In der Erde - Pernilla Ericson - E-Book

In der Erde E-Book

Pernilla Ericson

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Beschreibung

Ein Kind verschwindet. Wie lange kann es ohne Wasser überleben? Die Stimmung im idyllischen Nynäshamn ist angespannt. Seit Monaten hat es nicht geregnet, die Erde ist ausgetrocknet und die Landwirte sorgen sich um ihre Ernten. Auch Kommissarin Lilly Hed leidet unter der Trockenheit. Noch dazu ist ihr neuer Fall komplizierter als gedacht: Ein Haus wird bei einer Explosion zerstört, die Hausbewohner, ein Ehepaar und dessen sechsjährige Tochter Maja, sind unter den Trümmern vermutlich tot. Doch dann trifft eine Nachricht ein: Maja ist entführt worden und wird unter der Erde gefangen gehalten. Wenn auf die Forderungen der Ermittler nicht eingegangen wird, bekommt sie nichts mehr zu trinken. Lillys Ermittlung wird zu einem Wettlauf gegen die Zeit – und gegen einen brutalen Täter, der immer einen Schritt voraus ist. Einsatz bei Extrem-Wetter: die hochaktuelle Bestseller-Serie aus Skandinavien

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Seitenzahl: 558

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Ähnliche


Pernilla Ericson

In der Erde

Ein Fall für Lilly Hed

 

Aus dem Schwedischen von Friederike Buchinger

 

Über dieses Buch

 

 

Trockenheit, Hitze und explosive Stimmung: der dritte Fall der Scandi-Krimireihe um Polizistin Lilly Hed

Im idyllischen Nynäshamn ist die Stimmung angespannt. Seit Monaten herrscht Trockenheit, die Landwirte sorgen sich um ihre Ernten. Dann wird auch noch ein Haus bei einer Explosion zerstört, die Bewohner, ein Ehepaar und dessen sechsjährige Tochter Maja, sind unter den Trümmern vermutlich tot. Kommissarin Lilly Hed übernimmt den scheinbar unkomplizierten Fall, doch dann trifft eine Nachricht ein: Maja ist entführt worden und soll bald nichts mehr zu trinken bekommen. Lillys Ermittlung wird zu einem Wettlauf gegen die Zeit – und gegen einen skrupellosen Täter, der immer einen Schritt voraus ist.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Pernilla Ericson ist erfolgreiche Krimi-Autorin und Journalistin. In ihrer Arbeit für Zeitungen und TV befasst sie sich viel mit Klimawandel und sozialer Gerechtigkeit. Diese Themen bringt sie auch in ihre Spannungsromane ein. Ihre Reihe um die Polizistin Lilly Hed eroberte in Schweden die Bestsellerlisten und verhalf ihr auch international zum Durchbruch. Pernilla Ericson lebt in Stockholm.

 

Friederike Buchinger übersetzt Belletristik für Erwachsene und Jugendliche sowie Sachbücher aus dem Dänischen, Norwegischen und Schwedischen ins Deutsche. Sie wurde für ihre Arbeiten mehrfach ausgezeichnet.

Inhalt

Anzeichen von Dehydrierung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

68. Kapitel

69. Kapitel

70. Kapitel

71. Kapitel

72. Kapitel

73. Kapitel

74. Kapitel

DANK

Anzeichen von Dehydrierung

 

1. Starker Durst

2. Trockener Mund

3. Weniger und dunkler Urin

4. Müdigkeit oder Schwäche

5. Kopfschmerzen

6. Konzentrations- und Gedächtnisprobleme

7. Schwindel

1

Die Laken klebten auf der Haut. Monika Västlund drehte sich im Bett um, streckte die Hand aus und verstellte den Ventilator, der sich monoton hin und her bewegte. Es half nichts. Das Ding rührte die stickige Luft nur um, aber einen nennenswerten Unterschied machte es nicht. Sie fuhr sich mit der Hand durch die zerzausten dunklen Haare. Verzog das Gesicht, als sie merkte, wie verschwitzt ihr Nacken war. Im Zimmer war es dunkel. Patrik, ihr Mann, schlief tief und fest neben ihr und es nervte sie, wie unbeeindruckt er von der Hitze war, von der Feuchtigkeit, die sich bildete, wenn sich ihre Körper unter der Bettdecke berührten. Er suchte ihre Nähe, sie ging auf Abstand.

Monika drehte sich auf den Rücken, versuchte, sich zu entspannen. Aber sobald ihre Atmung ruhiger wurde, sobald ihre Augenlider schwer wurden, hinderte sie etwas am Einschlafen. Ihr Herz, das schneller schlug. Eine innere Anspannung. Die Entscheidung, die sie getroffen hatte und die Konsequenzen für ihre ganze Familie haben würde.

Sie musste sich ablenken, griff nach ihrem Handy, und das kalte Licht des Displays erhellte die Dunkelheit. Aber der Newsfeed war auch nicht beruhigend. Wieder eine Schlagzeile über eine Schießerei, diesmal in der Stockholmer Innenstadt. Sie seufzte. Diese sinnlose Gewalt. Nahm das denn nie ein Ende?

Das rastlose Gefühl wurde immer größer. Die Hitze immer unerträglicher. Sie schlug die Decke zur Seite, setzte sich auf. Vielleicht würde ein Glas Milch helfen? Oder sollte sie sich das Sofa herrichten und unten schlafen? Ein bisschen kühler war es dort allemal. Sie nahm ihr Kopfkissen und die dünne Decke, die vor allem aus dekorativen Gründen am Fußende ihres Bettes lag. Das musste reichen.

Auf dem Weg zur Treppe ging sie am Zimmer der Tochter vorbei, stockte und machte noch einmal kehrt. Vorsichtig schob sie die Tür einen Spaltbreit auf. Ein kleiner rosa Ventilator, verziert mit Einhornstickern, brummte leise neben dem Bett. Ein beruhigendes Geräusch, dachte Monika, auch wenn das winzige Ding kaum Abkühlung brachte. In diesem Zimmer war es noch stickiger, aber wegen der Mücken wollte sie das Fenster über Nacht nicht offen lassen. Maja schlief trotzdem tief, die langen dunklen Haare wie einen Fächer auf dem Kissen ausgebreitet und mit dem Daumen im Mund, obwohl die Sechsjährige schwor, sich das Daumennuckeln schon lange abgewöhnt zu haben.

Monika zog die Tür wieder zu, schlich leise die Treppe hinunter, um ihre Familie nicht aufzuwecken. Das helle Ziffernblatt der Uhr in der Diele, auf dem die Zahlen als silbern glänzende Striche dargestellt waren, zeigte, dass es kurz nach eins war. Noch viel Zeit, um weiterzuschlafen. Inzwischen schlief Maja meistens bis sieben Uhr morgens durch, ohne nachts zu ihnen ins Bett zu kriechen. Und hier unten war es wirklich nicht ganz so warm, das merkte Monika sofort. Vielleicht kamen ihre Gedanken hier zur Ruhe. Für einen kurzen Moment war sie versucht, sich noch eine schnelle Zigarette zu erlauben, aber sie widerstand dem Impuls. Sie hatte sich schließlich selbst versprochen aufzuhören. Oder wenigstens weniger zu rauchen.

Sie blieb vor dem runden Spiegel im Wohnzimmer stehen. Selbst hier im Halbdunkel waren die ersten grauen Strähnen in ihren schulterlangen Haaren nicht mehr zu übersehen und sie hatte tiefe Schatten unter den Augen. Ihr herzförmiges Gesicht war schmaler geworden, ihre Wangen eingefallen. Sie hatte sichtlich abgenommen. In letzter Zeit hatte sie keinen Appetit gehabt. Das lag an der Hitze. Und an dieser Entscheidung. Obwohl sie jetzt gefallen war, ließ sie ihr keine Ruhe. Der Gedanke daran erfüllte sie gleichermaßen mit Vorfreude wie auch mit Angst. Sie würde ihre Sicherheit aufgeben und ihr gesamtes Leben über den Haufen werfen, mit allen Folgen, die das womöglich mit sich brachte. Und eine Sorge führte zur nächsten. Rief alte Schuldgefühle wach. Dinge, die sie während ihrer Therapie erfolgreich bearbeitet und fortgejagt hatte. Alles wurde ihr in einer endlosen Gedankenschleife entgegengeschleudert. Vielleicht stecke ich auch in einer Midlifecrisis, dachte sie.

Sie legte sich auf das hellgraue Ledersofa im Wohnzimmer, klopfte ihr Kopfkissen zurecht und machte es sich unter der dünnen Decke bequem. Endlich kam der Schlaf, wie ein guter Freund. Monika versank in einen wohligen Schlummer. Träume von einem tiefen See und dunklen Wäldern glitten vorbei, schenkten ihrem Körper die Abkühlung, nach der er sich sehnte.

Als sie aufwachte, hatte sie keine Vorstellung davon, wie viel Zeit vergangen war und was sie geweckt hatte. Aber war da nicht ein Geräusch gewesen? Sie setzte sich auf, ziemlich verschlafen, im Kopf noch die Bilder von hohen Bäumen und dunklen Gestalten zwischen den Stämmen. Sie stellte die Füße auf den weichen Teppich und stand auf.

Ein Bild riss sie aus der Müdigkeit wie eine eiskalte Dusche. Oder träumte sie noch? Denn das hier konnte doch unmöglich Wirklichkeit sein? Die Haustür stand sperrangelweit offen. Der gelbliche Schein der Straßenlaterne fiel in den Flur. Ein schwacher Windzug streifte ihren Körper und überzeugte sie davon, dass sie wach war. Angstschweiß bildete sich über ihrer Oberlippe, ein kalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter. Maja! Sie musste sofort nach Maja schauen.

Aber noch ehe sie den Gedanken zu Ende gedacht hatte, hörte sie Schritte. Jemand kam die Treppe hinunter. Den Geräuschen nach eine schwere, kräftige Person. Patrik war offenbar auch aufgewacht. Oder war er mitten in der Nacht draußen gewesen? Schlafwandelte er? So wie früher als Jugendlicher? Konnte es sein, dass er jetzt wieder damit anfing? Ihre Gedanken überschlugen sich, sie taumelte.

Das Nächste, was ihre angespannten Sinne wahrnahmen, war ein schwacher, merkwürdiger Geruch. Stechend, ähnlich wie Benzin. Was sie dann sah, ließ sie erstarren. Ihr entfuhr ein entsetztes Keuchen. Der Mann, der die Treppe herunterkam und nun allmählich sichtbar wurde, war bedeutend größer und breiter gebaut als Patrik. Die Form seines Kopfs kam ihr irgendwie seltsam vor. Er trug etwas in den Armen. Mit schweren Schritten näherte er sich dem Erdgeschoss, und sie stand immer noch wie angewurzelt da.

Vielleicht war es das Geräusch ihres Atems. Vielleicht hatte sie geschrien, ohne sich dessen bewusst zu sein. Der riesige Kerl drehte sich um. Aber da war kein Gesicht. Er hatte eine Gasmaske auf, ein schwarzes unförmiges Ding, das ihn in ein Monster verwandelte. Und jetzt erkannte sie auch, was er in den Armen hielt. Maja. Dieser Mann trug ihre Tochter. Und auch sie hatte etwas auf dem Kopf. Monikas gesamter Körper brüllte, aber sie konnte sich nicht rühren. War wie gelähmt und konnte nichts dagegen tun. Heiße Tränen quollen aus ihren Augen, trübten ihre Sicht. Das alles erschien so unwirklich. Das alles passierte wirklich. Der Mann hatte ihr jetzt den Rücken zugedreht, sie sah nur noch seine schwarze Gestalt gegen das Licht, das von der Straße durch die Haustür fiel. Große Schritte. Er war jetzt draußen, lief am Schuppen vorbei und durch das Gartentor. Dann fing er an zu rennen, hin zu einem offenen Kastenwagen. Er sprang auf die Ladefläche und zog die Türen zu.

»NEEEEIIIINNN!«

Der Schrei, der aus ihr herausbrach, klang, als hätte sich ein Abgrund geöffnet, aus dem die Eingeweide der Erde herausquollen. Endlich kam wieder Leben in ihren Körper. Endlich konnte sie sich wieder bewegen. Sie stürzte in den Hausflur, hatte nur einen Gedanken im Kopf, nämlich die Autotür aufzureißen und Maja aus den Armen dieses Fremden zu zerren. Wenn er sie dabei töten würde, dann war es so. Sie war bereit sich zu opfern, aber sie musste ihre Tochter retten.

Die Explosion im Haus war wie ein weißes, alles verzehrendes Licht, das sie mit Haut und Haar verschlang. Mit einem Schlag wurde alles, was die Person Monika Västlund ausgemacht hatte, ausgelöscht. Die Explosion war so heftig, dass sich die Umrisse ihres Körpers in die Dielenwand einbrannten. Autoalarmanlagen sprangen an, in den Nachbarhäusern zerbarsten klirrend die Fensterscheiben, die Menschen aus der Umgebung schreckten in ihren Betten hoch und blickten sich ängstlich um. Währenddessen wütete das Feuer in dem zerstörten Haus, breitete sich rasend schnell aus.

 

Der gewaltige Knall hatte den Kastenwagen erschüttert. Zurück auf dem Fahrersitz, nahm der Mann die Gasmaske mit Gehörschutz ab und legte sie auf den Sitz neben sich. Das Ding war ein Erinnerungsstück an einen früheren Job, aber gerade erwies es sich als äußerst praktisch. Es hatte ihn vor dem Narkosespray und dem lauten Knall geschützt und dabei auch noch sein Gesicht verborgen.

Er drehte sich um. Die Kleine schlief tief und fest, sie lag vollkommen reglos auf der rauen Decke, auf der er sie abgelegt hatte, immer noch mit dem Gehörschutz auf. Er steckte den Schlüssel ins Zündschloss und der Motor sprang bereitwillig an, aber das Geräusch wurde von dem hupenden Diebstahlalarm eines Autos übertönt. Er sah sich um. Die Explosion hatte die Frontscheibe des Wagens zerstört, der direkt neben dem Haus der Familie Västlund parkte. In den Fenstern der umliegenden Häuser gingen die ersten Lichter an. Besorgte, helle Vierecke. In Kürze würden die ersten Nachbarn nach draußen gelaufen kommen, zu begreifen versuchen, was passiert war. Aber bis dahin wäre er längst weit weg, irgendwo auf einer kleinen Nebenstraße, so wie es sein Fluchtweg vorsah, den er lange und gründlich geplant hatte. Er würde mit Maja verschwinden, als wären sie vom Erdboden verschluckt worden.

Bald würde er sich zu erkennen geben. Aber noch nicht. Noch musste er im Schatten bleiben.

Ohne Eile verließ der Kastenwagen den Vårfruvägen und verschwand.

2

»Wissen wir, ob es irgendwelche Drohungen gegen die Familie gab? Oder war es …«

Lilly Hed verstummte mitten im Satz, hob eine Hand. Einen Moment lang kämpfte sie gegen das Gefühl an, aber ohne Erfolg. Sie sprang auf, rannte aus dem Besprechungsraum, den schmalen Flur hinunter und stürmte auf die Toilette. Eins der beiden Abteile war frei. Sie schaffte es nicht mehr, die Tür hinter sich zuzuziehen, ehe sich der Mageninhalt schon in die Kloschüssel ergoss. Das bisschen, was sie zum Frühstück mit Mühe heruntergebracht hatte. Wenigstens war sie treffsicher, dachte sie, wenn auch ohne große Begeisterung, als sie den letzten Rest herauswürgte. Der stürmische Wellengang in ihrem Magen beruhigte sich langsam, jedenfalls für eine Weile.

Eine Kollegin, die an den Waschbecken stand und sich die Hände wusch, warf ihr durch die halboffene Tür einen mitleidigen Blick zu.

»Ist es immer noch so schlimm? Ich hatte die Übelkeit nach acht Wochen überstanden, aber ich kann mich daran erinnern, dass es schrecklich war. Als wäre ich ununterbrochen seekrank.«

Lilly wischte sich den Mund mit Toilettenpapier ab, drückte die Spülung. Stellte sich zu ihrer Kollegin ans Waschbecken, spülte sich lange und gründlich den Mund aus, ehe sie sich die Hände wusch. Innerlich brodelte sie.

Sie dachte daran, was eine andere Kollegin gesagt hatte: »Das ist nur die erste Zeit, das geht vorbei. Und dann bekommst du diesen schönen Schwangerschafts-Glow.«

Von wegen!, dachte Lilly. Sie war in der zweiundzwanzigsten Woche und die Übelkeit war noch genauso heftig wie am Anfang.

»Du musst viele kleine Mahlzeiten zu dir nehmen. Ein leerer Magen macht es nur schlimmer!«, hatte die Hebamme gesagt. Leichter gesagt als getan, dachte Lilly bitter. Sie trug ein schwarzes Akupressurarmband, das die Symptome dämpfen sollte, und sie hatte Tabletten gegen Reiseübelkeit verschrieben bekommen. Aber nichts schien zu helfen.

»Das wird schon noch«, sagte sie möglichst neutral zu der Kollegin, die nur nickte und dann den Waschraum verließ. Lilly war mit ihren Gedanken allein.

Irgendwann im Spätherbst hatte sie bemerkt, dass sie schwanger war. Das Gefühlschaos hatte sie völlig überwältigt. War sie überhaupt bereit, Mutter zu werden? Ein Kind zu bekommen, war bis dahin höchstens ein vager Zukunftsentwurf gewesen, und jetzt wurde daraus plötzlich Wirklichkeit. Und war es nicht vielleicht doch zu früh für Jesper und sie als Paar? Sie waren zu diesem Zeitpunkt ja nicht mal ein Jahr zusammen gewesen. Aber alle diese Überlegungen hatten ein jähes Ende gefunden, als sie eines Tages mit einer heftigen, anhaltenden Blutung aufgewacht war. Jesper hatte vor Trauer und Enttäuschung geweint. Sie selbst hatte im ersten Moment ein geradezu verbotenes Gefühl von Erleichterung verspürt. Erleichterung, dass nicht ihr gesamtes Leben auf den Kopf gestellt werden würde. Trauer über alles, was hätte sein können.

Aber schon zum Jahreswechsel war sie wieder schwanger gewesen. Dieses Mal hatte sie die Möglichkeit gehabt, sich an den Gedanken zu gewöhnen. Einem kleinen Menschen Platz in ihrem Alltag einzuräumen. Aus einem Leben zu zweit ein Leben zu dritt zu machen. Gleichzeitig hatte sie erst nicht so richtig zu hoffen gewagt, dass es gutgehen würde, das Ganze fühlte sich so zerbrechlich und unwirklich an. Aber inzwischen schien sich das Kleine da drinnen festzuklammern. Ihre Dankbarkeit darüber wurde nur von dieser hartnäckigen Übelkeit getrübt, die zusammen mit dem plötzlichen Schwindelgefühl dafür sorgte, dass sich von einer Sekunde auf die andere alles drehte.

Lilly betrachtete ihr Spiegelbild. Sie erkannte sich kaum wieder. Nur die langen blonden Locken sahen aus wie immer, und ihre dunkelblauen Augen waren unverändert wachsam, aber das war es auch schon. Ihre Lippen waren geschwollen, die Konturen ihrer hohen Wangenknochen, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte, waren sichtlich weicher geworden , seit sie schwanger war. Ihr Körper, der immer groß und schlank gewesen war, ganz ohne atemberaubende Kurven, hatte sich vollkommen verändert. Sie kam sich dick und schwerfällig vor, weil sie so an Gewicht zugelegt und vor allem viel Wasser eingelagert hatte. Das erweckte den Eindruck, als wäre sie schon deutlich weiter in der Schwangerschaft, als es tatsächlich der Fall war. Ihre Brüste waren sofort spürbar größer geworden. Ab und zu hob sie auch jetzt noch ihr T-Shirt an und betrachtete misstrauisch die riesige Oberweite, die irgendeiner fremden Frau zu gehören schien, zum Beispiel einer Fernseh-Rettungsschwimmerin in rotem Badeanzug. Jesper grinste wie die Katze aus Alice im Wunderland, wenn sie mit ihm darüber sprach.

Ihr Bauch wölbte sich rund nach vorn und führte ein Eigenleben. Wer auch immer dort drinnen wartete – er oder sie hielt nicht viel von einem stillen Dasein. Es fühlte sich eher an, als hätte sie einen ziemlich lebhaften Goldfisch im Bauch, vor allem, wenn sie sich hinlegte, um sich auszuruhen. Als würden ihre Bewegungen das Fischchen schläfrig machen, während es sofort munter wurde, wenn Lilly innehielt. Sie hatten keine Ahnung, ob es ein Junge oder ein Mädchen war, und weder Jesper noch sie wollten es vor der Geburt wissen.

»Es ist uns egal«, sagten sie beide und meinten es auch so.

Aber nicht nur Lillys Körper und Allgemeinbefinden hatten sich veränderten. Mit großem Erstaunen verfolgte sie Jespers Verwandlung. Schon während der ersten Schwangerschaft hatte er seine Wohnung kindgerecht umgestaltet und von Möbelstücken bis hin zu Steckdosen alles auf Sicherheitsmängel überprüft. Diese Arbeit hatte er mittlerweile wieder aufgenommen, nachdem er ständig neue Gefahrenquellen entdeckte.

Auch als Feuerwehrmann war Jesper nicht mehr so scharf darauf, Risiken einzugehen, wie er ihr gegenüber zugegeben hatte. Nach einem Brand in einem Industriegebäude in Stockholm, rund sechzig Kilometer entfernt, war er aschfahl im Gesicht nach Hause gekommen und hatte gemurmelt: »Stell dir vor, der ganze Scheiß wäre in die Luft geflogen und ich hätte mein Kind nie zu Gesicht bekommen.« Als Polizeikollegen vorschlugen, dass Lilly sich wegen des häufigen Erbrechens krankschreiben lassen sollte, hatte er ihnen sofort beigepflichtet. Eine Zeitlang war Jesper so überbehütend gewesen, dass sie ihn irgendwann angefaucht hatte: »Ich bin nicht krank, ich bin schwanger! Lass mich in Ruhe!« Da hatte er einen Gang heruntergeschaltet und sich bei ihr entschuldigt.

Von diesem Standpunkt war sie nach wie vor fest überzeugt, dachte sie jetzt. Sie war nur schwanger – sie lag nicht im Sterben. Sie hatte ihren Job bei der Polizei in Nynäshamn, die Hälfte der Zeit im Streifendienst, die andere Hälfte als Ermittlerin, und genauso sollte es auch bleiben. Allein beim Gedanken, nur noch zu Hause herumzusitzen, wurde sie schon kribbelig und gereizt. Nicht zuletzt, weil der Prozess gegen Svante Sandström in gut einer Woche begann. Die Erkenntnis jagte ihr einen unbehaglichen Schauer durch den Körper.

Ihren Ex-Partner wegen häuslicher Gewalt anzuzeigen, war keine einfache Entscheidung gewesen. Es bedeutete zugleich, gegen einen einflussreichen Oberstaatsanwalt vorzugehen, für den alles auf dem Spiel stand. Aber es war wichtig für sie, diesen Schritt zu wagen. Die Erinnerungen an seine Gewalttätigkeit und daran, wie er sie psychisch fertiggemacht hatte, warfen sie bis heute manchmal aus der Bahn, trieben ihren Puls in die Höhe. Dann drängten sich beklemmende Bilder in ihr Bewusstsein, bahnten sich einen Weg in ihre Träume. Ihre Trennung hatte die Tür zu einer neuen Form von Terror geöffnet. Immer wieder war Svante bei ihr aufgetaucht, wollte sie davon überzeugen, zu ihm zurückzukommen. Um sich endlich von ihm zu befreien, hatte sie ihre Karrierepläne aufgegeben und war nach Nynäshamn gezogen. Hatte gehofft, sich so seinem Einfluss zu entziehen.

 

Jetzt saß Svante in Untersuchungshaft und wartete auf die Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht. Beim Gedanken an den Mann hinter Gittern straffte Lilly ihren Rücken. Nie wieder würde sie sich ohne Gegenwehr zurückziehen. Das hatte sie sich geschworen.

Noch einmal betrachtete sie sich selbst im Spiegel. Der Ausdruck in ihren Augen war entschlossen. Rasch spritzte sie sich etwas kaltes Wasser ins Gesicht, dann kehrte sie zu der Lagebesprechung zurück, die sie so abrupt verlassen hatte.

Die Tragödie im Vårfruvägen war das einzige Thema, über das an diesem Tag in dem kleinen Küstenort Nynäshamn gesprochen wurde, und das galt auch für ihr heutiges Meeting. In der vergangenen Nacht war das zweistöckige Wohnhaus der Familie Västlund bei einer gewaltigen Explosion vollständig zerstört worden. Es stand zu vermuten, dass alle drei Familienmitglieder – Monika Västlund, 46, Patrik Västlund, 49, und die gemeinsame Tochter Maja, sechs Jahre – dabei ums Leben gekommen waren. Die Explosion hatte sich im Haus ereignet und das obere Stockwerk vollkommen weggerissen. In der Folge war ein Brand ausgebrochen. Nur unter großer Mühe war es der Feuerwehr gelungen, die Flammen einzudämmen und ein Übergreifen auf die umliegenden Häuser zu verhindern. Die sterblichen Überreste der Opfer in den qualmenden Mauerresten zu finden, würde eine Herausforderung werden.

»Es deutet einiges auf ein Unglück hin«, sagte Lillys Chef, Bertil Strömberg, mit seinem rollenden südschwedischen Dialekt. »Um 02:10 Uhr ist der erste Notruf eingegangen, seitdem läuft der Polizeieinsatz.« Und ließ seiner Fassungslosigkeit über so viel Leichtsinn freien Lauf, als er hinzufügte: »Die Feuerwehrleute gehen von einer stattliche Sammlung Propangasflaschen aus – nach dem, was sie auf den ersten Blick gesehen haben. Und so schnell, wie sich das Feuer ausgebreitet hat, waren auch noch Benzinkanister im Haus. Es regt mich so auf, dass die Leute einfach nicht in der Lage sind, explosive Stoffe vernünftig zu lagern.«

Er seufzte.

»Es sieht so aus, als wäre die ganze Familie zu Hause gewesen, als es passiert ist. Das Auto ist da, es gibt Nachbarn, die sich abends im Garten noch mit dem Vater unterhalten haben, die Tochter hat gestern mit einer Freundin von gegenüber gespielt. Zuerst gab es noch eine vage Hoffnung, dass sie vielleicht dort übernachtet haben könnte, aber nein.«

Er bemerkte, dass Lilly wieder da war, und nickte ihr zu.

»Unsere Aufgabe wird es heute sein, weiterhin Präsenz zu zeigen, den Einsatz durch Sicherheitsvorkehrungen zu unterstützen und Schaulustige auf Abstand zu halten, mehr nicht. Die Ermittlungen in diesem Fall werden wohl die Kollegen von der Kripo in Flemingsberg übernehmen.«

Er warf einen Blick auf den Ausdruck, den er in der Hand hielt. Bertil Strömberg war bekannt für sein Misstrauen gegenüber digitaler Technik, und der Sturm im letzten Winter – der in einigen Orten massive Schäden im Stromnetz angerichtet hatte – war Wasser auf seine Mühlen gewesen. Er druckte alle wichtigen Unterlagen aus und heftete sie ab, notierte Stichpunkte von Hand auf dem Whiteboard.

»Du wolltest wissen, ob Drohungen gegen die Familie Västlund bekannt waren, Lilly, und das haben sich sicher viele von euch gefragt. Ich habe das vor der Besprechung überprüft, aber es ist nichts aktenkundig. Vorstrafen gibt es auch nicht. Monika Västlund war Buchhalterin, Patrik Västlund arbeitete bei einem Futtermittelhändler in Ösmo. Keiner von beiden sollte als Zeuge in bevorstehenden Gerichtsprozessen aussagen, keine Untermieter mit Verbindung zu kriminellen Clans, und auch keine Verwandten mit Kontakten ins Banden- oder Rockermilieu. Die Familie hatte ihr Wohnmobil draußen vor dem Haus geparkt, vermutlich waren die Gasflaschen dafür gedacht. Die kleine Maja war erst sechs Jahre alt, und ich finde die Vorstellung einfach nur furchtbar, dass ihr Leben so enden musste. Die nächsten Angehörigen sind bereits informiert.«

Er rieb sich die buschigen Augenbrauen, als könnte er so die Gedanken wegwischen.

»Die Leute hier im Ort werden euch sicher viele besorgte Fragen stellen, und es gibt nichts, was unter Verschluss gehalten werden muss. Betont, wie schrecklich das Ganze ist, dass wir davon ausgehen müssen, dass die gesamte Familie umgekommen ist, dass viel auf einen Unfall hindeutet und wir erst mehr sagen können, wenn die Kriminaltechniker fertig sind und sich ein genaueres Bild vom Geschehen machen konnten.«

Ernste Gesichter im Raum, feuchte Augen, vereinzeltes Nicken. Viele Kolleginnen und Kollegen auf dem Polizeirevier waren in oder rund um Nynäshamn aufgewachsen, und ein paar von ihnen hatten die Familie Västlund gekannt. Hatten zusammen Fußball gespielt, waren auf demselben Gymnasium gewesen, holten ihre Kinder von derselben Vorschule ab.

Die Kollegin neben Lilly drehte sich zu ihr um. Ida von Eken sagte, so leise, dass sie Bertils Vortrag nicht störte: »Puh, das ist das Schlimmste an unserem Job. Wenn Kinder sterben.«

Lilly nickte zustimmend. Ida, mit dem kurzen, schwarzen Pixieschnitt, der perfekt zu ihrer großen, schlanken Figur und ihrem elfenhaften Gesicht passte, war noch neu im Team und an diesem Tag ungewöhnlich still, deutlich mitgenommen von den Ereignissen. Sonst war sie im Revier eher als Energiebündel bekannt. Mindestens einmal pro Woche machte sie Witze über ihre ADHS-Diagnose und ihre Unfähigkeit stillzusitzen, aber Lilly fand, dass Idas Offenherzigkeit und ihre impulsive Art ein großer Gewinn für die Arbeitsatmosphäre waren, eine Portion Lebensfreude. Ida war als Ersatz für eine Kollegin gekommen, die sie unter tragischen Umständen verlassen hatte. Eine Wunde im Gedächtnis der gesamten Truppe, die vermutlich nie ganz heilen würde.

Ida von Eken war Lillys neue Partnerin im Streifendienst. Aufgewachsen auf Lidingö, auf der »richtigen Seite«, wie sie scherzhaft sagte. Sie hatte eine tiefe und etwas heisere Stimme, die nicht so ganz zu ihrer schmalen Statur passen wollte. Man erwartete eine bedeutend burschikosere Frau, eine mit großem Whiskykonsum, dachte Lilly im Stillen. Ida war der komische Vogel in ihrer adligen Sippschaft, und auf die Frage, warum sie diesen Beruf gewählt hatte, lautete ihre Antwort kurz und knapp: »Protest!«

Sie zückte blitzschnell eine Kotztüte, wenn Lilly unvermittelt verstummte oder plötzlich abwesend wirkte. Manchmal fand Lilly das unheimlich lustig. Manchmal riss sie ihr hektisch die Tüte aus der Hand.

Wenn sie nicht gemeinsam Streife fuhren, arbeiteten sie in unterschiedlichen Bereichen, da Ida keine Ermittlerin war. Während dieser Dienste versuchte Lilly, wenigstens die Pausen mit ihrer energischen Freundin zu verbringen.

Jetzt hob Bertil die Stimme, wippte auf den Absätzen. Er klang müde. »Ach verdammt, das hätte ich fast vergessen. Heute ist ja der 2. Juni, wie ihr wisst, findet heute Nachmittag die Bauern-Demonstration statt. Die verlangt natürlich auch noch unsere Aufmerksamkeit.«

Er zeigte ihnen die Route auf der Karte.

»Es ist die zweite Demo innerhalb kurzer Zeit und das bedeutet erneut massive Verkehrsbehinderungen. Wir müssen also zusehen, dass wir auf Zack sind, und dafür sorgen, dass das Ganze so reibungslos wie möglich über die Bühne geht. Es wird gemunkelt, dass die Bauern diesmal stärker provozieren und für Schlagzeilen sorgen wollen.«

Die anhaltende Trockenheit legte Süd- und Mittelschweden lahm, und dieser Sommer war bislang ein einziger Albtraum für die Bauern. Tag für Tag herrschte drückende Hitze nach einem ebenfalls viel zu trockenen Frühjahr ohne einen einzigen Tropfen Regen. Wie gewöhnlich lag der Fokus auf der steigenden Waldbrandgefahr. Der Brandschutz war mit großen Schritten aufgerüstet worden. Wie nie zuvor wurden die Wälder mit Hubschraubern und Drohnen nach Rauchsäulen abgesucht, und der MSB, die Behörde für Zivil- und Katastrophenschutz, hatte mehrere Wasserlöschflugzeuge angeschafft. Gleichzeitig herrschte nach wie vor vielerorts ein Mangel an Feuerwehrleuten, es fehlten vor allem Teilzeitkräfte für den Bereitschaftsdienst. Jesper sagte gern ironisch: »Die technischen Bemühungen sind echt spitze, aber die zuständigen Bürohengste hätten gern auch in Menschen investieren dürfen. Wir haben die Lage jetzt absolut unter Kontrolle – genau so lange, bis es an achtzig Orten gleichzeitig brennt.«

Es herrschte eine angespannte Ruhe. Eine mit welken Beeten, schrumpfenden Binnenseen, Bewässerungsverbot. Und wütenden Bauern, die das Gefühl hatten, nicht genügend finanziellen Ausgleich für das »Dürre-Desaster« zu bekommen, wie sie es nannten. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Wochen sollte nun eine Traktor-Kolonne in Nynäshamn starten und von dort aus – in gemächlichem Tempo, um größtmögliche Aufmerksamkeit zu erregen und den Verkehr so massiv wie möglich zu behindern – die rund sechzig Kilometer nach Stockholm fahren. Ein Zeichen, das niemand übersehen konnte. Beim letzten Mal waren einige gestresste Autofahrer wegen der Staus schier ausgerastet und fast wären Fäuste geflogen. Die Polizei hatte eingreifen müssen, um Schlimmeres zu verhindern. Lilly hoffte, dass es ihnen auch diesmal gelang, dafür zu sorgen, dass die Situation nicht in eine Schlägerei ausartete.

Ein energisches Klopfen unterbrach die Besprechung, und Bertil hob den Blick, nickte und signalisierte der Gruppe mit einer kurzen Geste, dass er gleich zurückkommen würde. Eilig verließ er den Raum. Gedämpfte Stimmen auf dem Flur, Bertils dunkle und eine andere, hellere. Er kam wieder, verzog das Gesicht.

»Also, Folgendes: Das Haus der Familie Västlund stellt die Techniker vor einige Herausforderungen, die Nachlöscharbeiten dauern immer noch an. Um die sterblichen Überreste der Opfer zu finden, werden Spezialhunde benötigt – Spürhunde, die für die Personensuche an Brandstätten ausgebildet sind, so viel ist jetzt schon klar. Es war eine gewaltige Explosion. Die Befragung der Nachbarschaft hat die Annahme bestärkt, dass die ganze Familie da war, als es passiert ist. Mehrere Zeugen haben sie gestern Abend ins Haus gehen sehen.«

Er nickte in Lillys und Idas Richtung. »Offenbar haben sich mittlerweile ziemlich viele Gaffer an der Absperrung versammelt. Jemand muss zum Haus der Västlunds fahren, und ich möchte, dass ihr beide das übernehmt .«

Lilly folgte seiner Anordnung und stand mit einem dicken Kloß im Magen auf. Aber diesmal hatte das flaue Gefühl nichts mit der Schwangerschaftsübelkeit zu tun.

3

Lilly nahm ihren Platz am Absperrband ein. Das Gras auf dem Grundstück der Västlunds war durch die Trockenheit gelb geworden, aber in unmittelbarer Nähe zum Haus war der Rasen schwarz verbrannt. Der Anblick war grauenhaft. Es sah aus, als wäre das Innenleben des Wohnhauses senkrecht in die Luft geschleudert worden. Das Dach war nach vorn gekippt, wie ein Hut, der seinem Träger in die Stirn rutscht. Aus den Trümmern stieg immer noch dicker Qualm auf, Funken und Rußflocken segelten durch die Luft.

Die Hilfskräfte arbeiteten ohne Pause, und es würde noch einige Zeit dauern, bis die Forensik mit der Analyse beginnen konnte. Die Feuerwehrleute bewegten sich vorsichtig durch die schwelenden Mauerreste, ausgerüstet mit Schläuchen. Ihre Schutzanzüge bildeten einen scharfen Farbkontrast zu den verrußten Balken, dem schwarzen Metall und den verkohlten Möbeln. Lilly musste nicht nach Jesper Ausschau halten, sie wusste, dass er mit einem anderen Einsatz beschäftigt war. Sie meinte, einen Brandursachenermittler in dem rauchenden Chaos zu sehen. Man bemühte sich sicherzustellen, dass sich kein weiteres explosives Material mehr zwischen den Trümmern befand, und bis jetzt war auch nichts gefunden worden.

Eine verirrte Hummel flog suchend durch den verbrannten Garten, prallte gegen Lillys Arm und brummte weiter. Die leichte Sommeruniform, die Lilly mittlerweile zwei Nummern größer trug als sonst, war immer noch nicht luftig genug. Es war drückend heiß. Sie war nur froh, dass sie das Schwindelgefühl einigermaßen im Griff hatte.

Rund um das Grundstück standen neugierige Gaffer, direkt an der Absperrung. Manche waren ein bisschen diskreter und taten so, als gäbe es einen Grund, warum sie ausgerechnet genau hier vorbeigehen mussten, andere stellten sich so nah wie möglich ans Flatterband und glotzten unverhohlen. Einige weinten und hielten sich dabei gegenseitig in den Armen, andere legten Blumen und Stofftiere ab. Aber niemand zündete Kerzen an. Als würde schon eine kleine Flamme zu sehr an das Unglück erinnern. Etwas Vergleichbares war in Nynäshamn seit Jahrzehnten nicht passiert, das merkte man deutlich. Hausbrände, ja, auch solche mit Todesopfern. Aber keine Explosion, die auf einen Schlag eine ganze Familie ausgelöscht hatte.

Eine ältere Frau kam auf Lilly zu. Ihre Augen glänzten feucht.

»Meine Enkelin hat immer mit Maja gespielt. Ist denn wirklich sicher, dass Maja auch zu Hause war, als es passiert ist?«

Lilly seufzte. »Wir müssen davon ausgehen, dass die ganze Familie zu Hause war. Es tut mir leid. Ich wünschte, ich hätte bessere Nachrichten.«

Ihr Blick fiel auf etwas Blaues, das vor ihr im Gras lag, und sie bückte sich, um es aufzuheben. Es war ein kleiner Plastik-Schlumpf, halb unter trockenen Halmen und Erde vergraben. Sie grub ihn mit den Fingern aus, legte ihn auf ihre Handfläche und strich die krümelige Erde weg. Die kleine Figur lachte sie an. Plötzlich schnürte es Lilly den Hals zu. Dieser Schlumpf war eine Erinnerung daran, dass hier vor wenigen Stunden noch ein Kind gespielt hatte. Eine Erinnerung an unbeschwerte Momente, in denen Spielsachen einfach im Garten liegenbleiben konnten, weil es alle Zeit der Welt gab, zurückzugehen und sie zu holen. Und auf einmal war die Zeit des kleinen Mädchens abgelaufen.

Vielleicht ging ihr alles, was mit Kindern zu tun hatte, im Augenblick besonders nah, dachte Lilly. Weil das Kleine in ihrem Bauch heranwuchs, das sie meistens nur »das Fischchen« nannte. Laut ihrer Hebamme war das Baby inzwischen gut siebenundzwanzig Zentimeter groß, so groß wie eine Kokosnuss. Und es hatte nicht die geringste Ahnung, wie gefährlich die Welt hier draußen sein konnte.

Lilly war fast dankbar, als ein etwa dreißigjähriger blonder Mann plötzlich einige Schritte hinter der Absperrung auftauchte und sie auf andere Gedanken brachte. Er hatte eine große Kamera dabei, die er auf das Haus richtete.

Lilly lief auf ihn zu, hob die Stimme. »Zurück. Sofort. Sie haben hier keinen Zutritt.«

Er machte den Fehler und versuchte zu argumentieren, sein Tonfall war überheblich.

»Ich komme von den Extra Nachrichten 24 und ich …«

Lilly sah ihn durchdringend an.

»Ich diskutiere nicht. Zurück, habe ich gesagt.«

Ida tauchte neben ihr auf, eine Hand schon am Holster, in dem die Elektroschockpistole steckte. Der selbstsichere Gesichtsausdruck des Mannes verschwand. Hastig folgte er ihrer Anweisung. Lilly seufzte genervt. Diese Pseudoreporter, die für irgendwelche populistischen Nachrichtenseiten im Internet arbeiteten, schafften es jedes Mal wieder, sich an Unfallstellen und Tatorten danebenzubenehmen. Sie dachten wirklich, ihnen gehörte die Welt, sobald sie einen Presseausweis in den Händen hielten.

Inzwischen waren mehrere Polizeikollegen an der Absperrung aufgetaucht.

Der nächste Funkruf erreichte Lilly und Ida gleichzeitig und sie bestätigten ihn umgehend. Sie vergewisserten sich, dass die Kollegen die Situation vor Ort im Griff hatten, dann verließen sie eilig das Grundstück im Vårfruvägen. Die Bauerndemonstration war vollkommen aus dem Ruder gelaufen, sie wurden dringend gebraucht.

 

Der Nynäsvägen war direkt vor der Haltestelle Norvik komplett dicht. Lilly und Ida mussten den Wagen am Straßenrand abstellen und die letzten fünfhundert Meter zu Fuß zurücklegen. Ein Geräuschteppich aus lautstarkem Hupen und aufgeregten Rufen hing über dem Asphalt, auf dem sich ein staubiges Fahrzeug an das andere reihte. Die Traktor-Karawane schien sich einhellig dafür entschieden zu haben, den Verkehr vollständig lahmzulegen, und der vorderste Fahrer hatte einfach den Motor ausgemacht. Hinter der Kolonne aus grünen, roten und schmutzig-grauen Landmaschinen – Lilly zählte sechzehn Stück – stauten sich Autos und Laster. Einige hatten die Türen geöffnet, die Fahrer standen wütend brüllend auf der Straße. Die Polizeikollegen, die schon früher eingetroffen waren, versuchten gerade, einen der Autofahrer davon abzuhalten, sich mit Gewalt einzumischen. Lilly rannte los, spürte, wie ihr der Schweiß den Rücken hinunterlief, der Körper mit dem ungewohnten Ballast holperte über den Asphalt. Die heftige Bewegung löste ein Ziehen in ihrem Bauch aus. Noch ein Schwangerschaftsleiden, das ihr das Leben schwer machte. Laufen gehörte sonst zu ihren absoluten Stärken. Es gab viele Kolleginnen, die über mehr Muskelkraft verfügten als sie, aber sie war immer eine der schnellsten gewesen. Sie biss die Zähne zusammen und hielt mit Ida Schritt. Zwei ihrer Kollegen standen vorn bei dem Traktor, der die Demonstration anführte.

Lilly wischte sich den Schweiß von der Stirn, stützte sich mit den Händen auf den Oberschenkeln ab und nahm sich ein paar Sekunden Zeit, um durchzuatmen. Dann richtete sie sich wieder auf und lief weiter, im Zick-Zack an den Fahrzeugen vorbei, und erreichte das grüne Monstrum, das für die Aufregung verantwortlich war. Der Hinterreifen des Traktors war ungefähr so hoch wie sie.

Die Kollegen kamen ihr entgegen.

»Versuch du mal, mit diesem Dickschädel Ola Sörensson zu reden. Ich gebe euch zwei Minuten, dann kommen wir mit den harten Bandagen zurück. Das hier wird ihm eine Anzeige einbringen, und das weiß er«, sagte einer der beiden mit grimmiger Miene, bevor er irgendwelche Informationen über Funk weiterleitete.

Neben ihr kümmerte sich Ida um den Fahrer des zweiten Traktors in der Reihe. Es war ihr gelungen, ein Gespräch in Gang zu bringen, sie lächelte ihn an, als er die Tür des Führerhauses ein Stückchen öffnete.

»Lassen Sie uns hier drüben im Schatten weiterreden.« Sie nickte in Richtung eines Mannschaftswagens der Polizei. »Sie sehen aus, als könnten Sie einen Schluck Wasser gebrauchen. Es ist inzwischen ganz schön heiß.«

Irgendetwas an ihrem freundlichen Ton drang zu ihm durch. Der Mann wirkte auf einmal, als wäre ihm nach Heulen zumute. Er nickte, kletterte aus dem Traktor und folgte Ida zu dem Polizeibus. Er war groß und schlaksig, und hatte auffallende O-Beine. Der Rücken seines Hemds war nassgeschwitzt. Lilly sah ihn neben dem Mannschaftswagen in die Hocke sinken, den Kopf in den Händen vergraben. Ida versorgte ihn mit einer Flasche Wasser.

Lilly drehte sich wieder zu dem großen grünen Traktor um, winkte zum Führerhaus hoch. Keine Reaktion. Der Fahrer, der offenbar Ola Sörensson hieß, schien kein Interesse daran zu haben, die Tür zu öffnen, um sich mit ihr zu unterhalten. Die dunkle Gestalt saß abweisend, unbeweglich dort oben. Lilly beschloss, es trotzdem zu versuchen.

Sie hielt sich am Haltegriff fest, zog sich hoch. Klopfte an die staubige Scheibe, rieb das Glas an einer Stelle etwas sauber, um Blickkontakt zu dem Mann dahinter aufnehmen zu können. Der Fahrer war ein echter Riese, das gläserne Führerhaus wirkte viel zu klein für seine breiten Schultern. Sein kantiges Gesicht war völlig verschwitzt und sein T-Shirt hatte dunkle Flecken unter den Achseln. Er musterte sie verächtlich aus kleinen stechenden Augen, die tief in den Höhlen lagen. Aber dann, auf einmal, glomm ein Funke in seinem Blick auf, ein Funke des Erkennens. Er öffnete die Tür ein Stück. Beißender Schweißgeruch schlug ihr entgegen und es gelang ihr nur mit Mühe, den Würgereflex in Schach zu halten. Sie hasste es so sehr, dass sie zurzeit so geruchsempfindlich war. Irgendwie schaffte sie es, ihre Gesichtszüge unter Kontrolle zu halten. Sie waren jetzt nur noch wenige Handbreit voneinander entfernt.

»Sie haben die Brandstifterin in Nynäshamn geschnappt«, sagte er.

Es war eine Feststellung, keine Frage. Seine Stimme war tief, heiser, er sprach ein bisschen undeutlich, als hätte er etwas im Mund. Sie sah ihn überrascht an. Im letzten Sommer hatte eine Serie von Brandstiftungen ganz Nynäshamn zu schaffen gemacht, und die Auflösung des Falls hatte Lilly eine Menge unerwünschter Aufmerksamkeit beschert.

Aber wenn die Sache ihr jetzt vielleicht einen Zugang zu diesem Mann eröffnete, dann würde sie sich diese Möglichkeit nicht entgehen lassen.

»Das ist richtig«, sagte sie freundlich.

»Hatten Sie Glück oder sind Sie gut?«, fragte er.

»Ich hatte vor allem Glück«, antwortete sie lächelnd, aber ihr Lächeln wurde nicht erwidert.

»Vielleicht hören die ihr ja zu«, murmelte er, mehr zu sich selbst. Und dann fügte er harsch hinzu: »Sie kapieren aber schon, warum wir hier stehen, oder?«

Seine Augen funkelten böse.

»Sie können es mir gern erklären«, sagte sie so ruhig wie möglich.

»Haben Sie eine Ahnung, wie es ist, gottsjämmerlich zu verdursten? Genauso fühlt es sich für uns nämlich an. Alles, was wir uns aufgebaut haben, verreckt am Wassermangel. Nach der Dürre im Frühjahr sind unsere Reserven aufgebraucht. Lauter Missernten, das Viehfutter ist mittlerweile unbezahlbar, die Höfe, die wir geerbt und für die wir jahrzehntelang gekämpft haben, gehen vor die Hunde. Wir bekommen keine finanzielle Hilfe. Haben Sie eine Ahnung, wie es sich anfühlt, wenn man seine Tiere notschlachten muss? Wir bleiben hier stehen, bis man uns zuhört. Bis die Politik etwas unternimmt.«

Ola Sörensson zeigte mit der Hand auf die mächtige Karawane in seinem Rücken.

Sie nickte, um ihm zu zeigen, dass sie seine Botschaft verstanden hatte.

»Ich hoffe, dass die Politiker Ihnen Antwort geben, aber jetzt müssen Sie mir zuhören. Sie können hier nicht stehen bleiben. So eine Straßenblockade kann lebensgefährliche Folgen haben. Es könnte jederzeit ein Rettungswagen kommen – Kranke, die Hilfe brauchen, Schwangere, bei denen die Wehen eingesetzt haben.«

Vielleicht hatte er bemerkt, dass sie schwanger war. Er verzog keine Miene.

»Meine Kollegen und ich werden die Straße jetzt räumen, aber es wäre besser, wenn Sie die Demo freiwillig auflösen«, sagte sie, diesmal ohne die Andeutung eines Lächelns.

Er schien überhaupt nicht zu beachten, was sie sagte, und spuckte ihr seine Worte förmlich entgegen.

»Ohne uns Bauern geht es nicht. Aber wir können nicht mehr. Verstehen Sie das?«

»Ja, das verstehe ich«, sagte sie und sah ihm direkt in die Augen. »Und ich verstehe auch, wie schwer die Lage für Sie und ihre Kollegen ist. Aber ich frage mich, ob Sie sich wirklich noch mehr Sorgen und Ärger mit der Justiz aufhalsen wollen. Noch haben Sie die Wahl, aus dem Traktor gezerrt zu werden oder von sich aus das Feld zu räumen. Wenn Sie freiwillig gehen, kommen Sie vermutlich glimpflich davon, aber je mehr Sie und Ihre Kumpels das hier in die Länge ziehen, umso wahrscheinlicher droht Ihnen allen eine Anklage wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt. Und eine saftige Geldstrafe – braucht man das wirklich, wenn man wie Sie und die anderen Bauern sowieso schon mitten in einer finanziellen Krise steckt?«

Für einen Moment blieb es still, er starrte in ihre dunkelblauen Augen. Ein Schweißtropfen rann langsam von seiner Schläfe über die Wange hinunter. Fast wie eine Träne. Er wandte den Blick zuerst ab.

»Wie lautet Ihre Entscheidung?«, fragte sie.

»Irgendwann wird man uns zuhören. Merken Sie sich das gut!«

Sie nickte, kletterte vom Traktor und trat einen Schritt zurück. Mit einem lauten Knall zog er die Tür zu. Er ließ den Motor an, das mächtige Gefährt begann zu vibrieren und dann fuhr er geradeaus los, mit der höchsten Geschwindigkeit, die seine Maschine aufzubieten hatte. Es wirkte wie ein Signal. Schlagartig erwachte die Traktorkolonne dröhnend zum Leben und der gesamte Verkehr setzte sich wieder in Bewegung. Lilly machte schleunigst Platz, und Ida und ein weiterer Kollege gesellten sich zu ihr an den Straßenrand.

Lilly sah der Karawane nach, die ein Stück entfernt in eine Seitenstraße bog, um die nachfolgende Autoschlange auf dem Weg nach Stockholm vorbeizulassen. Mehrere Polizeiwagen folgten den Demonstranten.

»Was hast du ihm gesagt?«, fragte der Kollege, den sie nur flüchtig kannte.

»Ich habe ihn gefragt, ob er und die anderen Bauern nicht auch so schon genug Probleme haben«, sagte Lilly und versuchte, dabei möglichst unbekümmert zu klingen.

Ida grinste von einem Ohr zum anderen. »Taktik und die Macht der Schwangerschaftshormone.«

Lilly lachte. Aber die Begegnung, die Verzweiflung, die dieser Mann ausstrahlte, hatte ein mulmiges Gefühl hinterlassen. Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie ihm vermutlich nicht zum letzten Mal begegnet war.

4

Berichte, die noch zu schreiben waren, Kollegen, mit denen man sich abstimmen musste. Lilly hob den Blick vom Rechner und sah auf die Uhr an der Wand. Sie seufzte erleichtert: Die letzten Minuten des Arbeitstags waren fast geschafft. Sie biss in das trockene Brötchen, das neben ihr auf dem Tisch lag – ein weiterer Versuch im Kampf gegen die Übelkeit. Weißbrot schien ihren Magen zu beruhigen, warum auch immer. Das Sodbrennen war an diesem Tag besonders unangenehm gewesen. Sie steckte die Schachtel mit den Kautabletten gegen zu viel Magensäure in ihre Tasche. Hoffte, dass sie heute keine mehr brauchen würde. Es war stickig im Zimmer. Sie hob ihre Uniformbluse an, fächelte sich Luft darunter. Spürte den Schweiß unter den schweren Brüsten.

Dann hörte sie Schritte hinter sich und drehte sich um. Ihr Chef Bertil Strömberg ließ sich auf den Schreibtisch neben ihr sinken, drehte seine Snus-Dose zwischen den Fingern. Er kam direkt zur Sache.

»Erinnerst du dich noch, dass ich vorhin gesagt habe, die Kripo Flemingsberg wäre für die Ermittlung im Fall Västlund zuständig? Das war ein Irrtum. Die haben gerade wahnsinnig viel mit diesen Schießereien zu tun. Die Sache bleibt also an uns hängen. Aber so etwas zu bearbeiten erfordert eine gewisse Erfahrung, bleiben also nur du oder Nadim. Und Nadim hat gerade alle Hände voll zu tun, vor allem mit der Ermittlung gegen diese Betrügerbande. Hast du Zeit, Västlund zu übernehmen?«

Er machte eine Pause. Der schwache Schweißgeruch, den sein Hemd ausdünstete, streifte ihre Nase. Seine buschigen Augenbrauen waren hochgezogen, die Falte dazwischen tief.

»Ich weiß natürlich, dass es für dich im Moment ganz schön hart ist. Das ist wirklich keine einfache Schwangerschaft. Insofern stellt sich auch die Frage: Schaffst du es überhaupt?«

Bei diesen Worten presste Lilly genervt die Kiefer aufeinander und traf im selben Augenblick ihre Entscheidung. »Ich schaffe es und ich übernehme den Fall.«

Bertil lächelte, ließ die Snus-Dose noch eine Runde zwischen den Fingern kreisen. »Gut. Mir ist absolut bewusst, dass du eine vielversprechende Karriere aufgegeben hast, als du zu uns gekommen bist. Mittlerweile kenne ich ja auch den Hintergrund und weiß, dass du eigentlich nur vor diesem Dreckskerl von Svante geflüchtet bist.«

Sie schluckte, nickte.

»Ich bin trotzdem dankbar, dass es so gekommen ist«, fuhr er fort. »Mit deiner Erfahrung hättest du auch eine hohe Führungsposition übernehmen können, und diese Möglichkeit hast du natürlich weiterhin. Aber hier in Nynäshamn kannst du wirklich viel bewirken, Lilly. Du bist eine hervorragende Ermittlerin. Und so wie die Lage im Land zurzeit aussieht, werden kleine Polizeidienststellen wie unsere zunehmend mehr Aufgaben selbst stemmen müssen.«

Seine Worte taten ihr gut, aber sie setzten sie auch unter Druck. Die Voruntersuchungen in einem Fall wie diesem zu leiten, war keine Kleinigkeit, und als Bertil Strömberg gegangen war, schloss Lilly für einen Moment die Augen und fragte sich, worauf sie sich da eigentlich eingelassen hatte. Sah ein, dass an Feierabend jetzt nicht mehr zu denken war. Dann machte sie sich an die Arbeit.

Es gab einiges, was sofort zu erledigen war. Die zuständige Staatsanwaltschaft kontaktieren, die grünes Licht für die benötigten Maßnahmen geben musste. Sich ein Bild von der Situation machen und einen Ermittlungsplan erstellen. Die Kollegen hatten einige Vorarbeit geleistet und die Nachbarschaft abgeklappert, aber bislang hatten die Befragungen nicht viel mehr ergeben, als dass die ganze Familie zu Hause gewesen war. Niemand hatte Fremde auf dem Grundstück der Västlunds beobachtet, und es waren auch keine unbekannten Fahrzeuge aufgefallen. Die Überwachungskameras in der Umgebung hatten nichts Auffälliges aufgezeichnet. Es handelte sich um ein ruhiges Wohngebiet, in der Nachbarschaft lebten größtenteils Familien mit kleinen Kindern und ältere Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen früh ins Bett gegangen waren. Die gewaltige Explosion hatte sie aus dem Schlaf gerissen, mehrere von ihnen waren aufgesprungen und hatten sofort die 112 angerufen. Einige hatten ausgesagt, der Lärm aus dem brennenden Haus wäre ohrenbetäubend gewesen. Falls zu diesem Zeitpunkt jemand weggefahren wäre, hätte man das unmöglich gehört.

Lediglich eine junge Mutter hatte etwas beobachtet, das womöglich interessant sein konnte. Am Tag vor der Explosion war eine kleine schwarze Drohne in der Gegend herumgeflogen, tagsüber und auch noch gegen Abend. Wegen der Hitze hatte sie mehrere Fenster geöffnet und das Brummen hatte sie genervt. Sie war davon ausgegangen, dass ein paar Kinder aus der Nachbarschaft das Gerät fliegen ließen. Lilly behielt die Aussage im Hinterkopf. In Kürze würden ihnen mehr Informationen vorliegen, dachte sie. Darum kümmerten sich die Kriminaltechniker.

Eigentlich war ihr Arbeitstag längst zu Ende, aber sie saß immer noch im Büro. Las sich ins Thema ein. Studierte Bilder der Familie, die umgekommen war. Dank der sozialen Medien gab es eine große Auswahl. Sie waren eine attraktive Familie gewesen. Der rotblonde Patrik, breitschultrig und einen Kopf größer als seine dunkelhaarige Frau. Er wirkte auf den meisten Bildern fröhlich, strahlte mit breitem Lächeln in die Kamera. Monika schien den Fotos nach ernster gewesen zu sein, ihr Blick war zurückhaltend, die vollen Lippen aufeinandergepresst. Maja, die vom Aussehen her nach ihrer Mutter kam, war offenbar ein lebhaftes Kind gewesen. Auf vielen Bildern hüpfte das Mädchen herum und schnitt Grimassen. Als Bertil eine Stunde später wiederkam, lehnte Lilly sich seufzend auf ihrem Stuhl zurück.

»Die Toten zu identifizieren wird dauern«, sagte sie. »Ein Suchhund hat menschliche Überreste in den Trümmern angezeigt. Es wurden Proben entnommen und in die Rechtsmedizin geschickt. Zur Ursache der Explosion haben wir bislang nicht viel. Eine größere Menge leichtentzündlicher Materialien, vermutlich Gasflaschen, die wohl unter der Treppe ins Obergeschoss standen, sagen die Brandursachenermittler. Aber hier, das ist interessant …«

Sie klickte sich durch einen der Berichte und überflog die richtige Seite, bis sie die Stelle fand, die sie gesucht hatte. Dann las sie laut vor: »Die Haustür war zum Zeitpunkt der Explosion weit geöffnet und nicht abgeschlossen. Nach Einschätzung der Brandursachenermittler belegen dies unter anderem die Schäden an den Verandapfosten.«

Bertil rieb sich mit seiner großen Pranke den Hinterkopf. »Das ist merkwürdig. Gibt es schon irgendeine Theorie, warum die Tür offen stand?«

Lilly verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich könnte mir mehrere Möglichkeiten vorstellen. Einer von beiden ist rausgegangen, um zu rauchen und …«

Sie wollte ihren Satz eigentlich noch zu Ende bringen, aber Bertil fiel ihr ins Wort: »Verdammt nochmal, natürlich! Wahrscheinlich ist dieses furchtbare Unglück durch eine nächtliche Zigarette verursacht worden!«

Lilly zog die Augenbrauen hoch, was offenbar genügte, um Bertil klar zu machen, dass er mit seiner voreiligen Schlussfolgerung ihre gesamte Arbeit ignorierte.

Er hob entschuldigend die Hände. »Na ja, was soll’s. Du weißt, was ich meine. Es ist eine schreckliche Geschichte.«

Jessica steckte den Kopf ins Zimmer. »Hört mal, bei mir vorn an der Pforte ist eine Frau, die jemanden sprechen will, der für den Västlund-Fall zuständig ist.«

Bertil seufzte. »Aha, weil sie uns einen Hinweis geben will, oder was?«

»Es ist Denise Arvidsson. Ich habe mir den Ausweis zeigen lassen.« Als weder Bertil noch Lilly reagierten, fügte Jessica hinzu: »Monika Västlunds Schwester. Sie hat gerade erst erfahren, was passiert ist.«

»Ach, herrje.« Bertil seufzte wieder.

Lilly und er wechselten einen kurzen Blick. Lilly stand auf.

»Verstanden, bin schon auf dem Weg.«

Die Frau, die auf einem der Besucherstühle im Foyer saß, sah ihrer Schwester enorm ähnlich, aber Lilly schätzte, dass sie ein paar Jahre älter war. Dieselbe Augenfarbe und Gesichtsform, dieselben dunklen Haare, nur dass Denise Arvidsson sie ein ganzes Stück länger trug und die ersten grauen Strähnen deutlich zu sehen waren. Ihre Augen waren rot und verweint, ihre Hände krampfhaft zu Fäusten geballt, als sie aufstand und Lilly entgegenkam.

»Sind sie alle tot?«

»Es tut mir sehr leid, aber es deutet alles darauf hin, dass die ganze Familie zu Hause war.«

Lilly führte die Frau in ein Besprechungszimmer. Denise Arvidsson sank neben ihr auf einen Stuhl, vergrub den Kopf in den Händen. Ihr Körper bebte, als das Weinen sie zu übermannen drohte. Ihr Blick war leer, sie roch ungewaschen, eine Mischung aus Parfum und Schweiß. Lilly musste sich diskret abwenden und durch den Mund atmen. Dann fing die Frau an zu sprechen, ihre Stimme zitterte.

»Wir waren auf Sizilien, aber wir mussten wegen dieser furchtbaren Waldbrände das Hotel wechseln. So ist es im Augenblick ja überall in Südeuropa. Deshalb hat man uns nicht gleich erreicht. Wir sind heute Nacht sofort nach Hause geflogen. Ich habe überhaupt nicht geschlafen. Ich kann es nicht fassen, dass meine Schwester nicht mehr da ist. Und Maja. Sie war so oft bei uns – meine Kinder und sie sind fast wie Geschwister.«

Sie rieb sich die Augen.

»Monika hat immer gesagt: Wir müssen uns gar keine Gedanken mehr um Geschwister für Maja machen, für die hast du ja längst gesorgt.«

Bei der Erinnerung lächelte sie kurz, aber dann überwältigte die Trauer sie erneut. Tränen stiegen ihr in die Augen.

»Maja. Dieses tolle kleine Mädchen, der lustigste Quatschkopf, den man sich vorstellen kann. Und dabei auch noch so schlau. An allem interessiert. Nein, man kann das einfach nicht begreifen. Auf der Fahrt hierher habe ich an meine Eltern gedacht, die vor ein paar Jahren gestorben sind. Jetzt gerade bin ich fast froh darüber. Dass sie das hier nicht mehr miterleben müssen.«

Nachlässigkeit, Achtlosigkeit – wahrscheinlich hatte das genügt, um mit einem Streich eine ganze Familie auszulöschen, dachte Lilly. Und trotzdem gab es viele Fragen, die gestellt werden mussten. Es war Routine, und sie wollte zumindest die grundlegenden Dinge so schnell wie möglich abklären, solange die Erinnerungen noch frisch waren.

»Ich weiß, dass die Situation unwahrscheinlich schwer für Sie ist. Aber es gibt ein paar Fragen, die ich Ihnen stellen muss, wie immer bei solchen Ermittlungen.«

Sie nahm ihr Handy und zeigte Denise Arvidsson, dass sie das Gespräch aufnehmen würde, wozu die Frau mit einem abwesenden Nicken ihr Einverständnis gab. Sie weinte, wischte sich dann aber mit schnellen Bewegungen die Tränen aus dem Gesicht.

Lilly bemühte sich, ruhig zu sprechen. »Frau Arvidsson, wie ging es Ihrer Schwester und Ihrem Schwager in letzter Zeit?«

Die Frau legte für ein paar Sekunden den Kopf in die Hände, ehe sie antwortete.

»Monika hat einen ziemlich müden Eindruck gemacht, fand ich. Wahrscheinlich überarbeitet. Zerstreut, würde ich sagen.«

Vielleicht war sie ausgerechnet in dieser Nacht zerstreut und nicht ganz bei der Sache gewesen, dachte Lilly. Hatte einen Fehler gemacht und dadurch die Explosion verursacht.

Denise fuhr fort: »Patrik war eigentlich wie immer. Jede Menge Hobbies und Aktivitäten.«

Es kostete Lilly Überwindung, die nächste Frage zu stellen. »Haben Ihre Schwester oder Ihr Schwager jemals Suizidgedanken geäußert?«

Die Frau riss die Augen auf. Die Überraschung schien die Tränenflut zu stoppen. »Was? Nein, um Himmels willen. Nein.«

»Auch keine Anzeichen, die darauf hindeuten könnten?«

»Nein, nie.«

»Und wie war in letzter Zeit das Verhältnis der beiden zueinander?«

Denise rieb sich das Gesicht, als würde sie versuchen, ihre Erinnerungen zu wecken.

»Es war … Ich würde nicht sagen, dass sie die perfekte Ehe geführt haben. Sie hatten auch ihre Hochs und Tiefs.« Sie machte eine kurze Pause. »Mir kam es immer so vor, als ob Patrik mehr für meine Schwester empfinden würde als sie für ihn. Für ihn war sie die große romantische Liebe, während er für Monika wohl vor allem Sicherheit bedeutet hat, denke ich. Aber das ist ja nichts Schlimmes. Sie waren tolle Eltern und jede Beziehung ist anders. Oder nicht?«

Lilly nickte, dann fuhr sie fort: »Wissen Sie, ob Monika oder Patrik Feinde hatten? Gibt es irgendjemanden, der ihnen schaden wollte?«

Denise sah Lilly erschrocken an. »Was? Nein, also nicht, dass ich wüsste. Monika war früher bei der Sozialbehörde angestellt und da gab es natürlich Vorfälle, die ihr ganz schön zugesetzt haben. Irgendwann stand sie kurz vorm Burnout. Aber das ist schon einige Jahre her. Sie hat dann den Job gewechselt und angefangen, mit Zahlen zu arbeiten, statt mit Menschen. Und, klar, sie hat schon immer ihre Meinung gesagt. Das hat natürlich nicht allen gefallen.«

»Wem denn nicht?«

»Vor einer Weile gab es wohl irgendwie Ärger bei der Arbeit. Weil sie sich für jemanden eingesetzt hat, der schlecht behandelt wurde. Ich erinnere mich nicht mehr, worum es ging, aber so war Monika. Und gerade deshalb wurde sie ja auch von allen so geschätzt.«

Sie kniff die Augen zusammen.

»Aber was meinen Sie mit Feinden? Glauben Sie wirklich, dass jemand den beiden etwas antun wollte? Dass es … geplant war?«

Lilly schüttelte den Kopf. »Nein, das war nur eine Routinefrage.«

Sie gab Denise die Nummer ihres Diensttelefons, für den Fall, dass ihr noch etwas einfiel, das ihnen bei den Ermittlungen weiterhelfen konnte. Als Lilly sie zur Tür begleitete, versuchte Denise nicht mehr länger, die Tränen zurückzuhalten.

***

Lilly parkte, stieg aus und schloss den Wagen ab. Das Sonnenlicht über dem Leuchtturm schimmerte golden. Nachdem alles so vertrocknet und gelb war – das Gras, der Schilfwald dahinter –, sah ihr Zuhause aus, als wäre es mit Goldstaub bepudert. Es war ein schöner Abend. Morgen würde sie sich voller Energie in die Arbeit stürzen, aber für heute konnte sie die Gedanken an die Familie Västlund beiseitelegen. Sie atmete tief durch, ließ die Schultern sinken.

Der dicke, rot gestrichene Leuchtturm nah am Ufer war eine wirklich ungewöhnliche Mietwohnung. Aber als Lilly im letzten Sommer ihr Gepäck dort hineingetragen hatte, hatte sie sofort gespürt, dass sie sich hier wohlfühlen würde. Der Leuchtturm war eine Fehlkonstruktion und nie in Betrieb genommen worden, aber hier hatte sie alles, was sie brauchte. Ein schmales Bett, einen Stehtisch mit Barhockern und eine Kochecke versammelt in einem Raum, außerdem ein winziges Bad und in der Mitte des Raums eine Wendeltreppe, die nach oben zur Plattform mit der großen Laterne führte. In den Regalen drängten sich zerfledderte Taschenbücher neben allem, was sie für die Arbeit brauchte. Solange die Temperaturen nicht über die Dreißig-Grad-Marke kletterten, war es angenehm luftig im Leuchtturm. Sie hatte viele Abende hoch oben auf der Plattform gesessen und auf Nynäshamn hinuntergeschaut, auf das Wasser, das den kleinen Küstenort umgab, und einfach nur geatmet. Sich selbst erlaubt, nach dem chaotischen Start in ihrer neuen Heimat die Ruhe zu spüren.

In letzter Zeit war sie meistens bei Jesper in dessen Wohnung in der Stadtmitte von Nynäshamn gewesen, aber heute Morgen hatte sie angekündigt, dass sie allein schlafen wollte, in ihrem Leuchtturm. Ab und zu schlief sie besser, wenn sie nur ihren eigenen Atem in der Dunkelheit hörte. Besonders jetzt, wo ihr Körper sich schwerfällig anfühlte und sie oft wach wurde, weil sie pinkeln musste.

Plötzlich hatte Lilly das Gefühl, dass es nach Feuer roch. Für einen kurzen Moment schoss ihr Puls in die Höhe. Im letzten Sommer war ihre Wohnung in Brand gesetzt worden, in der Absicht, sie zu töten. Die Erinnerung jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Eine hässliche Narbe an der Unterseite des einen Arms erinnerte sie noch immer an die Flammen, die im Leuchtturm aufgelodert waren, auch wenn sie und das Gebäude zum Glück verhältnismäßig unbeschadet davongekommen waren.

Aber ihre Sorge legte sich schnell, als sie den Duft von gegrilltem Fisch bemerkte.

Lilly ging auf die Rückseite des Leuchtturms und musste lachen. Unten am Wasser hockte Jesper neben einem Kugelgrill und war vollauf damit beschäftigt, Maiskolben neben die Lachsfilets auf den Rost zu legen. Er trug nichts außer einer Shorts, sein muskulöser, drahtiger Körper war braugebrannt. Sie wusste, wie stark er war, innerlich wie äußerlich. Der Gedanke machte sie glücklich.

Sie streckte die Hand nach ihm aus und Jesper stand sofort auf, küsste sie sanft. Dann lächelte er, so dass alle seine Lachfältchen sichtbar wurden und fuhr sich mit der Hand ein bisschen unbeholfen durch die kurzrasierten Haare.

»Ich weiß ja, dass du allein schlafen willst, aber ich dachte, ich versuche wenigstens dafür zu sorgen, dass du eine Kleinigkeit im Magen hast. Du hast in letzter Zeit so wenig gegessen.«

Er hockte sich wieder neben den Grill und gab ihr mit einer Geste zu verstehen, dass sie es sich bequem machen sollte. Er hatte eine Picknickdecke ausgebreitet. Lilly setzte sich, winkelte die Beine an und nahm das alkoholfreie Bier entgegen, das er aus einer Kühltasche hervorzauberte. Sie bemerkte ein Ziehen im Bauch, als sie ihren Rücken aufrichtete. Das kam neuerdings immer öfter vor. Anfangs hatte es ihr Angst gemacht, aber dann hatte sie gegoogelt und herausgefunden, dass diese Schmerzen ganz normal waren und bedeuteten, dass die Gebärmutter sich ausdehnte. Sie verzog das Gesicht und versuchte, eine angenehmere Position zu finden.

»Du würdest auch nichts essen, wenn du ununterbrochen das Gefühl hättest, seekrank zu sein«, sagte sie.

Aber gegrillter Lachs gehörte zu ihren absoluten Lieblingsgerichten, was Jesper natürlich wusste. Und ausnahmsweise war sie auch richtig hungrig. Er holte Teller, Gläser und Besteck aus einem Korb.

Sie lächelte, beugte sich vor.

»Ich meinte eigentlich – danke«, sagte sie, und ihre Lippen berührten sich. Sie hielt ihn fest, sah in seine eisblauen Augen. Küsste ihn noch einmal, ehe er sich wieder ums Essen kümmerte.

Manchmal gab es solche Momente, in denen ihr plötzlich der krasse Unterschied zwischen ihrer jetzigen Beziehung und der, die sie verlassen hatte, bewusst wurde. Nach und nach hatte sie sich damals daran gewöhnt, sich nach Svantes Stimmungen zu richten, irgendwann war es ein ständiger Eiertanz gewesen, ihn nicht zu reizen. Allerdings hatte es am Ende nur noch sehr wenig gebraucht, um ihn wütend zu machen. Die selbstsichere Glut in ihr war mit der Zeit erloschen, war durch etwas anderes ersetzt worden. Sie hatte sich in einen Schatten verwandelt und war nur noch damit beschäftigt gewesen, die Launen ihres Partners abzuwehren. Die drohende Gewalt. Die harten, ätzenden Worte.

Das, was sie jetzt hatte, war etwas völlig anderes. Es war überhaupt nicht zu vergleichen. Jesper konnte sie in Diskussionen herausfordern und sich über sie lustig machen. Zwischen ihnen herrschte durchaus eine gewisse Spannung. Aber dabei schien er sie trotzdem immer mit einer rosaroten Brille zu betrachten, sein Blick war stets voller Liebe. Bei ihm war sie sicher. Ihr alter Kampfgeist war zurückgekehrt, wurde von Tag zu Tag größer und stärker. Sie hatte endlich wieder zu sich selbst zurückgefunden und fühlte sich bereit, Mutter zu werden. Wenn Jesper und sie sich stritten, dann war er nicht darauf aus, sie mit Worten zu verletzen oder sie so grob anzufassen, dass es wehtat. Und genau so musste es sein, das war ihr bewusst. Streit in der Beziehung war kein Krieg. Aber es hatte Zeit gebraucht, sich an das Normale zu gewöhnen.

»Huhu!«

Ein fröhliches Rufen riss sie aus ihren Gedanken. Lilly drehte sich um. Die Besitzerin des Leuchtturms, ihre Vermieterin, kam auf sie zu und winkte zur Begrüßung mit beiden Armen. Hilda Enbom war Anfang siebzig und schon von weitem an ihren leuchtend bunten Kleidern zu erkennen. Heute hatte sie sich für ein weißes Flatterkleid mit großen blauen und roten Punkten entschieden. Die kurzen grauen Haare versteckten sich unter einem gehäkelten Sonnenhut.