung gaben. Er trug eine beigefarbene Leinenhose und ein schlecht gebügeltes Karohemd.

»Ein Fall schwerer Körperverletzung, wahrscheinlich die chinesische Wettmafia«, bemerkte Hämäläinen, nachdem er sah, wie Sven Hansen auf die herumliegenden Fotografien blickte. »Der Mann wird keine bleibenden Schäden davontragen. Vermutlich hat er Gelder abgezweigt. Er hatte Glück, denn für gewöhnlich belassen es die Chinesen nicht bei Prellungen.«

»Gibt es in Finnland auch eine Wettmafia?«

Er sieht nicht aus wie ein Polizist, kam es ihm in den Sinn. »Wir sind eine Eishockeynation. Mit Eishockey werden ebenfalls hohe Summen generiert.« Er bedeutete dem deutschen Kommissar, Platz zu nehmen. Sein Kopf schmerzte, und das Gespräch strengte ihn an.

»Wie ich sehe, haben Sie erfolgreich an einem Wettkampf teilgenommen«, meinte Hansen und deutete auf das eingerahmte Bild, das trotz des ganzen Chaos auf dem Schreibtisch hervorstach.

»Es wurde bei den letzten nationalen Polizeimeisterschaften aufgenommen. Ich habe beim Kleinkaliberwettbewerb den dritten Platz belegt.«

»Ich würde nicht annähernd so erfolgreich bei einem Schießwettbewerb abschließen.«

»Im besten Fall werden wir die Waffe dienstlich niemals einsetzen müssen, oder waren Sie bereits dazu gezwungen?«

»Nein. Abgesehen von Handgemengen mit Betrunkenen und Wurfgeschossen auf Demonstrationen bin ich von bedrohlichen Situationen verschont geblieben«, sagte Hansen.

»Central Hotel«, stieß Hämäläinen überrascht aus, als er den Unterlagen entnahm, wo ihr deutscher Gast untergebracht war. »Wie haben Sie denn das bewerkstelligt? Sind Sie im Besitz brisanter Informationen über Ihre Vorgesetzten? Soweit ich weiß, ist die deutsche Polizei sehr sparsam, was die Einquartierung ihrer Leute angeht.«

Hansen warf ihm einen fragenden Blick zu.

»Sie wissen, wo Sie untergebracht sind? Es ist eines der besten Hotels der Stadt. Ein Fünfsternehaus mit einem ausgezeichneten Restaurant.«

»Ein Fünfsternehaus? Das ist wirklich ungewöhnlich. Es kommt schon einer Belobigung gleich, wenn einem das LKA ein Viersternehotel reserviert. In der Mehrzahl der Fälle entpuppt es sich jedoch als ein Haus, welches diesen vierten Stern nur noch führen darf, weil der letzte Qualitätscheck Jahre her ist oder der Tester die Bewertung in einem angetrunkenen Zustand geschrieben hat. Bei der Reservierung wird wohl jemand nicht aufmerksam genug auf den Preis geachtet haben. Ich werde morgen bei meiner Dienststelle anrufen und das offenkundige Missverständnis aufklären. Eine Nacht kann ich ohne Zweifel begründen.«

»Schlagen Sie das Polar Hotel vor«, warf Jussi Aaltonen ein. »Das hat drei Sterne, hell und freundlich eingerichtete Zimmer, dazu ein italienisches Restaurant mit einem mürrischen Besitzer, aber ganz passablem Essen. Es liegt etwas abseits vom Zentrum und ist daher preisgünstig.«

»Ein guter Vorschlag«, antwortete Hansen, während er in seinen Rucksack griff und eine edle Flasche Wein sowie ein Kinderbuch für Hämäläinens Tochter daraus hervorzog. »Mit den besten Wünschen von Frank«, sagte er und überreichte Hämäläinen die mitgebrachten Präsente.

Frank Lehmann war Leiter der Abteilung für Wirtschaftskriminalität beim LKA Hamburg und der direkte Vorgesetzte von Sven Hansen. Hämäläinen war ihm freundschaftlich verbunden, seit er zu Beginn der deutsch-finnischen Kooperation selbst vier Wochen in Hamburg zugebracht und Einblick in den deutschen Polizeialltag erhalten hatte.

Er sprach seinen Dank aus und führte den deutschen Gast durch das Präsidium. Danach fuhren sie ins Stadtzentrum und aßen in der Aleksanterinkatu zu Mittag. Schließlich brachte Aaltonen den deutschen Kollegen ins Central Hotel.

Um 16 Uhr vertrat Hämäläinen Jaana Tiivola in einer wichtigen Dezernatsleiterbesprechung. Das gemeinsame Abendessen mit Hansen war auf den nachfolgenden Tag verschoben worden. Helsinki war in den letzten Wochen auf dem Radar des internationalen Drogenschmuggels aufgetaucht. Mit sichtbarem Erfolg hatte die estnische Regierung dem Drogenproblem im eigenen Land den Kampf angesagt. Fähren, Grenzübergänge und die Hauptverkehrsadern des Landes waren seit Wochen im Visier von Zoll und Polizei. Täglich wetteiferten die regionalen Dienststellen über die Medien und präsentierten ihre Beute. Die Regierungspartei SPE sonnte sich in ihrem Erfolg.

Die Wahrheit, so viel wusste er, war eine andere. Die Umfragewerte der bei der Parlamentswahl erfolgreichen SPE waren bereits nach einem Jahr in den Keller gefallen. Viele falsche Entscheidungen und großspurige Versprechen an die Wähler, die nicht eingelöst worden waren, hatten die Umfragewerte einbrechen lassen. Die Kehrseite der Medaille zeigte sich schnell. Die Bosse der Drogenkartelle waren wenig beeindruckt von dem Vorgehen der estnischen Staatsmacht. Sie hatten ihre Millionengeschäfte eiligst auf neue Routen verlagert und verbrachten die Drogen auch weiterhin an ihre Bestimmungsorte.

Im Grunde war es eine Besprechung der Dezernate für Drogenbekämpfung und Waffen. Hämäläinen sollte nur eine Einschätzung liefern, ob durch den zunehmenden Drogenschmuggel ein Anstieg von Gewaltverbrechen zu befürchten war. Er konnte dies zum gegenwärtigen Zeitpunkt verneinen. Sie waren übereingekommen, in den nächsten Wochen stärkere Kontrollen an den großen Fähren sicherzustellen. Die Drogen aus Russland, die in Estland veredelt wurden, waren für den südeuropäischen Markt bestimmt. Die Routenverlagerung über Finnland bedeutete für die Drogenkartelle einen Umweg, der bares Geld verbrannte. Zeit ist Geld, nirgendwo sonst kam diesem Spruch mehr Bedeutung zu. Das Programm der SPE verschlang große Summen, weshalb das geballte Vorgehen gegen den Drogenschmuggel schon bald wieder in den üblichen Bahnen verlaufen würde. Dann würden sich die Routen der Schmuggler, ähnlich den Fäden einer Spinne, wieder zu einem neuen Netz verflechten.

Die Besprechung endete am frühen Abend, und Hämäläinen ging direkt essen. Zum Glück waren die Kopfschmerzen im Laufe des Tages verschwunden. Auf dem Weg zum Restaurant kam ihm die Frage in den Sinn, wieso die Drogenschmuggler Finnland auserkoren hatten, da der Weg über Weißrussland und Polen weitaus schneller war. Er wollte die Kollegen bei nächster Gelegenheit danach fragen.

Das Four Seasons, das direkt am Westhafen lag, schien langsam in die Jahre zu kommen. Die Speisekarten waren abgegriffen, die Holztische verschrammt und auch die Lampenschirme nicht mehr blütenweiß. Dafür gab es hier die besten Fischgerichte der Stadt. Die hübsche Kellnerin führte ihn an einen Einzeltisch am Fenster. Er bestellte gegrillten Dorsch und einen französischen Weißwein, den er nach Gefühl auswählte. Er verstand nicht viel von Weinen, war aber der Auffassung, dass dieser zu einem Fischgericht am besten passte.

Seine Tochter Anni schlief heute bei ihrer Oma, was ihm für wenige Stunden die Möglichkeit verschaffte, Luft zu holen. Am Donnerstag war er 38 Jahre alt geworden, und es war zweifelsohne der freudloseste Geburtstag seines Lebens gewesen. Noch immer verging kein Tag, an dem Hämäläinen nicht darüber nachgrübelte, was wohl geschehen war, an jenem 13. März dieses Jahres. Er war imstande, jede Einzelheit von morgens bis abends abzurufen. Doch für heute Abend wollte er die negativen Gedanken beiseiteschieben und sich dem Leben zuwenden.

Am Nebentisch stritt ein junges Pärchen. Durch die Heftigkeit der Auseinandersetzung fühlte sich Hämäläinen einen kurzen Augenblick lang in seine eigene Sturm-und-Drang-Zeit zurückversetzt. Die Rothaarige mit dem tiefen Dekolleté befand, ihr Freund habe genug getrunken, was dieser natürlich anders sah. Die Wogen glätteten sich rasch, und der junge Mann orderte das ersehnte Bier.

Hämäläinen betrachtete eine Möwe, die auf dem Geländer der Außenterrasse saß und nach unbewachten Tellern Ausschau hielt, als die Kellnerin den Fisch brachte. Während er den Dorsch aß, legte ein deutsches Kreuzfahrtschiff mit viel Getöse ab und fuhr in die Nacht davon. Lichter tanzten, und freudetrunkene Passagiere winkten zum Abschied.

Dienstag

Mit einem Glas Wein in der Hand stand Hämäläinen inmitten eines Olivenhains in der hügeligen Ebene der Toskana und genoss den Blick auf die malerische Landschaft, als er durch die Melodie seines Handys unsanft aus dem Schlaf gerissen wurde. Der Radiowecker zeigte 1.30 Uhr nachts. Mühsam kämpfte er sich hoch, tastete nach dem Telefon und merkte, wie ihm schlecht wurde.

»Ja?«

Jussi Aaltonen, der in dieser Nacht Bereitschaft hatte, war in der Leitung. »Bist du ansprechbar?«

»Mir wäre es lieber, wenn ich noch immer in Italien wäre.«

»Italien? Was ist mit Italien?«

»Vergiss es. Was ist passiert?«

»Es hat ein Verbrechen im Central Hotel gegeben. Eine männliche Leiche. Das ist auch schon alles, was ich dir an Informationen geben kann. Kannst du kommen?«

»Ich mache mich sofort auf den Weg. Anni ist heute Nacht bei ihrer Großmutter. Wer hat die Leiche gemeldet?«

»Entschuldige. Ein paar Informationen mehr habe ich natürlich doch. Die Leiche liegt in einem Hotelzimmer. Der Gast aus dem schräg gegenüberliegenden Zimmer hat sie entdeckt. Das ist derzeit aber wirklich alles, was ich weiß.«

»Das ist dürftig. Wo bist du?«

»Auf der Helsinginkatu. Ich bin in fünf Minuten vor Ort.«

»Ich hatte gehofft, du nimmst mich mit. Ich habe mir wohl den Magen verdorben. Im Four Seasons.«

»Im Four Seasons? Dem edelsten Fischladen der Stadt? Du musst dir wohl ein Taxi rufen oder einen Wagen der Streife anfordern.«

»Die Streife wird genug Arbeit mit der Absicherung des Tatortes haben, und bevor ich mir eines dieser heruntergekommenen Stadttaxis rufe, fahre ich lieber selbst«, stöhnte er und hielt sich dabei den Bauch.

»Wie du meinst. Ich konnte Nyholm noch nicht erreichen. Die Leitstelle versucht es weiter.«

Hämäläinen kam ein Gedanke. »Das Central Hotel meintest du? Dort wohnt der Kollege Hansen.«

Mehrere Sekunden wartete er auf eine Antwort von Jussi Aaltonen. Dann stellte er fest, dass die Leitung unterbrochen war und drückte die Rückruftaste. Vergebens. Das Besetztzeichen ertönte. Es war auch alles besprochen worden.

Hämäläinen suchte seine Autoschlüssel und fand sie nach ein paar Minuten in einem der Schuhe, die aufgereiht vor der Kommode im Flur standen. Sofort dachte er an Anni. Ein flüchtiges Lächeln huschte über sein kantiges Gesicht. Anni war die einzige Konstante in einer persönlichen Welt, die aus den Fugen geraten war. Sie hatte den Verlust ihrer Mutter erstaunlich gut gemeistert und ihrem Vater die nötige Kraft gegeben, um nicht gänzlich aus der Bahn geworfen zu werden. Im Schlafzimmer zog er einen warmen Pullover aus dem Schrank. Danach rannte er unvermittelt auf die Toilette und kotzte. Langsam richtete Hämäläinen sich von der Kloschüssel auf. Die Übelkeit war schlagartig verschwunden. Er hatte für 75 Euro gegessen und beschloss, sich zu beschweren.

Um 2.05 Uhr lenkte Hämäläinen seinen Ford Mustang Baujahr 1970 auf den Hotelparkplatz. Es regnete in Strömen. Zwei mobile Lichtmasten erhellten das geschotterte Areal, auf dem reges Treiben herrschte. Die Blaulichter chaotisch geparkter Streifenwagen sendeten rhythmische Lichtblitze, die sich in den unzähligen Regentropfen verfingen und wie eine Gewitterfront über der Szenerie hingen.

Gerade noch rechtzeitig reagierte er auf die Person, die urplötzlich in seinem Sichtfeld auftauchte. Er riss das Lenkrad herum und trat auf die Bremse bis zum Anschlag. Nasser Kies wirbelte auf, es tat einen leichten Schlag, und der Ford Mustang kam zum Stehen. Sorgenvoll betrachtete Hämäläinen den mobilen Lichtmast, der bedrohlich hin und her wippte und ihn an die grässlichen Wackeldackel erinnerte, die manche Menschen auf ihrer Hutablage liegen hatten. Er atmete tief durch und stellte den Motor ab. Entschuldigend hob der Uniformierte die Hand. Ein Beamter der Streife war rückwärts getreten, ohne sich umzusehen. Die Müdigkeit, dachte er und war froh, keinen Kollegen angefahren zu haben.

Hämäläinen schritt durch die Lobby des Hotels in Richtung Aufzug. Ein seltsames Gefühl ergriff ihn, während er in der Kabine stand und nach oben fuhr. Kurz darauf trat er aus dem schmalen Korridor heraus, der von der Tür des Hotelzimmers zum Schlafbereich führte. Noch bevor Hämäläinen das Gefühl einordnen konnte, durchfuhr ihn ein eiskalter Schauer. Unwillkürlich kniff er die Augen zusammen und presste seine Kiefer aufeinander. Mit diesem Anblick hatte er wahrlich nicht gerechnet. Hämäläinen war von einem gewöhnlichen Tötungsdelikt ausgegangen, da Aaltonen bei ihrem Telefonat nur unzureichende Informationen besessen hatte. Ein toter Körper mit ein oder zwei Einschusswunden, vielleicht eine größere Blutlache. Das war es, was er angenommen hatte. Die Realität zerschmetterte diese Vorstellungen. Auch nach langen Jahren im Dezernat für Gewaltverbrechen berührte es ihn, wenn er unvorbereitet mit so einer Szenerie konfrontiert wurde.

Auf dem breiten Doppelbett lag eine männliche Leiche. Der Körper war übersät von Einschusswunden, die auch den Schädel deformiert hatten. Das Gesicht war nicht mehr zu erkennen. An vielen Stellen klebte Blut. Es war an die Wand gespritzt, hatte den Schirm der Nachttischlampe rot eingefärbt und auf dem flauschigen Teppich eine kleine Lache gebildet. An einigen Stellen war das Blut mit Teilen der Gehirnmasse vermengt. Gerade als Hämäläinen eine Ahnung bekam, woher das seltsame Gefühl rührte, streckte ihm Kriminaltechniker Micke Nurmi den Ausweis des Toten entgegen.

Es war ein Dienstausweis des LKA Hamburg, ausgestellt auf Sven Hansen. Hämäläinen war fassungslos. Dennoch schaffte er es, sich innerlich aufzurichten und trotz aller Umstände seine Arbeit zu tun. Er musste, so schwierig es war, einen ersten Eindruck vom Tatort gewinnen. Ein guter Ermittler – und das war er ohne jeden Zweifel – zeichnete sich durch Instinkt und Gespür aus, fand Hinweise in solchen Räumen, wo andere lediglich das Blut wahrnahmen und ihre Übelkeit unterdrückten. Auch wenn er zu dem Kollegen aus Deutschland noch kein persönliches Verhältnis aufgebaut hatte, erschütterte ihn dessen Tod bis ins Mark.

Neun Jahre wurde nun schon ein Austausch zwischen deutschen und finnischen Kriminalbeamten durchgeführt. Hämäläinen war einer der Beamten auf finnischer Seite, die Pionierarbeit für das Projekt geleistet und alle kritischen Kommentare ignoriert hatten. Viele Freundschaften gingen aus dem Programm hervor, ganz zu schweigen von dem fachlichen Nutzen. Jetzt diese Tragödie. Der deutsche Kollege, den er erst vor wenigen Stunden kennengelernt hatte, war kaltblütig hingerichtet worden.

Seine Augen blieben an jedem Detail haften, durchleuchteten den Raum systematisch. Hansens Leichnam lag auf der linken Seite des großen Doppelbettes. Der Täter hatte ihn wohl im Schlaf erschossen. Das Zimmer war geräumig. In einer Ecke stand der beschädigte Koffer von Hansen. Die Kleidung war achtlos in die Schränke geräumt. Am Rand eines Glaspodestes, neben dem Fernseher, lagen eine Geldbörse und ein Reiseführer. Die Geldbörse schien unangetastet. Sie enthielt reichlich Bargeld, eine Bank- und eine Kreditkarte.

»Wo ist der Mann, der ihn gefunden hat?«

»Er wartet in der Lobby«, flüsterte Aaltonen mit belegter Stimme und weit aufgerissenen Augen. Die Halsschlagader pulsierte sichtbar unter seiner Haut. Es war unverkennbar, wie sich blankes Entsetzen und große Wut vermischten.

»Fahr den Mann ins Präsidium. Ich will noch heute Nacht mit ihm sprechen. Seine Erinnerung ist noch frisch. Er soll sich ausruhen, damit er bei Sinnen ist, wenn ich später ins Präsidium fahre. Wie ist sein Name?«

»Antti Juusela.«

»War er der Einzige, der die Polizei verständigt hat?«

»Ja.«

»Die Lage hat sich geändert, wir haben einen Anhaltspunkt«, warf Robert Nyholm ein, der kurz zuvor in das Zimmer getreten war und einen Anruf auf dem Handy erhalten hatte. »Vielleicht können wir dieses Schwein zeitnah schnappen.«

»Sag schon«, stieß Hämäläinen aus. Es nervte ihn, wenn Nyholm nicht direkt auf den Punkt kam.

»Saara und zwei weitere Kollegen sind im Untergeschoss auf eine junge Frau gestoßen. Eija Âsten, 22 und in Ausbildung zur Hotelfachfrau. Sie war in einem der unteren Räume an eine Stange gefesselt. Ihr Mund war zugeklebt. Die Arme. Sie muss höllische Angst gehabt haben. Wie es aussieht, hat der Täter ihr die Generalkarte abgenommen. Jeder der Bediensteten besitzt eine solche Karte. Eija Âsten steht unter Schock. Das Wenige, was sie sagte, war sehr wirr. Sie wurde ins Krankenhaus eingeliefert und ist derzeit unsere wichtigste Zeugin. Saara wird mit dem behandelnden Arzt sprechen. Sie werden uns verständigen, sobald Eija Âsten vernehmungsfähig ist. Wie die Notärzte meinten, kann ein schwerer Schock über eine Woche andauern.«

»Davon wollen wir nicht ausgehen«, bemerkte Hämäläinen. Das schwarze Handydisplay informierte ihn über einen leeren Akku. Im Stillen hatte er sich längst echauffiert, dass Nyholm über das gefesselte Zimmermädchen informiert worden war und nicht er selbst als leitender Ermittler.

»Was kannst du über den Todeszeitpunkt sagen?«, fragte er Kalle Friberg, den neuen Leiter der Rechtsmedizin.

»In den letzten zwei bis drei Stunden dürfte dieses Gemetzel passiert sein. Den genauen Zeitpunkt nach der Obduktion.«

Hämäläinen fand Kalle Friberg ohne Zweifel sympathisch. Dennoch würde es noch einige Zeit dauern, bis er sich an den Umstand gewöhnt hatte, dass dessen Vorgänger jetzt Rosen züchtete, anstatt tote Körper zu untersuchen.

Er fixierte Nyholm. »Du koordinierst die Befragungen. Gäste, Personal, Angestellte des Restaurants. Es werden alle Gäste befragt, die hier in den letzten drei Tagen übernachtet haben, auch wenn sie bereits abgereist sind. Es wird sicher nicht einfach. Insbesondere, was die ausländischen Staatsbürger angeht. Befragt zudem das Personal von Hotel und Restaurant, das heute frei oder keine Schicht mehr hatte. Ich will jede Einzelheit wissen. War in den letzten Tagen etwas ungewöhnlich? Wer hat Hansen am Abend gesehen, ist ihm über den Weg gelaufen oder sogar mit ihm ins Gespräch gekommen? Finde heraus, warum nur Antti Juusela bei der Polizei angerufen hat und ob das Hotel eine Überwachungskamera besitzt.«

Hämäläinen hielt inne. Er musste ruhig bleiben. Mit aller Macht stemmte er sich gegen die Gedankenflut, die versuchte, seinen Verstand zu überschwemmen. Als Ermittler war es wichtig, einen kühlen Kopf zu bewahren, wenngleich dies bisweilen eiserne Disziplin und einen unbeugsamen Willen gegen sich selbst verlangte. Der Ermittler atmete tief durch und setzte seine Anweisungen fort. »Ich möchte wissen, wer die Gäste sind, warum sie hier logieren und woher sie kommen. Erstelle zudem eine Liste aller persönlichen Gegenstände von Sven Hansen, die ihr vorfindet, und schicke mir die Liste noch heute Nacht in einer E-Mail. Um 9 Uhr halten wir eine erste Besprechung ab. Informiere die Kollegen.«

Er verließ das Zimmer um 3.05 Uhr. Auf dem Hotelflur stolperte er beinahe über einen Reinigungswagen des Housekeepings, der umgestürzt auf der Seite lag. Ein Rad war abgebrochen. Es lag abseits des Chaos, das ausgelaufene Seife und Reinigungsmittel hinterlassen hatten. Das asiatische Zimmermädchen stieß mehrere Flüche aus, während es versuchte, die Schweinerei zu beseitigen.

Hämäläinen schäumte vor Wut. Auch wenn sich die Leiche in einem Hotelzimmer befand, war der gesamte Korridor, auf dem das Zimmer lag, Teil des Tatortes. Das lernte jeder Polizist auf der Akademie, ganz gleich, ob er später Streife fuhr oder Pförtner wurde. Solange Spuren gesichert wurden, durfte keine Person diesen sensiblen Bereich betreten, der es nicht ausdrücklich erlaubt war. Mit rüden Worten schickte er das Zimmermädchen in die Lobby und stapfte den Flur entlang. Der wachhabende Polizist saß zusammengesunken auf einem der schmalen Plastikstühle in einer mit Zeitschriften bestückten Sitzecke und schnarchte leise.

Hämäläinen hatte niemals derart gebrüllt wie in diesen Sekunden, in denen sich all seine Bestürzung wegen der Tragödie in dem Ärger über die Nachlässigkeit des Kollegen entlud. Gleichzeitig fragte er sich, wieso das Zimmermädchen bei einem Großaufgebot an Polizei unverdrossen seiner Arbeit nachging. Überall wimmelte es von Polizei, und der Zugang zum Korridor war mit Absperrband blockiert.

In der Lobby trat er aus dem Aufzug und traf auf Saara Toivonen, die aus dem Krankenhaus zurückgekehrt war und keine weiteren Neuigkeiten mitgebracht hatte. Saara schlug vor, ihm die Stelle zu zeigen, an der sie Eija Âsten gefunden hatten. Über eine schmale Treppe gelangten die beiden in das Untergeschoss, bogen nach links ab und kamen in einen spärlich beleuchteten Gang, von dem zur Linken und Rechten jeweils vier Räume abgingen. In einem der Räume auf der linken Seite, der als Wäschelager und Bügelstation diente, blieb Saara stehen.

»Hier hat sie gekauert und uns voller Angst angestarrt.« Saara Toivonen deutete auf ein mit Handtüchern befülltes Regal an der Stirnseite des Raumes. Hier hatte Eija Âsten die schlimmsten Minuten ihres jungen Lebens durchlebt.

Jetzt kniete dort Hannu Mielonen, ein Kollege der Kriminaltechnik, dem unter dem weißen Schutzanzug sichtbar der Schweiß über den Rücken rann. Die Blicke von Hämäläinen und Mielonen trafen sich, und sie begrüßten einander mit einem stummen Nicken. Hämäläinen und Saara betrachteten den Ort des Geschehens, dann gingen sie weiter. Am Ende des langen Gangs erreichten sie eine Tür, die ins Freie führte. Routiniert stülpte er sich Einmalhandschuhe über. Der Wind drückte gegen das stählerne Türblatt, und er bekam es nur mit Mühe auf. Sie traten in einen geteerten und unbeleuchteten Innenhof. Die Tür knallte ins Schloss, und der Regen peitschte ihnen ins Gesicht. Ein Bretterzaun mit einem metallenen Einfahrtstor umgab den Innenhof. Das Tor stand offen. Hämäläinen lief aus dem Innenhof heraus. Ihn fröstelte. Seine Augen folgten einem schmalen Zufahrtsweg, der in einer Linkskurve auf den Hotelparkplatz führte und von drei Laternen beleuchtet wurde. Am oberen Ende der Zufahrt parkte ein Streifenwagen. Die zwei Polizistinnen, die darin saßen, hielten diesen Bereich des Hotelgeländes im Blick. Er trat unter den Lichtschein einer Laterne und gab den beiden ein Zeichen. Sie verstanden die Handbewegung, schalteten das Licht ein und ließen den Streifenwagen bergab rollen.

Ein überfüllter Müllcontainer stand in dem Innenhof, dessen sonstige Bestimmung offenkundig ein Rauchertreff war.

Saara holte eine Plastiktüte aus der rechten Tasche ihres Anoraks und sammelte im Licht der Scheinwerfer die Zigarettenkippen ein, die im Innenhof verteilt lagen. Sie waren durch den Regen aufgequollen.

Durchgefroren und tropfnass kehrten die beiden Ermittler in die unteren Räumlichkeiten zurück. Sie vermuteten beide, dass der Täter über diese Tür in das Hotel gelangt war. Auf den ersten Blick wirkte sie unversehrt, doch Hämäläinen wies Hannu Mielonen an, auch dort und am Metalltor nach Einbruchspuren zu suchen, während Saara ihm die Plastiktüte mit den Zigarettenkippen reichte.

Hämäläinen verließ das Hotel im Dunkel der Nacht ohne einen klaren Gedanken. Er brauchte Abstand, musste realisieren, was gerade passiert war. Mit hochgestelltem Kragen stapfte er durch den Regen zu seinem Wagen. Der Schock saß tief. Auf der Fahrt ins Präsidium stellte er sich viele Fragen, konnte aber keine Erklärungen, geschweige denn Antworten finden. Es war zu verworren. Warum war ein deutscher Polizist, der offensichtlich keine persönlichen Verbindungen nach Finnland hatte, erschossen worden? Der Gedanke an die Übermittlung der Todesnachricht ließ seinen Magen neuerlich krampfen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht parkte er den Wagen auf einem Grünstreifen am Fahrbahnrand und öffnete hastig die Fahrertür.

Nachdem Hämäläinen erbrochen hatte, setzte er die Fahrt fort. Aus dem Radio drangen die Klänge einer Rockband. Einem Diavortrag gleich zogen die schrecklichen Bilder unentwegt an seinem geistigen Auge vorbei. Jedes einzelne Bild war mit vielen Fragezeichen unterlegt. Irgendetwas war ihm aufgefallen. Er wusste nicht, was es war. Wie ein Taucher glitt dieses Wissen lautlos durch die Gehirnregionen, weigerte sich jedoch standhaft aufzutauchen.

Was habe ich übersehen, was habe ich nicht bemerkt?

Auf dem Stuhl, zentral vor dem weißen Tisch, saß ein schmächtiger Mann Anfang 30. Vor ihm stand ein dampfender Becher mit Kaffee, den er mit den Händen dankbar umschloss. Obwohl noch relativ jung, hatte der Mann schon ergrautes Haupthaar. Hämäläinen schloss die Tür des Vernehmungszimmers, nahm neben Jussi Aaltonen Platz und schaltete das Mikrofon ein. Die Lampe über ihnen flackerte nervös.

»Vernehmung des Zeugen Antti Juusela. Uhrzeit – 3.59 Uhr. Antti Juusela, fühlen Sie sich in der Lage, zu dieser Uhrzeit vernommen zu werden?«

»Ja.«

»Schildern Sie ausführlich, aber ohne Ausschmückungen, was passiert ist. Geben Sie nur das wieder, was Sie tatsächlich erlebt haben, und beziehen Sie keine Schlussfolgerungen in Ihre Schilderungen ein.«

Der junge Mann richtete sich auf, sein Blick war klar, und er sprach laut und deutlich. »Ich war bis kurz vor Mitternacht an der Hotelbar, ehe ich müde wurde und auf mein Zimmer gegangen bin. Wie es hin und wieder so ist, lag ich noch eine Weile wach.«

Etwas mit Juusela stimmte nicht. Hämäläinen hatte es sofort gemerkt.

»Plötzlich vernahm ich einen Knall, unmittelbar darauf folgte ein weiterer. Es hörte sich für mich sofort wie Schüsse an. Sie klangen gedämpft, irgendwie hohl. Nach einer kleinen Pause folgten abermals mehrere Schüsse.«

»Wie viele Schüsse waren es?« Er registrierte die geschliffene Ausdrucksweise des Zeugen.

»Schwer zu sagen. Mehr als zehn, schätze ich. Danach war es totenstill. Nach einer Weile öffnete ich die Tür und spähte in den Gang hinaus. Der linke Teil des Korridors war leer. Ich reckte den Kopf vorsichtig um die Tür herum, und auch zur Rechten war niemand. Ich bemerkte dann die geöffnete Tür von Zimmer 107. Erst glaubte ich, der dortige Gast wäre ebenfalls interessiert daran, die Geschehnisse zu ergründen. Es brannte aber kein Licht, und es erschien auch niemand auf dem Flur. Also bin ich einfach in das Zimmer eingetreten. Zum Teufel. Das war die erste Leiche meines Lebens. Dass einem Menschen einfach der Schädel weggepustet werden kann.«

Antti Juusela zitterte, und seine Stimme war mit jedem Wort leiser geworden.

Hämäläinen erlebte es häufig, wie Menschen schlagartig ihrer Selbstkontrolle beraubt wurden. Es war, als würde eine Mauer niedergerissen, hinter der sich die eigene Würde und der Stolz versteckt hielten. Von jetzt auf gleich entglitten ihnen die Gesichtszüge, verloren sie ihre gewohnte Ausdrucksweise und ihre Manieren. Das waren auch die Momente, in denen das Unterbewusstsein Dinge zum Vorschein brachte, an die sich die Menschen in ihrer Selbstbeherrschung nicht mehr erinnert hatten. Leider nicht in diesem Fall.

»Sie waren die einzige Person, die die Schüsse wahrgenommen hat. Zumindest hat die Notrufzentrale nur Ihren Anruf erhalten.«

»War das eine Frage?«

»Betrachten Sie es als Frage.«

»Es war Mitternacht durch. Die meisten Gäste schliefen. Die Schüsse waren zu leise, um das ganze Hotel aufzuwecken.«

»Was ist Ihnen sonst noch aufgefallen?«, fragte Jussi Aaltonen.

Juusela starrte ihn ungläubig an. »Abgesehen von dem Blut und der Gehirnmasse? Ich war ziemlich geschockt und bin es, offen gestanden, noch immer. Sie sehen einen getöteten Menschen bestimmt täglich, ich hoffentlich nie mehr. Ich habe die Flucht angetreten. Wäre der Täter noch im Bad gewesen, es wäre mir kaum aufgefallen.«

»Was ist der Grund für Ihren Aufenthalt im Hotel?«, fragte Hämäläinen.

»Ich verbringe einige freie Tage in Helsinki.«

»Wann sind Sie angereist?«

»Am Sonntag. Mit dem Auto.«

»Ist seither irgendetwas Erwähnenswertes im Hotel vorgefallen? Hat sich ein Gast beispielsweise seltsam verhalten? Gab es Streitereien?«

»Nein. Bis ich die Schüsse gehört habe, war alles normal.«

»Waren Sie schon öfter in diesem Hotel?«

»Ja. Ich bin gerne in Helsinki. Ich mag den Blick auf die Ostsee und das Großstadtfeeling. Ich wohne zwar gerne in Lahti, aber es ist ein Nest. Jeder kennt jeden.«

Um 4.30 Uhr beendeten die Kommissare die Vernehmung. Eigentlich hatten sie keinen Grund, an der Darstellung des Zeugen Antti Juusela zu zweifeln. Irgendetwas jedoch schien der junge Mann zu verheimlichen. Die Entscheidung war gefallen. Sie würden Antti Juusela ein weiteres Mal vernehmen. Es mochte harmlose Gründe haben, warum Juusela sein Geheimnis wahrte. Oftmals waren es jedoch scheinbar bedeutungslose Begebenheiten, die einer Ermittlung erst richtig Schwung verliehen. Wenigstens konnten sie die Tatzeit auch ohne den Bericht der Rechtsmedizin annähernd genau bestimmen. Gegen 20 Minuten nach Mitternacht war der Mord passiert.

Direkt nach der Vernehmung rief Hämäläinen seine E-Mails ab. Nyholm hatte ihm bereits eine Aufstellung der persönlichen Gegenstände von Sven Hansen geschickt. Er stutzte sofort, denn unter den aufgelisteten Gegenständen fehlte ein Handy. Er griff zum Telefon und rief Nyholm an.

»Also, was haben wir?«, begann Nyholm. »Bislang gibt es keine Hinweise auf den Täter. Das diensthabende Personal des Hotels und des anliegenden Restaurants haben wir befragt. Bei den Gästen stehen wir noch am Anfang. Sven Hansen ist nach seiner Ankunft am Nachmittag im Hotel geblieben, dieses Resümee können wir ziehen. Er hat auch nicht im Restaurant gegessen. Das Hotel ist gerade einmal zur Hälfte ausgelastet. 81 Gäste. Das ist ungewöhnlich wenig für einen teuren Schuppen. Kristian Melart, der Nachtportier, hält sich hierzu sehr bedeckt. Vielleicht sollte man den Geschäftsführer dazu befragen?«

»Das ist ungewöhnlich, steht aber mit Sicherheit nicht mit dem Mord in Verbindung. Ist der Geschäftsführer vor Ort?«

»Nein. Er ist gerade im Urlaub. Melart hat ihn längst über den Mord informiert. Ein eigenartiger Typ. Melart, meine ich. Seine ganze Art. Der Geschäftsführer fährt bei Sonnenaufgang los und sollte gegen 14.30 Uhr vor Ort eintreffen. Zwei Gäste sind unter falschem Namen abgestiegen. Sie haben ihre Zimmer im Voraus in bar bezahlt. Bei dem einen Gast handelt es sich um einen Paavo Rutanen. Er sagte die Wahrheit frei heraus. Er traf in Helsinki seine Geliebte und wollte wegen seiner eifersüchtigen und findigen Ehefrau möglichst keine Spuren hinterlassen. Sie hat in der Vergangenheit wohl schon einmal in diversen Hotels in Tampere angerufen und nach ihm gefragt. Er war dort beruflich als Vertriebsmitarbeiter einer Lakritz-Manufaktur unterwegs. Sie wusste wohl schon zu dieser Zeit von den anderen Frauen. Der andere Gast heißt Ilari Valkonen. Er ist Zahnarzt in Turku. Wir mussten ihn ausdrücklich darauf hinweisen, dass wir Ermittlungen in einem Mordfall führen, ehe er uns die Gründe offengelegt hat. Heutzutage würden eine Menge Personendaten gespeichert, und er will sich ein Stück Freiheit bewahren.«

»Eine ungewöhnliche Ansicht für jemanden, der von Berufs wegen im Telefonbuch und im Internet registriert ist«, antwortete Hämäläinen.

»Ja. Grundsätzlich müssen wir ihm aber erst einmal glauben. Unter Umständen trifft er auch eine Geliebte und wollte es der Polizei gegenüber nicht offenbaren.«

»Gibt es eine Überwachungskamera im Hotel?«

»Nein und in gewisser Weise unzeitgemäß.«

»Das würde ich nicht sagen. Etliche der erstklassigen Hotels verzichten eigens wegen der Privatsphäre ihrer gut betuchten Gäste auf Überwachungssysteme. Man rechnet allenfalls mit Diebstählen. Waren Eija Âsten und die Frau asiatischer Abstammung die einzigen Zimmermädchen, die heute Nacht Dienst taten?«

»Ja. In der Nacht laufen bloß die Waschprogramme. Die Wäsche wird später in die Trockner umgefüllt. Gebügelt und verteilt wird die Wäsche von der morgendlichen Schicht, die gegen 6 Uhr eintrifft. Unsere Asiatin heißt Manee Thanom und stammt aus Thailand.«

»Was hat sie um diese Zeit auf dem Flur zu suchen gehabt?«

»Ein paar junge Schweden hatten übermäßig getrunken, ihren Verstand aber noch insoweit beisammen, um bei der Rezeption aufzuschlagen und die Beseitigung ihres Mageninhaltes zu fordern«, antwortete Nyholm und lachte. »Frau Thanom hat das Zimmer gereinigt, während die jungen Schweden schnarchend und volltrunken in ihren Betten lagen. Es dauerte weit über eine Stunde. Sie hörte dabei Musik über ihr Telefon, weshalb sie von den Schüssen und dem Polizeiaufgebot zuerst nichts mitbekam.«

»Eine Ahnung, wieso nur Antti Juusela die Polizei verständigte? Abgesehen davon ist es Wahnsinn, welches Risiko der Täter mit einer Waffe ohne Schalldämpfer eingegangen ist.«

»Die besoffenen Schweden und Juusela waren die Einzigen, die mit Hansen auf dem gleichen Flur eingebucht waren. Das Stockwerk darüber wird renoviert und im Stockwerk darunter liegt der Frühstückssaal. Die Schüsse waren vermutlich nur für ihn hörbar«, erwiderte Nyholm. »Wir brechen dann bald ab und machen in ein paar Stunden weiter. Die Kollegen verrichten erstklassige Arbeit, aber es ist spät, die Konzentration bei den Zeugen und auf unserer Seite lässt nach. Wir befragten bislang 15 Gäste. Sie zeigten Verständnis. Die meisten sind durch die Sirenen und das Blaulicht ohnehin wach geworden. Vereinzelt waren sie natürlich in Sorge. Wir haben zuallererst mit den Gästen gesprochen, die heute früh abreisen werden. Die restlichen Gäste verbringen zumindest eine weitere Nacht im Hotel. Was diejenigen Gäste angeht, die in den letzten drei Tagen im Hotel eingebucht und in der Mordnacht bereits abgereist waren, benötigen wir natürlich noch Zeit. Dasselbe gilt für die Angestellten von Restaurant und Hotel, die letzte Nacht nicht im Dienst waren. Ich komme um 9 Uhr zur Besprechung ins Präsidium. Hast du die Aufstellung mit Hansens persönlichen Gegenständen gesehen?«

»Ja. Darüber wollte ich auch mit dir sprechen. Das Handy fehlt. Sven Hansen hatte ein Handy dabei.«

»Jetzt, wo du es ansprichst, fällt es mir selbst erst auf. Wir haben kein Handy gefunden. Der Mörder muss es mitgenommen haben.«

»Wir veranlassen eine Ortung und eine Funkzellenabfrage«, erklärte Hämäläinen und beendete das Gespräch.

Beim Blick zur Uhr dachte er an Jaana Tiivola, die Chefin des Dezernates für Gewaltverbrechen. In Washington D.C. war es jetzt 22 Uhr. Er empfand die Verpflichtung, seine Vorgesetzte wegen des tragischen Ereignisses sofort anzurufen.

»Mika. Ist etwas vorgefallen? Bei euch ist es mitten in der Nacht.«

»Sven Hansen wurde ermordet«, platzte es ohne Umschweife aus ihm heraus.

Eine kurze Stille folgte am anderen Ende der Leitung. »Sag das noch mal.«

»Es ist leider wahr. Er wurde erschossen in seinem Hotelzimmer aufgefunden.«