In irrer Mission - Bernt Danielsson - E-Book

In irrer Mission E-Book

Bernt Danielsson

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Beschreibung

Ein halbes Jahr lang haben Kevin und Schröder keinen Kontakt zueinander gehabt. Doch plötzlich meldet sich der chaotische Privatdetektiv wieder. Mit einer verschlüselten Botschaft steht er vor Lenas Tür. Die Mafiaorganisation BEDA ist – anders als angenommen – noch nicht zerschlagen. Ein neuer Auftrag führt das ungleiche Detektivpaar wieder zusammen. In London beginnen die Ermittlungen. Höchst geheime Informationen dürfen auf keinen Fall in falsche Hände geraten. Doch die Mafia ist den beiden dicht auf den Fersen – ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt.-

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Bernt Danielsson

Kevin & SchröderIn irrer Mission

Aus dem Schwedischenvon Regine Elsässer

Saga

1

Adelante

In dem Moment, als Philip Marlowe sich in einer dunklen Nacht bei strömendem Regen hinter ein Auto duckte, das im Leerlauf lief, und Silver-Wig schrie:

„I can see him! Through the window. Behind the wheel, Lash!“, klingelte es an der Tür.

Ich hatte gerade die letzte Zimtschnecke in den Mund gesteckt und meine Kiefer unterbrachen erschrocken ihr lustvolles Kauen.

Mein rechter Zeigefinger, der beim Lesen zerstreut an einem der drei Pickel, die ganz plötzlich vor einigen Tagen auf dem Kinn aufgetaucht waren, herumgefingert hatte, rutschte aus, und ich schnitt mich mit dem Nagel – es tat furchtbar weh, aber ich konnte den Schrei gerade noch unterdrücken.

Ich setzte mich mit einem Ruck auf und schaute auf die grün leuchtenden Zahlen der Videoanzeige: 23. 28. Konnte es schon so spät sein? Und – Moment mal, habe ich gesagt, es klingelte an der Tür?

Kurz vor halb zwölf an einem Donnerstagabend im Juni? Wer konnte das sein?

Ich versuchte cool zu bleiben und war es natürlich nicht.

Ich spülte die Zimtschnecke mit einem großen Schluck Himbeersaft runter.

Das gefiel mir überhaupt nicht. Vor allem deshalb nicht, weil ich allein zu Hause war. Meine Eltern waren unten bei den Großeltern in Västervik und würden erst am Montag zurückkommen. Ich war eigentlich nie sehr gern allein gewesen, vor allem nicht abends, aber im letzten halben Jahr war es immer schlimmer geworden. Ich regte mich fürchterlich leicht auf und konnte mir alle nur denkbaren, widerwärtigen Scheußlichkeiten vorstellen.

Dabei war es bestimmt nur ein Betrunkener, der die Bushaltestelle suchte.

Es klingelte wieder an der Tür.

Was sollte ich tun? Nicht aufmachen?

Ziemlich bescheuert, denn wer auch immer es war, sah, dass es hell in der Hütte war.

Waren die Nachbarn zu Hause?

Ich legte das Buch beiseite, stand vom Sofa auf und schaute aus dem Wohnzimmerfenster, das zu den Nachbarn ging. Wenn sie zu Hause waren, dann waren sie auf jeden Fall nicht mehr wach, stellte ich fest. Ihre Haus lag völlig im Dunkeln und wenn ich nicht gewusst hätte, dass es da war, hätte ich es nicht gesehen.

Ich schlich so leise wie möglich in die Küche, stellte mich ans Fenster und schaute hinaus. Ich sah nicht sehr viel. Für die erste Woche im Juni war es außergewöhnlich dunkel. Und ich hatte die Außenlampe vor ungefähr einer halben Stunde ausgemacht. Und die Lampe unten am Tor war kaputt. Es regnete nicht mehr, aber Dunstschleier flatterten noch in der Luft, der Himmel war so dunkel wie die Nacht.

Ein weiteres, kurzes, wütendes Doppelklingeln an der Tür.

Ich holte tief Luft und ging dann mit übertrieben polternden Schritten in den Flur.

„Platz, Chandler! Platz!“, rief ich und versuchte so zu klingen, als ob ich das Herrchen eines muskulösen Wachhundes sei, der mit sabbernden Lefzen seine Zähne fletschte und bereit war, dem Eindringling mit einem tödlichen Sprung an die Gurgel zu gehen. Die Idee hatte ich aus einem Buch, das ich vor ein paar Jahren gelesen hatte.

Bevor ich im Flur war, polterte es an die Tür und eine raue Stimme brüllte etwas, das klang wie „Erschieß den Satansbraten!“ Aber ich musste mich verhört haben.

Was zum Teufel soll ich bloß machen?, dachte ich erschrocken, aber ich war mit meinem Gedanken noch nicht beim Fragezeichen angelangt, da wusste ich, wer es war.

Natürlich ...

Wer sonst konnte es sein? Wer sonst würde brüllen: „Erschieß den Satansbraten!“, und das in einem dicht besiedelten Vorort nachts um halb zwölf?

Ich machte die Tür auf und stellte zu meiner großen Erleichterung fest, dass ich völlig Recht hatte.

„Buenas noches, Kevin! Ich habe gar nicht gewusst, dass Chandler hier seine ewigen Jagdgründe gefunden hat!“

Natürlich was es Raymond Schröder, natürlich grinste er spöttisch und riss sich die Ray-Ban-Sonnenbrille runter, kaute auf einem Bügel und blinzelte mich erwartungsvoll an. Er hatte seinen obligatorischen, alten, schmutzig weißen, langen Trenchcoat an, aber ansonsten sah er etwas anders aus. Irgendwie ordentlicher. Khakifarbene Hosen, die aussahen, als seien sie sogar gebügelt worden – zumindest vor ein paar Wochen, ein blaues Hemd, das auch frisch gebügelt aussah, ein schwarzer Schlips aus so einem groben Stoff, er hatte ihn lässig gebunden und den obersten Hemdenknopf geöffnet, und unter dem Mantel ahnte ich den Aufschlag eines braunen Jacketts.

„Jetzt hast du Angst gekriegt, was? Hast gedacht, das ist so ein Psychosomatpsychopath, der dir den Schwanz abschneiden will. Cómo estas mit umgedrehtem Fragezeichen!“

„Was?“

„Cómo estas. ‚Wie geht es‘ auf Spanisch natürlich. Und da verwendet man umgedrehte Fragezeichen, hast du das nicht gewusst? Vermutlich wegen zu viel billigem Rioja Tinto ... Aber was zum Teufel hast du denn gemacht?“ Ich schaute ihn verständnislos und fragend an. „Im Gesicht. Du blutest ja, verdammt! Und auf den Lippen hast du weiße Bläschen ...“

„Wirklich“, murmelte ich und tastete mit dem Zeigefinger am Kinn. Klar, der eine Pickel war ganz zerdrückt worden. „Ähm ... bloß ein Pickel. Nicht so schlimm.“ Und mit dem Handrücken wischte ich den Hagelzucker von der Zimtschnecke vom Mund.

„Ja, das seh ich. Hab gedacht, du hättest das pubertale Pickelstadium allmählich hinter dir. Hast du es mal mit Clerasil probiert?“ Er beugte sich vor und starrte mein Kinn an. „Obwohl, gegen solche Kaventsmänner hilft das auch nicht. Du kannst dankbar sein, dass er nicht mitten auf der Nase ist. Jetzt müsstest du eigentlich ‚Adelante!‘ sagen und freudig überrascht aussehen, und nicht so säuerlich dreinschauen.“

„Adelante?“

„Genau. Vielen Dank. Das ist nicht besonders herzlich, aber immerhin. Dann mach ich es eben.“

Er trat ein und schloss schnell die Tür hinter sich.

Er sah wirklich ganz anders aus, stellte ich fest, aber es dauerte eine Weile, bis ich merkte, dass es nicht bloß die Kleidung war – er hatte auch die Haare geschnitten. Richtig kurz, und sie schienen auch nicht mehr lockig zu sein. Aber den Stoppelbart hatte er noch. Ich kreuzte die Arme und lehnte mich an den Rahmen der Küchentür.

„Da du nach einem nicht vorhandenen Chandler gerufen und so übertrieben mit den Pantoffeln gepoltert hast, nehme ich an, dass du allein bist. Que?“ Er hob fragend die eine Augenbraue. Ich nickte kurz. „Gut. Aber – du bist ja gar nicht im Schlafanzug. Hat der kleine Kevin denn noch nicht geschlummert?“ Er schloss die Tür zur Diele und sein Blick traf meinen. „Okay, okay, mein Kleiner. Only kidding. Ich weiss, dass es spät ist, aber es ist verdammt noch mal nicht meine Schuld.“

Ich machte die Tür zur Gästetoilette auf und riss ein Stück Klopapier ab und drückte es auf den zerquetschen Pickel auf meinem Kinn.

„Ich würde Pflaster an Stelle von Klopapier empfehlen“, sagte er besorgt. „Also, ich saß zu Hause und feilte an meiner Gedichtsammlung, die ...“

„Gedichtsammlung?“

„Na klar.“

„Malst du denn nicht mehr?“

„Das geht dich einen Scheißdreck an. Die Gedichtsammlung wird heißen ‚Este tien una falta‘, habe ich mir gedacht – das ist doch gut, oder?“

„Und was bedeutet es?“

„Das sag ich dir später. Aber es klingt doch richtig kontinental, oder? Sie wird zwar abgelehnt werden. Aber so ist es eben ...“

„Was?“

„Wenn man so unglaublich schlau ist wie ich. They hate you if you’re clever, um einen alten Freund zu zitieren. Tja, ich sitze also da und bewundere meine unglaubliche Genialität, da ruft Lena ganz out of the schöne blaue Donau an und ...“

„Was sagst du da?“

„Ha, du hast dich überhaupt nicht verändert. Du bist immer noch so!“ Er fasste sich an die Stirn und lehnte sich mit einem affigen Stöhnen gegen die Tür.

„Wie ‚so‘?“

Er wedelte mit den Armen. „Hörst nicht zu. Stehst da und pulst an einem blöden, kleinen, blutenden Pickel. So selbstvergessen, dass dir die Watte zu den Ohren rauskommt. Also, ich sagte, ich saß zu Hause und ...“

„Ja, das habe ich verstanden und Lena rief an, aber ...“

„Beeindruckend! Dann habe ich nichts mehr gesagt. Wie dem auch sei: Sie rief an, diesmal aus Kopenhagen, oder zumindest ganz in der Nähe, von einem Ort der Birkerød heißt, glaub ich wenigstens. Weißt du, wen sie da kennt?“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich auch nicht ...“ Er schabte sich nachdenklich das Kinn. „Auf jeden Fall war es schrecklich wichtig. Wie immer.“ Er verdrehte die Augen und kicherte albern. „Ich dachte, sie ruft an, um mich nach der Kontonummer zu fragen ...“

„Was?“

„Ja, um endlich die Kohle für meine Mountaineer-Treter zu überweisen. Die Rashmal geklaut hat. Sie versucht jetzt seit einem halben Jahr, sich davor zu drücken. Aber nein. Sie habe es schrecklich eilig, sagte sie, und dann sagte sie etwas so unglaublich Merkwürdiges, dass ich mich gefragt habe, ob es ihr noch ganz gut geht.“

„Wie meinst du das?“

Ohne es zu wollen, seufzte ich tief und setzte mich auf den kleinen Hocker am Spiegel unter der Kommode. Ich hatte Raymond Schröder ziemlich genau ein halbes Jahr lang nicht gesehen, aber es war mir schon gleich wieder zu viel. Viel zu viel. Ich bin ihn eben nicht mehr gewöhnt, dachte ich, faltete das Klopapier und drückte es wieder aufs Kinn.

„Was hat sie denn gesagt?“

„Also, sie sagte: Flitz sofort zu Kevin rüber und grüß ihn dreimal von mir. Das mit dem dreimal war offenbar sehr wichtig. Das ist doch bescheuert. Verstehst du das?“

Ich verstand es.

Ich stand mit einem Ruck auf, zog meine Nikes an, lief in die Küche und holte eine Taschenlampe. Ich warf das Klopapier, das inzwischen dunkelrot war, in den Ausguss. Im Flur stellte ich die Taschenlampe auf die Kommode und zog meine Jeansjacke an. „Nimm die Lampe und komm. Ich erzähl dir alles“, sagte ich bestimmt und machte eine Geste, dass er sich bewegen solle. Er trat erstaunt ein paar Schritte zur Seite und ich machte die Tür auf.

„Du hast nicht mal gemerkt, dass ich die Haare geschnitten habe“, sagte er enttäuscht, aber da war ich schon draußen.

2

El Apparillo

Ich holte einen Spaten, der an der Garagenwand lehnte und nahm die zerschlissenen Gartenhandschuhe, die auf dem Griff lagen. Ich klemmte den Spaten unter den Arm, zog die Handschuhe an und lief zum Blumenbeet unten am Zaun zum Nachbargrundstück, direkt hinter dem größten Apfelbaum.

Im Dunkeln konnte ich die Blumen zwar nicht sehen, aber ich hörte deutlich, dass ich sie niedertrampelte, als ich über die kleine, sorgfältig angelegte Kieselsteinmauer rund um das Blumenbeet stieg. Ich stieß den Spaten brutal in die Erde und fing an zu graben.

Schröder kam angerannt. „Wo zum Teufel bist du denn?“, murmelte er und fluchte, als ihm ein paar Apfelbaumzweige ins Gesicht schlugen.

„Hier.“

„Vielen Dank für die äußerst brauchbare Information, vielen Dank. Sie ist in dieser Stockdunkelheit von großer Hilfe. Ihr müsst diesen verdammten Apfelbaum beschneiden. Oder am besten gleich umsägen. Wie kann man das bloß die helle Jahreszeit nennen? Es ist ja so dunkel wie im Dezember, verdammt. Und auch nicht sehr warm, aber trotzdem irgendwie drückend. Es würde mich nicht wundern, wenn es heute Nacht noch ein Gewitter gäbe. Verdammt.“

Plötzlich stand er direkt neben mir.

„Aber was zum Teufel hast du denn vor, Kevin?“

Das war eine gute Frage. Es war eine sehr gute Frage: Was hatte ich eigentlich vor?

Ich schaute hoch und sah mich um, aber es war wirklich nicht sehr viel zu sehen. Ich konnte nicht mal Schröder sehen, obwohl ich wusste, dass er direkt neben mir stand. Aber ich hörte ihn:

„Hast du mich gehört? Was machst du hier eigentlich?!“

„Ich grabe.“

„Grabe? Wie, du gräbst? Willst du ausgerechnet jetzt Kartoffeln ausbuddeln? Mitten in der Nacht? Denkst du immer nur ans Essen? Und es ist auch noch nicht Mittsommer, sie sind bestimmt noch winzig klein, die Kartoffeln, fürchte ich. Das reicht wohl kaum für Bratkartoffeln für uns beide ... Du kannst doch nicht einfach so ohne ein Wort abhauen.“

„Ich werde es dir schon erklären, und das habe ich dir auch gesagt.“

„Hast du nicht. Du hast nur gesagt, dass ich die Taschenlampe nehmen soll, dann bist du abgehauen wie eine gesengte Sau. Völlig durchgedreht.“

„Wo ist die Taschenlampe?“

„Ich hab keine gefunden.“

Da stöhnte ich. Wie ich immer stöhne. Und dann grub ich weiter. Währenddessen war mein Gehirn damit beschäftigt, die Frage zu diskutieren, was ich eigentlich vorhatte. Eine gute Frage.

Ich kniete in einer ungewöhnlich dunklen Juninacht in unserem Garten und grub eins der umhegten Blumenbeete meines Vaters um. Er würde natürlich total ausrasten. Aber als ich im März an einem feuchtkalten Abend das Paket einbuddelte, hatte ich keinem Gedanken an seine Blumen verschwendet. Die Blumenzwiebeln waren inzwischen natürlich gewachsen, hatten ihre Stängel und Blüten nach oben geschickt, und es war noch keine Woche her, dass sie aufgeblüht waren. Es war völlig unmöglich, sie nicht kaputtzumachen, vor allem, weil ich blind buddelte.

„Sie stand auf der Kommode im Flur“, sagte ich sauer.

„Wer stand auf der Kommode?“

„Die Taschenlampe.“

„Willst du damit sagen, dass ich sie holen soll?“

Ich schüttelte den Kopf und steckte beide Hände in die regennasse Erde und suchte.

„Hast du gehört?“

„Was?“

„Ob ich sie holen soll?“

„Was denn?“

„Aber verdammt noch mal, Junge! El Torcho natürlich!“

„Was für’n Ding?“

„Die Scheißlampe!“

Die Feuchtigkeit drang durch die Handschuhe, und auch wenn es Juni war, so wurden meine Hände schnell eiskalt.

„Nein. Nicht nötig. Ich glaube, ich – wart mal ...“

Er schnüffelte misstrauisch. „Verdammt, es riecht so verbrannt, riechst du es auch? Brennt es irgendwo?“

„Es riecht nach Gegrilltem“, sagte ich, trat einen Schritt beiseite, steckte den Spaten in die Erde und zerstörte ein weiteres Stück Blumenbeet.

„Stimmt. Das ganze verfluchte Täby stinkt nach verbranntem Schweinefleisch und Grillfett. Sobald im Kalender steht, dass Sommer ist, rollen die Deppen ihre fahrbaren Schweinekrematorien raus. Die Leute spinnen einfach. Bist du bald fertig?“

„Ja, ich hab es.“

Ich suchte mit den Fingern, fand eine Ecke, schob die Hand drunter und hob es an. Ich konnte richtig hören, wie die aus Holland importierten Blumenzwiebeln meines Vaters mit einen spröden, knirschenden Geräusch zerdrückt wurden, als ich das Paket herauszog.

Ich bürstete die Erde ab und stand auf.

„Komm“, sagte ich und trat auf den Kiesweg.

„Komm, komm“, murmelte Schröder, und ich hörte, wie er fluchte, wahrscheinlich war er genau in das von mir gegrabene Loch getreten.

„Nimm den Spaten mit“, sagte ich.

„Wo hast du den bloß gelassen?“

Ich antwortete gar nicht erst, lief die Schiefertreppe zur Haustür hoch und trat in den Flur. Ich stellte den Karton auf die Fußmatte und zog die lehmverschmierten Gartenhandschuhe aus. Ich sah mich um und wusste nicht, wo ich sie hinlegen sollte, ohne allzu viel schmutzig zu machen. Ehe ich einen Entschluss fassen konnte, wurde die Tür aufgerissen und Schröder trat ein.

„Ich habe keinen verdammten Spaten gefunden. Wir müssen ihn morgen früh holen. Und was ist das? Ein Buch?“

Ich zuckte mit den Schultern und zog die Schuhe aus.

„Kevin, bitte, sei so lieb. Kannst du mir erklären, warum – Ich meine, ich komme her und besuche dich und erzähle, dass Lena angerufen hat und das ich dich ‚dreimal‘ grüßen soll und ...“ Er unterbrach sich und machte mit beiden Armen eine resignierte Geste. „Jesses, was seid ihr blöd! Grüß den kleinen Kevin dreimal von mir!“

„So hat sie es bestimmt nicht gesagt!“

„Ha! Jetzt hab ich dich erwischt, was?“

„Zieh die Boots aus.“

„Ja, ja, ist schon gut. Natürlich verstehe ich, dass das etwas bedeuten soll, irgendein Code oder was ihr euch ausgedacht habt. Es sei ganz verdammt wichtig, sagte sie.“ Er lehnte sich an die Wand und hob das linke Bein, legte es auf den rechten Oberschenkel und zog mit beiden Händen und unter großem Stöhnen einen Cowboystiefel aus. „Und dann drehst du total durch. Ich kann kaum Guten Tag sagen und erzählen, wie es mir geht, da hast du schon die Gartenhandschuhe an und stürzt dich hinaus in die Nacht und fängst an zu buddeln wie der Totengräber aus Hamlet.“

Er wechselte den Fuß, blieb aber nicht stehen, sondern hüpfte auf einem bestrumpften Fuß umher und schaffte es schließlich unter lauten Gestöhn, auch den anderen Stiefel auszuziehen. Mit besorgter Miene inspizierte er die Zehenspitze des Lederstiefels. „Verdammt, jetzt ist die Sohle schon wieder abgegangen, nur weil ich in eurem matschigen Garten herumstiefeln musste. Das ist doch lächerlich und außer ...“ Er verstummte, als sein Blick plötzlich die Bilder an den Wänden entdeckte. „Und sieh mal, die verdammten Bilder hängen immer noch an der Wand!“

Während Schröder weitermachte wie immer, ging ich in die Küche, legte die Handschuhe in den Ausguss und stellte den Karton auf das Abtropfbrett. Irgendwie hatte er ja Recht, es war schon ein ziemlich bescheuert. Aber als Lena damals sagte, an dem Tag, an dem ich einen Gruß von ihr bekommen würde, der lautete „dreimal“, sollte ich sofort den Apparillo holen und ihn so schnell wie möglich einschalten, da klang es überhaupt nicht lächerlich. Im Gegenteil.

Ich kam an mein Kinn und hatte wieder Blut an der Hand. Blöder Pickel, dachte ich und wischte es mit Haushaltspapier ab.

„Tja, verdammt, hier hat sich auch nichts verändert seit dem letzten Mal“, sagte Schröder, als ich mir gerade die Hände wusch. „Das Leben wichtelt weiter so vor sich hin in der blitzeblanken Küche von familio El Karlsson.“ Er kicherte, unterbrach sich dann und wurde plötzlich ernst. „Hast du mal darüber nachgedacht? Wie viele Menschen denken, dass Geborgenheit das Gleiche wie Glück ist, wo doch eigentlich nur das seltene Glück an sich wirklich Geborgenheit geben kann.“ Er schaute mich mit so einem erwartungsvollen Blick an, der jedoch schnell in deutliche Enttäuschung überging.

„Und was hat unsere Küche damit zu tun?“, fragte ich, machte den Putzschrank auf und trocknete mich an einem Geschirrhandtuch ab.

„Eine ganze Menge, mein Junge, mehr als du denkst. Aber ich merke, dass du heute Abend nicht zu tiefsinnigen Gesprächen aufgelegt bist. Du hast ja viel wichtigere Dinge vor, wie zum Beispiel Bücherpakete aus den Blumenbeeten auszugraben. Es ist ja ein gottverdammtes Glück, dass deine Eltern heute nicht zu Hause sind. Ich muss zugeben, ich habe mir auf dem Weg hierher ein wenig Sorgen gemacht. Dank für die gütige Nichtfrage, mir geht es, den Umständen entsprechend, ganz gut. Tatsächlich muy bien, auch wenn dir das scheißegal ist.“

„Ist es nicht, aber Lena sagte, dass ...“

„Wann hast du sie eigentlich getroffen? Habt ihr denn kein Pflaster im Haus?“

„Doch, oben. Aber es ist fast alle. Irgendwann im Frühjahr.“

„Was?“

„Lena. Ich habe Lena irgendwann im Frühjahr getroffen“, sagte ich. „Sie rief an, und dann kam sie und ...“

„Sie war hier?!“ Er wühlte energisch in den Innentaschen seines Mantel und brachte eine zerschlissene Lederbrieftasche zum Vorschein. „Willst du damit sagen, dass sie hier war und nicht mal bei mir angeklingelt hat?!“ Er blätterte durch mehrere zum Platzen volle Fächer und hielt dann mit einem triumphierenden Grinsen ein altes Pflaster hoch.

Ich nahm es, zog das Schutzpapier ab und klebte es irgendwie auf mein Kinn.

„Nicht besonders hübsch. Und du hättest in den Spiegel schauen können. Aber zweckdienlich.“

„Was?“

„Das Pflaster. Es sitzt nicht sonderlich elegant. Was zum Teufel ist nur mit Lena los?“ Er seufzte tief, zog einen der Küchenstühle raus und setzte sich. „Und jetzt ruft sie also an, bittet mich, hierher zu flitzen und dich dreimal zu grüßen. Warum zum Teufel hat sie nicht selbst hier angerufen!?“

„Weil ihr Telefon natürlich verwanzt ist.“

„Verwanzt? Hat sie Ungeziefer im Telefon? Aber wie hat sie dann ...“

„Abgehört wird“, unterbrach ich ihn ungeduldig und riss das Verpackungsband auf.

„Aha, also wieder so was. Du, pleasch, wie der Bramaputrawichtel Rashmal zu sagen pflegte, könntest du mir das ein bisschen genauer erklären?“

Ich zuckte mit den Schultern. Innerhalb einer Nanosekunde blätterte das Gedächtnis ein halbes Jahr durch. Mir wurde fast schwindlig, so schnell ging das.

Eigentlich war nach dem großen Durcheinander am Rösjö im letzten Winter nicht sehr viel passiert, falls ihr euch daran erinnert.1 „Das fehlende Glied“, wie Lena und ihr Vater Adler den Kerl nannten, den sie mit Hilfe der gefälschten Diskette nach Schweden gelockt hatten, und den ich mit Adlers Infrarot-Polaroidkamera auf die Platte bekommen hatte. Er war irgendein schwedischer Bigshot und steckte bis zu den Knöcheln in der mafiaähnlichen Organisation namens BEDA.

Wenn man bedenkt, wie aufgeregt Adler und seine Helfer wurden, als sie sahen, wer da auf dem Foto war, hatte ich erwartet, eine Menge darüber in der Zeitung zu lesen. Wochenlang las ich deshalb jeden Artikel auf der Nachrichtenseite, zum großen Erstaunen meiner Eltern.

Es stand nie etwas drin, keine Zeile. Und dabei hatte Adler zu Schröder gesagt, dass die Affäre große innenpolitische Konsequenzen haben würde und die Regierung vermutlich zurücktreten müsse. Was sie nicht tat. Der Außenminister trat zwar ungefähr einen Monat später aus gesundheitlichen Gründen zurück, was wahrscheinlich sogar stimmte, er sah ziemlich krank aus. Ich fand es einigermaßen unwahrscheinlich, dass es etwas mit der Diskette und Adler zu tun hatte.

Dann kam Mitte Februar der Finanzminister bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Die Kommission, die den Absturz untersuchte, kam zu dem Schluss, dass die eine Tragfläche des kleinen Flugzeugs vereist war. Der Gedanke, dass das Unglück etwas mit BEDA zu tun haben könnte, kam mir zwar, aber ich verwarf ihn wieder.

Inzwischen hatte ich fast vergessen, was mit dieser Diskette und draußen am Rösjö und im VIP-Raum am Arlanda-Flughafen passiert war und auch Beppo, die Morchel, und Rashmal. Oder: ich versuchte es zumindest. Aber immer wieder, kurz vor dem Einschlafen, liefen dann die Erinnerungsvideos und die waren jedes Mal anders. Schließlich wusste ich nicht mehr, was ich wirklich erlebt hatte und was meine Erinnerung hinterher erfunden hatte. Schließlich hatte ich das Gefühl, dass es bloß ein Buch war – verdammt gut, aber immerhin bloß ein Buch, das ich gelesen hatte.

Stattdessen versuchte ich mich aufs Lernen zu konzentrieren, was mir nicht besonders gut gelang. Ich dachte über die berühmte Zukunft nach und was ich werden sollte, wo ich doch nicht mal wusste, was ich werden wollte. Meine Eltern maulten oft, dass ich mir gar nicht mehr ähnlich war, und das stimmte auch. Ich war total verwirrt, in jeder Beziehung.

Diese Erinnerungsbilder, die kamen, bevor ich einschlief, handelten nämlich meistens von Lena Dahlén. Ich kam einfach nicht von ihr los. Wie sehr ich es auch versuchte. Natürlich rannte ich auf jede Menge Feste und natürlich machte ich auch mit allen möglichen Bräuten rum, aber ich merkte immer wieder, dass ich ständig an Lena dachte. Und ich verglich die anderen Mädchen mit ihr. Und da hatten die natürlich keine Chance.

Das war doch lächerlich. Sie war ja mindestens fünfunddreißig, vielleicht sogar so alt wie meine Mutter (Jesses!). Ich verstand nicht, wieso ich so fixiert auf sie war. Ich versuchte, das alles irgendwie klar zu kriegen, und habe doch tatsächlich angefangen so eine Art Tagebuch zu schreiben. Ich versuchte aufzuschreiben, was für Gefühle ich hatte. Das ging natürlich nicht.

Plötzlich, eines Morgens Ende Januar stand ein neu glänzendes, schwarzes Piaggio-Moped an unserem Gartentor, ein riesiges, rosa Seidenband war darumgeschlungen und zu einer gigantischen Schleife gebunden, mit einem Schild, auf dem stand: „Für Kevin, von Raymond & Lena.“

Es war ziemlich schwierig, meinen Eltern das Ganze zu erklären. Fast so schwierig, wie zu erklären, warum mein altes Piaggio gestohlen worden war, warum die Garagentür kaputt oder „verwüstet“ war, wie mein Vater es nannte, warum seine Diskettenbox aufgebrochen war, wo sein unglaublich wichtiger Entwurf für die Jahressteuer seines größten Kunden hingekommen war, und wie es kam, dass zwei seiner teuersten Flaschen Rotwein verschwunden waren usw. usw.

Ich weiß nicht mehr, wie es mir gelang, alles zu erklären, ohne zu erzählen, was wirklich passiert war. Es hätte auch keinen Sinn gehabt. Sie hätten mir doch nicht geglaubt. Außerdem durfte ich auch nichts erzählen. Aber sowohl meine Mutter als auch mein Vater wollten unbedingt meinen „neuen Freund“, diesen Raymond Schröder kennen lernen. Aber zum Glück vergaßen sie es irgendwann wieder. Sie hatten genug andere Probleme, die Firma meines Vaters ging mehrmals beinahe in Konkurs und meine Mutter hatte jede Menge Sorgen in der Schule mit Kürzungen, unmöglichen Einsparungen und hoffnungslos verwässerten Lehrplänen, wie sie sich ausdrückte.

Und dann klingelte eines Abends im April das Telefon. Glücklicherweise war ich allein zu Hause, Mutter war bei einem Kurs und Vater arbeitete mal wieder länger.

„Hallo, Kevin, ich bin’s ...“

Und es gab überhaupt keinen Zweifel, wer ich war.

Das Gespräch verlief genau wie alle Gespräche, die ich mit Lena am Telefon führte. Wenn ihre Stimme so nah war und sich direkt in mein Ohr schlich, war es, als ob sie ganz in mich hineinkriechen würde, und da kam ich ganz durcheinander, fing an zu stottern, wurde rot, verhaspelte mich und bekam Frösche in den Hals und einen leicht surrenden Schwindel. Und alles zusammen führte dazu, dass ich nicht richtig hörte, was sie sagte, ich begriff den Zusammenhang irgendwie nicht, oder wie man das ausdrücken soll.

Sie sei in der Nähe, sagte sie, und sie brauche Hilfe. Ich müsse etwas für sie aufbewahren und verstecken. Als ich sagte, ich sei allein zu Hause und Mama und Pa ... ähm ... meine Eltern kämen erst in einigen Stunden, hatte ich fast noch nicht den Hörer aufgelegt, als ich auch schon ein Auto unten auf der Straße halten hörte. Ich stieg in die Schuhe und erwartete einen weißen Porsche. Seit jenem regnerischen Herbstabend im letzten Jahr hatten weiße Porsches für mich eine besondere Bedeutung, und wenn ich einen sah, spürte ich (es fällt mir schwer, es zuzugeben, aber gut), spürte ich Lena Dahléns Lippen auf meinen (doch, das stimmt).

Da unten stand überhaupt kein weißer Porsche. Stattdessen stieg sie aus einem knallgelben, rostigen Citroën 2CV, ihr wisst schon, so eine französische Blechbüchse, die schon lange nicht mehr gebaut wird. Als ich zum Gartentor kam, stand sie da und lächelte.

„Noch mal hallo, Kevin.“

Sie sah aus wie immer. Mir kam sofort die alte Songzeile in den Sinn: I grow weak in the presence of beauty.

Sie reichte mir ein Paket, das in ganz normales, braunes Packpapier eingeschlagen war, vielleicht ein bisschen größer als ein Taschenbuch, nicht dicker als Chandlers „The Big Sleep“.

„Kannst du das für mich verstecken?“

Es war wichtig und natürlich fürchterlich geheim. Sie erklärte, es sei ein Gerät, das an ein Telefon angeschlossen wurde.

„Ein Fax, meinst du?“, fragte ich erstaunt.

„Nein, kein Fax, aber etwas Ähnliches“.

Dann erklärte sie mir, wie es funktionierte, aber ich verstand es nicht richtig. Denn wenn sie vor mir stand, war ich total verwirrt und kindisch.

Sie meinte, dass ich vermutlich nichts machen müsse, aber: „Sobald jemand dich anruft oder zu dir nach Hause kommt und dich dreimal von mir grüßt – merk dir das: nicht nur grüßt, sondern dreimal von mir grüßt“, dann sollte ich das Gerät anschließen, sobald ich allein war.

„Es ist ganz einfach, ich habe ein paar Hinweise aufgeschrieben, sie liegen in der Schachtel, und da steht auch, was du dann machen musst.“ Es war also sehr wichtig, dass ich es wirklich versteckte, sie hätte mich lieber nicht schon wieder in etwas verwickelt, aber sie kannte sonst niemanden, bei dem es keine Verbindungen zwischen ihr und BEDA gab.

„Wie ist es denn mit denen weitergegangen?“, fragte ich und nahm das Paket.

„Es ist noch nicht zu Ende“, sagte sie und folgte mir zum Haus.

„Du hast vielleicht von diesem Flugzeugabsturz gehört.“

„Waren das ...“

„Ja. Deswegen muss ich es so machen. Alles ist so schrecklich verwickelt, ich traue inzwischen niemandem mehr, deshalb muss ich ... Und du, Kevin – kein Wort, vergiss das nicht.“

„Willst du nicht einen Kaffee oder so?“, fragte ich und kam mir schon wieder so superalbern und megakindisch vor. Ich war dankbar, dass die Außenlampe nicht so hell war. Und trotzdem hoffte ich innerlich, dass sie Ja sagen würde. Ich würde ihr Kaffee machen, in der Mikrowelle tiefgekühlte Zimtschnecken auftauen, ihr am Küchentisch gegenübersitzen, ihr in die Augen schauen, ihre Stimme hören und –

„Hab keine Zeit, Kevin. Ein andermal. Hast du in letzter Zeit mir Raymond gesprochen?“ Ich schüttelte den Kopf und versuchte über die Enttäuschung hinwegzukommen, die wie ein großer, grober Stein in meinen Körper sank. „Ich auch eine ganze Weile nicht“, sagte sie mit so einem Lächeln, von denen meine Erinnerungsabteilung eine sorgfältig gepflegte und hoch geschätzte Sammlung besaß. „Wenn du ihn sprichst, grüß ihn.“

„War das alles? Grüßen? Hat sie sonst nichts gesagt? Und dann ging sie einfach wieder?“

Ich nickte, aber das stimmte nicht ganz. Ich erzählte nicht, dass sie mir noch so ein Lächeln schenkte, und dass sie sich dann vorbeugte und mich rasch in eine Umarmung einschloss, die ich immer noch als deutlichen Abdruck auf dem ganzen Körper spüre.

„Als ob ich der Cousin der Schwägerin ihrer Mutter wäre“, brummte Schröder.

Ich machte den Pappkarton auf und holte eine blau-schwarze Plastikschachtel heraus, die aussah wie ein übergroßer Walkman. Sie war ungefähr so dick wie Chandlers „The Big Sleep“. Ganz unten lag ein gefaltetes A4-Papier mit den Instruktionen, von denen Lena gesprochen hatte. Sie waren auf einem Computer geschrieben und mit einem Tintenstrahldrucker ausgedruckt worden, der bald eine neue Tintenpatrone brauchen würde, vermutete ich.

Für Kevin stand ganz oben in Kursivschrift.

„Verdammt, Kaffee, Kevin. Kaffee.“

Ich zeigte gedankenverloren Richtung Küchenschrank, ohne meine Lektüre zu unterbrechen.

Er machte zwei große Schritte und riss die Schranktür auf. „Löfbergs Lila?! Aber was ist denn das, Kevin? Was? Hat dein Alter Steuern nachzahlen müssen? Kein Segafredo? Kein Kimbo? Nicht mal Lavazza?“

„Hmm ...“, brummte ich.

„Ich hab was gefragt!!“

„Was?“

„Habt ihr keinen richtigen Kaffee im Haus?“

„Nicht?“ Ich zog den Stecker des Küchentelefons aus der Buchse und drückte ihn an der einen Seite in den Apparillo, dann steckte ich den Stecker vom Apparillo in unsere Buchse.

„Ein Anrufbeantworter?“, fragte Schröder erstaunt und hörte mit seinem Kaffeegemaule auf. Er machte nicht einmal die Schranktür zu, sondern kam zu mir und starrte die schwarze Schachtel an. „Warum habt ihr den Anrufbeantworter im Blumenbeet vergraben? Wozu soll das gut sein? Das hab ich mit meinem noch nicht versucht ...“

Ich warf ihm einen müden und hoffentlich strafenden Blick zu, während ich den Stromstecker vom Apparillo in die Steckdose steckte. Ich drückte auf einen roten Knopf und eine kleine rote Lampe ging an.

„Mit eingebauter Lampe und allem“, sagte Schröder. „Ich bin wirklich beeindruckt, Kevin. Aber was soll jetzt passieren? Spielt der gleich ein Liedchen. Vielleicht Mozarts Flötenkonzert in E-Dur? Und was ist das überhaupt für ein verdammter Apparillo?“

„Ich weiß es auch nicht genau“, sagte ich und war etwas erstaunt.

Der Apparillo schaltete ein paar Mal und nach einer kurzen Pause begann er leise zu surren. Schröder legte eine Hand hinters Ohr und beugte sich runter.

„Nein, absolut kein Mozart. Möglicherweise eine moderne Interpretation des Brausens der Wasserfälle von Avesta, aber das klingt mehr wie mein neuer Kühlschrank.“

Er verschränkte die Arme und lehnte sich an die Spüle, nahm den Zettel und las die erste Zeile. „An der Überschrift hat sie lange gefeilt ...“ Er lehnte sich noch weiter zurück und begann zu lesen. Nach einer Weile schaute er den Apparillo an, dann unser Telefon und schließlich starrte er intensiv die Buchse an der Wand an.

„Punkt für Punkt galant ausgeführt, Kevin“, sagte er säuerlich.

„Ich bin ja so stolz auf dich.“

„Hör auf. Lies weiter“, sagte ich und verschränkte meinerseits die Arme.

Er zuckte mit den Schultern und nahm wieder den Zettel. Genau in diesem Moment klingelte das Telefon. Wir zuckten beide zusammen und schauten uns an.

Schröder nahm den Hörer ab.

„Nein!“, schrie ich und stürzte mich auf ihn. „Verdammt, kannst du nicht lesen?!“ Ich riss ihm den Hörer aus der Hand und legte wieder auf.

„Ich bin noch nicht fertig ...“

Ich zeigte mit einem wütend zitternden Zeigefinger weiter unten auf das Blatt, wo stand, dass ich

absolut nicht

abnehmen sollte, wenn das Telefon während der fünfundzwanzig Minuten, in denen es angeschlossen war, klingelte.

„Verdammt ...“ Er kratzte sich mit schabendem Geräusch unter dem Kinn. „Aber ich habe wenigstens nichts gesagt.“

„Das nützt vielleicht nichts“, sagte ich und spürte wie sich ätzende Panik irgendwo in der Magengegend breit machte. Ich hatte das seit einem halben Jahr nicht mehr gespürt und vergessen, wie widerwärtig es sein konnte. Es war, als ob ein scharf geschliffenes Pendel da drinnen hin- und herschwingen würde.

„Wie, nützt nichts?“

„Der Grund, warum er hier installiert ist, ist natürlich der, dass niemand diese Nummer kennt, und darum können sie auch die Funktionen nicht aufspüren.“

„Was zum Teufel fantasierst du da?“

„Dieser Apparillo ist gerade damit beschäftigt, die kompletten Informationen aus einer gigantischen Datenbank abzuziehen. Aber wenn sie die Nummer aufspüren, können sie auch den Prozess stoppen und vor allem können sie ihn bis hierher verfolgen. Und deswegen sollte ich es machen.“

„Damit sie ihn bis hierher verfolgen können?“

„Damit sie es nicht können, selbstverständlich!“

„Oh! Lena und ihre verfluchten Computerapparillos, also wirklich! Und muss sie ständig dich da hineinziehen? Sie hätte doch mich bitten können, es zu machen.“

„Dich kennen sie, sagte sie, das sei genauso schlimm.“

„Mich kennen sie?! Zum Teufel aber auch. Wie ausgesprochen unangenehm.“

Ich zuckte mit den Schultern und spürte, wie eine sogartige Unruhe sich vom Bauch aus spiralförmig nach oben drängte. Wenn sie die Nummer bis hierher verfolgen können? Und was, wenn Schröder alles kaputtgemacht hatte? Was würde dann passieren?

3

Espresso Aschico & Americanos Expressos

„Ach was, die haben das nicht hierher verfolgen können, Kevin. Reg dich ab. Das war bestimmt bloß ein Kontrollanruf von deiner Mami, ob du schon schläfst ...“ Schröder grinste kurz und las weiter und drehte dann das Blatt um. „Aha. Und ich soll auch alles Mögliche erledigen, sehe ich. Ich habe sie so satt, diese Lena!“

„Zeig her“, sagte ich und riss wütend das A4-Blatt an mich.

Doch, er hatte Recht. Auf der Rückseite stand, ich solle den Apparillo Schröder übergeben. Davon hatte Lena nichts gesagt. Aber klar, sie hoffte ja, dass es nicht nötig sein würde, damals, als ich ihn bekam. Aber ich war irgendwie doch enttäuscht, und dieses Gefühl verstärkte sich noch, als ich sah, dass da auch ein Umschlag festgeklebt war, auf dem einfach Für Raymond stand. Ich riss ihn ab und reichte ihn Schröder rüber und sah vermutlich ziemlich verbiestert aus.

„Danke. So freundliche Briefträger trifft man nicht alle Tage.“ Er schaute den Umschlag zerstreut an und steckte ihn dann in die Jackentasche. „Aber was zum Teufel ist nun mit dem Kaffee, habt ihr nichts Trinkbares im Haus?“

Ich schloss die Schranktür, die er aufgemacht hatte, öffnete die daneben und streckte mich nach einem Glas Lavazza Espresso Italiana Schnellkaffee. Warum bin ich bloß so sauer?, dachte ich. Als Schröder das Glas sah, erhellte sich sein Gesicht. Er drehte sich herum, nahm den erstbesten Topf, füllte ihn mit Wasser und machte die Schnellkochplatte an.

„Wie wär’s, wenn du mir jetzt mal etwas genauer erklären würdest, was das Ganze soll.“

„Ich weiß nicht viel mehr, als ich erzählt habe“, sagte ich.

„Unglaublich“, stöhnte er und schälte sich aus seinem alten, langen Mantel, mit den gleichen übertriebenen, windmühlenartigen Bewegungen wie immer. Es gelang ihm wenigstens, nichts runterzufegen. Er knäulte ihn zusammen und warf ihn in Richtung einer der Küchenstühle, auf dem er auch perfekt landete. „Kannst du mal sehen, du alter, abgedankter Handballer.“ Er richtete das braune, einreihige Jackett und bürstete den Aufschlag mit den Hand ab. „Hundert Prozent reine Kaschmirwolle. Schick, nicht wahr? Wie sieht’s aus, spielst du immer noch Handball?“

„Nicht mehr so oft“, sagte ich und zuckte mit den Schultern.

„Das ist gut“, sagte er und setzte sich. „Wenn man was im Kopf hat, dann sieht man irgendwann ein, dass man nicht sein Leben lang mit Bällen herumtollen kann, oder?“ Er steckte die Hand in die Jackentasche und holte seine unvermeidlichen Gitanes heraus. „Dazu ist das Leben viel zu kurz, wir müssen es veredeln, damit es schön und reich wird, um Schopenhauer zu zitieren.“

„Schopenwas?“

„Schopenhauer, der alte Spaßvogel. Hast du nie von ihm gehört? Du kannst mal ein Buch von mir geliehen bekommen, damit du dich ein bisschen bilden kannst. Es wird langsam Zeit, dass du etwas anderes liest als die alten Comics von deinem Vater. Und dann können wir vielleicht grundsätzliche, philosophische Gespräche führen.“

Er nahm eine Zigarette aus der Schachtel und roch daran, genau wie alte Männer an teuren Zigarren riechen. Außerdem fischte er ein billiges Wegwerffeuerzeug aus der anderen Jackentasche. Ich konnte gerade noch darüber nachdenken, ob ich wieder übers Rauchen meckern sollte, hatte aber einfach keine Lust und holte deshalb eine von Mutters kostbaren Kristallschalen, die er auch das letzte Mal, als er hier gesessen hatte, als Aschenbecher benutzt hatte. Das war ein halbes Jahr her.

Und wenn ich ehrlich sein soll, fand ich auch nicht mehr, dass es so schlecht roch, wenn er rauchte. Ich hatte mich wohl daran gewöhnt. Genau wie ich mich an Schröder gewöhnt hatte. Vielleicht hatte mir sogar der Zigarettengeruch und Schröder im letzten halben Jahr gefehlt, aber es war vor allem Lena. Oder nicht? Vermutlich war es so, dass der Geruch von Gitanes und Schröder mich an Lena erinnerten, und nach der sehnte ich mich wirklich. Wie sollte man sich auch nach Schröder sehnen?

„Willst du den Brief nicht lesen?“, fragte ich.

„Brief? Welchen Brief? Hast du mir geschrieben?“

„Den von Lena natürlich.“

„Ach so. Klar, du hast Recht.“ Er steckte die Zigarette in den Mundwinkel, holte den Umschlag aus der Jackentasche und riss ihn auf. Er zog ein Blatt Papier heraus und fing an zu lesen. Erst sah er noch so verwirrt und zerstreut aus wie immer, aber dann versteifte sich sein ganzer Körper. Das sah sehr merkwürdig aus. Er nahm gewissermaßen Haltung an, strich sich über die kurz geschnittenen Haare, streckte den Rücken und schien sehr konzentriert.

„Was ist denn?“

Er hörte mich nicht und las weiter.

„Du musst aschen“, sagte ich.

Er schaute hoch und sah erstaunt fragend aus.

„Aschen“, sagte ich und zeigte auf die Zigarette. „Die Kippe.“

Er führte die rechte Hand zur Zigarette im Mundwinkel, aber gerade, als er sie nehmen wollte, fiel die Aschesäule runter und landete auf seinem Schoß. Er zuckte zusammen, ließ den Brief fallen, stand mit einem Ruck auf, so dass der Stuhl mit einem Poltern nach hinten umfiel, was ihn erschreckte. „Verdammt!“ Er bürstete wie ein Wahnsinniger seine Hose ab, aber der Aschefleck wurde natürlich immer größer.

„Jetzt bist du über-ascht worden, was“, sagte ich und versuchte, richtig cool zu klingen, bückte mich, hob den Brief und legte ihn auf den Tisch.

„Meine neuen Marlboro“, murmelte er bekümmert und rieb immer noch den Hosenstoff. Er hatte mich natürlich nicht gehört.

„Ich dachte, das sind Gitanes“, sagte ich.

„Ha! Jetzt warst du aber witzig. Zweimal sogar! Bist du vielleicht Groucho Marx?“ Er stellte den Stuhl wieder hin und setzte sich.

Das Wasser kochte, ich holte einen Becher aus dem Regal und stellte ihn zusammen mit dem Lavazzaglas und einem Löffel auf den Tisch. Schröder schaufelte drei gehäufte Löffel in den Becher und nickte zufrieden. „Right Kevin, her mit la acqua, per favore!“

„Was schreibt sie?“, fragte ich und goss Wasser in den Becher.

Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette, verkeilte sie ganz unten zwischen Zeige- und Mittelfinger und rührte mit dem Löffel im Becher.

„Das wüsstest du wohl gerne, du liebeskranker pickeliger Pubertätsschlingel?“

„Na klar.“ Ich seufzte und spürte, dass ich dummerweise heiße Wangen bekam und dass ich ebenso dummerweise ganz tief innen unglaublich getroffen war. Ich stellte den Topf wieder auf den Herd und setzte mich ihm gegenüber an den Tisch.

„Na klar“, sagte er und äffte mich auf seine übertriebene Art nach, die eines Tages einen richtigen Wutausbruch bei mir auslösen könnte. Er führte den Becher zum Mund ohne den Blick vom Brief zu nehmen. Instinktiv wollte ich ihn warnen, konnte es aber gerade noch bleiben lassen.

Natürlich war der Kaffee kein bisschen abgekühlt, er war bestimmt noch kochend heiß. Ein halb unterdrückter Schrei explodierte förmlich aus ihm heraus und er spritzte eine Kaskade heißen Kaffees über den Blumenstrauß auf dem Tisch. Ich konnte mich gerade noch zur Seite bücken und bekam keinen Tropfen ab.

Ich sagte nichts, setzte mich nur hin und sah ihn an. Er schaute mich mit fragendem Gesichtsausdruck an. „Was glotzt du denn?“, fragte er. „So macht man es immer in Italien mit dem ersten Schluck Express-Espresso, hast du das nicht gewusst? So vermeidet man die Nebenwirkungen der Gefriertrocknung.“

Ich versuchte nicht zu lachen, es gelang jedoch nicht.

Da lächelte er, schien fast den Tränen nahe und sagte: „Jetzt erkenne ich dich endlich wieder. Obwohl das Pflaster ein bisschen groß ist für dein kleines Kinn. Du hast es übrigens genau über den anderen Pickel geklebt, du wirst ihn wahrscheinlich aufreißen, wenn du das Pflaster abmachst. Was meinst du, wie heißen Pickel wohl in Spanien?“

„Mixed Pickles?“, schlug ich vor.

„Verdammt, jetzt warst du schon wieder witzig. Wie soll das nur enden. Junge, Junge. Hast du nicht auch so ein Déjà-vu-Gefühl?“

„Was?“

„Déjà-vu. Das ist Französisch. Es bedeutet ‚Das war damals‘.“

„Tsss ...“

„Doch, ganz bestimmt. Déjà bedeutet ‚das war‘ und vu bedeutet ‚damals‘. Aber sag, hast du es nicht?“

„Was denn?“, fragte ich, stand auf und holte Haushaltspapier, um den Tisch abzuwischen.

„Das Gefühl, das alles schon einmal erlebt zu haben?“ Ich wischte die Blumenvase ab und schaute die Blumen an. „Die mussten gegossen werden“, sagte er zufrieden. „Und Koffein belebt sie, die Farben werden kräftiger ... Genau jetzt, hast du nicht auch das Gefühl, das alles irgendwie schon einmal erlebt zu haben. Ich meine, genau jetzt, wie wir hier sitzen, du und ich? Oder, um genau zu sein, ich sitze hier und du wischst den Löwenzahn ab.“

„Die Nelken.“

„Nelken sind doch rot.“

„Es gibt sie in allen Farben.“

„Wirklich? ‚Gelbe Nelken‘ klingt aber nicht so gut ...“

„Schon gar nicht in der Übersetzung“, sagte ich mit einem Grinsen.

„Was?“

„Yellow Pimpernell.“

„Das klingt doch nicht so dumm.“

„Yellow? Weißt du nicht, dass das auch feige bedeutet?“

„Natürlich weiß ich das, du blöder Oberlehrer, aber ich fand es nicht wahnsinnig witzig. Und gelb oder rot, kommt wohl nicht drauf an. Blumen sind Blumen. Ist egal, welche Sorte, Hauptsache sie schmücken und erfüllen ihre Aufgabe. Und verwelken müssen sie am Ende doch alle, genau wie alles andere hier auf der Welt. Das Leben, zum Beispiel ... Ach ja“, seufzte er und schaute gedankenverloren zur Decke, bevor er kräftig an seiner Zigarette zog. „Aber trotz allem: Déjà-vu, mon ami. Und Lena, die natürlich mal wieder abwesend, aber dennoch gegenwärtig ist und beginnt, an uns zu ziehen. Als ob wir ihre Marionetten wären ... Nicht wahr?“ Er dachte eine Weile nach, dann verfinsterte sich sein Blick, er schaute auf den Brief, las noch einige Zeilen, zog dann die Augenbrauen zusammen und brüllte aus vollem Hals:

„Und schon wieder diese verfluchte verdammte stinkende alte Scheiße! Das darf doch wohl nicht wahr sein!“