In falscher Hand - Angela L. Forster - E-Book

In falscher Hand E-Book

Angela L. Forster

5,0

  • Herausgeber: CW Niemeyer
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Ein Krimi aus dem Alten Land Niemand, der dir glaubt … Niemand, der die Gefahr des nahen Todes kennt … In einer Seniorenresidenz im Hamburger Vorort Hausbruch wird eine Bewohnerin tot in ihrem Bett aufgefunden. Die Tote war dreiundachtzig Jahre alt. Für einen Menschen in diesem Alter nicht ungewöhnlich, so heißt es von der Heimleitung. Doch Erna von Hauken glaubt nicht an den natürlichen Tod ihrer agilen und lebensfrohen Freundin, denn an deren rechter Handinnenfläche zeigt sich ein merkwürdiger roter Streifen. Als die Bewohner einer weiteren Einrichtung im Alten Land von Brandstreifen an ihren Händen berichten und eine Seniorin aus dem zwölften Stock über ihren Balkon stürzt, übernimmt Hauptkommissarin Petra Taler mit ihrem Team den Fall.

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Seitenzahl: 446

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Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de© 2021 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8431-3

Angela L. ForsterIn falscher Hand

Für RichardTempus fugit, amor manet (Die Zeit vergeht, die Liebe bleibt)

Prolog

Wie jeden Nachmittag um siebzehn Uhr gönnte sich Konrad Brodersen seinen ostfriesischen Tee mit Kluntje. Ein Ritual, das er aus seiner Dithmarscher Heimat mit nach Hamburg-Blankenese ins Treppenviertel gebracht hatte, als er vor dreiundzwanzig Jahren seine Frau auf der Hochzeit eines Freundes kennenlernte.

Konrad saß in seinem Lieblingssessel mit Blick auf den Garten und schloss die Finger um den Rücken des Buches. Ein wenig Entspannen könnte nicht schaden. Der Tag war anstrengend gewesen. In zwei Seniorenheimen hatte er als Gutachter Pflegebetten auf ihren korrekten Schutz untersucht und aufgebrachte Heimleiter beruhigt, die über die anstehenden Kosten klagten.

Die große dunkle Standuhr in der Ecke, ein Erbstück seines Onkels, die er weiß hatte renovieren lassen, damit sie ins helle Mobiliar des Wohnzimmers passte, tickte beruhigend.

Konrad hörte ein klackendes Geräusch und schlug die Augen auf. Er war tatsächlich eingenickt. Im Wohnzimmer war es dunkel geworden. Nur das milchig-weiße Licht der Solarleuchten, die seine Frau um den Stamm des Apfelbaumes im Garten drapiert hatte, schien durch die Terrassentür ins Zimmer.

Und auch ohne sich umzudrehen, spürte er, dass jemand in der Tür stand. Dann sah er in der Spiegelung der Scheibe, wer sich ihm näherte. Irgendwie hatte er vorhergesehen, dass sein Handeln und die Entscheidungen für ihn Konsequenzen haben würden. Trotzdem war er nicht vorbereitet. Nicht so.

Irgendwo zwischen der Tür und seinem Sessel knarrte eine der Holzdielen, doch Konrad blieb starr sitzen, ohne sich umzudrehen. Eisige Stille trat ein.

Er sah, wie der Eindringling lächelte. Es war kein freundliches, sondern eher ein höhnisches und überhebliches Lächeln. Ein Lächeln, von dem beide wussten, was es zu bedeuten hatte.

„Was wollen Sie?“, fragte er dennoch leise. Der Eindringling blieb stehen, und auch Konrad verharrte weiter ungerührt im Sessel. „Also, machen Sie den Mund auf! Was wollen Sie?“, rief er lauter. Er würde mit der Situation umgehen können. Doch als er eine Hand auf seiner Schulter und einen harten Druck im Nacken spürte, wusste er, dass seine Leichtsinnigkeit, sich nicht umzudrehen und dem Gegenüber Paroli zu bieten, ein Fehler gewesen war.

Kapitel 1

Auf dem Dach der Seniorenresidenz Hanseblick über dem vierzehnten Stock in Hamburg-Hausbruch stand die sechsundachtzigjährige Erna von Hauken und hing ihren Erinnerungen nach.

Drei Monate war es her, seitdem ihre Freundin Martha Blumenthal verstorben war. In einem Handy-Seniorenkurs der Volkshochschule hatten sich die Seniorinnen vor vier Jahren kennengelernt und angefreundet. Während Martha selten von ihren zwei Kindern und vier Enkeln Besuch bekam, telefonierte Erna von Hauken regelmäßig mit ihrem einzigen Enkel Oliver Wahlfeld, der als Journalist im ostfriesischen Jever lebte.

Erna zweifelte an dem natürlichen Tod ihrer Freundin. Mit ihren dreiundachtzig Jahren war Martha, abgesehen von kleinen Zipperleins, eine gesunde fröhliche Seniorin, die Spaß am Leben hatte. Grund des Zweifels war der etwa zwei Zentimeter lange rote Streifen, der sich in Marthas rechter Handinnenfläche befand, als Erna ihre Freundin am frühen Morgen tot in ihrem Bett gefunden hatte. Immer wieder hatte ihr Martha von Stromschlägen, die sie am Metallgestänge ihres Bettes erlitt, berichtet. Vermehrt hatte sie die Leiterin der Residenz, Sonja Rubel, darauf aufmerksam gemacht. Es läge an ihren Hausschuhen, der Luftfeuchtigkeit oder ihrer Handcreme, hatte diese abgewiegelt.

Der Streifen, den auch Erna bei der Leiterin ansprach, könne überall entstanden sein, möglicherweise beim gemeinsamen Kochen. Er hätte absolut nichts mit dem Tod und nichts mit dem Bett zu tun. Ein Tod im Alter von dreiundachtzig Jahren sei traurig, aber der Lauf des Lebens. Dass Martha Blumenthal nicht eines natürlichen Todes gestorben sei, sei eine absurde Behauptung, die Erna schleunigst vergessen sollte, hatte ihr Sonja Rubel an den Kopf gedonnert. Dies sei ein gut gemeinter Rat, den sie ihr empfahl, anzunehmen.

Doch Erna wollte keinen Rat, der wie eine Drohung klang, und sie wollte nicht vergessen. Sie wusste es besser.

Um acht Uhr hatte Erna an Marthas Wohnungstür geklingelt, wie jeden Morgen, wenn sie zusammen zum Frühstück gehen wollten. Martha hatte nicht geöffnet. Sie, die morgens um sieben Uhr aufstand und ihre Sport­einheiten vor dem offenen Fenster ausführte. Wie du das schaffst, hatte Erna immer gesagt und gestaunt, wenn die Freundin mit Streckübungen ihren Körper wie eine geschmeidige Katze dehnte.

An diesem Morgen war alles anders. Aus Marthas Wohnung war kein Laut zu hören, keine Musik, die sie für die Zeit ihrer Turnübungen immer anstellte. Dreimal hatte Erna geklingelt und geklopft, bevor sie Marthas Wohnungsschlüssel, den die Freundinnen gegenseitig besaßen, aus der Tasche gezogen und aufgeschlossen hatte. Martha lag tot im Bett.

Marthas Verwandtschaft und der Dienststellenleiter der Harburger Wache, Uwe Friedrichsen, den Erna auf ihren Verdacht ansprach, hielten sich an die Aussage der Residenzleiterin. Der Verlust ihrer Freundin täte ihm leid, erklärte Uwe Friedrichsen. Doch laut des Befundes der Rechtsmedizin war Martha ohne Fremdeinwirkung während des Schlafes verstorben. Der rote Streifen von knapp zwei Zentimetern in ihrer Handinnenfläche, der zwar auf eine Verbrennung hinwies, der aber, wie die Heimleitung erklärte, beim gemeinsamen Kochen in der Residenz entstanden sei, stimmte Rechtsmediziner Heiner Jensen zu. Auch Erna von Haukens Einwand, sie hätte neben Martha in der Küche gestanden und es wäre ihr aufgefallen, hätte sich ihre Freundin verbrannt, fand weder Gehör noch Verständnis.

Über Ernas Gesicht liefen die Tränen. So oft hatten sie zusammen auf der Dachterrasse der Hanseblick Seniorenresidenz auf einer Bank gesessen, über die Vergangenheit ihrer Leben sinniert und der Sonne zugesehen, wie sie über den Dächern der Hansestadt versank. Erna von Hauken, die Hamburger Kaffeeröstereiwitwe des erfolgreichen Heinrich von Hauken, und Martha Blumenthal. Zwei Frauen, die in der Seniorenresidenz Hanseblick zusammengefunden hatten.

„Oliver“, sagte Erna am Abend, als sie mit ihrem Enkel über einen Videoanruf telefonierte, „ich kann das mit Marthas Tod immer noch nicht hinnehmen. Ich glaube einfach nicht an einen natürlichen Tod. Kannst du nicht mit mir zusammen zur Kripo gehen? Vielleicht erreichst du als Journalist mehr als ich alte Frau.“

„Oma, ich komme am Wochenende nach Hamburg, dann besprechen wir alles. Ist das in Ordnung?“

„Du bist mein liebster Enkel“, sagte Erna.

„Natürlich bin ich das. Du hast ja nur einen Enkel.“ Oliver lachte.

Kapitel 2

„Chef, ich bin im Mutterschutz.“ Petra Taler stellte die Mithörfunktion ihres Handys ein.

„Frau Taler, Sie sind meine fähigste Kommissarin, auch wenn wir nicht immer einer Meinung sind und Sie mich mit Ihren Alleingängen in der Vergangenheit oft zur Weißglut getrieben haben.“

„Herr Friedrichsen, hier ist Oberstaatsanwalt Lüdersen. Wie Ihnen meine Frau erklärte – sie ist im Mutterschutz. Unsere Tochter ist drei Monate alt“, übernahm Lüdersen das Gespräch.

„Herr Oberstaatsanwalt, meinen herzlichen Glückwunsch zur Beförderung. Das ist ja ein ordentlicher Sprung auf der Karriereleiter.“ Friedrichsen räusperte sich kurz. „Und nun sind Sie in Elternzeit, wie ich hörte. Sehr vorbildlich. Wir Männer dürfen uns nicht hinter unserer Weiblichkeit verstecken und müssen zeigen, was wir können“, fuhr er fort.

„Vielen Dank, aber meine Elternzeit steht nicht zum Thema“, berichtigte Lüdersen.

„Nein, natürlich nicht. Ich möchte Ihre Frau bitten, dass sie für zwei, drei Stunden ins Büro kommt. Es gibt eine Seniorin, Erna von Hauken, die mich seit drei Monaten wöchentlich aufsucht und mir vehement vorbetet, dass ihre dreiundachtzigjährige Freundin keines natürlichen Todes gestorben sei. Für Ihre Frau wären ein paar Telefonate mit der Heimaufsichtsbehörde, der Heimleiterin und vielleicht auch mit dem Pflegepersonal nötig. Die Seniorenresidenz Hanseblick hat ihren Sitz nicht weit von Ihnen in Hamburg-Hausbruch. Es wäre schön, wenn Ihre Frau Erna von Hauken erklären könnte, dass sie mit ihren Vermutungen auf dem Holzwege ist. Mir will diese aufdringliche Person nicht zuhören.“

„Einen Moment, Herr Friedrichsen“, bat Lüdersen und stellte die Mithörfunktion aus. „Willst du das?“, flüsterte Lüdersen zu Petra, die unentwegt an seinem Hemdärmel zupfte.

„Ich rede mit Friedrichsen“, flüsterte sie ebenfalls und stellte die Mithörfunktion wieder an. „Chef, ich bin es wieder. Was ist mit Hauptkommissarin Anna Hartung, warum kann sie den Fall, wenn es denn ein Fall ist, nicht übernehmen? Oder Hauptkommissar Nils Seefeld?“

„Frau Hartung hat in die Pressestelle gewechselt. Ihre beiden pubertierenden rebellischen Kinder, vor allem der Sohn, brauchen ihre Mutter öfters zu Hause. Das kann unser Beruf selten bieten. Und Kollege Seefeld, nein, er ist als Mann für das Gespräch mit der Hauken ungeeignet.“

„Verstehe. Also gut, ich komme morgen Vormittag für zwei Stunden. Ich telefoniere die Stationen ab und spreche mit der Seniorin. Aber für mehr können Sie mich nicht einplanen.“

„Wunderbar, Frau Taler. Ich wusste, dass Sie mich nicht im Stich lassen. Aber da ist noch etwas.“

„Ja?“

„Der Enkel der Seniorin hat sich angekündigt. Er ist Journalist aus Jever. Die Hauken, seine Oma, ist die bekannte Kaffeeröstereiwitwe aus Hamburg. Eine noch immer einfluss­reiche Hamburger Persönlichkeit mit weitreichenden Kontakten zur oberen Gesellschaft. Sie sind in der High Society aufgewachsen, kennen sich mit Menschen dieses Schlages aus und sind prädestiniert, die Gespräche zu führen.“

Petra schmunzelte. Sie war zwar im Nobelvorort Grünwald der Münchner Oberklassengesellschaft aufgewachsen, doch zugehörig hatte sie sich dem Geldadel zu keiner Zeit gefühlt. Sehr zum Verdruss ihrer Eltern.

„Ich werde mich bemühen“, antwortete Petra. „Gibt es Hintergrundinformationen zum Tod von Ernas Freundin? Wurde nachgeforscht, ob die Dame mit ihrer Vermutung wirklich auf dem Holzweg ist?“

„Nein. Aber Rechtsmediziner Heiner Jensens Bericht liegt vor, der ebenso, wie auch die Heimleitung, bestätigt, dass Martha Blumenthal eines natürlichen Todes gestorben ist. Nur einsehen will die Seniorin es nicht. Jede Woche erzählt sie mir von einem roten Streifen in der Hand ihrer Freundin, der am Tag zuvor nicht da gewesen sei.“

„Was sagt Jensen?“

„Dass der Streifen, der einen Tag alt war, von einer Verbrennung herrührt, so wie es auch die Heimleitung vermutet. Eine Verbrennung, die beim gemeinsamen Kochen am Vortag in der Residenz entstanden ist. So etwas passiert schnell. Am Kochtopf, an der Herdplatte, ja selbst an einem metallenen Gegenstand, der nahe dem Herd liegt.“

„Also gut, Chef. Bis morgen.“ Petra beendete das Gespräch.

„Hast du vergessen, meine Schöne, dass übermorgen deine Mutter bei uns aufschlägt und uns eine Woche mit ihrer Anwesenheit beehrt? Und sei ehrlich, du willst nur flüchten.“ Lüdersen hob die Augenbrauen.

„Tja, einem Oberstaatsanwalt kann ich nichts vormachen“, sagte Petra, während sie sich zärtlich an die Brust ihres Mannes schmiegte.

„Du kleines Biest“, neckte Lüdersen. „Du lässt mich mit meinem Schwiegermonster alleine. Dafür darf ich mir etwas wünschen.“

„Ja? Wer sagt das?“ Petra sah in Lüdersens schokoladenbraune Augen. Wie sie sein Lächeln liebte!

„Ich sage das, aber …“ Lüdersen stoppte seinen Satz, als das Babyfon ansprang und Farina Johanna zu schreien anfing.

„Also, Frau Lüdersen, dann hol deine Weiblichkeit raus und beruhige deine Tochter“, sagte Petra und ließ sich aufs Sofa fallen.

Um zehn Uhr am nächsten Tag betrat Petra die Harburger Wache drei Monate nach der Geburt ihrer Tochter zum ersten Mal wieder. Sie genoss die Zeit mit Farina Johanna, gestand sich aber ein, dass sie ihre Arbeit vermisste. Da Lüdersen, trotz seiner gerade erhaltenen Beförderung zum Oberstaatsanwalt, zwei Jahre Elternzeit genommen hatte, würde sie in einem Monat wieder regulär arbeiten. Warum nicht vier Wochen früher?

„Seefeld, guten Morgen. Ich bin wieder da“, sagte Petra, als sie ihr Büro betrat, an dessen Schreibtisch bis vor ein paar Tagen ihre Vertretung Kollegin Hartung gesessen hatte.

„Guten Morgen, Frau Taler. Ich freue mich, Sie zu sehen. Wie geht es der Kleinen?“

„Seefeld, es ist unglaublich. Täglich entdecke ich Neues an ihr. Ob es die kleinen Finger sind, die Haare, die sich wie bei ihrem Vater zu locken beginnen, wie sie lacht oder einen mit ihren Augen ansieht. Ich hätte nicht gedacht, dass ich so glücklich sein kann. Aber bevor ich anfange, Sie zu langweilen, zum Fall, wenn es denn ein Fall ist. Der Chef sagt, es ist eine Bewohnerin aus der Seniorenresidenz Hanseblick, die den natürlichen Tod ihrer Freundin anzweifelt.“

„Erna von Hauken, Hamburger Kaffeeröstereiwitwe. Sie taucht jede Woche auf und will Friedrichsen sprechen. Mit mir, dem Fußvolk, gibt sie sich nicht ab.“

„Sehen wir, was ich ausrichten kann, so als Frau. Wann kommt sie mit ihrem Enkel?“

„Jeden Augenblick“, sagte Hauptkommissar Nils Seefeld. „Sind die Kirschen für die Kollegen?“ Seefeld schielte auf den Weidenkorb, den Petra auf dem Besuchertisch abgestellt hatte.

„Nein, Seefeld, die sind alle für Sie. Für die Kollegen steht ein Korb im Konferenzraum. Horst sagt, so viel Marmelade und Kirschkuchen kann er nicht kochen und backen, wie die Bäume dieses Jahr mit Früchten voll hängen. Obwohl die Kunden ihm im Hofladen seine Biokirschen aus der Hand reißen, bleibt immer noch genug übrig. Es wäre schade, wenn sie an den Bäumen verfaulen.“

„Liebend gerne nehme ich sie“, sagte Seefeld, als es an der Tür klopfte.

Eine weißhaarige Seniorin mit wachen grauen Augen bat, mit ihrem Enkel eintreten zu dürfen. Sie stellte sich und ihren Enkel vor und reichte erst Petra, dann Seefeld die Hand. Dienststellenleiter Friedrichsen trat hinter dem Besuch ins Büro.

„Frau von Hauken, Herr Wahlfeld, Chef, bitte nehmen Sie Platz. Ich bin Hauptkommissarin Petra Taler, und das ist mein Kollege Hauptkommissar Nils Seefeld.“ Petra griff nach dem Kirschenkorb und reichte ihn Seefeld über den Schreibtisch. „Mein Chef, Herr Friedrichsen, bat mich, sich Ihrer Angelegenheit anzunehmen. Wie ich erfuhr, glauben Sie nicht an den natürlichen Tod Ihrer Freundin. Bitte erzählen Sie mir, was Ihren Widerspruch auslöst.“

„Das versuche ich seit drei Monaten Ihrem Direktor zu erklären, aber er schmettert mich immer ab.“ Erna von Hauken blickte zu Friedrichsen, der ihr am Besuchertisch gegenübersaß. „Aus diesem Grund habe ich meinen Enkel mitgebracht. Er ist Journalist in Jever.“ Erna von Hauken nickte zu einem blonden sportlichen Mittdreißiger in Jeans und kurzärmeligem, gelb-blau kariertem Baumwollhemd.

„Ich erzähle weiter, Oma, bitte bleibe ganz ruhig. Rege dich nicht auf“, sagte Oliver Wahlfeld, und dann an Petra gewandt: „Meine Oma bat mich, mitzukommen, nicht, weil ich einen Artikel schreiben will, sondern rein zur Unterstützung. Es ist so, mit meinem Kollegen Markus Winter recherchierte ich 2017 für einen Bericht, in dem es um 600.000 elektrisch betriebene Betten in Pflegeheimen und Seniorenresidenzen ging. Davon gibt es rund eine Million in Deutschland. Einige dieser Betten waren für Todesfälle der Bewohner verantwortlich. In Krefeld, in Bonn, Rheinland-Pfalz, Buchholz in der Nordheide, um nur einige Orte in Deutschland zu nennen, kamen Menschen zu Tode. Die Kabel der Motoren verhedderten sich im Metallrahmen oder waren eingeklemmt oder Nässe drang in den Motor ein, der direkt und mittig unter der Matratze sitzt. Ein Kurzschluss löste einen Funken aus, und das Bett fing Feuer. Auch in einigen privaten Haushalten führten elektrisch betriebene Pflegebetten zum Tod ihrer Benutzer. Die Matratzen gingen in Flammen auf. Für die Bewohner gab es keine Überlebenschance. Diese Vorfälle waren kein Einzelfall.“

„Das ist alles furchtbar schrecklich. Ich hörte von diesen Missständen. Doch sind diese in den Pflegeheimen längst behoben. Die Heimleiter mussten auf Anordnung der Gesundheitsministerien alle Betten überprüfen lassen. Die Landesbehörden für Medizinprodukte leiteten 2017 drastische Maßnahmen ein, um das unvertretbare Risiko von Bränden zu eliminieren, damit sich solche schrecklichen Unglücke nicht wiederholen. Die Betten wurden sofort vom Stromnetz genommen“, bestätigte Friedrichsen. „Und ich wiederhole mich, wenn ich sage, im Fall Martha Blumenthal hat unser Rechtsmediziner keine Fremdeinwirkung festgestellt. Ihre Freundin hatte keine Kugel im Kopf, kein Messer im Bauch, und auch die toxikologische Untersuchung konnte keine Substanzen feststellen, die auf eine Vergiftung hindeuteten.“

„Ja, Herr Direktor, das höre ich von Ihnen immer wieder“, mischte sich Erna von Hauken mit geröteten Wangen ein. „Aber das stimmt nicht. Martha ist …“

„… ermordet worden?“ Petra zog die Augenbrauen hoch.

„Ja. Nein. Ich weiß es nicht. Ich bin durcheinander.“

„Noch einmal, Frau von Hauken: Sie können absolut sicher sein, dass Ihre Freundin eines natürlichen Todes gestorben ist. Jeder Bewohner, der in einem Heim verstirbt, wird beschlagnahmt und obduziert, damit genau festgestellt werden kann, woran er gestorben ist“, fügte Petra hinzu. Sie war froh, dass sie vor dem Besuch der Seniorin ein klärendes Gespräch mit dem Rechtsmediziner Heiner Jensen hatte führen können.

Beruhigend griff Oliver Wahlfeld nach der Hand seiner Oma. „Was meine Oma sagen will, ist, dass Martha, ihre Freundin, ihr mitteilte, dass sie ab und an einen Stromschlag erlitt, wenn sie eine der Metallverstrebungen des Bettes berührte. Als sie mir davon erzählte, bin ich natürlich hellhörig geworden. Ein defektes Bett könnte in der Residenz übersehen worden und Martha zum Verhängnis geworden sein. Wer sagt denn, dass alle schadhaften Betten ausgetauscht wurden? Außerdem besteht das Bettenproblem nicht erst seit 2017, sondern schon seit dem Jahre 2001. Und die Kosten der Betten für Umrüstung oder Austausch gehen in die Millionen an Materialkosten und Arbeitslöhnen. Da ist es durchaus möglich, dass ein Bett gerne übersehen wurde.“

„Niemals, Herr Wahlfeld. Wie ich sagte, diese Missstände sind ausgeräumt. Frau Blumenthal ist an keinem Stromschlag verstorben“, bekräftigte Friedrichsen erneut. „Auch die Hersteller der Betten haben versichert, dass sie nach neuesten Erkenntnissen und aufgrund hoher Sicherheitstechnik die Betten zur Verfügung gestellt haben.“

„Das ist wohl richtig, Herr Friedrichsen, dennoch wurde auch von den Herstellern der Betten eingeräumt, dass sie keine Erklärung für die Brände hatten, aber die Betten nach den Todesfällen erneuert und anders konstruiert haben. Und somit könnte es gut sein, dass den späteren Gutachtern ein Bett, genau Martha Blumenthals Bett, durch das Sieb gerutscht ist.“

„Nein, Herr Wahlfeld. Unser Rechtsmediziner bestätigt, dass die Todesursache ein natürlicher Tod und kein Stromschlag war. Im Übrigen war 2017 sogar das ARD-Fernsehen dabei, als ein TÜV-Gutachter in einem Pflegeheim die Betten kontrollierte und einige vom Stromnetz nehmen ließ, da sie gravierende Sicherheitsmängel beim Knick- und Feuchtigkeitsschutz aufwiesen.“

„Ich kann mich nicht erinnern, dass bei uns in der Residenz das Fernsehen war oder ein Gutachter sich Mar­thas oder mein Bett angesehen hat. Außerdem war Martha nicht inkontinent“, bemerkte Erna von Hauken entrüstet.

„Eben, sehen Sie, Frau von Hauken, darum …“, begann Friedrichsen, als er von Oliver Wahlfeld unterbrochen wurde.

„Herr Direktor Friedrichsen, was denken Sie, können wir tun, damit meine Oma Frieden findet?“

„Dienststellenleiter. Ich bin kein Direktor. Was schlagen Sie vor?“ Friedrichsen lehnte sich wartend an die Stuhllehne.

„Ich schlage ein erneutes Gutachten vor, das Martha Blumenthals ehemaliges Bett untersucht, Herr Dienststellenleiter“, gab Petra mit leicht amüsiertem Unterton zurück.

„Das kann ich nicht anordnen“, erwiderte Friedrichsen kopfschüttelnd. „Wie soll ich das begründen?“ Seine Stimme klang rau und provokativ.

„Sie könnten sagen, wie es ist. Dass der Verdacht besteht, dass ein Bett durchs Sieb gerutscht ist“, beharrte Petra.

Friedrichsen zögerte einen kurzen Moment, bevor er sagte: „Nein. Das sprengt unseren Kompetenzrahmen. Es gibt einen rechtsmedizinischen Bericht, der besagt, dass Martha Blumenthal eines natürlichen Todes gestorben ist. Das reicht mir. Noch mehr Wirbel ist nicht nötig. Die Residenz Hanseblick besitzt einen ausgezeichneten Ruf“, wiegelte er barsch ab.

„Ja, weil nichts nach außen dringt, Herr Direktor … Herr Dienststellenleiter. Aber wenn Sie wüssten, wie es hinter den Türen dieser gelobten Residenz aussieht, dann …“, begann Erna von Hauken, verstummte aber sofort, als ihr Enkel seine Hand auf ihren Unterarm legte.

„Davon hast du mir nie erzählt, Oma“, sagte Oliver. „Ich dachte, dir geht es gut in der Residenz.“

„Warum sollte ich dir etwas erzählen, mien Jung? Du würdest dir nur Sorgen machen. Ich kann mir ja zusätzlich etwas zu essen kaufen, wenn es knapp wird, habe meine Wohnung und kann verreisen. Aber viele Bewohner, die nur eine kleine Rente haben und in einem Zimmer leben, oder die, denen nur vierzig Euro Taschengeld im Monat bleiben, die nicht das Heim verschluckt, die würgen angebrannte und kalte Bratkartoffeln runter. Viele wühlen in Abfallcontainern nach Essbarem. Junge, was ich alles gehört habe … denen geht es verdammt mies. Aber es ist nicht nur das Essen, an dem gespart wird. Auch die medizinische Versorgung, der Respekt einem anderen Menschen gegenüber lassen zu wünschen übrig.“

„Frau von Hauken, kein Pflegeheim ist frei von üblen Nachreden, und recht kann man es leider nicht allen Bewohnern machen“, mischte sich Friedrichsen ein. Seine Gesichtszüge verhärteten sich zusehends.

„Siehst du, Oliver, mir wird nicht zugehört. Immer kontert Herr Direktor dagegen. Egal, was ich sage.“

„Herr Friedrichsen“, begann Oliver Wahlfeld, „was meine Oma sagen will, ist, dass es nicht um zu lange Fingernägel, sondern um Leib und Leben geht. Vernünftiges Essen wie auch eine vernünftige Pflege sind ein Grundbedürfnis eines jeden Menschen, das, und da kann ich mich auf die Angaben meiner Oma verlassen, im Hanseblick anscheinend vernachlässigt wird. Aber“, Oliver wandte sich an Erna von Hauken: „Oma, du hättest mir eher etwas von den Missständen in der Residenz erzählen sollen.“

„Ja, ich weiß, mien Jung. So richtig hab ich es ja jetzt erst die letzten Wochen mitbekommen, als ich mich mit einer Mitbewohnerin aus der neunten Etage unterhalten hab. In der ersten bis zur zehnten Etage leben die Bewohner, denen das Sozialamt den Aufenthalt oder einen Zuschuss zahlt. Ab der elften bis zur vierzehnten Etage wohnen die Selbstzahler. Ich sage das nur, weil sie mir die scheußlichen Dinge erzählt hat und damit klar wird, warum die Essensausgabe in zwei Schichten erfolgt. Erst wir aus den oberen Etagen und dann die Bewohner der unteren Etagen. Die einen sollen nicht sehen, was bei den anderen auf dem Teller liegt.“ Erna von Hauken drückte die Hand ihres Enkels.

„Ich verspreche dir, Oma, ich werde der Sache auf den Grund gehen, und damit meine ich nicht nur Marthas Tod, sondern allen Dingen, von denen du mir längst hättest erzählen sollen. Ich befürchte nur, dass uns weder Herr Friedrichsen noch Frau Taler und ihr Kollege weiterhelfen können. In diesen Fällen müssen wir uns an die Heimaufsicht, die FQA, wenden. Die Fachstelle für Pflege- und Behinderteneinrichtungen – Qualitätsentwicklung und Aufsicht. Wegen des Bettes ist das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte in Bonn zuständig, denn Pflegebetten sind Medizinprodukte.“

„Prima, Sie sind ja bestens informiert, Herr Wahlfeld, und wissen, wie Sie vorgehen müssen. Bestellen Sie einen Gutachter, den Sie natürlich selbst vergüten. Somit ist eine adäquate Lösung gefunden, mit der wir allseits zufrieden leben.“ Friedrichsen stand auf und sah auf seine Armbanduhr. „Sie entschuldigen mich, ich habe noch einen Termin.“ Er verabschiedete sich und eilte aus dem Büro.

„Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Frau von Hauken, Herr Wahlfeld?“, fragte Petra, als die Tür hinter ihrem Chef ins Schloss gefallen war.

„Sie haben uns zugehört, das ist mehr, als wir erhofft haben“, antwortete der Journalist.

„Frau von Hauken, darf ich auch Sie fragen, ob wir eine Lösung gefunden haben, die Sie beruhigt?“

„Nein.“ Der Blick der Seniorin flatterte. „Ihr Chef hat mich abgeschmettert, wie soll da eine adäquate Lösung herauskommen? Aber ich bin froh, dass mein Enkel sich jetzt der Sache annimmt. Ich habe ihm viel zu erzählen.“ Erna von Hauken erhob sich aus dem Besucherstuhl, und Oliver Wahlfeld tat es ihr gleich.

„Frau von Hauken, Herr Wahlfeld, ich wünsche Ihnen alles Gute. Ich gebe Ihnen meine Karte. Sie können mich anrufen …“ Petra zögerte. Ja, wann sollten sie sie anrufen? Friedrichsen hatte gesagt, dass er weder etwas tun konnte noch wollte. Doch irgendwie spürte Petra, dass das Zusammentreffen mit der alten Dame und ihrem Enkel kein einmaliges Treffen bleiben würde. Auf jeden Fall würde sie mit Friedrichsen über die Anschuldigungen der Seniorin, die diese dem Heim gegenüber vorbrachte, reden. Immer wieder berichteten die Medien über Missstände in Pflegeheimen, in denen die Bewohner unterversorgt in katastrophalen Zuständen lebten. Wenn dies in der Seniorenresidenz Hanseblick ebenso war, dann würde sie nicht tatenlos zusehen.

Kapitel 3

Petra stand am Harburger Bahnhof und winkte ihrer Mutter, Genoveva Taler, die aus dem Intercity stieg. Die sechs Stunden Fahrtzeit von München nach Hamburg-Harburg schienen an der Mittfünfzigerin spurlos vorbeigegangen zu sein. Ihr Teint war rosig erfrischt, und ihre blonde Haarbanane saß wie frisch frisiert. In einem hautengen beigefarbenen Kostüm mit knielangem Rock stöckelte sie in dunkelbraunen Wildlederpumps, einen schwarzen Glanzlackkoffer hinter sich herziehend, Petra entgegen.

Beim ersten Zusammentreffen auf ihrem Polterabend hatte Lüdersens Vater Genoveva scherzhaft gefragt, ob sie im Businesskostüm zur Welt gekommen sei. Genoveva hatte die humorvolle Äußerung als unzivilisiert abgetan und den Abend kein Wort mehr mit dem Norweger gewechselt.

Petra liebte ihren Schwiegervater, diesen blonden norwegischen Hünen, der die Ruhe eines Berges mit Herzenswärme ausstrahlte und den nichts erschüttern konnte. Er war so anders als ihr kühler strenger Vater, der sie nicht einmal als Kind in den Arm genommen, beruhigt oder ihr die Tränen getrocknet hatte, wenn sie hingefallen war.

„Kind, wo ist dein Mann?“, plapperte Genoveva los. Sie drückte Petra den Griff des Hartschalenkoffers in die Hand, der so groß war, als wolle sie den Sommer über im Alten Land verweilen.

„Guten Tag, Mutter. Jan ist bei Farina zu Hause. Ich schaffe es alleine, dich ins Alte Land zu fahren.“

„Herrschaftszeiten. Alte Land. Wie sich das anhört! In der Pampa war ich zuletzt an Oma Johannas Be­erdigung vor vier, fünf Jahren. Oder sind es sechs Jahre? Na, egal. Wobei dir das Landleben gut zu bekommen scheint. Du siehst, na ja, runder aus.“

Petra schnaufte und riss sich zusammen. In den ersten Minuten mit ihrer Mutter wollte sie nicht gleich auf Konfrontationskurs gehen.

„Hast du das Haus inzwischen renoviert oder muss ich befürchten, von morschen Bauernhausbalken des Nachts erschlagen zu werden? Genug Geld hat dir Johanna ja vererbt“, plapperte Genoveva im bayrischen Dialekt, den die zugezogene und angeheiratete Kölnerin seit den Günwalder Lebensjahren perfekt beherrschte.

„Du bekommst im Erdgeschoss das schönste Zimmer. Horst hat es extra für dich neu gestrichen.“

„Gestrichen. Horst, ach ja, der Obdachlose, den du aufgelesen hast.“ Genovevas Worte klangen ablehnend und missgestimmt.

„Horst bewirtschaftet als Gärtner und Untermieter die Obstplantage und kümmert sich um den Hofverkauf. Er ist keineswegs mehr obdachlos, Mutter.“

„So, na ja. Wenn du es sagst. Wo steht dein Auto?“

„Gleich hier, Mutter“, erwiderte Petra, nachdem sie das rote, aus Backstein erbaute Bahnhofsgebäude verlassen hatten, das nichts von seinem im achtzehnten Jahrhundert erbauten Charme verloren hatte.

„Na, wenigstens verfrachtest du mich nicht in Oma Johannas ollen Käfer. Was ein Aufstieg, dass man dir endlich einen Dienstwagen zugeteilt hat.“

Sie versucht es schon wieder. „Mutter, hör auf, auf meinem Job als Polizistin herumzuhacken. Deine Erwartungen an mich unterscheiden sich von den meinen ganz gravierend. Begreife endlich, dass ich nicht in Vaters Fußstapfen treten wollte, um Rechtsanwältin und Richterin zu werden. Vor deinen Freundinnen beim Brunch im Grünwalder Klub klingt mein Beruf vielleicht öde und unterbezahlt, aber es ist ein Job, den ich liebe. Und ja, ich habe einen Dienstwagen, aber dieser Wagen gehört Jan. Da ich erst im nächsten Monat wieder arbeite, steht meiner auf dem Polizeihof.“ Dass ihr Dienstwagen kein Dienstwagen war, sondern Lüdersen ihn für sie gekauft hatte, musste ihre Mutter ja nicht wissen. Auch nicht, dass deswegen auf der Wache hinter ihrem Rücken getuschelt wurde und es einige Monate gedauert hatte, bis die Verbindung einer Polizistin zu einem Staatsanwalt anerkannt und sie als bayrische Kollegin akzeptiert wurde.

Ihre Mutter gab einen höhnischen Laut von sich. „Das verstehe ich sowieso nicht. Wieso willst du wieder arbeiten? Ich meine, ums Geld kann es euch doch nicht gehen. Dein Mann ist zum Oberstaatsanwalt befördert worden.“

Petra nickte stumm, während sie den Koffer ihrer Mutter in den Kofferraum verfrachtete. Das konnte ja eine Woche werden. Sie stöhnte auf.

„Was stöhnst du? Ich hab nichts Falsches gesagt. Den Kitt vom Fensterbrett werdet ihr kaum kauen. Du mit Omas fettem Erbe und er mit seinem Job. Ihr lebt doch wie die Made im Speck.“

„Mutter, das sind genug Sprichwörter, würdest du jetzt bitte einsteigen?“, bemerkte Petra betont höflich. Musste sie das leidige Thema um Großmutters Erbe, von dem ihre Eltern den Pflichtteil erhielten, weil Johanna Petra als Haupterbin eingesetzt hatte, gleich bei ihrer Ankunft ansprechen? War sie nur deshalb zu Besuch gekommen?

Als Oma Johanna vor fünf Jahren verstarb, hatte sie Petra das Bauernhofanwesen in Jork-Königreich vermacht und ein generöses Barvermögen, das jedoch durch die Sanierungskosten des maroden Hauses und der angrenzenden Nebengebäude reichlich geschrumpft war. Und sicher wäre es ihr möglich, ein angenehmes Leben ohne Arbeit zu führen, aber das kam für Petra nicht infrage. Sie liebte ihre Arbeit, die für sie nicht nur ein Beruf, sondern eine Berufung war. Niemals hätte sie, wie ihr Vater, im Richterstuhl sitzend ein mildes Urteil für einen Schwerverbrecher verlesen können, weil keine ausreichenden Beweise vorlagen.

„Na, und dann das Kind. Es braucht doch seine Mutter. Wie alt ist es jetzt? Zwei Monate?“

„Mutter, das Kind heißt Farina Johanna, und sie ist drei Monate alt“, antwortete Petra schärfer als beabsichtigt. Sollte sie ihre Mutter gleich wieder in den Zug nach München setzen?

„Drei Monate, es ist viel zu klein. Ich hab nach deinem Bruder und dir zwei Jahre mit der Arbeit ausgesetzt.“

„Mutter, wenn ich mich entsinne, hast du erzählt, dass du nach unserer Geburt gar nicht wieder angefangen hast zu arbeiten.“

„Ich hatte ja genug zu tun. Außerdem wollte ich ja, wie in Köln, als Innenarchitektin arbeiten, aber dein Vater ist nicht wie dein Mann in den Mutterschutz getreten. Na ja, das war eine andere Zeit. So etwas hätte es damals nicht gegeben. Ein Mann in Mutterschutz.“ Abfällig verzog Genoveva die Mundwinkel.

„Es heißt Elternzeit, Mutter. Und es ist nicht nur schön, sondern auch fortschrittlich, dass es für Väter die Möglichkeit und Chancengleichheit gibt, zu Hause bei den Kindern zu bleiben, anstatt sie nur am Wochenende oder für eine Stunde vor dem Zubettgehen zu sehen. Männer haben die gleiche Qualifikation, Kinder zu erziehen wie wir Frauen. Wir sollten sie nicht auf ein Abstellgleis schieben und zum Wochenendvater degradieren.“

„Wo ist da ein Vorteil? Wenn du arbeitest, sieht dich das Kind auch kaum. Bei deinen Arbeitszeiten muss es vielleicht die ganze Woche und das Wochenende auf dich verzichten. Wie soll es eine Bindung zu dir aufbauen? Jetzt bist du dreißig, aber wenn das Kind … Na ja, das hast du dir ja so ausgesucht. Du musstest ja dein Jurastudium hinschmeißen und zur Polizei gehen. Dein Vater hätte dir nach dem Studium den Weg ins Gericht bestens geebnet. So viel mehr hätte aus dir werden können. Aber dir fehlt der Ehrgeiz.“

Petra rollte die Augen. Wie sollte sie die Woche aushalten? Ihre Mutter redete über sie, als wäre sie ein überreifer Apfel, der morgen als Fallobst in der Saftpresse landete. Und selbst Genoveva musste doch bemerkt haben, dass sich die Zeiten in den letzten dreißig Jahren fortschrittlich geändert hatten. „Mutter, mein Vater, der Herr Oberlandesrichter …“, begann Petra, als die Freisprechanlage einen Anrufer meldete.

„Da würde ich jetzt auch rangehen“, blaffte Genoveva Taler.

„Moin, Chef, was gibt es?“, fragte Petra, während sie ihrer Mutter einen bissigen Seitenblick zuwarf.

„Moin, Frau Taler, ich mag es kaum aussprechen, aber ich brauche Sie. Könnten Sie sich vorstellen, Ihre Auszeit abzubrechen, um uns zu unterstützen? Wir sind urlaubsbedingt unterbesetzt. Wie immer im Sommer.“

„Was ist los? Ich dachte, das Gespräch mit der Kaffee­röstereiwitwe ist erledigt.“

„Nein, darum geht es nicht. In der Seniorenresidenz Hanseblick ist gestern eine vierundachtzigjährige Bewohnerin aus der zwölften Etage von ihrem Balkon gestürzt“, erklärte Friedrichsen.

„Ein Unfall?“

„Das ist es eben. Die Kollegen waren natürlich gleich vor Ort und haben Rechtsmediziner Jensen informiert. Er rief mich gerade an und erklärte, dass er in der Handinnenfläche der Frau genau so einen roten Streifen gefunden hat wie der in Martha Blumenthals Hand. Es wäre schön, wenn Sie auf die Wache kommen, damit ich Ihnen alles Weitere erkläre.“

„Chef, meine Mutter sitzt neben mir im Auto. Ich habe sie vom Harburger Bahnhof abgeholt. Sie ist für eine Woche bei uns zu Besuch. Sie hat Farina seit ihrer Geburt nicht gesehen und …“

„Frau Taler, bitte. Kollege Seefeld schafft die Arbeit nicht alleine.“

„Servus. Hier ist Genoveva Taler aus Grünwald. Haben Sie nicht gehört, was meine Tochter Ihnen gesagt hat? Ich bin zu Besuch bei meinen Kindern in Jork. Es wird ja wohl einen anderen Kommissar geben, der sich um den Fall kümmert“, preschte Genoveva ins Gespräch.

„Misch dich nicht in mein Telefonat“, zischte Petra ihrer Mutter mit einem Seitenblick entgegen. „Chef, ich kann nicht so einfach zusagen. Ich melde mich sofort wieder.“ Petra beendete das Gespräch und gab auf dem Display ihre Festnetznummer ein. Nach zweimaligem Klingeln hob Horst ab.

„Fräuleinschen, was ist los? Hast deine Mutter im Schlepptau?“

„Ja, sie sitzt neben mir und hört zu.“ Petra hörte ein Räuspern. „Ist Jan in der Nähe?“

„Nee, der ist oben und wickelt die Kleine. Sie hat einen Stinker in der Hose.“ Horst lachte.

„Er soll mich zurückrufen, sagst du ihm das bitte?“

„Klar, Fräuleinschen, wann biste hier, damit ich rechtzeitig die Semmelknödel ins Wasser schmeißen kann? Dazu gibt es Schweinebraten und Rotkohl für unseren Gast. Zwar kein typisches Sommergericht, aber dafür ganz bayrisch.“

„Ich weiß nicht, Horst. Friedrichsen braucht mich.“

„Oh Mann, das wird Mütterchen aus Grünwald aber nicht gefallen. Entschuldigung, ich meine natürlich …“ Horst räusperte sich ein zweites Mal. „Aber warte, Jan kommt gerade die Treppe runter.“

„Schatz …“, begann Petra und wurde von Jan unterbrochen.

„Na, ist unsere Hoheit noch nicht da?“

„Sie ist da und sie kann dich hören“, fuhr Genoveva dazwischen.

„Wie schön, Schwiegermama. Ich freue mich auf dich.“

„Hm“, knurrte Genoveva. „Ja, ich mich auch. Wenn wir nur endlich weiterfahren könnten, aber deine Frau hat ja vor …“

„Stopp, Mutter, ich würde gerne mit meinem Mann alleine reden“, sagte Petra. „Jan, der Chef hat angerufen. Er braucht meine Hilfe. Eine Bewohnerin der Residenz Hanseblick ist über ihren Balkon gestürzt. Ob es Selbstmord war, ist abzuklären.“

„Und du sollst gleich und sofort aufklären, ob wieder ein Kapitalverbrechen das schöne Hamburger Süderelbegebiet heimgesucht hat, richtig?“

„Erst einmal bittet er mich, auf die Wache zu kommen.“

„Na dann, worauf wartest du, Frau Hauptkommissarin? Allerdings hast du meinen Wagen. Wie kriegen wir meine Schwiegermutter von A nach B?“

„Ich hätte da einen Vorschlag“, sagte Petra.

Kapitel 4

Petra hatte Lüdersens Wagen auf den Harburger Polizeihof gelenkt und auf das Eintreffen ihres Mannes gewartet. Nach einer guten halben Stunde, die sie mit dem Genörgel ihrer Mutter verbrachte, die nun doch in Johannas himmelblauem Käfer ins Alte Land kutschiert wurde, betrat sie den Besucherraum der Polizeiwache.

„Wann ist der Sturz geschehen?“ Petra sah zu Rechtsmediziner Heiner Jensen, der Friedrichsen und Seefeld am runden Konferenztisch gegenübersaß.

„Gestern Nachmittag gegen fünfzehn Uhr. Auf dem Hof vor der Residenz saßen die Bewohner mit ihren Besuchern auf den Bänken, als Klara Hoppe ihnen fast vor die Füße fiel und ... Details erspare ich auszuführen“, erklärte Seefeld kurz.

„War es Selbstmord, Heiner?“, fragte Petra.

„Das kann ich nicht ausschließen. Ich hab die Leiche bisher nur oberflächlich begutachtet. Die Obduktion steht für heute Nachmittag an. Was mir jedoch aufgefallen ist, ist der rote Streifen in ihrer rechten Handinnenfläche. Es ist ein ebensolcher Streifen, der auf eine Verbrennung hinweist, wie der an Martha Blumenthals Hand. Eine Verletzung beim gemeinsamen Kochen in der Residenz ist nach Nils’ Ermittlung auszuschließen. Darum hab ich euren Chef informiert. Und ich wiederhole, die vor drei Monaten verstorbene Martha Blumenthal ist eines natürlichen Todes gestorben.“

„Aber ob das nötig war, Herr Jensen, dass Sie mich informiert haben, wird sich hoffentlich rausstellen. Tote Senioren in einem Heim sind kein Ermittlungsgrund für die Kripo. Zumindest so lange nicht, bis es sich um einen Mord handelt.“ Friedrichsen verzog missmutig das Gesicht. „Wenn an die Presse gelangt, dass wir in einem Pflegeheim ermitteln, setzen diese Zeitungsleute schneller das Wort ,Mord‘ aufs Papier, als wir Luft holen können. Die warten doch nur darauf, ihr Blatt mit reißerischen Zeilen zu füllen.“

„Das wird nicht geschehen, Chef“, wandte Seefeld ein. „Darum war ich ja heute Morgen in der Residenz und hab die Köchin befragt, die die Kochtage für Senioren veranstaltet. Dieser besagte Kochtag findet nur einmal im Monat statt. Meist nehmen acht bis zehn Bewohner daran teil. Erna von Hauken und ihre Freundin Martha Blumenthal waren jeden Monat anwesend. Außer in den Monaten, in denen sie in der Volkshochschule ihren Handykurs besuchten. Videoanruf, SMS, Internet und der ganze Kram. Die Köchin kann sich nicht an eine Verbrennung eines Kochteilnehmers erinnern. Zudem fand der letzte gemeinsame Kochtag vor drei Wochen statt. Klara Hoppe war nicht angemeldet. Und Heiner bestätigt, dass Frau Hoppes Wunde zwei oder höchstens drei Tage und nicht drei Wochen alt ist.“

„Also gut. Herr Jensen, von Ihnen erwarte ich schnellstmöglich ein Obduktionsergebnis. Frau Taler, Herr Seefeld, Sie hören sich in Klara Hoppes Umfeld um. Sehen Sie sich die Wohnung und den Balkon an. Befragen Sie die Leiterin Sonja Rubel, Verwandte, Freunde, war die Dame dement, krank, gab es Anzeichen von Depressionen, Streit, Probleme mit anderen Bewohnern des Heimes, das volle Programm. Aber alles unauffällig. Stellen Sie nur die nötigsten Fragen und vermeiden Sie um Himmels willen Andeutungen von Fremdeinwirkung, Verbrennung oder defekten Betten. Bis morgen sollten wir Klarheit haben.“ Friedrichsen stand auf und eilte, wie es seine Art war, aus dem Konferenzraum.

Als Petra und Seefeld die Seniorenresidenz Hanseblick betraten, hastete ihnen Residenzleiterin Sonja Rubel über den steingrauen Linoleumboden durch die Eingangshalle entgegen.

„Sie sind die Kommissare“, sagte die Mittvierzigerin. Ihre Wangen in dem ovalen Gesicht glühten. „Frau Taler, nehme ich an. Wir hatten vor einer Stunde telefoniert. Richtig?“ Sonja Rubel streckte ihre Hand aus. Sie war weich und fragil.

„Hauptkommissarin Petra Taler und mein Kollege Nils Seefeld“, bestätigte Petra. „Dann sind Sie Frau Rubel.“

„Ja. Ich bin die Leiterin dieser Residenz und bin davon ausgegangen, dass Sie sich bei mir anmelden, bevor Sie meine Angestellten befragen, Herr Kommissar“, polterte Rubel an Seefeld gewandt los. „Sie haben heute Morgen meine Köchin Diana Goerke aufgesucht. War Ihnen nicht klar, dass Sie dafür meine Einwilligung benötigen?“ Sie schüttelte ihre kurze blonde Ponyfrisur.

„Für routinemäßige Fragen benötigen wir von niemandem eine Einwilligung, Frau Rubel. Sicher wissen Sie, wie ein Pflegeheim zu leiten ist, aber …“

Bevor Seefeld seinen Satz beenden konnte, fiel ihm Rubel ins Wort. „Eine Seniorenresidenz mit hervorragendem Ruf, Herr Kommissar. Mir obliegt es, die Residenz in größter Verantwortung zu leiten. Und dazu gehört, dass ich für das Wohl der Senioren sorge. Ich hoffe, dass Sie Ihre routinemäßigen Fragen diskret und mit Rücksicht auf die Bewohner dieses Hauses durchführen.“

„Ihre Bitte werden wir, soweit es uns möglich ist, selbstverständlich berücksichtigen. Können wir irgendwo ungestört reden?“, fragte Seefeld.

„Gehen wir in mein Büro. Es liegt im dritten Stock“, sagte Rubel. Sie strich sich ihren knielangen schwarzen Bleistiftrock glatt, ordnete ihre weiße Seidenbluse und ging voran zum Fahrstuhl.

Petra schluckte. Nachdem sie der Horoskop-Killer vor fünf Jahren überwältigt und in einen Friedhofsbrunnen geworfen hatte, bekam sie in engen, geschlossenen Räumen Schweißausbrüche, Herzklopfen und ein Gefühl der Ohnmacht.

„Frau Rubel, seit wann leiten Sie die Seniorenresidenz Hanseblick?“, begann Seefeld das Gespräch, während er sich mit Petra auf die angebotenen Stühle vor einen wuchtigen Kirschbaumschreibtisch setzte.

„Zehn Jahre, Herr Kommissar.“ Die blauen Augen der Leiterin suchten einen Haltepunkt auf dem Möbel, der mit grauen und weinroten Papierakten, einer rot blühenden Azalee, Computer und einem Bonbonglas überfüllt war.

„Und wo haben Sie vor der Leitung dieses Heimes gearbeitet?“

„In Hollern-Twielenfleth. Wobei ich dort noch immer arbeite. Ich leite die Residenz Hanseblick und das Pflegeheim Elbglück. Es gibt kaum qualifizierte Kräfte, um Einrichtungen zu übernehmen und adäquat zu leiten. Aber sobald ein Nachfolger gefunden ist, bin ich nur noch für die Residenz Hanseblick zuständig. So lange unterstützt mich mein Mann im Elbglück.“

„Das ist sehr viel Verantwortung für eine Person“, erwiderte Petra.

„Das ist richtig, aber mir macht meine Arbeit Spaß. Und Arbeit, die Freude bereitet, sieht man nicht als Arbeit an.“

„Wobei hier die Krux liegt, Frau Rubel. Denn Arbeit, die Freude bereitet, kann leicht zur Überforderung werden, weil die eigenen psychischen Grenzen übersehen werden. Aber es ist schön, dass Ihr Ehemann Sie unterstützt. Das ist eine große Entlastung.“ Petras Blick lag auf Rubels rechtem Ringfinger, den ein matter silberfarbener Ring mit einem eingelassenen glitzernden Stein schmückte.

„Eheleute ziehen an einem Strang, Frau Taler. Aber wie Sie am Telefon sagten, geht es um Frau Klara Hoppe. Ein tragischer Fall von Selbstmord, der mich tief erschüttert. Doch da Sie von der Mordkommission sind ... Gibt es womöglich Anzeichen für … Du meine Güte, ich will es nicht aussprechen.“

„Nein. Unsere Untersuchungen sind Routine, Frau Rubel, machen Sie sich keine Sorgen. Aber kommen wir auf Frau Hoppe zurück.“

„Ja. Was ein furchtbares Unglück! In meiner Laufbahn in der Pflege habe ich viel Leid gesehen. Aber der Anblick eines Menschen, der vom Balkon stürzt, ist doch etwas anderes. Und dann am Nachmittag, als im Vorhof die Bewohner mit ihren Besuchern saßen, um das schöne Wetter zu genießen. Wie schrecklich.“

„Ein Selbstmord ist immer schrecklich. Egal zu welcher Uhrzeit, Frau Rubel“, ergänzte Seefeld.

„Natürlich. So meinte ich das ja nicht. Es ist nur überaus grausam für unsere Bewohner und ihre Besucher, die das Unglück mit ansehen mussten. Das Blut und die verdrehten Gelenke. Die arme Frau Hoppe.“

„Erzählen Sie uns von Frau Hoppe. Wie war sie als Mensch? Wie als Seniorin in Ihrer Residenz?“, fragte Petra.

„Nun ja, was soll ich sagen? Frau Hoppe war eine liebenswerte alte Dame. Immer rücksichtsvoll und freundlich. Sie hat nie das Fernsehen zu laut gestellt, was man von vielen Bewohnern nicht behaupten kann. Da muss man dann schon kräftiger anklopfen und um Ruhe bitten. Sie war höflich und bescheiden und …“, Sonja Rubel lachte, „sie liebte Milchreis mit Kirschen.“

„Sie würden Frau Hoppe ihren Mitbewohnern gegenüber als zuvorkommend bezeichnen?“

„Durchaus, Frau Taler. Eine liebe alte Dame, die wir schmerzlich vermissen werden.“

„Wer hat Frau Hoppe ärztlich betreut?“

„Doktor Lindemann ist unser Hausarzt. Er kommt jeden Mittwochnachmittag und besucht die Bewohner. Auch außer der Reihe, falls Bedarf besteht.“

„Wann kam er zu Frau Hoppe?“

„Eigentlich nie. Sie war eine gesunde Seniorin mit nicht ernst zu nehmenden Zipperlein. Kopfweh oder ein Ziehen im Handgelenk. Eine rheumatoide Arthritis in den Fingergelenken machte ihr Probleme. In jungen Jahren war sie Kellnerin im Münchner Hofbräuhaus. Die schweren Bierkrüge und Tabletts haben ihr zugesetzt. Sie hat mir viel aus ihrem Leben erzählt. Obwohl sie mir in letzter Zeit stiller und in sich gekehrter vorkam, sie schien öfters in trüben Gedanken versunken.“

„Haben Sie Frau Hoppe auf ihren Gemütszustand angesprochen? Ich meine, so als fürsorgende Leiterin und da Sie viel mit ihr sprachen.“

Sonja Rubel zögerte. „Nein. Ich … was soll diese Bemerkung? So viel Zeit hatte ich ja auch nicht. Ab und an ein paar Minuten. Wir tun, was wir können, aber unsere Kapazität ist erschöpft. Wissen Sie, wie viele Bewohner wir haben und wie viele Senioren auf der Warteliste stehen? Wer will denn noch für die paar Kröten in einem Pflegeheim arbeiten? Uns fehlt Personal. Im letzten Jahr haben über neuntausend Pflegekräfte in Deutschland ihren Job hingeschmissen, weil er ihnen zu viel abverlangt. Ein Wunder ist das nicht“, rechtfertigte sich Rubel.

„Wer war als Pflegerin für Frau Hoppe zuständig?“

„Normalerweise Nina Albert, aber es kam auch vor, dass Doris Lange sich um sie gekümmert hat. Oder auch ein Pfleger, wer gerade Dienst und Zeit hatte.“

„Mit wem hatte Frau Hoppe Kontakt? Gab es für sie eine Freundin im Heim, eine Vertraute?“

„Sie hatte sich einer kleinen Gruppe angeschlossen, die zusammen Ausfahrten unternommen hat. Wir bieten monatlich Tagesausflüge an. Mal geht es an die Ostsee oder nach Berlin. Theater- oder Konzertbesuche. Letzte Woche waren einige Bewohner im Hamburger Musical Die Eiskönigin. Anna, Elsa und der Schneemann Olaf. Eigentlich Kinderkram, aber je älter die Alten werden, desto mehr werden sie wieder zu Kindern.“ Sonja Rubel rollte die Augen.

„Finden Sie, Frau Rubel? Ich habe das Musical auch gesehen und war von dem modernen Märchen, dem ein großartiger Broadway-Erfolg vorausgeht, begeistert. Und in den Zuschauerreihen saßen nicht nur Kinder, sondern viele Erwachsene und Senioren“, kritisierte Petra scharf. „Und jetzt brauchen wir die Namen der Bewohner, mit denen Frau Hoppe Umgang hatte“, sagte sie dann und sah zu Seefeld, der in seinem Notizblock den Stift wartend aufs Papier setzte.

„Frau Birgit Böhm und Frau Christa Waltraud Kriete. Sie waren ein eingeschworenes Dreiergespann. War es das jetzt? Ich hätte noch zu arbeiten.“

„Wo finden wir die Damen?“

Sonja Rubel sah auf ihre Armbanduhr. „Es ist gleich Mittagszeit. Versuchen Sie es im Erdgeschoss im Aufenthaltsraum. Dort versammeln sich die Bewohner, bevor sie das Restaurant stürmen.“

„Eine letzte Frage, wieder rein routinemäßig, Frau Rubel: Wo waren Sie, als Frau Hoppe vom Balkon stürzte?“

„Ich … das ist ja jetzt eine Frage. Ich war in der Küche und hab den Speiseplan mit unserer Köchin Diana Goerke abgesprochen.“

Das Restaurant hatte die breite Flügeltür geöffnet. Aus dem großen Raum, an dem alle Tische mit Senioren besetzt waren, drang ein undefinierbarer Geruch. Petra vermutete Fisch, während Seefeld auf Erbsensuppe tippte. Ein junges Mädchen, Petra schätzte es auf sechzehn, siebzehn Jahre, eilte in Kellnerinnenkleidung von Tisch zu Tisch und schenkte den Damen und Herren aus einem Krug Wasser oder Saft in die Gläser. Zwei weitere Frauen mittleren Alters, in ebensolchen knielangen schwarzen Kleidern und weißen Rüschenschürzen, schoben jeweils einen dreistöckigen Servierwagen zu den Senioren. Mit langen Kellen fuhren sie abwechselnd in vier silberne Töpfe.

„Was gibt es denn zu essen?“, fragte Petra, während sie mit Seefeld im Türrahmen des Restaurants stand und die Essensausgabe beobachtete. „Irgendwie riecht das komisch.“

„Das ist Linsengemüse mit Bratwurst und Kartoffelpüree“, antwortete eine Stimme hinter Petras und Seefelds Rücken.

„Wie?“, fragte Petra und drehte sich um. Ein Mann in einem Blaumann, der eine Leiter über der Schulter trug, und eine Frau mit einem Karton Glühbirnen unter dem Arm lächelten sie an.

„Astrid und Björn Richter. Wir sind das Hausmeisterehepaar des Heimes“, sagte der Mann, den Petra auf Mitte fünfzig schätzte.

„Es ist eine Seniorenresidenz, behauptet Frau Rubel“, erwiderte Petra schmunzelnd.

„Die Rubel behauptet viel, wenn der Tag lang ist. Sie sind von der Polizei, richtig?“ Bevor Petra antworten konnte, sagte Astrid Richter: „Unsere Köchin, Frau Diana Goerke, hat uns verraten, dass sie heute Morgen die Polizei aufgesucht hat. Und da Sie für Neuankömmlinge zu jung sind und Bewerber nie bis zur Restauranttür vorgelassen werden, konnten Sie nur von der Polizei sein.“

„Hauptkommissarin Petra Taler und mein Kollege Nils Seefeld. Richtig, Frau Richter“, stellte sich Petra vor. „Als Hausmeister können Sie uns sicher sagen, wie lange das Mittagessen dauert.“

„Eine halbe Stunde höchstens, dann ist Wechsel, und dann kommen die Bewohner aus der ersten bis zehnten Etage ins Restaurant.“

Petra sah auf ihre Armbanduhr. „Was denken Sie, Seefeld, solange die Damen Böhm und Kriete futtern, könnten wir uns doch die Wohnung von Frau Hoppe ansehen?“

„Klar, nur dann müssten wir zur Rubel und uns ihre Einwilligung holen. Sie sagte ja, dass …“

„Papperlapapp, Seefeld. Wer lange fragt, der kriegt nix. Außerdem ist es Friedrichsens Auftrag. Oder wollen Sie den Chef verärgern?“

„Sicher nicht“, antwortete Seefeld kopfschüttelnd. „Aber nur die Rubel wird einen Schlüssel für Frau Hoppes Wohnung haben.“

„Wir haben einen Generalschlüssel“, mischte sich As­trid Richter ins Gespräch. „Wenn Sie wollen ...“

Als Petra mit Seefeld nach der Fahrstuhlfahrt in den zwölften Stock aus der Kabine stieg, glaubte sie aus der Sauna zu kommen. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn, über ihren Rücken lief eine Armee Ameisen, und ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie musste unbedingt etwas dagegen tun. So konnte es mit ihrer Panik in Fahrstühlen, die sie vor Angst lähmte und die sie an den Münchner Friedhofsbrunnen erinnerte.

Klara Hoppes Eineinhalbzimmerwohnung in der Residenz war gemütlich eingerichtet. Eine Polstercouch, eine Eichenstanduhr, Sessel und ein Wohnzimmerschrank, in dem Kinderbilder und Andenken aus verschiedenen Ländern standen. Im kleineren Zimmer, das eher spartanisch eingerichtet war, standen das Pflegebett, ein Tisch, Stuhl und ein Kleiderschrank. Auf dem Nachttischchen entdeckte Petra ein schwarz-weißes Hochzeitsfoto in einem schweren silberfarbenen Fotorahmen und eine kleine Lampe. Ein Buch, dessen Cover einen historischen Roman verriet, lag aufgeschlagen und mit dem Buchrücken nach oben daneben, so als hätte es seine Leserin nur kurz abgelegt.

„Es ist ein mit eigenen Möbeln ausgestattetes Apartment, das von den finanziell bessergestellten Senioren bewohnt wird“, erklärte Astrid Richter. „Die Standardzimmer, die das Sozialamt bezuschusst, gehen nur bis zur zehnten Etage.“

„Das hörten wir“, antwortete Petra und zog ein Paar Einmalhandschuhe aus ihrer Handtasche. Sie fotografierte die Einrichtung und ging zur Balkontür, um den Riegel zu öffnen. Als sie sich über die Brüstung lehnte und nach unten sah, begann es für einen kurzen Moment vor ihren Augen zu flimmern.

„Vorsicht, Frau Taler“, sagte Seefeld und zog Petra am Oberarm zurück. „Nicht, dass Sie da auch noch runterpurzeln.“

„Danke, Seefeld. Aber ohne auf einen Stuhl zu steigen, ist es unmöglich, runterzufallen, dafür ist die Brüstung zu hoch. Der einzige Stuhl steht im Schlafzimmer am Tisch.“

„Stimmt“, antwortete Seefeld.

„Hat jemand die Wohnung betreten, nachdem Frau Hoppe vom Balkon gestürzt ist?“, fragte Petra das Hausmeisterehepaar, das sie gebeten hatte, an der Wohnungstür zu warten.

„Wir nicht. Aber sicher die Rubel, sonst hat ja keiner einen Schlüssel.“

„Die Rubel hat das Zimmer nicht betreten, sie war in der Küche.“ Sonja Rubel tauchte hinter Astrid und Björn Richter auf. „Was fällt Ihnen ein, Frau Hoppes Wohnung zu öffnen und fremde Menschen herumstöbern zu lassen? Ich erwarte Sie beide in einer Stunde in meinem Büro. Und jetzt haben Sie sicher anderes zu tun, als hier herumzustehen“, blaffte sie das Hausmeisterpaar unschön an.

„Es ist die Polizei, Frau Rubel, sie sind berechtigt, hier herumzustöbern“, konnte sich Björn Richter nicht verkneifen zu kontern. Er ließ die Leiterin wortlos stehen, drehte sich um und verschwand mit seiner Frau im Flur.

„Und Ihnen hatte ich doch klargemacht, dass Sie ohne meine Einwilligung keine eigenmächtigen Untersuchungen in meiner Residenz unternehmen dürfen. Oder haben Sie einen Durchsuchungsbeschluss, der Sie ermächtigt, herumzuschnüffeln, Frau Taler, Herr Seefeld? Und wenn ich Sie bitten dürfte zu gehen.“

„Noch eine Frage, Frau Rubel: Unserem Rechtsmediziner ist ein roter Streifen an Frau Hoppes Handinnenfläche aufgefallen. Können Sie sich vorstellen, woher dieser rührt?“ Da war sie, die Frage, die Petra vermeiden wollte und die sie vermeiden sollte. Sie hörte Seefelds tiefes Atmen.

„Nein, woher soll ich das wissen?“

„Kann es sein, dass sich Frau Hoppe, wie Frau Martha Blumenthal, diesen beim gemeinsamen Kochtag zugezogen hat?“

„Möglich. Aber vielleicht hat sie sich auch am Bügeleisen verbrannt, das ihr unsere Auszubildende Bernadette gebracht hat. Bernadette weiß genau, dass es verboten ist, Senioren in unserem Haus elektrische Geräte zu überlassen. Wie schnell kann ein Brand entstehen, wenn vergessen wird, das Eisen auszuschalten. Ein Grund, warum in keinem Zimmer oder Apartment eine Küche verbaut ist.“

Petra sah zum Pflegebett, das mit einem metallenen schmalen Rundbogen am Kopfende abschloss. Friedrichsens Worte kamen ihr in den Sinn: Gehen Sie vorsichtig und umsichtig mit den Ermittlungen um. Wenn sie jetzt noch defekte Pflegebetten ansprach, dann würde die Rubel sofort Friedrichsen anrufen und der ihr gehörig den Marsch blasen, weil sie seine Anordnungen nicht befolgt hatte. Doch wurde Petra immer klarer – Klara Hoppe konnte nicht alleine über den Balkon gefallen sein.

„Die Wohnung wird versiegelt“, sagte Petra.

„Sie wollen die Wohnung versiegeln? Das geht nicht! Morgen erwarte ich fünf Bewerber, die sich die Wohnung ansehen wollen. Ich sagte bereits, wir haben eine ellenlange Warteliste“, echauffierte sich Rubel.

„Dann werden Sie die Termine absagen. Bevor nicht geklärt ist, ob Frau Hoppes Tod ein tragischer Unfall, ein Selbstmord oder gar ein Mord war, wird niemand das Zimmer betreten. Und jetzt möchten wir mit Frau Erna von Hauken sprechen.“

„Ich weiß nicht, ob sie im Hause ist. Wir sind ja kein Gefängnis. Frau von Hauken ist oft unterwegs.“

„Wo wohnt sie in der Residenz?“

„Sie finden sie im vierzehnten Obergeschoss im rechten Flügel. Frau von Hauken bewohnt die Nummer 4015 am Ende des Ganges.“

Kapitel 5

„Höflich, bescheiden, freundlich, zuvorkommend und rücksichtsvoll. Was ein Blumenregen. Was denken Sie, Seefeld, stürzt sich so ein Mensch in dem Wissen aus dem zwölften Stock, dass er genau vor den Füßen seiner Mitbewohner landet? Und wie kommt ein Stuhl, wenn Frau Hoppe daraufgeklettert ist, um vom Balkon zu springen, zurück an den Tisch? Außerdem haben wir keinen Abschiedsbrief gefunden, und Frau Böhm und Frau Kriete bestätigten ebenfalls, dass sie sich nicht vorstellen können, dass Klara sich umgebracht hat. In einer Woche hätte sie Geburtstag gefeiert und hat sich riesig auf ihre Familie gefreut“, überlegte Petra laut, als sie am frühen Nachmittag wieder im Büro saßen und sich dem Papierkram widmeten.

„Alles sehr undurchsichtig, Frau Taler. Wobei die Böhm und die Kriete von der Verbrennung wussten. Allerdings hat Klara es als Lappalie abgetan und verschwiegen, woher sie die hatte.“

„Wie auch immer. Meinetwegen kann Friedrichsen Purzelbäume schlagen – ich bin sicher, Frau Hoppe wurde umgebracht.“ Petra hatte kaum ausgesprochen, als ihr Diensttelefon läutete und Dienstellenleiter Friedrichsens Nummer auftauchte. „Geht schon los“, sagte sie und nahm den Hörer ab. „Chef, was kann ich für Sie tun?“ Petra stellte die Mithörfunktion ein.

„Sie können mit Kollege Seefeld sofort zu mir kommen“, raunzte Friedrichsen durch den Hörer.

„Da haben wir den Salat. Ich könnte sagen: Wir sind selber schuld, weil wir der Rubel einen Mord aufgetischt haben“, sagte Seefeld, als Petra den Hörer aufgelegt hatte.

„Ich hab Schuld, nicht Sie, Seefeld. Gehen wir.“

„Wir haben noch nicht zu Mittag gegessen. Was ist mit unserer Pizza?“, fragte Seefeld, während sein Blick auf einer Spinatpizza mit doppelt belegtem Käse lag.

„Muss warten.“

„Wenn ich einmal ungesundes Zeug futtern will“, maulte Seefeld. Er klappte den Karton zu.

„Frau Taler, Herr Seefeld, bitte, nehmen Sie Platz“, begann Friedrichsen. „Was hatten wir besprochen?“

„Sie haben uns beauftragt, mit der Residenzleiterin Frau Sonja Rubel und einigen Bewohnern zu sprechen“, antwortete Petra.

„Richtig. Aber es war nicht die Rede, dass Sie in der Wohnung der Toten herumstöbern und sie versiegeln. Und ich sagte, dass ich keinesfalls erwähnt haben möchte, dass ein Fremdverschulden nicht ausgeschlossen werden kann. Oder haben Sie mich missverstanden?“

„Das ist auf meinem Mist gewachsen, Chef. Kollege Seefeld hat damit nichts zu tun“, sagte Petra.

„Ja, ich denke mir, dass Sie das Zepter geführt haben. Also, warum haben Sie die Wohnung versiegelt? Musste dieser Aufwand sein?“ Friedrichsen legte seine Hände auf eine dunkelgrüne Papierakte.