Im Feuer - Pernilla Ericson - E-Book
SONDERANGEBOT

Im Feuer E-Book

Pernilla Ericson

0,0
12,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Tückischer Mord in lodernder Hitze: der erste Fall für Lilly Hed Schweden erlebt einen Rekordsommer, die Brandgefahr ist hoch. Die junge Ermittlerin Lilly Hed hat sich aus Stockholm ins idyllische Nynäshamn an der Schärenküste versetzen lassen. Doch sie entkommt weder ihrer belastenden Vergangenheit noch den Feuern, die bald den ganzen Ort bedrohen. Menschen sterben in den Flammen – waren es Unglücksfälle? Lilly gerät in eine fieberhafte Ermittlung, während Feuerwehrchef Jesper mit seinen Leuten gegen die unerbittlichen Brände kämpft. Aber was machst du, wenn alle Spuren buchstäblich in Rauch aufgehen?  »Dramatisch, überzeugend geschildert und mit einer gewaltigen Überraschung am Schluss.« Norra Skåne »Großartig, wenn aktuelle Themen so spannend im Krimi verarbeitet werden wie hier. Von der sympathischen Hauptfigur Lilly Hed möchte man unbedingt mehr lesen.« Bokstavligt Einsatz bei Extrem-Wetter: die hochaktuelle Bestseller-Serie aus Skandinavien

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 449

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Pernilla Ericson

Im Feuer

Ein Fall für Lilly Hed

 

 

Aus dem Schwedischen von Friederike Buchinger

 

 

 

Über dieses Buch

 

 

Die Temperaturen steigen und der Hass brodelt: der erste Fall für Polizistin Lilly Hed

Ermittlerin Lilly Hed hat eine vielversprechende Karriere bei der Stockholmer Polizei hinter sich gelassen, um zur Ruhe kommen zu können. Doch im pittoresken Küstenstädtchen Nynäshamn empfängt sie eine brenzlige Situation: Die Stimmung unter den Kleinstadtbewohnern ist buchstäblich aufgeheizt; wegen Trockenheit und Brandgefahr müssen die Behörden Verbote durchsetzen. Dann bricht tatsächlich Feuer aus und verbreitet sich schlagartig. Es gibt Tote. Doch was ist wirklich geschehen an den Brandstellen? Die Suche nach der Wahrheit und die Bedrohung durch die Flammen werden für Ermittlerin Lilly und Feuerwehrchef Jesper zu einem Wettlauf gegen die Zeit.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Über Pernilla Ericson und Friederike Buchinger

Pernilla Ericson ist erfolgreiche Krimi-Autorin und Journalistin. In ihrer Arbeit für Zeitungen und TV befasst sie sich viel mit Klimawandel und sozialer Gerechtigkeit. Diese Themen bringt sie auch in ihre Spannungsromane ein: Ihre neue Reihe um die Polizistin Lilly Hed in Nynäshamn eroberte in Schweden die Bestsellerlisten und verhalf ihr auch international zum Durchbruch. Pernilla Ericson lebt in Stockholm.

 

Friederike Buchinger übersetzt Belletristik für Erwachsene und Jugendliche sowie Sachbücher aus dem Dänischen, Norwegischen und Schwedischen ins Deutsche. Sie wurde für ihre Arbeiten mehrfach ausgezeichnet.

 

Einfach nur ein weiterer heißer Sommer.

1

Erst begreift Kenneth gar nicht so richtig, was ihn aufgeweckt hat. Es ist so gemütlich unter der Decke, und er ist noch ziemlich verschlafen. In dem bisschen Dunkelheit, das man von einer Sommernacht im Juli eben erwarten kann, sieht das Zimmer fahl und grau aus. Der Wecker auf dem Nachttisch zeigt mit leuchtend roten Ziffern 02:03 Uhr an. Aber als sein Körper allmählich wach wird und sich seine Sinne schärfen, bemerkt er ihn. Den Geruch. Es riecht nach Feuer. Nach brennendem Holz und schmelzendem Plastik, irgendwo ganz in seiner Nähe. Eigentlich kann das gar nicht sein. Feuermachen ist überall streng verboten, man darf ja nicht einmal grillen. Welche Vollidioten sind denn so bescheuert und machen es trotzdem?

Er richtet sich auf, schlägt die Decke zurück und schaut aus dem großen Fenster gegenüber von seinem Bett. Brennt es bei den Nachbarn? Hat jemand im Wald gezündelt? Er blinzelt, versucht, etwas zu erkennen. Aber alles, was er ausmachen kann, sind der Nachthimmel und die dunklen Umrisse der Bäume. In der anderen Richtung erahnt er das Schimmern der neu angelegten Teiche. Keine Glut, kein Rauch.

Aber als er die nackten Füße auf den Fußboden setzt, fällt ihm auf, dass die Bodendielen warm sind. Viel zu warm. Erst da wird er richtig wach. Die Erkenntnis wirkt wie eine Alarmsirene. Er springt auf.

Der Brandgeruch wird jetzt immer beißender, der Rauch brennt ihm in den Augen, reizt die Atemwege. Er fängt an zu schwanken, verliert fast das Gleichgewicht und muss sich auf dem Bett abstützen. In seinem Kopf dreht sich alles, es fällt ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen, irgendwie zu funktionieren. Alles erscheint so unwirklich, er kommt sich vor, als würde er träumen. Kurz denkt er, was für ein Glück es ist, dass seine Frau die Kinder mit zu ihrer Mutter genommen hat. Dass sie ihm gesagt hat, er solle zur Hölle fahren. Seit ihrem kurzen, aber heftigen Wutausbruch hallen ihre Worte immer noch in ihm nach. Auch wenn sie dabei natürlich ganz leise war, damit die Kinder sie nicht hören konnten. Seitdem hat sie sein Handy mit vorwurfsvollen Nachrichten bombardiert. Jetzt ist er fast dankbar für ihre Wut, denn nun muss er nur sich selbst retten. Er ist ganz allein.

Wo hat er sein Handy hingelegt? Steckt es noch unten in der Jackentasche? Ja, da hat er es gelassen, um sich nicht länger ihre wütenden Nachrichten ansehen zu müssen. Er weiß sowieso nicht, was er ihr darauf antworten soll.

Er hat nur ein T-Shirt und seine Unterhose an, also greift er nach einer Jogginghose, steigt in ein Hosenbein und zieht sie hastig hoch. Ein Gedanke schießt ihm blitzartig durch den Kopf. Verdammt, er muss den Laptop aus dem Arbeitszimmer holen! Der Schlussbericht mit den Ergebnissen einer zweitägigen Sitzung, die bis tief in die Nacht ging, ist nur auf der Festplatte gespeichert. Wieso hat er keine Sicherheitskopie der Dateien angelegt? Wie konnte er so leichtfertig sein?

Fluchend reißt er die Tür auf und ist schon halb auf dem Weg ins Arbeitszimmer den Flur hinunter, als ihn die Hitze trifft wie ein Hieb. Er taumelt rückwärts. Jetzt sieht er den Rauch, der aus dem Erdgeschoss schwarz nach oben quillt. Er hört das Feuer. Es knistert und prasselt wie ein ausgehungertes Tier, das sich durch die Treppe frisst. Mit einem Mal fällt ihm das Atmen schwer. Die Augen tränen. Unten in der Küche knallt es, als würde jemand gegen die Wände schlagen. Kleine Explosionen, Entladungen.

Kurz bleibt er wie erstarrt auf der Schwelle stehen, dann macht er kehrt. Den Schlussbericht hat er längst vergessen, er verschwendet auch sonst keinen Gedanken daran, noch irgendetwas aus dem Haus zu retten. Die Panik vernebelt alles, sein Herz pocht so heftig, dass es ihn zu zerreißen droht. Er rennt zum Fenster. Von dort kann er nach draußen aufs Vordach springen und sich so retten. Er schiebt den Fensterhaken auf, und dann zieht und zerrt er am Griff. Erst entschlossen, dann immer hektischer. Er reißt und müht sich, aber das verdammte Drecksfenster geht einfach nicht auf. Es bewegt sich keinen Millimeter, es klemmt. Er versucht es mit den anderen Fenstern im Zimmer, aber es ist überall dasselbe.

Er schaut nach draußen in den Nachthimmel, sieht die Spiegelung seines verzweifelten Gesichts. Den Wahnsinn in seinem Blick. Er erkennt sich kaum wieder. Das Gesicht dort im Fenster scheint ihn für einen Moment anzugrinsen, breit zu lachen. Hat er vor Entsetzen endgültig den Verstand verloren? Seine Augen tränen von dem Rauch, er blinzelt erneut und starrt das verzerrte Grinsen an. Irgendwo in seinem Hinterkopf taucht eine Erinnerung auf, verhöhnt ihn, drängt sich in den Vordergrund. Nur ein kurzes Blitzlichtgewitter in seinem Kopf, aber sein ganzer Körper schreit zur Antwort. Panik erfasst ihn. Er muss hier raus!

Jetzt handelt er nur noch instinktiv. Hastig dreht er sich um und reißt den kleinen Nachttisch an sich. Die Lampe knallt auf den Boden und zerbricht, der Digitalwecker flackert noch einmal auf, dann erlischt die Anzeige. Die Zeit bleibt stehen. Mit aller Kraft schleudert er das Tischchen gegen die Fensterscheibe. Glassplitter fliegen ihm entgegen. Das Fenster ist dreifach verglast, die innere Scheibe zerspringt ganz, die beiden anderen nur teilweise. Das Loch ist so groß wie ein Fußball. Er steckt die Finger in die Öffnung und reißt mit bloßen Händen an den gesprungenen Scheiben. Das Knistern hinter ihm wird immer lauter, während sich das Feuer durch die Tür frisst. Der Sauerstoff, der durch die kaputte Scheibe strömt, verleiht der Bestie neue Kraft. Schwarzer Rauch quillt ins Zimmer, raubt ihm die Sicht und nimmt ihm die Luft zum Atmen.

Seine Lunge verkrampft. Er merkt, dass er langsam das Bewusstsein verliert. Sein Körper gehorcht ihm nicht mehr. Er hat das Gefühl, als würde ihn jemand von innen erwürgen. Die Hitze, dieses hungrige Raubtier, ist jetzt überall. Die Glut beißt und schnappt nach seinen Kleidern.

Als das Feuer ihn verschluckt, starrt sein Blick leer auf das gesprungene Fenster, in dem sich nur noch der heller werdende Nachthimmel spiegelt. Leise, ganz leise, sind in der Ferne die ersten Sirenen zu hören.

2

20. Juni

Nynäshamnsposten

Die Feuergefahr ist alarmierend hoch. Bereits ein einziger Funke kann schwere Brände verursachen. In vielen Bezirken gilt daher ab sofort striktes Grillverbot – auch auf Privatgrundstücken.

Durch die extreme Wetterlage mit hohen Temperaturen und anhaltender Trockenheit sehen sich mehrere Bezirksregierungen veranlasst, das geltende Feuerverbot auszudehnen. In diesen Gegenden ist das Grillen nun auch in privaten Gärten nicht mehr erlaubt. In Nynäshamn gilt seit Montag, 10 Uhr, ein totales Feuerverbot im Freien.

Lilly Hed ließ die Lokalzeitung sinken und legte sie neben sich auf den Sitz. Krigslida, Tungelsta, Hemfosa. Draußen vor dem Fenster glitten Pendlerbahnhöfe und die Sommerlandschaft vorbei. Stellenweise sah es aber eher nach Herbst aus, dachte Lilly. Die lange Trockenheit hatte vielerorts den Boden völlig ausgetrocknet, das Gras war gelb und verdorrt. Die Lupinen am Bahndamm ließen durstig die Köpfe hängen. Es war nicht zu übersehen, warum jeder Funke eine Bedrohung darstellte. An der Station Segersäng zuckte sie zusammen. Eine graue Rauchwolke zeichnete sich am Himmel über den Baumwipfeln ab, wie um den Zeitungsbericht zu untermauern, den sie gerade überflogen hatte. Die Feuerwehr hatte sicher gut zu tun, dachte sie.

Der Zug fuhr weiter, der Himmel vor dem Fenster klarte wieder auf, aber der Ausblick wurde von schmierigen Fingerabdrücken getrübt. Vermutlich Spuren der Familie mit Kindern, die den Platz verlassen hatte, als sie eingestiegen war. Menschen, die ihre Sommerferien genossen, immerzu unterwegs, zum Badestrand oder anderen Ausflugszielen. Der Zug passierte eine dunkle Wand aus Kiefern und Fichten. Sie standen völlig reglos da, nicht der leiseste Windhauch regte sich in den Zweigen. Es waren nur noch ein paar Stationen bis Nynäshamn und allem, was sie dort erwartete. Beim Gedanken daran bekam Lilly feuchte Hände. Sie rieb sie an ihrer Jeans trocken, dann holte sie tief Luft und betrachtete sich selbst in der sonnenwarmen Fensterscheibe. Ihre blauen Augen wirkten entschlossen. Alles würde gut werden. Es musste gut werden.

Ihr Blick wanderte weiter über die vollgestopfte Reisetasche neben ihren Füßen zu der Handtasche, die neben ihr auf dem Sitz lag und in die sie jetzt die Zeitung schob. Die Tasche war aus weichem Leder, ein Geschenk ihrer Mutter Eva. Hätte Lilly sich nach unten gebeugt und daran geschnuppert, hätte sie den leichten Duft von Patschuli erahnen können, der immer noch im Innenfutter hing. Das Souvenir an eine Frau, die in den tanzenden Siebzigern aufgewachsen war, mit Blumen im Haar, in einer offenen Welt, und die das ewige Fest in die Achtziger mitgenommen hatte.

Gedankenverloren spielte Lilly an einer der Schnallen herum, die schon ganz abgenutzt war. Aus einem der Innenfächer ragte eine Blisterpackung heraus. Schlaftabletten. Sie stockte mitten in der Bewegung und dachte an die mahnenden Worte der Ärztin, »allerhöchstens eine am Tag«, als sie ihr das Rezept ausgestellt hatte. Es war ein Versuch ohne große Erwartung gewesen. Sie hatte nicht daran geglaubt, je wieder schlafen zu können. Dass sie nicht mehr unter Hochspannung im Bett liegen und auf jedes Geräusch lauschen müsste, ja, dass ihre Nächte sogar wieder erholsam sein könnten, diese Vorstellung war ihr geradezu verrückt vorgekommen. Sie war so müde gewesen und so traurig. Sie hatte es sattgehabt, immer auf der Flucht zu sein. Aber tatsächlich – die Tabletten hatten gewirkt. Als hätte jemand das Licht ausgeknipst. Ein Notausgang, als ihr Leben ein einziges Chaos gewesen war.

Bäume erhoben sich vor dem Fenster, das Sonnenlicht flackerte wie blendende Streifen zwischen den hohen Stämmen auf. An dem Abend, an dem sie ihren Entschluss gefasst hatte, war das Licht anders gewesen. Die Sonne hatte das Zimmer orangerot gefärbt, als stünde der ganze Himmel in Flammen. Das Gefühl in ihrer Brust war immer stärker geworden, sie musste raus, weg. Also hatte sie angefangen, die ausgeschriebenen Stellen zu sichten. Hatte alle Polizeibezirke und Einheiten durchgescrollt, und von denen gab es viele. Eine Menge Kollegen quittierten derzeit den Dienst, viele klagten über das Gehalt und die Arbeitsbelastung. Schließlich hatte eine der Anzeigen ihre Aufmerksamkeit geweckt, sie hatte sie angeklickt und gelesen. Da. Nur knapp sechzig Kilometer entfernt. Aber vielleicht reichte das schon. Vielleicht würde es ihr eine Atempause verschaffen.

Jetzt bremste der Zug mit einem sanften Ruck ab, der sie aus ihren Gedanken riss, und sie zuckte zusammen. Die Türen gingen auf. Schon da. Sie schnappte sich ihre Reisetasche und die Handtasche und sah sich noch einmal hastig um. Nichts vergessen. Sie stolperte aus dem Zug, nur Sekunden bevor die Türen sich wieder schlossen.

Die Nachmittagssonne brannte auf den Bahnsteig herunter und machte sie blinzeln. Sie hörte ein leises Lachen, es klang freundlich. Lilly ließ die Handtasche in die Ellenbeuge rutschen und hielt die Hand zum Schutz vor dem hellen Licht über die Augen. Vor ihr stand eine uniformierte Polizistin, die Hände in den Hosentaschen. Lilly musterte sie. Sah störrische, schulterlange rotbraune Haare unter der Uniformmütze und jede Menge Sommersprossen auf der Nase. Lilly schätzte, dass sie etwa in ihrem Alter war, Mitte dreißig, vielleicht schon Richtung vierzig. Sah die Neugier in den Augen, als ihre Blicke sich trafen.

»Lilly Hed? Unser Neuzugang? Ich heiße Katja. Katja Bromander.«

Sie streckte die Hand aus. Ihr Händedruck war kräftig. Lilly lächelte, zum ersten Mal seit sehr langer Zeit.

»Ja, die bin ich. Du kannst einfach Lilly zu mir sagen.«

3

Das Polizeirevier in Nynäshamn hatte auf dem Papier angeblich einunddreißig Angestellte, den Chef und die Verwaltungsmitarbeiter eingerechnet. Doch als sich Lilly im Auto nach der Personalstärke erkundigte, schnaubte Katja nur.

»Dreiundzwanzig kommt schon eher hin. Aber zeig mir eine Einheit der schwedischen Polizei, die nicht unterbesetzt ist. Du wirst schon sehnlichst erwartet, das kannst du mir glauben!«

Besonders heiß ersehnt kam Lilly sich allerdings nicht vor, als sie schließlich vor ihrem neuen Chef stand. Mehr als »Kommen Sie rein« hatte er noch nicht zu ihr gesagt.

Sein Büro war klein und bis unter die Decke vollgestopft mit Aktenordnern. Leicht belustigt nahm Lilly zur Kenntnis, dass dem Leiter der örtlichen Polizeidienststelle die digitale Speicherung von Informationen offenbar nicht zuverlässig genug erschien oder er ganz einfach zu bequem war, seine Ausdrucke wegzuwerfen.

Einige simple Aquarelle hingen an der Wand, vielleicht hatte eines seiner Kinder sie in der Schule gemalt. Das Fenster stand halboffen, und eine ansehnliche Menge Staubkörner tanzte im Gegenlicht. Es roch ein bisschen stickig, wogegen auch der Fensterspalt nicht viel ausrichten konnte. Im eingetrockneten Kaffeebecher vor Dienststellenleiter Bertil Strömberg lagen fünf Beutelchen Snus-Tabak, obwohl sich der Papierkorb in unmittelbarer Reichweite befand. Lilly stand aufrecht vor ihm, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, und beobachtete den Mann jenseits des Schreibtischs. Sie schätzte ihn auf eher Ende als Anfang fünfzig, er hatte raspelkurze, stahlgraue Haare und hohe Geheimratsecken. Und ja, auch einen leichten Buckel und einige Falten, aber der Blick unter den buschigen Augenbrauen war scharf. Bertil Strömberg blätterte einen Papierstapel durch, hob ab und zu die kräftigen Brauen und sah sie an.

»Lilly Vendela Hed«, sagte er schließlich und summte leise. »Sie haben in Skärholmen angefangen. Gutes Revier.«

Sie nickte schnell. Er kam unüberhörbar aus Schonen. Bertil Strömberg stammte ursprünglich also auch nicht aus dieser Gegend, notierte sie gerade noch in Gedanken, als der durchdringende Blick sie schon wieder ins Visier nahm. Der Ausdruck in den braunen Augen war nicht kritisch, aber ein wenig skeptisch.

»Sie waren wirklich nicht faul. Sie sind in der Abteilung für Jugendkriminalität des Landeskriminalamts innerhalb kürzester Zeit zur leitenden Ermittlerin aufgestiegen, nur um wenig später zur jüngsten Sektionschefin ernannt zu werden, die die Nationale Einsatzabteilung je gesehen hat. Es ist noch nicht lange her, dass ich die fetten Schlagzeilen über einen Fall gelesen habe, den Sie geleitet haben. Sie sind erst vierunddreißig und haben sich schon einen Namen in der Truppe gemacht.«

Als er schließlich ihre Personalakte beiseitelegte, klang seine Stimme ein wenig schroff: »Da stellt sich mir die Frage, wieso zur Hölle sind Sie hier?«

Lilly hob die Augenbrauen.

»Wie bitte?«

Er sah sie unverwandt an. Mit gerunzelter Stirn löste sie die Hände hinter dem Rücken und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Ich bin hier, um meinen Dienst anzutreten. Wie besprochen.«

Jetzt lächelte er, und ein Netz aus attraktiven Lachfalten wurde an seinen Schläfen sichtbar. Er tippte mit dem Zeigefinger auf die Akte, die vor ihm lag.

»Das ist schön, aber was mich interessiert ist: Warum ausgerechnet hier? Oder sportlich ausgedrückt: Ihre Erfolge sind so offensichtlich, was will eine Spitzenspielerin wie Sie bei uns im Breitensport?«

Ihr hätte natürlich klar sein müssen, dass diese Frage irgendwann kommen würde, aber trotzdem war Lilly nicht darauf vorbereitet. Sie wich seinem prüfenden Blick nicht aus, aber sie biss die Zähne zusammen. Auf die Schnelle fiel ihr keine gute Antwort ein, also entschied sie sich für die erstbeste.

»Ich hatte das Bedürfnis nach einer Luftveränderung.«

Er hob prustend die Hände, als hätte sie einen schlechten Scherz gemacht.

Lilly unternahm einen neuen Versuch.

»Meine Tante wohnt hier. Ich möchte in ihrer Nähe sein. Sie wird langsam alt. Sie braucht mich.«

Die Tante, zu der Lilly nie besonders engen Kontakt gehabt hatte, wohnte schon seit Jahren in einem Seniorenheim in Haninge. Aber das wusste Bertil Strömberg ja hoffentlich nicht.

Er musterte sie einen Moment, und Lilly ahnte, was für ein Gefühl es sein musste, von diesem Mann verhört zu werden, schwitzend vor diesen unbewegten Augen zu sitzen. Dann breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus, als hätte er das Rätsel endlich gelöst.

»Sie sind nicht die Erste, die genug davon hat, Vorgesetzte zu sein! Unglaublich, was die einem alles aufhalsen! Und es wird immer noch schlimmer.« Er wartete nicht ab, dass sie seine Theorie bestätigte, sondern zuckte nur mit den Schulten. »Na ja. Aber gut für uns.«

Lilly entspannte sich ein wenig und lächelte erleichtert.

»Yes.«

»Okay, dann also willkommen im Team. Wir sind hier alle beim Du – mein Name ist Bertil. Bei uns läuft es folgendermaßen: Der Dienst ist hälftig aufgeteilt. Eine Hälfte im Funkwagen, eine Hälfte Sachbearbeitung. Ich denke da an sechs Wochen Streife, sechs Wochen Innendienst. Mitunter kann es vorkommen, dass du in einem der beiden Bereiche aushilfsweise einspringen musst. Du fängst draußen an. Dienstbeginn ist morgen um 15 Uhr.« Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, er schien fast ein schlechtes Gewissen zu haben. »Und es ist wirklich kein Problem für dich, dass wir deinen Urlaub in den Herbst gelegt haben? Es war ein echter Kampf, diesen Sommer alle Wünsche unter einen Hut zu bringen.«

Sie nickte. Natürlich schrie ihr Körper nach einer Pause, aber vor allem brauchte sie Beschäftigung. Ablenkung.

Er lächelte erleichtert.

»Bei uns in der Gegend gibt’s keine großen Schlagzeilen, nur den üblichen Kleinkram, Einbrüche und Familienstreitigkeiten …« Er fuhr sich durch die kurzen, borstigen Haare. »Aber du hast gerade eine Sache verpasst, die beinahe richtig hässlich geworden wäre. Das Haus der Robertssons in Segersäng ist abgebrannt. Es hat noch Tage später geraucht und gequalmt. Die Feuerwehr und die Besitzer der umliegenden Grundstücke haben geschuftet wie die Tiere, um den Brand zu löschen und die Umgebung zu sichern. Wir hatten höllisches Glück, dass das Feuer nicht weiter um sich gegriffen hat. Kenneth Robertsson hatte vor, in seiner Freizeit Forellen und Saiblinge zu züchten, deshalb gab es rund um das Haus genügend Wasser. Ohne seine Fischteiche wäre das Ganze wohl ziemlich übel ausgegangen, so trocken wie es hier überall ist. Stell dich schon mal darauf ein, dass du dir eine Menge Gejammer über das Grillverbot anhören musst. Wir bekommen viele Anrufe deswegen. Ein brenzliges Thema unter Nachbarn.« Er lachte über seinen eigenen Scherz und fuhr fort. »Katja hast du ja schon kennengelernt, sie zeigt dir gleich alles.«

»Sehr schön«, antwortete Lilly lächelnd.

»Ja, ich denke, das war dann wohl alles«, sagte Bertil abschließend. Und dann leise: »Ich habe nur keine Ahnung, wie ich verhindern soll, dass du hier nicht vor Langeweile umkommst.«

Der Mann verstand nicht, dass er gerade ihre Rettung beschrieben hatte. Dieser friedliche kleine Ort war ihr Notausgang. In Stockholm zu bleiben hätte bedeutet, Stück für Stück kaputtzugehen und der Dunkelheit zu erlauben, sie am Ende mitzureißen. Hier konnte sie ganz neu anfangen. Es musste klappen.

4

11. Juni 2001

Sie waren wieder da. Haben mich mit Steinen beworfen.

Seine Hände zitterten. Die Schrift wurde undeutlicher als sonst. Er machte eine Pause bei seinem Tagebucheintrag, sah aus dem Fenster und dachte an das, was geschehen war. Der erste Stein hatte ihn im Nacken getroffen. Ein Kiesel aus seiner eigenen Einfahrt. Kaum größer als ein Fingerhut. Aber es war ein harter Wurf gewesen, und er hatte den schmerzenden Rücken aufgerichtet, die Mistgabel fallen lassen und sich umgedreht. Um ihn herum herrschte Totenstille. Außer dem heiseren Krächzen einer Krähe hatte er kein Geräusch gehört. Niemanden gesehen. Vielleicht würde es diesmal bei dem einen Stein bleiben.

Er hatte sich wieder an die Arbeit gemacht. Unkraut gejätet, den Löwenzahn, der sich überall in seinem Kartoffelacker breitmachte. Er ging methodisch vor, sorgfältig. Ließ nur herrlich feuchten schwarzen Mulch und zarte Triebe übrig.

Es war eine Arbeit, bei der er immer leise vor sich hin summte, ein Singsang ohne tieferen Sinn. Über wachsende Kartoffeln. Das Krankengeld schwand, er hatte weniger zur Verfügung, also war ihm alles eine Hilfe, was er selbst anbauen konnte. Wobei ihm natürlich bewusst war, dass auch das Geld kostete, aber zumindest machte die Arbeit ihm Freude. Er brachte das Saatgut aus und sah das Ergebnis. Er allein.

Ein brennender Schmerz durchfuhr seinen Rücken, als der zweite Stein ihn traf. Hart. Dieser war größer und traf genau das Schulterblatt. Keuchend richtete er sich wieder auf und tastete mit den Fingern nach seiner Schulter. Das T-Shirt war zerrissen. Er betrachtete seine Hand. An seinen Fingern war Blut. Er war verletzt. Der nächste Stein kam angeflogen und landete direkt neben ihm. Dann noch einer. Noch größer. Hätte er ihn am Kopf getroffen, hätte es richtig übel ausgehen können. Er musste ins Haus. Die Hände schützend über dem Kopf, rannte er geduckt und ungelenk zur Verandatür. Noch ein Geschoss flog auf ihn zu, prallte auf die Steinfliesen und schlitterte unter den Gartentisch.

Unbeholfen riss er die Tür auf und brachte sich hastig in Sicherheit. Seine Hände zitterten, als er versuchte, die Tür zuzuziehen. Sein Herz schlug so heftig, dass es weh tat. Immer mehr Steine prasselten gegen das Holz. Das Letzte, was er hörte, als sich die Tür endlich hinter ihm schloss, war ihr schrilles Gelächter.

5

»Wohin fahren wir, sagtest du?«

»Änggatan 12.«

Ein schneller Blick in Lillys Richtung. Ein bisschen neugierig.

»Zum alten Enbom-Leuchtturm?«

Lilly nickte. »Danke übrigens, dass du mich fährst, das ist supernett von dir.«

»Ach, ich kann auch gern noch den restlichen Tag Privatchauffeurin für dich spielen.«

Katja feixte. Sie kannte sich in der Gegend aus und fuhr entspannt mit einer Hand am Lenkrad. Die andere hob sie zum Gruß, als ein grüner Volvo in der Gegenrichtung an ihnen vorbeifuhr. Lilly nahm gerade noch ein Winken auf der Fahrerseite wahr. Katja schien hier überall gut bekannt zu sein.

»Denkst du nicht, es wird Richtung Winter ganz schön kalt da?«

Lilly zuckte mit den Schultern und bemühte sich, sorglos auszusehen.

»Es gibt wohl einen Kamin, habe ich gelesen. Aber Hauptsache, im Bett ist es warm. Mehr brauche ich nicht«, sagte sie und fügte hinzu: »Wobei ich mich im Moment ehrlich gesagt eher nach Frieren sehne. In diesem Sommer habe ich wahrscheinlich mehr geschwitzt als in allen vorherigen zusammengenommen.«

Katja lachte. »Da sind wir schon zwei.«

Enboms Leuchtturm war irgendwann in den siebziger Jahren gebaut worden. Ein enthusiastischer Leuchtturmliebhaber namens Sigvard Enbom hatte sich mit Eifer in das Projekt gestürzt mit nichts als einem abgebrochenen Architekturstudium im Rücken und seiner Begeisterung für die Historie schwedischer Leuchttürme. Enbom brauchte fünf Jahre bis zur Fertigstellung des aufwendig verzierten Bauwerks, und das ganze Unterfangen riss ein ordentliches Loch in seine Finanzen. Der Leuchtturm war auf seinem eigenen Grundstück errichtet worden, auf einer Landzunge, die von Schilf umgeben war. Ursprünglich hatte er vorgehabt, den fertigen Turm der Gemeinde zu stiften. Nun war es allerdings so gewesen, dass Sigvard Enbom die notwendigen Genehmigungen fehlten und ihm noch dazu ein paar grundlegende Fehler bei der Konstruktion unterlaufen waren. Er war ein Träumer ohne richtigen Plan, und so wurde der Leuchtturm nie in Betrieb genommen. Es hieß, das habe Enbom das Herz gebrochen und ihn am Ende dazu gebracht, hoch in den Norden zu ziehen. Die Verantwortung für das Gebäude blieb an seiner Schwester Hilda hängen. Da die Behörden gnädig ein Auge zudrückten, durfte Sigvards Schöpfung aber auf dem Grundstück stehen bleiben.

Seitdem vermietete Hilda Enbom den Leuchtturm, zuerst an abenteuerlustige Touristen und inzwischen an Mieter, die mindestens ein halbes Jahr bleiben wollten. Die Anzeige war eine ganze Weile online gewesen. Vermutlich, weil es nicht gerade von Menschen wimmelte, die davon träumten, nur zum Spaß länger als ein paar Wochen in einem fehlkonstruierten Leuchtturm zu wohnen. Aber Lilly hatte zugegriffen. Die traurige Geschichte des Enbom-Turms hatte sie erst später im Internet gelesen.

Das Auto bog ab und schwankte bedenklich, als es sich eine holprige Straße hochkämpfte, deren Asphaltdecke von eigensinnigen Wurzeln aufgeworfen wurde. Die Bäume, die eben noch dicht zwischen den Häusern gestanden hatten, gaben plötzlich den Blick auf das Wasser frei. Sie näherten sich der Zieladresse, einem rot gestrichenen, knubbeligen Leuchtturm, der auf der Landzunge thronte, elf Meter hoch, wie es auf der Wikipediaseite hieß. Er erinnerte ein bisschen an eine stämmige Matrone, die ihre Arme in die Seiten stemmte, dachte Lilly. Ein paar große Felsblöcke ragten aus der Wiese, die den Leuchtturm umgab, und der raue Eindruck wurde von Sträuchern abgemildert, die mit kleinen gelben Blüten übersät waren.

In der einen Richtung lag der Bootshafen der Nickstabucht, und in der anderen Richtung breitete sich die Nynäsbucht aus, die in der hellen Nachmittagssonne glitzerte. Das Wasser stand tief. Am Strand zeichnete sich eine Kante aus getrockneten Algen ab, wie der Schmutzrand in einer Badewanne. Sie hielten vor einem Haus an. Das musste die Villa Enbom sein, in der Hilda Enbom mittlerweile allein lebte.

»Hast du die Schlüssel?«, fragte Katja und zog die Handbremse an.

»Sie sind im Briefkasten der Villa Enbom für mich deponiert«, antwortete Lilly. Ächzend wuchtete sie die knallvolle Reisetasche aus dem Kofferraum und hängte sich den Riemen ihrer Handtasche über die Schulter.

Katja ging zum Briefkasten und kam kurz darauf wieder, den Schlüsselbund zwischen Daumen und Zeigefinger schwenkend. Sie legte ihn in Lillys ausgestreckte Hand.

Das neugierige Funkeln in Katjas Augen war zurück.

»Kommst du jetzt allein zurecht?«, fragte sie freundlich.

In der Frage schwang noch etwas anderes mit. Vielleicht erahnte sie Lillys Gemütszustand, auch wenn sie nichts über die Hintergründe wusste.

Lilly holte tief Luft und zwang sich zu einem Lächeln. Es gab kein Zurück. Jetzt war sie hier.

»Alles gut. Danke fürs Bringen.«.

»Dann sehen wir uns morgen im Dienst«, sagte Katja und öffnete die Autotür.

 

Mit einem leisen Knarren öffnete sich die Tür zum Leuchtturm. Lilly stellte ihre Tasche ab. Vor ihr lag der größere Teil ihres neuen Zuhauses, das einzige Zimmer. In dem runden Wohnraum gab es ein schmales Bett, geschätzte neunzig Zentimeter breit, das neben einem eisernen Holzofen stand. Auf einem Regal über dem Bett thronte eine hübsche alte Öllaterne aus Messing. Außerdem gab es eine kleine Pantryküche und eine separate Kabine mit Dusche und Toilette. Das Wasser für beides kam aus einem Schlauch, der von außen durch ein Loch in der Wand geschoben worden war. Da der Leuchtturm seine eigentliche Aufgabe ja nicht erfüllen konnte, war er immer wieder umgebaut und nachgebessert worden, um Gäste beherbergen zu können. Ein kreisrundes Fenster stand einen Spaltbreit offen, aber als Lilly es zumachen wollte, sperrte es sich, als wären die Scharniere schief angebracht. Vielleicht einer von Sigvard Enboms Fehlern. Auf einmal überkam sie ein eigenartiges Gefühl von Zusammengehörigkeit mit diesem dysfunktionalen Gebäude.

»Wir sind offenbar beide ein bisschen kaputt, du und ich. Aber von außen sieht man es uns nicht an«, murmelte sie vor sich hin und tätschelte die kühle Wand. Hier im Leuchtturm war es zumindest etwas angenehmer als im Polizeirevier. Katja hatte wahrscheinlich recht mit ihrer Vermutung, dass das spätestens im Herbst zu einem Problem werden würde. Auch wenn Lilly das jetzt noch unendlich fern erschien.

Über ihrem Kopf schlängelte sich eine eiserne Treppe hoch in den Turm. Sie legte eine Hand auf das Geländer und spürte die abblätternde Farbe in der Handfläche, während sie Runde um Runde in engen Kreisen nach oben stieg. Sie hielt die Luft an, als sie endlich in der Glaskuppel mit der riesigen Lichtanlage stand. Mit der Laterne, die wohl nie geleuchtet hatte. Die Aussicht war umwerfend. Wald, prächtige Villen, ein leuchtend weißes Motorboot auf dem Weg hinaus aufs offene Meer, badende Menschen am Strand. Sie atmete aus. Das hier war ihr neuer Ausblick. Alles würde gut.

»Hallo?«

Von unten klang ein fragender Ruf nach oben. Lilly drehte sich um und schaute die Wendeltreppe hinunter. Ein pausbäckiges Gesicht sah lächelnd zu ihr herauf.

»Hallo, Sie müssen Lilly sein. Ich bin Hilda Enbom. Ich hatte den Schlüssel zur Sicherheit in den Briefkasten gelegt, aber da ich jetzt doch zu Hause bin, wollte ich meiner neuen Mieterin wenigstens Guten Tag sagen«, rief sie.

Lilly ging schnell die Treppe hinunter und begrüßte ihre Vermieterin. Hilda Enbom hatte einen überraschend kräftigen Händedruck und machte überhaupt einen ziemlich handfesten Eindruck. Ein leuchtend gelbes Kleid verpackte gekonnt ihre üppigen Kurven. Kinnlange Locken in einem schönen Bleigrau rahmten das fröhliche Gesicht ein. Lilly vermutete, dass sie um die siebzig war.

»Denken Sie, dass Sie sich hier wohlfühlen werden?«, fragte Hilda, die Arme vor der Brust verschränkt. Sie lächelte mit tiefen Grübchen in den runden Wangen. »Ich bin nur einen Steinwurf entfernt und freue mich immer über Gesellschaft, also klopfen Sie ruhig, wenn irgendetwas sein sollte.«

Sie duftete süßlich nach Vanille, wahrscheinlich ein Parfüm, das eher auf Mädchen im Teenageralter zielte. Was nicht so richtig zu der ansonsten eher robusten Gesamterscheinung zu passen schien.

»Auf jeden Fall«, sagte Lilly höflich. »Das ist ein unglaublich spannendes Haus. Und die Aussicht da oben ist ja wirklich phantastisch.«

»Mein Bruder konnte stundenlang dort oben stehen und einfach nur schauen. Er hat sich immer ausgemalt, dass sein Projekt einmal Leben retten würde.« Hilda zuckte mit den Schultern und seufzte dann leise. »Aber daraus ist leider nichts geworden.«

»Waren Sie auch am Bau des Leuchtturms beteiligt?«, erkundigte sich Lilly.

Hilda lachte, ein Lachen, das in ein leises Schnauben überging.

»Nein, danke, wirklich nicht. In unserer Familie war nur Platz für einen Träumer. Und als sein Traum schließlich geplatzt ist, hatte ich mit den ganzen Kosten wahrlich genug zu tun.« Dann fügte sie schnell hinzu: »Ich habe viele Jahre in der Schulkantine gearbeitet, aber dann habe ich umgesattelt und bin Physiotherapeutin geworden. Inzwischen bin ich seit sieben Jahren in Rente.« Sie lächelte. »Sie vergeht ganz schön schnell, diese verflixte Zeit.«

Lilly bückte sich und hob ihre vollgepackte Tasche hoch. Ja, das hoffe ich, dachte sie.

6

Die gelben Aufnäher der Feuerwehruniformen bildeten einen leuchtenden Kontrast vor dem aschgrauen Bild der Verwüstung.

»Hier hat es angefangen. Es deutet alles darauf hin.«

Sein Kollege nickte und verschwand Richtung Waldrand, um einen Anruf entgegenzunehmen.

Von dem Einfamilienhaus, vor dem Jesper Hansson stand, war nur noch ein verbranntes Skelett übrig. Durch das Gerippe hatte er freie Sicht auf die künstlich angelegten Teiche und den angrenzenden, verkohlten Wald. Der Schornstein ragte wie ein schwarzer Turm aus der Brandruine, und die letzten Überreste des Hauses schienen sich an ihn zu lehnen wie ein Betrunkener, der sich nur noch mit Mühe aufrecht halten kann.

In den ersten Berichten hatte gestanden, dass das Haus mutmaßlich leer gewesen sei, der Nachbar, der ein ganzes Stück weg wohnte – und offenbar gern aus dem Küchenfenster schaute –, hatte das Auto der Familie wegfahren sehen und erinnerte sich noch deutlich an die Kinder auf dem Rücksitz. Aber dann hatte es sich doch anders herausgestellt: Ein armer Teufel war zurückgeblieben, dachte Jesper Hansson, Wehrführer bei der Feuerwache in Nynäshamn.

Techniker der Polizei und Brandermittler der Feuerwehr hatten sich schon vor Ort in dem ausgebrannten Haus umgesehen, genau wie ein Mitarbeiter des Nationalen Forensischen Centrums NFC, der Unmengen von Proben genommen hatte.

Das obere Stockwerk war bei dem Brand eingestürzt, aber die Stelle, an der Kenneth Robertsson gefunden worden war, ließ darauf schließen, dass er bei dem Versuch, aus einem der Fenster im Schlafzimmer der Eheleute zu flüchten, ums Leben gekommen war. Aus irgendeinem Grund war es ihm nicht gelungen hinauszukommen. Vielleicht war er betrunken gewesen, das war häufig der Grund, wenn Menschen in ihrem Zuhause verbrannten. In Panik taten auch die Finger nicht immer, was sie sollten. Und häufig setzte der Rauch seine Opfer viel früher außer Gefecht als die Flammen. Aber die Rettung – auf das Dach der Veranda zu springen und von dort auf die Wiese – musste sich frustrierend nah angefühlt haben. Mit einem Metalllineal stocherte Jesper Hansson in einem Haufen Asche, schob die rußigen Überreste einer Puppe zur Seite. Er hob den Blick.

Der Löscheinsatz in der Umgebung war so gut wie abgeschlossen, aber die Nachlöscharbeiten würden sicher noch einige Tage andauern. Wenn der Boden so ausgetrocknet war wie im Moment, war es besser, doppelt sicherzugehen. Das Risiko aufflammender Glutnester war unverändert hoch. Die Glut versteckte sich in Ameisenhaufen und Baumwurzeln, jederzeit bereit, sich wieder auszubreiten, sobald sie nur Luft und Nahrung bekam. Aber zum jetzigen Zeitpunkt war die Lage unter Kontrolle.

Hohe Bäume umgaben das große Anwesen. Er griff nach einem schwarzen Stück Holz, auf dem dreihundert Grad Celsius ihre Spuren hinterlassen hatten – das entsprach der Oberflächentemperatur, bei der sich trockenes Holz entzündete. So heiß waren die Flammen gewesen, die an diesen Ästen geleckt hatten. Unter bestimmten Voraussetzungen genügten Sekunden, um eine Feuersbrunst zu entfachen. Eine Flamme, ein Funke zur richtigen Zeit, mehr brauchte es nicht. Sie hatten wahnsinniges Glück gehabt mit diesem Brand, dachte Jesper Hansson düster. Ein paar große, erst kürzlich angelegte Fischteiche hinter dem Haus hatten die Ausbreitung des Feuers aufgehalten, und sie hatten es rechtzeitig einkreisen können. Dass es nahezu windstill gewesen war, hatte ebenfalls geholfen, aber nicht so sehr, wie es ein kräftiger Schauer getan hätte. Und es sah nicht danach aus, als ob in nächster Zeit mit Regen zu rechnen wäre.

Für Jesper Hansson gehörte es zum Alltag, Risikobewertungen vorzunehmen, und er versuchte immer, die Ursachen der großen Brände in der Umgebung aufzuklären. Aber dieser Sommer war ein einziges großes Warnsignal. Er merkte, dass er nicht mehr so entspannt schlafen konnte wie sonst, dass sein Körper in ständiger Alarmbereitschaft war. Die Allgemeinheit war nicht bereit, sich umzustellen: Familien beim Picknick, die sauer wurden, wenn sie ihren Einweggrill wieder einpacken mussten. Jugendliche, denen ihr Lagerfeuer am Strand genommen wurde. Gartenabfälle, die auf dem eigenen Grundstück nicht verbrannt werden durften, nicht mal in einer Tonne, bewacht von einem Erwachsenen mit Gartenschlauch. Ein Funke konnte bedeutend weiter fliegen, als die Leute ahnten.

Das Feuer im Haus der Robertssons schien in der Küche ausgebrochen zu sein, wo die Spüle aus rostfreiem Stahl immer noch aufrecht stand. Die Schmelz- und Brandspuren deuteten darauf hin, dass der Herd die Brandquelle war. Ein ausgebrannter Topf. Der Brandermittler hatte etwas von »da hat wohl mal wieder jemand die Nudeln vergessen« gemurmelt. Es war eine der häufigsten Brandursachen in Wohnhäusern. Die Leute fingen an zu kochen, wurden von irgendetwas abgelenkt und verließen die Küche. Wahrscheinlich war es einer dieser Unglücksfälle.

Es war ein gepflegtes Grundstück gewesen, mit geschnittenen Hecken und – auch wenn nicht mehr viel davon übrig war – ordentlich gemähtem Rasen. Sicher hatten die Eigentümer abends heimlich gewässert, trotz der geltenden Beschränkungen in der Gegend. Die Geräte und Gartenmaschinen hatten noch nicht viele Jahre auf dem Buckel und standen glänzend aufgereiht im Schuppen. Hier hatten Leute gewohnt, die Wert darauf legten, technisch immer auf dem neuesten Stand zu sein, und die ihre Sachen gut in Schuss hielten. Dasselbe hatte mit Sicherheit für das Innere des Hauses gegolten. Sauberkeit und Ordnung. Nur leider offenbar nicht überall. Angesichts dessen, was sie in das Haus und die übrige Technik investiert hatten, stellte sich die Frage, warum diese Familie, die noch dazu Kinder hatte, keine funktionierenden Rauchmelder besaß. Das passte nicht ins Bild. Aber trotzdem hätte der Hausbesitzer rechtzeitig aufwachen müssen, als der Rauch sich ausbreitete. War Robertsson also womöglich wirklich betrunken gewesen?

Jesper umrundete ein größeres Stück der Außenwand, das beim Einsturz des Hauses in der Küche gelandet war. Er betrachtete die Fenster, die den schönen Ausblick über das Grundstück eingerahmt hatten.

Er stocherte mit dem Metalllineal, beugte sich vor und ging dann in die Hocke. Seine Augen weiteten sich. Hatte er das gerade richtig gesehen?

Ja.

Ein Detail, das einem wirklich leicht entgehen konnte. Aber vermutlich hatte es das Schicksal des armen Kerls im ersten Stock besiegelt.

7

Vor dem Polizeirevier stolperte Jesper Hansson zufällig über Bertil Strömberg und hob die Hand zum Gruß. Bertil lächelte, fummelte seinen Snus-Tabak unter der Oberlippe heraus und stopfte ihn in die Tabaksdose zurück. Jesper war größer als Bertil, und er bemerkte amüsiert, dass Bertil ein wenig widerwillig den Kopf in den Nacken legen musste, um ihm in die Augen schauen zu können.

»Habt ihr die Nachlöscharbeiten unter Kontrolle?«, fragte er.

»Ja. Es ist alles gut verlaufen«, sagte Jesper. »Wirklich übel, das mit diesem Kenneth Robertsson. Als unsere Jungs vor Ort waren, hatten sie keine Chance mehr reinzugehen. Das Haus stand schon lichterloh in Flammen.«

Die von Bäumen gesäumte Straße war ruhig. Ein paar uniformierte Polizisten gingen auf dem Weg in das rote Backsteingebäude an ihnen vorbei. Es war noch früher Vormittag, aber die Sonne brannte ihnen schon in den Nacken. Jesper und Bertil machten beide einen Schritt in den Schatten entlang der Hauswand.

»Aber über das Haus der Robertssons wollte ich gerade mit dir reden«, fügte Jesper hastig hinzu. »Deshalb bin ich hier.«

»Ach ja?«

Bertil zog die Augenbrauen hoch.

»Ich habe mir die Überreste genauer angesehen und ein Detail gefunden, bei dem ich mir nicht sicher bin, ob es den Technikern aufgefallen ist. Irgendjemand hat kleine gebogene Nägel in den Rahmen des Schlafzimmerfensters geschlagen. Von außen. Und noch dazu verdammt diskret. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Mich macht das ziemlich misstrauisch, wenn ich ehrlich sein soll.« Jesper sah Bertil forschend an. Er hatte auf eine deutlichere Reaktion gehofft als auf das ausdruckslose Gesicht, das ihm entgegenblickte. »Was sagst du dazu?«

Bertil ließ sich reichlich Zeit, während er sich ein neues Päckchen Snus in den Mund schob und die Straße hinunterblinzelte, wo ein Warentransporter langsam, aber geräuschvoll vom Hof eines Sushi-Restaurants rollte.

»Ich werde dem auf jeden Fall nachgehen.« Er schob das Tabakpäckchen mit der Zunge an die richtige Stelle und rieb sich einen Moment das Kinn. »Aber Kenneth war ziemlich übervorsichtig, was die Kinder betraf. Wer weiß, auf was für Ideen er gekommen ist. Und um es ganz deutlich zu sagen – er war ein lausiger Heimwerker, der sich ständig irgendwelche Projekte vorgenommen hat und dann Profis anheuern musste, damit sie den Schaden wieder ausbügeln. Ich habe da so meine eigene Theorie, was in der Brandnacht passiert ist.«

Jesper verschränkte die Arme vor der Brust. »Und zwar?«

»Meine bessere Hälfte unterhält sich öfter mal mit Kenneths Frau Karin. In der Ehe lief es schon länger nicht mehr gut. Er war allein zu Hause, als es passiert ist. Und garantiert nicht gut drauf. Es würde mich nicht wundern, wenn er sich betrunken etwas zu essen machen wollte, den Topf auf dem Herd vergessen hätte und im Schlafzimmer weggedämmert wäre. Du kennst das doch.«

Das musste Jesper zugeben. Das kannte er. Und ganz offensichtlich stieß er mit seinem Verdacht beim Polizeichef auf wenig Resonanz. Widerwillig ließ er die Sache fallen und wechselte das Thema.

»Aber wo wir gerade bei Erfahrungen sind – einen Sommer wie diesen habe ich noch nie erlebt.«

Bertil hob einen Zipfel seines Hemdes, um sich ein bisschen Luft zuzufächeln. Unter den Armen hatte er dunkle Schweißflecken, die auf dem hellblauen Stoff immer größer zu werden schienen. Er nickte zustimmend. »Für die Kinder ist das natürlich toll, richtiges Badewetter, die ganze Saison.«

Jesper fuhr fort, ohne auf Bertils positiven Einwurf einzugehen.

»Der Grundwasserspiegel war noch nie so niedrig wie jetzt, aber das gilt fürs ganze Land. Und eine Hitzewelle jagt die nächste, überall brennen Felder. In Malmö sind es vierunddreißig Grad. Und dabei geht es uns hier in Schweden noch vergleichsweise gut. In Paris sind für heute dreiundvierzig Grad gemeldet, haben sie in den Nachrichten gesagt.« Er schüttelte den Kopf. »Bislang hatten wir wirklich Glück. Vor allem, dass dieser Hausbrand sich nicht ausgebreitet hat.«

Seine Stimme klang bitter, sie war gefärbt von den Gedanken, die so oft in seinem Kopf kreisten. Die Feuerwehr in der Region Södertörn war zu harten Sparmaßnahmen gezwungen und die Bereitschaftsstärke bereits mehrfach gekürzt worden. Jesper Hansson war nicht der Einzige, der sich wegen ihrer beruflichen Situation Sorgen machte. Der Mangel an Kräften löste bei vielen seiner Kollegen im ganzen Land Panik aus, es fehlte überall an Leuten. Nachdem Schweden hart vom Coronavirus getroffen worden war, hatte das Gesundheitswesen aus allen möglichen Töpfen Mittel zur Verfügung gestellt bekommen. Aber dem Brandschutz wurde jetzt nicht dieselbe Priorität eingeräumt, obwohl die Bedrohung durch die langen Trockenperioden massiv gestiegen war. Hinzu kam, dass die Regierung vor kurzem die Behörde für Zivil- und Katastrophenschutz umstrukturiert hatte. Die Koordinierung verlief alles andere als reibungslos, und nach wie vor wurde Personal hin und her geschoben.

Jesper steckte die Hände in die Hosentaschen und rechnete zurück.

»Ja, 2018 hat es im ganzen Land gebrannt, und auch die letzten Sommer waren insgesamt zu trocken. Dieses Jahr schlägt jetzt alle Hitzerekorde.«

»Bist du jetzt auch einer von diesen Weltuntergangspropheten?«, schnaubte Bertil. Sein südschwedisches Schonen-R schnarrte ein wenig spöttisch.

Bertil Strömberg redete nicht gern über Krisen, und er verzog meistens das Gesicht, wenn der Klimawandel zur Sprache kam. Eine solche Haltung konnte auf Jesper ziemlich frustrierend wirken. Die Kurve deutete hartnäckig in eine bestimmte Richtung. Er selbst zog es vor, sich dem ganzen Ausmaß mit offenen Augen zu stellen.

»Nein, aber es gehört zu meinem Job, uns alle, so gut es geht, auf die möglichen Folgen dieser Hitzewelle vorzubereiten«, antwortete Jesper ruhig.

Bertil wippte von einem Fuß auf den anderen, dann hellte seine Miene sich auf.

»Es hat immer alles zwei Seiten. Hast du schon gehört, dass wir die große Entsalzungsanlage bekommen? Das wird super für die Wasserversorgung.«

»Die Wasserversorgung ist mein kleinstes Problem«, entgegnete Jesper.

Bertil feixte. »Stimmt, du hast ja immer nur Feuer im Kopf.« Dann fuhr er in versöhnlicherem Ton fort: »Jesper, mach dir nicht zu viele Gedanken. Natürlich nehmen wir die Trockenheit ernst. Wir achten knallhart auf die Einhaltung des Feuerverbots. Ich habe gerade eben erst unsere Neue vorgewarnt, dass die Leute hier ausflippen, weil sie nicht grillen dürfen. Sie ist inzwischen übrigens da. Du weißt doch, Lilly Hed, von der ich dir erzählt habe. Eine echte Promikollegin.« Er zuckte mit den Schultern und grinste schief. »Ich kapiere zwar nicht, was sie hier bei uns will, aber das ist eine andere Geschichte.«

Jesper sah ihn gedankenverloren an und nickte vor sich hin. Natürlich hatte er immerzu Feuer im Kopf, das war schon richtig. Aber es war noch lange kein Grund, seinen Verdacht fallenzulassen. Vielleicht gab es ja eine andere Möglichkeit, der Sache nachzugehen.

»Ach, sie ist jetzt da, ja?«, wiederholte er nachdenklich.

8

Noch drei Stunden bis Dienstbeginn, und die Hitze war erdrückend. Lilly hatte es sich im Gras vor dem Leuchtturm bequem gemacht und nippte an einer Tasse Kaffee, obwohl es eigentlich viel zu schwül für ein warmes Getränk war. Ihr Badeanzug war am Körper getrocknet.

Sie hatte den Morgen mit dem Vorsatz begonnen, in der Nynäsbucht zu baden. Sie war aufgewacht, hatte ihren Badeanzug angezogen, Shorts darüber und sich ihre alten Laufschuhe geschnappt. Dann hatte sie eine lange Joggingrunde gedreht, obwohl es ihr schwergefallen war, und war zum Abschluss direkt in das angenehm kühle, dunkle Wasser gerannt. Hatte sich auf dem Rücken treiben lassen, Arme und Beine ausgebreitet wie ein Seestern. Lilly hatte einen Mund voll Wasser ausgespuckt und geprustet, weil das Leben sich auf einmal ein wenig leichter anfühlte. Dann war sie an den Strand geschwommen und zum Leuchtturm zurückgeschlendert.

War der Puls in ihren Handgelenken in den letzten Monaten noch gerast, pochte er jetzt in gleichmäßigerem Takt. Zumindest für den Moment schien es ihr gelungen zu sein, die Tür zur Panik zu schließen. Aber sie wusste, dass die Angst schleichend zurückkommen würde, sobald die Dunkelheit hereinbrach, sobald sie ihr privates Handy einschaltete. Aber jetzt, in diesem Augenblick, war das alles fern. Sie konnte an andere Dinge denken. An die neue Kollegin Katja Bromander zum Beispiel. Heute würden sie die ganze Schicht gemeinsam im Auto verbringen. Sie machte einen schlauen Eindruck, hatte einen wachen Blick. Ein paar Tattoos an den Unterarmen und die kleinen Löcher in den Augenbrauen und entlang der Ohrmuscheln ließen Lilly vermuten, dass Katja als Teenager wohl Punk gewesen war. Blaue Haare, Lederjacke, übersät mit Nieten – sie konnte es vor sich sehen. Wogegen hatte sie rebelliert? Die Gesellschaft? Ihre Eltern?

Wie rebelliert man gegen jemanden, der selbst alles ausprobiert hat? Gegen eine Frau, die mit Sonnenhut auf dem Kopf und einem großen Glas Campari in der Hand damit prahlte, dass sie »damals drei Tage am Stück mit Madonnas Stylistin E eingeworfen« hatte.

Lillys Mutter hatte alles erlebt. War gereist und hatte die Welt gesehen. War zwei Jahre in San Francisco und drei Jahre in New York gewesen. Designstudium und Rockstars. Ecstasy, Gras und verschmierter schwarzer Kajal. Das Fotoalbum war voll mit Polaroids. In Paris war die Party weitergegangen. Kreative Kurse, neuer Bekanntenkreis, die geflickten Jeans wurden gegen Paillettenblazer mit Schulterpolstern getauscht. Job in einem berühmten Modehaus und Kokain. Eine hübsche Romanze in wohlhabenden Kreisen. Ein Fest, das mit einer Schwangerschaft zu Beginn des Freiheitsjahres 1989 schlagartig zu Ende war. Die leidenschaftliche Liebesgeschichte und die aufstrebende Designkarriere wurden durch einen deutlich alltäglicheren Job bei einer Modekette ersetzt, eine Wohnung in einem Stockholmer Vorort und einen Franzosen, der immer seltener von sich hören ließ, bis der Kontakt irgendwann ganz abriss. Es hatte immer ein Schatten von Verbitterung über der Dreizimmerwohnung in Skärholmen gelegen, die nicht war, was sie hätte sein können.

Wenn Lilly als Teenager spätabends betrunken oder bekifft nach Hause gekommen war, hatte ihre Mutter Eva bestenfalls belustigt gelächelt. Das war noch nicht mal cool gewesen. Also hatte Lilly stattdessen rebelliert, indem sie Hausaufgaben machte. Immer pünktlich war. Beim Fußball Tore schoss. Klassenbeste wurde. Das schien ihre Mutter jedenfalls mehr zu provozieren als alles andere. »Hab doch mal ein bisschen Spaß, verdammt«, hatte sie geknurrt. Bis zu dem Tag, an dem Lilly nach Hause kam und erzählte, dass sie im ersten Anlauf an der Polizeischule aufgenommen worden war. Das war der Moment, in dem ihre Mutter alle Hoffnung fahren ließ. Sie hatte keine Rebellin großgezogen. Sondern eine Polizistin.

 

»Sind Sie Lilly Hed?«

Eine tiefe Männerstimme riss Lilly aus ihren Gedanken. Sie drehte sich im Gras um und schirmte die blendende Sonne mit der Hand ab, um besser sehen zu können. Aus der langen Gestalt formte sich die Kontur eines Mannes in Hemd und Shorts. Seine dunkelblonden Haare waren raspelkurz, er war drahtig und muskulös. Sie tippte, dass er irgendeiner körperlichen Tätigkeit nachging, denn diese Art Muskeln bekam man nicht im Fitnessstudio. Er war vermutlich nicht älter als vierzig.

»Ja. Und wer sind Sie?«, antwortete sie mit einer gewissen Schärfe im Ton.

Sie stand auf und klopfte sich noch schnell das Gras von den Beinen. Sein Händedruck war fest, und sie versuchte, einigermaßen würdevoll zu wirken, obwohl sie nur ihren Badeanzug anhatte. War er ein Nachbar? Ging er vielleicht Hilda Enbom im Haus zur Hand?

Jetzt im Stehen war sie einen guten Kopf kleiner als er, und sie blickte in freundliche eisblaue Augen.

»Jesper Hansson. Ich bin Feuerwehrmann. Wehrführer, wenn ich im Dienst bin. Ich dachte, es wäre vielleicht nicht schlecht, wenn wir uns schon mal kennenlernen würden. Ich hoffe, es stört Sie nicht, dass ich Sie einfach so privat aufsuche, aber ich würde mich gern informell mit Ihnen unterhalten.«

»Aha?« Sie verschränkte abwartend die Arme vor der Brust. Fühlte sich viel zu leicht bekleidet für diese Art von Gespräch, auch wenn es ihrem Gegenüber gelang, den Blick auf ihr Gesicht zu richten. Dem Herrn Feuerwehrmann hatte wohl noch niemand gesagt, dass man auch erst mal anrufen konnte. Andererseits musste sie zugeben, dass sie ihr neues Handy kaum eingeschaltet hatte, seit sie hier angekommen war. Polizeifunk und Diensthandy während ihrer Schicht waren das Minimum, an das sie sich zu halten gedachte. Damit fühlte sie sich am sichersten.

Er schob die Ärmel seines hellblauen Hemds nach oben, schaute wieder hoch.

»Ich kenne Bertil Strömberg von klein auf. Er hat mir viel von der Starermittlerin erzählt, die nach Nynäshamn kommt.«

Lilly lächelte. Es war nicht unangenehm, das zu hören.

Er imitierte, bewusst oder unbewusst, ihre Körpersprache und verschränkte seine Arme vor der Brust.

»Es gehört zu meinem Job, präventiv tätig zu sein, und das nehme ich sehr ernst. Ich bin in ganz Södertörn unterwegs, und ich gehe auch in die Schulen und rede dort über Brandschutz. Aber wenn es dann trotzdem brennt, was beileibe nicht oft vorkommt, dann will ich wissen, was passiert ist. Und mit der Erklärung für das Feuer in Segersäng bin ich nicht zufrieden.«

Lilly durchforstete ihr Erinnerungsarchiv. Richtig, Bertil hatte den Hausbrand erwähnt.

»Kenneth Robertsson? Ich habe davon gehört.«

Er nickte.

»Genau. Das Feuer soll durch einen vergessenen Topf auf dem Herd ausgelöst worden sein, das war die Aussage der Techniker. Das ist an sich nichts Ungewöhnliches, aber da ist noch etwas anderes.« Er senkte die Stimme, sah sie durchdringend an. »Ich habe mich erkundigt. Haus und Grundstück waren extrem gepflegt. Der Großteil der Technik war modern und auf dem allerneuesten Stand. Trotzdem gab es offenbar keine funktionierenden Rauchmelder. Aber wirklich stutzig macht mich, dass im oberen Stock, also dort, wo der Mann in den Flammen umgekommen ist, die Fenster mit sehr diskreten kleinen Nägeln von außen zugenagelt waren. Von innen waren diese Fenster nicht zu öffnen.«

Sie hob die Augenbrauen.

»Wie bitte? Das ist ja wirklich merkwürdig. Selbst wenn man sein Haus kindersicher machen will, klingt das irre unpraktisch. Was sagen denn meine Kollegen dazu?«

»Deshalb bin ich hier. Bertil meint, dass Kenneth ein miserabler Heimwerker war, und ist überhaupt nicht darauf eingegangen, als ich ihm davon erzählt habe. Nichts deute auf ein Verbrechen hin, hätten die Kollegen vor Ort heute Morgen gesagt. Aber auf der anderen Seite ist es auch verflixt schwer, das zu beurteilen, nachdem der ganze Kasten bis auf die Grundmauern abgebrannt ist.«

Sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass er nicht an die Erklärung glaubte. Der Blick in den eisblauen Augen wirkte frustriert.

Sie sah ihn nachdenklich an.

»Und Sie gehen nicht davon aus, dass Kenneth selbst die Fenster vernagelt hat?«

»Das passt überhaupt nicht zu dem ganzen Rest. Er hätte sich nicht damit zufriedengegeben, ein paar Nägel in die Rahmen zu schlagen, er hätte bessere Fensterschlösser gekauft. Die einzige Begründung, die ich akzeptieren kann, ist, dass es ihm vermutlich schlechtging. Laut Bertil hatten Kenneth und seine Frau Karin Streit. Deshalb war er allein zu Hause.«

Sie hielt seinen Blick fest, folgte seinem Gedankengang.

»Sie denken also, dass jemand im Erdgeschoss Feuer gelegt hat? Und im Vorfeld die Fenster vernagelt hat, um Kenneth den Fluchtweg zu versperren? Und diese Person hat einen Moment abgepasst, in dem die restliche Familie weg war?« Ihr Mundwinkel zuckte. Freundlich, aber ein klein wenig spöttisch sagte sie: »Könnte es nicht vielleicht doch sein, dass Sie es ein bisschen persönlich nehmen, wenn es in Ihrem Revier brennt?«

Er lachte leise und sah plötzlich ein bisschen verlegen aus.

»Ja, okay, vielleicht haben Sie recht.«

Sie schob eine Haarsträhne beiseite, die in der leichten Brise vor ihrem Gesicht tanzte.

»Selbst wenn es Brandstiftung war, könnte es ja trotzdem Kenneth selbst gewesen sein. Womöglich war er auf die Versicherungssumme aus. Er hat das Feuer gelegt, es ging schief, und er saß in der Falle. Wissen Sie, wie es um die Finanzen des Ehepaars stand?«

Er schüttelte den Kopf.

»Nein, keine Ahnung. Nach außen hin sah alles gut aus.«

Lilly musterte ihn und versuchte, Gegenargumente zu finden, Erklärungen, die Jespers Verdacht entkräften würden, der an einem hellen Hochsommertag wie diesem so unwirklich erschien.

»Vielleicht war er auch schwer depressiv?«

»Vielleicht. Aber das ist eine wirklich miese Art zu sterben.«

Er rieb sich das Kinn mit den mindestens zwei Tage alten Bartstoppeln und blinzelte in die Sonne. Er schien sacken zu lassen, was sie gesagt hatte, und gab sich lächelnd geschlagen.

»Vermutlich habe ich mich geirrt. Oder – hoffentlich. Aber würden Sie mir trotzdem den Gefallen tun und sich die Sache einmal ansehen? Sie können das besser als ich.«

Ein seltenes Eingeständnis von einem Mann in Führungsposition, unabhängig von der Profession. So etwas wusste sie zu schätzen.

»Sie haben mich auf jeden Fall neugierig gemacht, das muss ich zugeben«, sagte sie.

Das Lächeln in seinen Augen verschwand.

»Was, wenn ich doch recht habe? Was, wenn ihn jemand umgebracht hat, jemand, der weiß, wie man seine Spuren verwischt? Allein der Gedanke, dass jemand absichtlich einen Brand gelegt haben könnte, macht mir Angst. Die Böden, die ganze Vegetation, alles ist so unglaublich trocken.« Er verschränkte wieder die Arme vor der Brust. »Die Leute freuen sich, dass jeden Tag Badewetter ist, und fühlen sich in Nynäshamn wie am Mittelmeer. Aber meine Kollegen und ich warten nur auf den Funken, der alles entzündet. Und vor einer Brandstiftung kann man sich nicht schützen.«

Das Letzte unterstrich er mit einer energischen Handbewegung.

Lillys halbnackter Rücken brannte inzwischen ein bisschen. Sie hatte vergessen, sich einzucremen. Sie bohrte die Zehen ins gelbe Gras und nickte.

»Nein, das stimmt«, sagte sie bestätigend und spürte, wie sich bei der Vorstellung ein Unbehagen in ihr breitmachte. »Davor kann man sich nicht schützen.«

9

Bertil Strömbergs Vorhersage bewahrheitete sich schon in der ersten Hälfte von Lillys Schicht. Sie bekamen die Meldung von einem Nachbarschaftsstreit in der Telegrafgatan. Das Haus, an dem Lilly und Katja eintrafen, war gepflegt, mit einem weiß verklinkerten Erdgeschoss, einem Obergeschoss, das mit rot gestrichenem Holz verkleidet war, und einem sorgfältig gestutzten, smaragdgrünen Rasen, für den zweifellos gegen die Bewässerungsbeschränkungen verstoßen wurde. Der Zaun war mit Ballons und Luftschlangen geschmückt und verriet, dass hier offensichtlich gefeiert wurde. Der Grund für den Einsatz fand sich im Garten, wo sich die Mehrzahl der schick gekleideten Gäste versammelt hatte. Zwei aufgebrachte Männer mittleren Alters wurden mit vereinten Kräften voneinander ferngehalten.

»Jetzt reiß dich doch mal zusammen, Papa«, versuchte ein junger Mann, seinen Vater zu beruhigen.

»Wer zur Hölle hat die Polizei angerufen?«, schimpfte eine Frau aufgebracht.

»So, jetzt beruhigen wir uns erst mal alle wieder«, sagte Lilly gelassen und baute sich zwischen den beiden Männern auf, die beim Anblick ihrer Uniform die Schultern strafften und aufhörten, aufeinander loszugehen. Der eine hatte einen besorgniserregend roten Kopf und trug eine gelb-rosa Papiergirlande um den Hals.

»Das geht nicht, wie Sie beide sich hier aufführen. Was ist denn überhaupt los?«, fragte Katja, die sich genau gegenüber von Lilly