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Als die heimatlose Jade nach einem misslungenen Diebstahl von den Häschern der grausamen Königin Scylla gefangengenommen und misshandelt wird, glaubt sie, ihr Dasein sei zu Ende. Halbtot in den von gefährlichen Kreaturen bevölkerten Wäldern ausgesetzt, schließt sie mit ihrem Leben ab. Doch Indigo, ein mysteriöser Vagabund, scheint nur auf sie gewartet zu haben. Er rettet Jade das Leben und zwingt sie dazu, an seiner Seite auf eine lange Reise zu gehen. Eine Reise voller tödlicher Gefahren, deren Sinn und Ziel sie nicht kennt. Tausend Geheimnisse umgeben Indigo, unzählige Feinde verfolgen seine Spur. Jeder Tag und jede Nacht machen Jades Reisegefährten nur noch rätselhafter, doch sie ist entschlossen, die Wahrheit über ihn herauszufinden.
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Seitenzahl: 683
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Autor
Buchtitel
Untertitel
Astrid Behrendt Rheinstraße 60, 51371 Leverkusenwww.drachenmond.de, [email protected]
Satz, Layout Martin Behrendt
Umschlaggestaltung und Illustrationen John Akhenunter Verwendung von Bildmaterial von shutterstock.comArman Zhenikeye, Slava Gerj
ISBN: 978-3-95991-093-4 ISBN der Druckausgabe: 978-3-931989-93-4
Vorwort
Orchideenstaub
Die Königin und das Ungeheuer
Der erste Schnee
Das Lied des Perlenvogels
In den Wäldern
Der Baum der Seelen
Im Sgulgi-Wald
Das Drachengrab
Esnunna
Ich hatte schon ewig vor, einen High-Fantasy-Roman zu schreiben. Genau genommen, seit ich vor vielen Jahren das erste Mal »Die unendliche Geschichte« gelesen und es seitdem immer wieder getan habe. Wenn ein Buch Zauberkraft besitzt, dann dieses. Jedes Mal entdecke ich neue Dinge. Neue Metaphern und neue Erkenntnisse. Es ist, als würde sich der Pfad durch das Buch jedes Mal ändern, so, wie ich mich von Jahr zu Jahr ein bisschen verändere. Ich wünschte, dieser Roman wäre von mir. Welcher Autor kennt ihn nicht, diesen schriftstellerischen Neid, der einen bei besonders gelungenen Geniestreichen überkommt?
Wie auch immer: Ich liebe »Die unendliche Geschichte«. Und ich liebe die klassischen Reisen in der Fantasy-Literatur, auf die sich der Leser gemeinsam mit den Figuren begeben kann. Warum hat es dann bis zum Jahr 2016 gedauert, ehe ich mit »Indigo und Jade« meinen ersten High-Fantasy-Roman vorlege? Ehrlich, keine Ahnung. Ideen sind unberechenbar und launisch. Sie drängeln sich vor, manipulieren Gedanken, verwerfen alle Pläne und machen mit meiner Kreativität, was sie wollen. Wie kleine Kinder schubsen sie die beiseite, die eigentlich am Anfang der Warteschlange standen, und schreien lauthals »Hier! Schreib mich! Sofort!«
Als ich dann endlich meinen lange gehegten Plan zu »Indigo und Jade« verwirklichte, geschah das, was wohl unvermeidbar war: Meine Ideen passten einfach nicht in ein Buch. Ich konnte es drehen und wenden, wie ich wollte: Für einen Einzelband war diese Welt einfach zu opulent, die Reise meiner Figuren zu weit und die Einfälle zu zahlreich. Die Geschichte war bereits zu ¾ fertig, als mir das Feedback einer Testleserin (an dieser Stelle ein großes DANKE an die Booktuberin Kathalovesbooks) die Augen öffnete. Ich wusste auf einmal, dass die Geschichte um den Magier und das Straßenkind deutlich mehr Raum brauchte. Vieles, was ursprünglich in wenigen Sätzen abgehandelt wurde, schrie förmlich danach, einen würdevolleren Platz zu bekommen. Und so wurde aus dem Einzelband ein Zweiteiler. Aus einer Erzählung entsprangen viele Erzählungen. So geschah es auch in Michael Endes Roman, in dem es oft heißt: »Doch dies ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.«
Nun ist es endlich so weit. Vor euch liegt mein erster High-Fantasy-Roman. Ich hoffe, die Reise meiner Helden gefällt euch und entführt euch in eine fantastische Welt.
An dieser Stelle bedanke ich mich bei meinen Testleserinnen Christina, Susanne, Marina und Katharina, die gemeinsam mit mir durch dieses Abenteuer gereist sind und mir mit Rat und Tat zur Seite gestanden haben.
Ich danke meinem Lebensgefährten John für seine unerschöpfliche Liebe, für die nie endende Inspiration und die beiden wunderschönen Cover zu »Indigo und Jade« sowie »Schnee und Orchideen«.
Ich danke Astrid für das Zuhause, das sie meinen Geschichten gegeben hat, und dafür, dass sie ohne mit der Wimper zu zucken »Mach ruhig, ich vertraue dir« gesagt hat, als ich den Einzelband mal eben in einen Zweiteiler verwandelt habe.
Ich danke meiner wunderbaren Familie in Loburg, Lindau und Brietzke sowie unseren Freundinnen Hannah & Christina für … nun ja, einfach für alles.
Möge unser Band unzerstörbar sein und Teil einer unendlichen Geschichte.
1
Alsara
Der Tag, vor dem Alsara sich so lange gefürchtet hatte, war gekommen. Heute Abend galt es, Abschied zu nehmen. Und der Schmerz über seinen Verlust war grenzenlos.
Das Portal zu öffnen, hatte ihr viel Kraft geraubt. Vielleicht zu viel. Zwei Welten miteinander zu verbinden und den dünnen, unsichtbaren Pfad zwischen ihnen aufrechtzuerhalten, verlangte Körper und Seele alles ab. Früher war es einfach gewesen. Aber das Alter nagte an ihren Knochen, machte sie allmählich blind und gab ihr das Gefühl, jeder Herzschlag sei ein weiterer Schritt auf den Abgrund des Todes zu.
Alsaras Finger zitterten heftiger als sonst, als sie die Erdknollen zerschnitt. Sie wusste, dass Indigo ihre Einladung zum Essen abweisen würde. Er würde ihre letzte Begegnung kurz halten, sie wahrscheinlich nicht einmal mehr küssen oder in den Arm nehmen. Trotzdem kochte sie den Eintopf, den er so sehr mochte. Ein letztes Mal würde sie das Portal öffnen und dabei zusehen, wie er hindurch schritt. Dann war es vorbei. Für den Rest aller Zeiten.
Nur einmal noch.
Alsara wischte sich mit dem Ärmel ihrer Bluse eine Träne von der Wange, warf die klein geschnittenen Knollen in den Kessel und nahm den Holzlöffel von der Wand, um die Suppe umzurühren. Der Duft nach Kräutern, Speck und frischgebackenen Honigkeksen erfüllte die Hütte, aber Hunger verspürte sie seit mehreren Tagen nicht mehr.
Heute endete also alles. Was für ein unfassbarer Gedanke. Jahrtausendelang hatte Indigos Volk als rechte Hand jedes menschlichen Herrschers gedient. Fünf Atlanter für fünf Reiche und fünf Könige. Die Welt würde bluten, wenn sie nicht mehr über die Ernennung der Herrscher und deren Entscheidungen wachten. Alsara gab der Menschenwelt eine Handvoll Monate, ehe das alte Blutvergießen und die alten Feindschaften wieder aufleben würden. Die Weisen von Atlantis ließen ein Volk zurück, das Generation um Generation dieselben Fehler beging und es bis zum heutigen Tage nicht geschafft hatte, daraus zu lernen. War es ein Wunder, dass selbst die geduldigsten und weisesten aller Geschöpfe irgendwann aufgaben?
Als Alsara spürte, wie der Wald den Atem anhielt, wusste sie, dass er zu ihr kam. Es sah ihm ähnlich, dass er seine Reise allein antrat. Einen Tag nach seinen Gefährten. Ihr schweigsamer, nachdenklicher Indigo. Ihr Herzschlag, ihr Atem, ihre Liebe.
Alsara sprach sich selbst Mut zu, legte den Löffel beiseite und öffnete die Tür. Selbst im Sonnenlicht lag der Abschied. Die Wehmut des Spätsommers lag darin, die Erinnerung an laue Nächte und an Blütenduft, an Vergänglichkeit und Sehnsucht.
So viel Sehnsucht.
Indigos unverwechselbare Gestalt trat durch die Strahlen, die die tief stehende Abendsonne durch moosüberzogene Baumstämme warf. Lautlos und schattenhaft bewegte er sich. Wie ein Geschöpf aus einem Traum, das halb Geist und halb Wirklichkeit war. Niemals hörte man einen Laut, niemals hinterließ er eine Spur. Wie besessen hatte sie als junges Mädchen versucht, es ihm gleichzutun, aber ihr menschlicher Körper gab solche Bewegungen nicht her. Irgendetwas raschelte oder knackte immer.
Alsaras Seele schmerzte, als bei seinem Anblick all die Erinnerungen hervorkamen. Unzählige Male hatte sie ihn dabei beobachtet, wie er aus dem grünen Licht des Waldes trat, die Lichtung überquerte und zu ihrer Hütte schritt. Unzählige Male hatte ihr Herz aufgeregt geklopft, sobald der Wald ihr gesagt hatte, dass er auf dem Weg zu ihr war.
Hör auf. Du bist alt geworden. Dein Leben ist verwirkt. Lass ihm sein Schicksal und nimm deines hin.
Wie seine Gefährten zuvor, trug er einen schlichten, steingrauen Reisemantel, dessen Kapuze sein Gesicht verbarg, einen Bogen und einen Köcher voller Pfeile. An Indigos Seite trottete Ischme, das einzige Geschöpf, dem es erlaubt war, sein ständiger Begleiter zu sein. Als die Opalfüchsin sie in der Tür stehen sah, kam das Tier leichtfüßig herbeigetrabt, strich um ihre Beine und gab leise, zwitschernde Geräusche von sich, die mehr an einen Vogel als an ein Raubtier erinnerten. Alsara musste sich nicht bücken, um Ischmes Kopf zu streicheln. Die Füchsin war weit größer als ihre gewöhnlichen Verwandten und konnte ihre Schnauze, wenn sie sich ordentlich streckte, auf der Schulter eines Menschen ablegen. Mit einem Lächeln erinnerte sie sich daran, wie sie als Mädchen einmal auf der Füchsin geritten war. Es hatte Ischme nicht die geringsten Schwierigkeiten bereitet, sie einmal quer durch den Wald und zurück zu tragen. Herrlich schillerte das seidige Fell im Sonnenschein: ein Kaleidoskop aus allen Grün-, Blau- und Violetttönen, die man sich vorstellen konnte. Alsara grub ihre Finger tief hinein und wappnete sich gegen das, was ihr bevorstand.
»Ischme hat dich vermisst«, hörte sie seine leise Stimme sagen. »Genauso wie ich. Tut mir leid, dass ich so lange nicht bei dir gewesen bin. Unsere Entscheidung hat viel böses Blut nach sich gezogen.«
Diese Stimme …
Sie wagte es lange nicht, zu Indigo aufzublicken. Aber was half es? Es führte kein Weg am Abschied vorbei. Nächtelang hatte sie vor Wut und Schmerz geweint, jetzt waren beide Gefühle dumpf geworden. Als sie endlich aufblickte, die Finger noch immer im Nackenfell der Füchsin vergraben, stach der Blick seiner Augen tief in ihr Herz. Es tat immer weh, ihn anzusehen, aber heute war es unerträglich.
»Möchtest du etwas essen, ehe du gehst?« Ihre Frage klang ganz beiläufig. So, als wäre das hier ein ganz normaler Tag und ein ganz normaler Besuch. »Ich habe deinen Lieblingseintopf gekocht. Und Honigkekse gebacken.«
Indigo streifte die Kapuze ab und schüttelte den Kopf. Ein letzter Strahl Sonnenlicht brachte das warme Grün-Gold seiner Augen zum Leuchten und ließ seine sonst rabenschwarzen Locken in jener Farbe schimmern, die ihm ihren Namen geliehen hatte: tiefes, geheimnisvolles Indigo.
»Dann komm wenigstens noch einmal in mein Haus«, bat Alsara. »Sieh dich noch einmal um. Erinnere dich. Ich möchte, dass du … «
»Nein.« Sanft griff er nach ihrer Hand. Seine Haut war warm und zart. Viel zarter als die eines menschlichen Mannes. Und doch wirkte nichts an ihm schwach. Sie wusste, wie mühelos er töten konnte. Wie jämmerlich stets jeder Versuch eines Feindes gewesen war, ihm etwas entgegenzusetzen. »Ich will es nicht noch schwerer machen.«
Alsara schnaubte. »Es kann nicht noch schwerer werden. Aber mach dir um mich keine Sorgen. Der Fluss der Zeit hat mir Frieden geschenkt. Ich mag den Gedanken, dass der lange Schlaf nicht mehr fern ist.«
»Du warst wütend«, stellte er ruhig fest.
»Ja, das war ich.«
»Ich verstehe, warum. Aber die Entscheidung lag nicht in meiner Hand, Alsara.«
Oh, wie sie es liebte, wenn er ihren Namen aussprach. So weich und liebevoll. Unvorstellbar, dass sie es nach diesem Tag nie wieder hören würde.
»Wärst du denn geblieben?« Ihre Kehle schmerzte. Gleich würde sie weinen. Gleich würde sie sich schluchzend an ihn werfen und darum betteln, dass er sie nicht verließ. So sehr hatte sie sich gewünscht, dass es sein Gesicht sein würde, das sie beim letzten Atemzug begleitete. Seine Hand sollte es sein, die sie hielt. Die sie tröstete, wenn ihr irdisches Leben endete. Aber dieser Traum war gestorben.
»Ja«, raunte Indigo mit abwesendem Blick. »Nicht um der Menschen willen, sondern für dich. Aber es ist unmöglich.«
Er schloss die Augen. Alsara starrte auf die Schließe, die seinen Mantel zusammenhielt, um nicht in sein Gesicht sehen zu müssen. Winzige atlantische Schriftzeichen waren in das Mondsilber eingeritzt. Jedes Einzelne kannte sie auswendig. Seine Form, seine Bedeutung, seine Geschichte.
»Ich weiß«, sagte sie dann. »Das Portal verschwindet, so wie es das immer tut, wenn der blaue Vollmond vergeht. Und steht er das nächste Mal am Himmel, werde ich nicht mehr sein. Niemand kann mehr die Welten verbinden. Du wärst gefangen. Für immer und ewig.«
Indigo lächelte. Aber es war ein Lächeln voller Traurigkeit. Der laue Wind roch nach der schwindenden Süße des Sommers, erfasste sein Haar und wehte es ihm ins Gesicht. Indigoblau über Elfenbein. Fast hätte sie laut aufgeschluchzt. Sie sah ihn an, prägte sich jedes Detail ein, brannte seinen Anblick in ihre Erinnerung ein. Mit zwölf Jahren, am Tag ihrer Weihung zur Hüterin des Portals, hatte sie ihn zum ersten Mal gesehen. Und sich unsterblich verliebt. Jetzt, zweiundsiebzig Jahre später, erschien Alsara die seitdem verstrichene Zeit kurz wie ein Wimpernschlag.
»Mein Geschlecht stirbt mit mir aus«, krächzte sie tränenerstickt. »Niemand wird mehr das Portal öffnen können.«
Indigos Daumen strich sanft über ihr Handgelenk. So unerträglich sanft. Er hielt den Blick gesenkt, und ein egoistischer Teil in ihr hoffte, dass er es tat, weil auch er den Schmerz kaum ertrug. »Ich weiß. Und es wird auch nie mehr ein Atlanter einen Fuß in eure Welt setzen. Das Portal bleibt verschlossen. Für immer.«
»Haben wir euch so sehr enttäuscht?«
Er seufzte. Der wunderschöne Spiegel seiner Augen wurde dunkel. »Es endet immer gleich, Alsara. Wir haben alles versucht, aber jedes Mal nimmt das Schicksal den gleichen Weg. Fast wäre einer von uns gestorben. Man hat ihn in Ketten gelegt, als er am schwächsten war, und ihm Zunge und Hände abgeschnitten, damit er keine Magie mehr wirken kann. Und warum? Weil er den alten König um seiner Grausamkeit wegen abgesetzt und einem armen Bauernburschen zur Macht verholfen hat. Das war die Grenze, die die Menschen niemals hätten überschreiten dürfen.«
»Ja«, flüsterte sie. »Wir leiden an vielen Krankheiten. Unser schlimmstes Siechtum ist die Habgier. Du musst mir nichts erklären. Trotzdem wünschte ich, ihr hättet uns nicht aufgegeben.«
»Wir haben alles versucht.«
»Ich weiß. Wird man deinen Gefährten heilen können?«
»In meiner Welt schon.«
Jetzt ergriff er auch ihre andere Hand, hielt beide fest umschlossen und blickte ihr tief in die Augen. »Wenn ich nur könnte, würde ich bei dir bleiben, Alsara. Bis zu deinem letzten Atemzug. Nie war ich glücklicher als in deiner windschiefen Waldhütte. Mit all dem Staub, den Spinnen, dem Wind im Strohdach und deinen Eintöpfen. Bei dir fühle ich mich lebendig. Ich fühle mich glücklich. Aber hierzubleiben, würde bedeuten, meine Heimat für immer aufzugeben. Das Portal kehrt wieder, so wie es immer wiederkehrt, aber es gibt niemanden mehr, der es für mich öffnet.«
»Schschsch …« Sie lehnte ihre Stirn gegen seine und atmete den frischen, klaren Duft seiner Haut ein. Er erinnerte sie an Winter. An fallenden Schnee und kalte, funkelnde Sterne. »Ich weiß, Indigo. Ich weiß. Geh in deine Welt. Lebe dein Leben. Hier wärst du nur in Gefahr. Königin Jamashree wird dich niemals freiwillig ziehen lassen. Sie wird dich um jeden Preis zurückholen wollen. Ohne dich ist sie nur ein gewöhnlicher Mensch.«
Indigo nahm sie in die Arme und zog sie unverhofft an sich. Ganz fest hielt er sie umfangen. Körper an Körper. Alsara glaubte, vor Qual zerspringen zu müssen. Lange standen sie so da. Reglos, starr vor Verzweiflung und doch unsagbar glücklich in ihrer eigenen kleinen Welt, in der für einen Augenblick die Zeit stillstand.
»Sie war eine gute Seele«, flüsterte er irgendwann ganz dicht an ihrem Ohr. »Ein Mädchen mit Träumen und Hoffnungen. Aber kaum stieg ihr die Macht zu Kopf, ging sie den Weg, den alle vor ihr gegangen sind. Es scheint unausweichlich zu sein.«
Alsara sagte nichts. Was hätte sie auch erwidern sollen? Arm in Arm wiegten sie sich in der tiefer werdenden Dämmerung, umschlossen von der zerbrechlichen Hülle ihres Schweigens und dem Willen, jeden Herzschlag bis ins Endlose zu verlängern. Könnte die Zeit doch nur stillstehen. Könnte der Lauf der Gestirne doch für diesen winzigen Fleck Erde nicht mehr gelten, sodass sie auf ewig hier stehen würden.
Aber der Moment, in dem Indigo ihre Umarmung löste, kam mit all seiner Endgültigkeit. Er trat einen Schritt zurück, wandte sich um und blickte in die Finsternis des Waldes hinein, die sich wie eine Kathedrale um sie herum erhob. Ischme spitzte die Ohren. Ein Knurren grollte in ihrem Brustkorb.
»Was ist?«, fragte Alsara.
»Du hattest recht.« Indigo kniff die Augen zusammen. »Jamashree lässt mich nicht ziehen.«
»Woher kennt sie den Weg durch den Nebel? Er ist ein streng gehütetes Geheimnis.«
»Sie hat die letzte Grenze überschritten«, zischte er mit Abscheu in der Stimme. »An ihren Händen klebt Blut.«
»Du glaubst, sie hat …«
»… es einer Kimentaro-Priesterin mit Gewalt entrissen, ja.«
Er spannte sich an, als Jamashree auf einem prächtigen Schimmel aus der Dunkelheit ritt. Wie konnte diese dumme Frau nur glauben, Indigo aufhalten zu können? Die in Lumpen gehüllte Greisin, die neben der Königin auf einem Maultier dahergeritten kam und aus dem letzten Loch pfiff, hatte Alsara noch nie zuvor gesehen. Was sollte das? Warum kam Jamashree in Begleitung einer alten Vettel, anstatt sich mit Jägern und Kriegern zu umgeben? Hoffte sie etwa, auf diese Weise Indigos Mitleid zu erregen?
Und tatsächlich: Die mächtigste Frau des Reiches sah verzweifelt aus. Fremd wirkte ihr prächtiges weißes Reitgewand vor der Kulisse des wild wuchernden Waldes. Ihr Umhang bauschte sich wie eine Gewitterwolke, als sie vom Pferd sprang und auf Indigo zulief. Zitternd blieb sie vor ihm stehen, holte tief Luft und ballte ihre winzigen Fäuste. So aufgewühlt war die Königin, dass sie eine ganze Weile nur unverständliches Zeug schluchzte.
Jamashree war eine beeindruckende Frau, das musste Alsara zugeben. Sie war jung, schön und mächtig. Aber alle drei Vorzüge beruhten allein auf atlantischer Macht. Auf Indigos Willen. Ein paar geflüsterte Worte, eine beiläufige Handbewegung, und er hätte sie ebenso gut zu Asche verbrennen können.
Japsend plumpste die Vettel von ihrem Maultier, zockelte neben ihre Herrin und nahm mit gesenktem Kopf Haltung an, als sei es ihr Schicksal, der Königin als Schatten zu dienen.
»Du wirst nicht gehen«, presste Jamashree schließlich hervor. Dabei wirkte sie nicht wie eine Herrscherin, sondern wie ein verwöhntes Kind, dem zum ersten Mal sein Wille verweigert wurde. »Beharrst du darauf, werde ich dich zwingen, hierzubleiben.«
Alsara erwartete, Indigo lachen zu hören, doch er lächelte nur matt. »Ich gehe. Und du kannst nichts daran ändern.«
Jamashrees Augen weiteten sich. Vor Empörung stand ihr der Mund offen. Doch sie zwang ihren Zorn nieder, ließ ihre Züge weich werden und gab ihrer Stimme einen lockenden, säuselnden Schmelz: »Wir wären vollkommen, Indigo. Alle Herrscher unseres Landes sind fortan ohne ihre rechte Hand. Sie alle sind nur noch gewöhnliche Menschen. Bleibe bei mir, und wir werden dieser Welt das Licht schenken. Viele Könige bedeuten viele Kriege. Sie kämpfen ohne Unterlass, um ihre Grenzen zu erweitern und ihre Schatztruhen zu füllen. Aber wenn wir beide uns über sie erheben, wird endlich Frieden einkehren. Es gäbe nur noch eine Königin. Ein Reich. Ein Ziel.« Sie legte eine Hand auf Indigos Brust und lächelte verführerisch. »Ist es nicht das, was du immer wolltest? Ein vereintes Reich, das keine Kriege mehr nötig hat, weil es keine Grenzen mehr gibt? Mit dir an meiner Seite wäre ich eine Königin, die diese Welt in eine Ära aus Glanz und Wohlstand führt. Aber wenn du gehst, wird alles, was du lieb gewonnen hast, bald nur noch blutige Asche sein.«
Indigos Lächeln gefror. »Versuchst du gerade, mich zu erpressen?«
Jamashree trat von einem Bein auf das andere und warf der Greisin, die nach wie vor mit gesenktem Kopf dastand, einen Blick zu. Der Königin war klar, auf welch dünnem Eis sie sich bewegte. Umso erstaunter war Alsara, als diese dumme Frau sich noch weiter vorwagte: »Ja, vielleicht tue ich das. Ich bin nicht dumm. Und ich gebe das, was ich einmal gewonnen habe, nicht so schnell auf.«
Indigo sah sie an, wie man ein ungehorsames Kind ansehen würde. Ein wenig mitleidig, ein wenig enttäuscht. Derweil hob die Greisin einen Arm, drehte ihre Handfläche in Richtung des Portals und schloss die Augen. Warum tat sie das? Spürte sie die Energie? Oder hatte die Geste etwas anderes zu bedeuten? Auch Menschen konnten über Zauberkräfte verfügen, aber auch nur, wenn die Atlanter ihnen Gefäße schenkten, die mit Magie gefüllt waren. Alsara sah bei der Vettel weder einen Stab noch ein Medaillon, nicht einmal ein Ring steckte an ihren Fingern. Abgesehen davon war menschlicher Zauber nicht ansatzweise stark genug, um einer so gewaltigen Energie wie der des Portals zu schaden.
Indigo schienen ähnliche Gedanken zu kommen. Er nahm das Tun der Alten mit gerunzelter Stirn zur Kenntnis, schien aber nicht weiter beunruhigt.
»Ich gehe«, beharrte er, wandte sich um und schritt auf das Portal zu. Ischme folgte ihm dichtauf, drehte der Königin demonstrativ das Hinterteil zu und verabschiedete sich mit einem spöttischen Wedeln ihres Schweifes. Alsara schluckte schwer. Für gewöhnliche Augen unsichtbar, flimmerte die Grenze zweier Welten in dem schmalen Spalt zwischen zwei zusammengewachsenen Makoai-Bäumen. So endete es also.
»Öffne es, Alsara. Ein letztes Mal.«
Es erstaunte sie, dass sie keinen Atemzug lang zögerte. Wie von selbst setzte sich ihr Körper in Bewegung und trat an Indigos Seite. Wie von selbst streckte sie ihre Hand nach der Fläche warmer, flimmernder Luft aus. Doch in dem Augenblick, in dem die Energie der Weltenhaut ihre Fingerspitzen berührte, erklang ein furchtbarer Schrei.
Die alte Vettel war zu Boden gestürzt und krümmte sich im Gras wie ein Wurm am Angelhaken. Mit schmerzverzerrtem Gesicht zerfetzte sie sich das Kleid und riss sich mit den eigenen Fingernägeln tiefe Schrammen in die Wangen. Blutiger Schaum quoll aus ihrem Mund.
»Neewa!« Jamashree fiel auf die Knie und packte die Alte bei den Schultern. »Was ist mit dir? Was hast du?«
Als die Greisin nur umso lauter schrie, fuhr die Königin zu Indigo herum: »Hilf ihr! Bitte! Erweise mir diesen letzten Dienst und ich lasse dich ziehen.«
»Du lässt mich ziehen?« Indigo schnaubte. »Wie nobel von dir.«
»Ich flehe dich an. Sie war meine Amme. Du weißt, wie viel sie mir bedeutet.«
»Allerdings.« Indigos Miene verfinsterte sich um eine weitere Schattierung. »Mir ist nicht entgangen, dass Neewa ein Händchen für Küchenmagie hat. Glaubst du, ich habe nicht gemerkt, dass sie mit schwarzen Zaubersprüchen herumexperimentiert? Du bist eine gute Lügnerin, Jamashree. Aber nicht gut genug, um mich zu täuschen.«
»Sie war meine Amme!«
»Das war sie. Aber du brauchst sie nicht, weil du sie liebst. Ihr Talent für Hexereien ist es, auf das du nicht verzichten willst. Umso mehr, weil du nicht mehr auf mich zurückgreifen kannst. Ich sehe in die Seele der Menschen, wie du wissen solltest, und die deiner Amme ist schmutzig. Ihr beide passt gut zueinander.«
»Bitte!« Die Königin heulte wie ein verwundetes Tier. In ihren Armen hatte die Greisin aufgehört zu zucken und starrte aus leeren Augen in den Himmel hinauf. »Rette sie, und ich schwöre dir, dass ich mich an deine Lehren erinnern werde. Nichts, was du mir beigebracht hast, soll umsonst gewesen sein.«
Alsara sah das Misstrauen in Indigos Blick, doch schließlich ließ er sich erweichen. Wortlos ging er zu der Alten, kniete sich nieder und legte eine Hand auf ihren Brustkorb. Kein Atem hob und senkte ihn. Die Vettel war tot. Aber solange ihre Seele noch in der Nähe weilte, konnte der atlantische Zauber sie erreichen.
»Ein letzter Dienst«, sagte er. »Aber ich schenke ihn nicht dir, sondern dem Mädchen von damals, das du vergessen hast.«
»Danke!«, flüsterte Jamashree. »Tausend Dank! Und jetzt hilf ihr, sonst ist ihre Seele fort!«
»Nicht so vorschnell. Schwöre mir zuerst, dass die Hexe niemals wieder in den falschen Büchern herumschnüffelt. Beende ihre Experimente, oder ich rühre keinen Finger für Neewa. Sie spielt mit einem Feuer, das euch allen das Leben kosten könnte.«
Die Königin zögerte. Schließlich nickte sie. »Ich schwöre.«
Indigo schloss die Augen, bewegte lautlos seine Lippen und begann, den Zauber zu wirken. Doch etwas war nicht so, wie es sein sollte.
»Pass auf!«, warnte Alsara. »Ich traue ihr nicht.«
Sie hatte die Worte kaum ausgesprochen, da geschah es. Neewa, eben noch tot und ohne jeden Atem, griff in die Tasche ihres Mantels, holte etwas daraus hervor und blies es Indigo ins Gesicht. Ein helles Funkeln tauchte ihn einen Herzschlag lang in ein schimmerndes Halo. Er blinzelte, schüttelte den Kopf und stemmte sich auf die Beine. Zunächst sah es aus, als sei ihm nichts geschehen. Er schwankte ein wenig, doch sein Blick brannte vor Wut und wirkte klar und wach. Aber dann begann es. Die Beine knickten unter ihm ein, als wäre er von einem Schlag getroffen worden. Sein Körper verkrampfte sich, heisere Schmerzenslaute drangen aus seiner Kehle. Alsara war starr vor Schreck.
Orchideenstaub? War das schwarzer Orchideenstaub?
Bitte alles, nur das nicht!
Hinter ihr heulte Ischme auf. Die Füchsin wollte auf ihren Herrn zustürmen, doch Indigo hob abwehrend einen Arm und zischte ein mühsames »Nein!«.
Das Tier verharrte mit gefletschten Zähnen.
Im nächsten Moment blickte Alsara in die kleine, schwarze Öffnung eines Blasrohrs, das an Jamashrees Lippen lag. Heißes Entsetzen ließ sie zu Stein erstarren. Es tat nicht weh, als sich der dünne Pfeil in ihre Brust bohrte, doch kaum rang Alsara nach Luft, begann ihr Blut zu brennen.
Gift!
Sie stürzte, spürte plötzlich feuchtes, kaltes Moos an ihrer Wange. Keine drei Schritte neben ihr lag Indigo und war dabei, den Kampf gegen die Orchideen-Magie zu verlieren. Alle Haine dieser schrecklichen Pflanzen hatte man auf Anweisung der Atlanter vernichtet. Sie alle waren verbrannt worden. So hatte man es wenigstens erzählt. Doch nun sah sie die furchtbare Wirkung der Gewächse mit eigenen Augen. Kein Gift dieser Welt vermochte das, was diese Orchideen vermochten: eines der mächtigsten Wesen zu vernichten.
Wir sterben beide, dachte Alsara unter Tränen. Wir sterben, Liebster. Hier auf meiner Lichtung. In unserem Wald.
»Es tut mir so leid«, brachte sie flüsternd hervor. Doch Indigo hörte sie nicht mehr. Seine Augen brachen, und an die Stelle des Mannes, den sie mit ganzem Herzen geliebt hatte, trat etwas anderes. Etwas Böses und Grausames aus jenen Abgründen, die jedes fühlende Wesen besaß.
Ischme stieß ein schmerzerfülltes Heulen aus. Jamashree schoss einen ihrer Giftpfeile auf die Füchsin ab, doch das Tier war schneller. Es warf sich herum, bellte noch einmal wütend und floh in die Dunkelheit des Waldes.
»Tu es!« Jamashree warf das Blasrohr beiseite, zerrte die Alte auf die Füße und schleifte sie zu Indigo. »Banne ihn! Sofort!«
Die Vettel gehorchte ohne Zögern. Alsara glaubte ihren Ohren nicht zu trauen, als sie die Worte vernahm, die abgehackt aus Neewas Mund strömten. Jasmah-Isdar. Der grausame Zauber. Eine vertonte Abscheulichkeit des Bösen, verboten seit undenklichen Zeiten und, so hatte sie wenigstens geglaubt, ebenso wie die schwarzen Orchideen längst ausgerottet.
Doch hier und jetzt formte diese tote Sprache einen Fluch aus schwärzester Hexerei. Deshalb waren Jamashree und die Alte allein gekommen. Seit langer Zeit gab es nur noch ein Verbrechen, auf das die Todesstrafe stand: die Benutzung des Jasmah-Isdar, der seine Kräfte aus dem Blut und dem Schmerz reiner Seelen gewann. Magie war allgegenwärtig, seit die Atlanter in die Welt der Menschen gekommen waren, doch diese Form der Hexerei hatte so wenig mit Magie gemein, wie der schleimtriefende Schlund eines Jandri mit warmem Sonnenschein.
Indigo lag vollkommen still. Gelähmt vom tückischen Gift der Orchideen, gab es nichts, das er Neewas Worten entgegensetzen konnte. Starr verlor sich sein Blick im sternengesprenkelten Himmel, und Alsara fühlte die furchtbarste Verzweiflung, die sie jemals empfunden hatte, weil es nichts gab, das sie für ihn tun konnte. Sie beide wurden von Gift zerfressen, sie beide waren dabei, ihr Leben zu verlieren.
Und während Neewa sprach, tat der schwarze Zauber das, was er immer tat: sein Opfer fordern. Jedes gemurmelte Wort grub tiefere Falten in die Haut der Vettel, ließ ihre Augen trüber werden, ihre Gestalt magerer, ihre Hände zittriger.
Langsam schloss Indigo die Augen. Er sah so friedlich aus. Als wäre der Bann nichts weiter als ein Schlaf, nach dem er sich lange gesehnt hatte.
»Weiter!«, befahl Jamashree. »Bring es zu Ende.«
Alsara wusste, was das bedeutete. Und Neewas Ergebenheit kannte keine Grenzen. Sie wirkte ihren Fluch unter Schmerzen weiter, opferte jeden Tropfen Lebenskraft und kettete Indigo an Fesseln, die ihn für den Rest aller Zeiten zu einem Gefangenen machen würden. Schließlich, als das letzte Wort mit einem Röcheln erstarb, sackte Neewa an seiner Seite zusammen und tat ihren letzten Atemzug. Jamashree trauerte nur kurz. Sie schloss die weit aufgerissenen Augen ihrer Amme, wandte sich von ihr ab und umfing mit beiden Händen Indigos Gesicht.
Alsara wusste, dass ihre letzte Chance verstrich. Der Bann war gesprochen. Es gab nichts mehr, das ihn lösen konnte. Nur eines konnte sie noch tun. Neewas Fluch bewirkte, dass Indigo an den Menschen gebunden wurde, dem er nach seinem Erwachen als Erstes in die Augen blickte. Sie durfte ihn Jamashree nicht überlassen. All seine Magie würde ihr gehören, und was das bedeutete, überstieg Alsaras Vorstellungskraft.
Sich hochzustemmen und auf einen Ellbogen abzustützen, glich einem Akt unmöglicher Anstrengung. Alsara zerbiss sich die Lippe, um nicht zu schreien, denn jetzt, wo sie mit aller Willenskraft gegen das Gift ankämpfte, fraß es sich nur umso brennender durch ihr Fleisch.
Weiter! Weiter!
Kaum drei Schritte trennten sie von Jamashree und Indigo. Eine Entfernung, die unüberwindbar war. Alsara schmeckte Blut. Ihr Körper brannte lichterloh, ein Schleier trübte ihren Blick. Was sie hier tat, war aussichtslos. Es war nicht mehr als ein sinnloses Aufbegehren gegen ihr Schicksal. Selbst wenn sie Jamashree erreichte, was dann? Sie konnte ihr nichts mehr entgegensetzen. Nicht das Geringste.
Trotzdem kroch sie weiter. Bewegte sich, um wenigstens irgendetwas zu tun. Und sei es nur, dass sie bei ihm war, ganz nah bei ihm, während er sein Leben verlor.
Als Alsaras Körper in sich zusammenfiel, trennte sie nur noch eine Armlänge. Jamashrees Lächeln troff vor kaltem Triumph.
»Stirb endlich!«, zischte die Königin. »Verschließe das Tor für immer, damit diese Welt mir gehört.«
Alsara krallte ihre Finger in die Erde und weinte. Warum kamen die Atlanter nicht zurück? Warum ließen sie Indigo im Stich? Für seinesgleichen waren es nur zwei Schritte, die sie von einer Welt in die andere trugen. Sie gingen den Weg, der für Menschen tödlich war, mit solcher Mühelosigkeit.
»Helft ihm!«, krächzte Alsara in Richtung des flimmernden Tores. »Bitte! Ich sterbe. Das Tor wird für immer verschlossen sein, und er kann nicht zu euch kommen. Helft ihm!«
Alles blieb still. Nichts geschah.
Indigo öffnete die Augen – und blickte in Jamashrees sanft lächelndes Gesicht.
»Du bist mein«, säuselte sie. »Von jetzt an und für immer. Allein meinem Wort wirst du gehorchen. Unser Band ist ewig, so wie wir ewig sein werden. Herrscher über alles. Götter über die Menschen und unser Reich.« Die Königin wandte den Blick zu Alsara. »Erfülle mir einen ersten Wunsch. Beschleunige ihr Sterben.«
Indigo erhob sich. Sein Gesicht hatte sich nicht verändert, und doch gehörte es nicht mehr zu ihm. Eine schreckliche Kälte hatte Besitz von ihm ergriffen. Sein Blick war schneidend wie Eis, seine Züge wie aus leblosem Kristall geformt. Wunderschön, aber ohne jedes Gefühl.
Er stand auf, zog einen Dolch unter seinem Mantel hervor und kam zu ihr. Der Mann, den sie liebte, war fort. Nichts konnte ihn zurückbringen. Kein Wort, keine Erinnerung. Sein wahres Wesen lag in Fesseln, die von einer Macht jenseits dieser Welt geschmiedet worden waren. Einer Macht, so alt wie die Menschheit, so alt wie der erste schwarze Gedanke und das erste Gefühl von Hass.
Alsara schloss die Augen und erinnerte sich.
Damals, als sie im zarten Alter von zwölf Jahren zur Hüterin zweier Welten ernannt worden war, war sie voller Angst gewesen. Angst vor der Einsamkeit, zu der man sie zwang. Angst vor der letzten Prüfung. Angst vor den ernsten, Ehrfurcht gebietenden Gesichtern der Priesterinnen und Priester und vor den fünf Atlantern, die nur ihretwegen aus den fünf Reichen des Landes in den Wald gekommen waren, um ihrer Weihung beizuwohnen. In jener Nacht hatte sie ihn das erste Mal gesehen. Indigo. Den Atlanter, der zu ihrem Reich gehörte, und damit auch zu jenem Ort, in dem sich das Portal und die einsame Hütte befanden. Langsam war er auf sie zugekommen, hatte ihre Hand genommen und sie angelächelt.
»Keine Angst. Ich werde dir helfen.«
Wie gelähmt war sie gewesen. Heillos verzaubert von seinem Anblick und von seiner Stimme. Das Gefühl der warmen Finger, die sich um ihre schlossen, sein aufmunterndes Lächeln und seine funkelnden Augen hatten sie wie Nymphengesang betäubt.
Mit ihm an ihrer Seite hatte sie sich stark gefühlt. Jede Angst war verschwunden. Gemeinsam hatten sie das Portal verschlossen und wieder geöffnet, sodass die Energie durch ihren Körper fließen konnte und eins mit ihr wurde. Nur dank Indigo hatte sie die schwerste Prüfung ihres Lebens bestanden. Allein er hatte die Einsamkeit ihres Lebens gemildert, sie in ihrem Haus im Wald besucht, mit ihr gelacht und geweint. Er hatte sie getröstet und aufrecht gehalten, während sie zu einer Frau herangewachsen war. Eines Abends hatte er ihre Sehnsüchte schließlich erwidert. Ihre Küsse und Liebkosungen waren verboten und unendlich süß gewesen, weit magischer als jeder Traum.
Indigo hatte ihr das Leben geschenkt.
Jetzt würde er es ihr wieder nehmen.
»Ich liebe dich«, flüsterte Alsara, als er sich über sie beugte und die Klinge in ihr Herz stach. Der Schmerz war einen Herzschlag lang überwältigend, doch als sie im Moment ihres Todes hinter den Spiegel seiner Augen blickte und sein wahres Ich erkannte, wurde er bedeutungslos. Neewas Fluch war noch grausamer, als Alsara geglaubt hatte. Er fesselte allein Indigos Körper, nicht aber seinen Geist. Bittere Qual brannte in seinen Augen, während er ihr Sterben beobachtete. Doch sein Gesicht blieb kalt. Eine weniger empfindsame Seele würde nur das Ungeheuer sehen. Das Monster, das mit einem Lächeln tötete und nichts dabei empfand.
Wie viele würden hinter den Spiegel sehen?
Wie viele würden die Wahrheit erkennen?
Verzeih mir, flehten seine Augen. Bitte verzeih mir.
Alsara konnte noch nicken, dann war es vorbei. Ihre Seele löste sich aus ihrem Körper, stieg auf und wurde vom Leib eines vorbeifliegenden Vogels aufgefangen, der sie sanft mit seinen Federn und seinem kleinen, wilden Geist umschloss und mit sich nahm. Fort von ihm. So weit fort.
2
Jahrhunderte später in der Stadt Jemeshar
Indigo
Ich will ihm nicht wehtun«, schluchzt die Kinderstimme schüchtern. »Bitte! Ich will das nicht, Mutter.«
»Er fühlt schon lange keinen Schmerz mehr.« Jamashrees Stimme hört sich an, als würde Eis splittern. »Es bedeutet ihm nichts. Deine stärkste Waffe muss wissen, zu wem sie gehört. Jeder muss es wissen. Vor allem du selbst!« Wachsender Zorn lässt die Stimme der Königin zittern. »Ich habe viel Lebenskraft geopfert, um die Macht über den Bann mit dir zu teilen. Also enttäusche mich nicht.«
Deine Waffe …
Nichts weiter bin ich. Ein seelenloser Gegenstand. Ich stehe vor dem großen Spiegel und blicke in Scyllas verweintes Gesicht. Ihre Kindlichkeit täuscht, an den zierlichen Händchen hat bereits das Blut vieler Menschen geklebt. Dieses Mädchen mit seinem blonden Lockenkopf und dem schwarzen Seidenkleid hätte es niemals geben dürfen. Aber das Böse hungert nach Abwechslung und hat sich vor acht Jahren dazu entschieden, Jamashrees leergebrannten Körper mit Leben zu füllen. Eine neue Tyrannin hatte das Licht der Welt erblickt, gezeugt von einem der Soldaten, die die Königin damals noch zahlreich in ihr Bett gezerrt hat, ehe sie von der Leere verschlungen worden war.
Jetzt wächst eine neue, zerstörerische Macht heran und verliert mit jedem Tag ein wenig mehr von ihrer kindlichen Unschuld. An Jamashrees Leere kann jedoch selbst das Kind nichts ändern. Tief in meinem Gefängnis fühle ich Genugtuung. Ich habe ihre Wünsche erfüllt. Ich habe ihr all das gegeben, wonach sie sich so sehr verzehrt hat. Unendliche Macht und unendliche Jugend. Aber was hat es ihr gebracht? Sie langweilt sich zu Tode, schlurft wie ein Geist durch ihr Reich und findet an nichts mehr Gefallen. Ihre Seele ist vertrocknet, ihr Körper gefühllos. Die Königin der Menschenwelt ist am Ende ihres Weges angelangt. Es gibt keine Steigerung mehr.
Und sie ist allein.
Meine Miene bleibt starr, während Jamashree und Scylla mich mustern. Aber die Königin hat Unrecht, wenn sie glaubt, dass ich genauso tot bin wie sie. Ich fühle alles. Und mehr als das. Zusammengekauert im Gefängnis meines eigenen Fleisches, empfinde ich jeden Schmerz, jede Emotion und jede Facette meines Daseins mit einer Intensität, die mich in den Wahnsinn hätte treiben sollen. Stattdessen bleibt mein Geist klar.
Noch jedenfalls.
Ja, ich bin noch da. Ganz nah und gleichzeitig Ewigkeiten entfernt. Ich schreie, aber niemand hört auch nur ein Flüstern. Ich renne gegen die Mauern an, kann sie aber noch nicht einmal berühren.
Widerstreitende Gefühle spiegeln sich in Scyllas Augen. Gefühle, die nach und nach sterben werden. Jamashree hat eine letzte Aufgabe gefunden und steckt in deren Erfüllung alle Kraft, die ihr noch geblieben ist. Scylla weiß nicht, was ein Streicheln ist. Sie kennt nur den Schmerz. Mit sechs hat sie zum ersten Mal die Kehle eines Diebes durchgeschnitten, mit sieben das Holz unter dem eisernen Stier in Brand gesteckt, in dessen Inneren zwei Hofdamen lebendig gekocht worden waren. Noch hasst das Mädchen die Todesschreie, noch muss Jamashree sie mit Schlägen und schrillem Gebrüll dazu zwingen, Böses zu tun. Aber das wird sich ändern. Jede Seele kann vernichtet werden. Die eine widersteht lange, die andere nur kurz. Aber am Ende sind sie alle schwarz und faulig.
Wann wird es bei mir so weit sein? Es gibt nicht mehr viel, das ich dem Unvermeidlichen entgegensetzen kann. Die Schwärze hat sich bis zu meinem Gefängnis hindurchgefressen und zehrt das auf, was von mir übrig geblieben ist. Jeden Tag ein wenig mehr. Nicht mehr lange, dann wird meine Seele verlöschen. Und für immer verschwinden.
Die Angst vor dem endgültigen Nichts ist die einzige Angst, die mir geblieben ist.
Verzweifelt hält Scylla das Brandzeichen umklammert, dessen oberes Ende ein verschlungenes S formt. Ich stehe in Jamashrees Zimmer und trage nur ein schwarzes Tuch um die Hüften, das mir bis zu den Knöcheln reicht und noch immer nach den Blumen des Giftgartens riecht. Die Königin hat es einst geliebt, sich zwischen den triefenden, abscheulichen Gewächsen zu wälzen und mir Befehle ins Ohr zu flüstern. Aber inzwischen sind Verzweiflung und Bosheit die einzigen Gefühle, zu denen sie noch fähig ist. Einmal im Monat muss ich ihr noch in den Garten folgen. Wenn überhaupt. Ohne Scylla hätte sich Jamashree zweifellos längst in die Tiefe gestürzt.
Das Mädchen geht einen Schritt auf mich zu. Sie zittert am ganzen Leib, weint und schluchzt. Aber das Gesicht ihrer Mutter bleibt hart. Schon spüre ich die Hitze des Brandeisens an meinem Rücken. Ich starre in den Spiegel. Willenlos. Gleichgültig. Nur im tiefsten Kern meiner Selbst noch lebendig.
»Setze es genau neben meinem.« Ich spüre eine streichelnde Berührung auf meinem Rücken. Jamashree streicht meine Haare beiseite und legt sie mir über die Schulter. Dann liebkost ihre Fingerspitze jenes Mal, mit dem sie sich vor langer Zeit verewigt hat: Ein verschnörkeltes J unterhalb meines Nackens.
»Tu es!« Wieder schneidet ihre Stimme durch das Schweigen und Schluchzen. »Oder du wirst das Zeichen an seiner statt tragen.«
Scylla sieht mich entschuldigend an. Dann huscht ein wütender Trotz durch ihre Augen. Sie streckt sich, macht sich groß – und plötzlich rast ein sengender Schmerz durch meinen Körper. Aber ich bleibe reglos. Nicht einmal ein Augenlid zuckt. Nur tief in meinem Gefängnis kann ich einen Schrei nicht unterdrücken. Das glühende Eisen frisst sich in mein Fleisch. Es qualmt, zischt und stinkt.
Ein zweiter Schrei erklingt, diesmal laut und deutlich. Scyllas Schrei. Jamashree schlägt sie so heftig, dass ihr kleiner Körper zu Boden stürzt.
»Warum hast du das getan?« In den Augen der Königin blitzt der pure Zorn. Sie verpasst ihrer Tochter einen brutalen Fußtritt, zerrt sie an den Haaren auf die Beine und schlägt sie noch einmal zu Boden. »Du undankbare, nichtsnutzige Göre! Du dreimal verfluchtes Miststück!«
Ein Funken Stolz huscht durch Scyllas Augen, als sie sich aufrappelt und den Unterkiefer vorschiebt. Blut rinnt aus ihrer Nase, aber sie zeigt keinerlei Schmerz, geschweige denn eine Träne. Ich sehe die Frau, die sie einst sein wird. Gnadenlos, mächtig und noch kälter als ihre Mutter.
Ihr Buchstabe brennt nicht neben dem J der Königin. Er überlagert es. Und eine neue Ära des Krieges beginnt.
Drei Jahre danach
Mit meiner Gleichgültigkeit ist es auf einen Schlag vorbei.
Jamashrees neue Malerin erkennt mich! Sie starrt mich an und sieht die Wahrheit: Das Monster, das keines ist. Die blutrünstige rechte Hand der Königin, die sich selbst verabscheut.
Eomara ist ihr Name. Sonnenwärme. Und warm ist alles an ihr. Das Braun ihrer Augen, das Kupfer ihres Haares, ihre gebräunte Haut und das Lächeln, mit dem sie ihren Schrecken zu verbergen sucht. Nur das Kleid passt nicht zu ihr. Es ist zu schwarz und zu streng für ein Mädchen, in dessen Augen die pure Lebensfreude strahlt.
Jamashree begreift nicht, was geschieht. Sie schert sich nicht um Eomara, sondern sinkt ermattet in ihren Sessel. Bis zum Kinn von einem schwarzen Spitzenkragen zugeschnürt und knochendürr, erinnert die Königin an eine halb verhungerte Krähe, während Scylla im Sessel neben ihr vor Energie strotzt und gelangweilt mit den Augen rollt.
»Warte nur«, krächzt Jamashree. »Die ruhigen Jahre enden bald. Erzählungen sind zu Legenden geworden, und bald wird niemand mehr daran glauben, dass Jemeshar unbesiegbar ist. Einer der eitlen Königssöhne wird beschließen, seine Männlichkeit unter Beweis zu stellen. Ich tippe auf den kleinen Heißsporn aus Scharzad, der glaubt, er wäre ein legendärer Krieger, weil er sich einen Harem aus Harpyien hält. Wahrscheinlich wird er spätestens im nächsten Jahr eine gewaltige Armee aufstellen und sie zu uns schicken. Dieser Dummkopf wird sich stark fühlen. Seine Zuversicht wird groß sein, wenn er auf tausend Speere, Schwerter und Bögen blickt. Und ihm wird nicht klar sein, dass all das nichts weiter ist als unnützer Tand. Es wird Zeit, mein Geheimnis mit dir zu teilen, Tochter.«
Scyllas Augen beginnen zu leuchten. Wie eine Schlange fährt sie zu ihrer Mutter herum. »Welches Geheimnis?«
»Das wirst du früh genug erfahren. Sobald das Gemälde beendet ist, sage ich dir die Wahrheit.«
»Welche Wahrheit?«
»Die Wahrheit über mich. Die Wahrheit über meine Kräfte. All das, worum du mich beneidest, wird bald dir gehören.«
Scylla zittert vor Aufregung und hüpft in ihrem Sessel auf und ab. »Wirklich Mutter? Wirklich? Ich werde genauso stark sein wie du? Genauso zaubern können? Aber wie?«
»Sei geduldig und sitze still.« Trotz der Zappelei ihrer Tochter hebt ein seltenes Lächeln Jamashrees Mundwinkel. »In ein paar Tagen ist es soweit.«
Ihr Blick heftet sich auf mein Gesicht. Erkenne ich tatsächlich einen Hauch Liebe darin? Ja, vielleicht. Aber wenn, dann ist es eine verdorbene Abart dieses Gefühls. Eine Zuneigung jener Art, die sie immer dann empfindet, wenn ich Menschen auf ihr Geheiß hin zu Asche verbrenne, ihre Herzen mit einem geflüsterten Wort zum Stillstand bringe oder sie in kleine Tiere verwandele, die Scylla anschließend mit kindlicher Begeisterung zu Tode quält.
Von welchem Geheimnis redet sie? Sie kann nur den Jasmah-Isdar meinen. Den grausamen Zauber, der Menschen zerstört und auffrisst. Der zu stark für diese Welt ist und doch seit langer Zeit in dieser Frau lebt. Ein Teil in mir ist neugierig und will wissen, woher die Kräfte der Königin stammen und worauf sie beruhen. Doch dieser Teil schmilzt wie Schnee in der Sonne. Ihre Geheimnisse hat Jamashree nie mit mir geteilt und wird das auch niemals tun. Ebenso wenig wie Scylla, wenn sie erst einmal an der Macht ist.
In meinem Gefängnis atme ich den vertrauten, staubigen Geruch meines Reisemantels ein und will schreien vor Wut. Heute Morgen hat die Königin mir befohlen, dieses uralte Kleidungsstück anzuziehen. Ich soll aussehen wie an jenem Tag, an dem Neewa mich gebannt hat. Der weiche atlantische Stoff streichelt meine Haut, sticht Messer aus Erinnerungen in mein versteinertes Herz und lässt mich mit neuer Verzweiflung gegen meine Fesseln kämpfen.
Vergeblich. Wie immer.
Wie sieht es in deiner Heimat aus? Erinnere dich! Wie hieß die Stadt, in der du geboren wurdest? Welche Farbe hat das Meer vor Atlantis’ Küste? Der Strand … wie sah er aus? War der Sand weiß? Oder grau? Und die Segel der Schiffe? Verdammt, erinnere dich!
»Halte deine Augen offen!« Selbst im Zustand völliger Erschöpfung knallt Jamashrees Stimme wie eine Peitsche. »Die Augen sind das Wichtigste an einem Portrait.«
Ich zucke zusammen. Hat mein Körper tatsächlich die Lider gesenkt, um sich besser in Erinnerungen flüchten zu können? War das ein winziger Moment des Ungehorsams gewesen?
Nein. Meine Augen bleiben unerbittlich offen, selbst dann, als sie austrocknen. Ich rühre mich nicht, kann trotz des Schmerzes nicht einmal blinzeln. Erst als Jamashree nach gefühlten Ewigkeiten den Blick abwendet, lässt mich die Lähmung los. Blinzelnd befeuchte ich meine brennenden Augen, kralle die Finger um die Lehne des Sessels und schreie unhörbar meinen Zorn hinaus. Nicht einmal Jamashrees nahender Tod wird mich befreien. Nein, sie hat es geschafft, die Kontrolle über den Bann mit ihrer Tochter zu teilen. Inzwischen gehorcht mein Körper ihren Befehlen ebenso willenlos wie jenen der Königin. Es wird keine Erlösung geben. Niemals. Zu keiner Zeit. Das Böse kann von Körper zu Körper wandern und wird das vielleicht bis in alle Ewigkeit tun. Erst Jamashree, dann Scylla. Und an einem fernen Tag die nächste menschliche Bestie, die ich mit meiner Magie füttere.
Eomara hält im Malen inne und sieht mich an. Nach so langer Zeit blickt endlich jemand hinter die Maske des Ungeheuers, das alle im Reich verabscheuen und verfluchen. Aber das Wissen tröstet mich nicht. Im Gegenteil.
Es tut mir leid, sagen ihre Augen. Ich wünschte, ich könnte dir helfen.
»Mach weiter«, faucht die Königin. »Ich dulde keine Trödelei!«
Eomara murmelt ein demütiges »Verzeiht mir, Herrin« und nimmt ihre Arbeit wieder auf. Sie weiß, dass selbst der kleinste Fehler ihren Tod bedeuten könnte. Es grenzt ohnehin an ein Wunder, dass Jamashree Wohlwollen für das Mädchen empfindet. Ihr Talent muss wahrhaft außergewöhnlich sein.
Ich kann nicht mehr zählen, wie oft ich bereits Modell gesessen habe. Jedes Mal endete es auf die gleiche Weise. Jamashree hat einen Blick auf das halbfertige Gemälde geworfen, die Stirn gerunzelt, den Kopf geschüttelt und ihren Dolch in die Kehle des Künstlers gerammt. Ein Mann, dessen Werk sie besonders erzürnt hatte, war öffentlich gevierteilt worden. Ich will nicht daran denken, dass Eomara womöglich dasselbe Schicksal blüht. Sie erinnert mich an eine Zeit, die so fern ist, dass ich mir nicht einmal sicher bin, ob ich sie nicht geträumt habe. In ihren Augen strahlt Unschuld und Lebensfreude. Sogar Hoffnung. Die Aura ihrer Seele ist frei von jedem Schmutz, und es erscheint mir wie ein Wink des Schicksals, dass solche Reinheit in einer Welt voll schwarzer Hexerei überhaupt noch existieren kann. Aber wie lange noch? Entweder wird man Eomara nach der Beendigung ihres Auftrages töten oder sie im Palast gefangen halten. Beide Möglichkeiten enden gleich: mit ihrem Tod.
Gedankenversunken verfolgt Jamashree jeden Pinselstrich des Mädchens. Ich warte auf die verhängnisvollen Worte, die bisher das Schicksal jedes Künstlers besiegelt haben: »Dein Bild wird ihm nicht gerecht. Was nützt ein Maler, wenn er das Leben nicht einfangen kann?«
Aber die Königin schweigt. Eomaras Bild scheint ihr tatsächlich zu gefallen. Ja, sie lächelt sogar! Ihre Augen gewinnen ein wenig Glanz zurück, ihr Nicken ist anerkennend. Manchmal regt sich gar etwas im Gesicht der Herrscherin, das alte Erinnerungen anstößt. An ein Mädchen, das vor Jahrhunderten feierlich geschworen hat, eine gute und gerechte Königin zu sein.
Eomara beim Malen zuzusehen, lenkt mich kostbare Momente lang von dem ab, was unaufhörlich an mir frisst. Die sanften Bewegungen ihrer Hände, das träge Blinzeln ihrer Augenlider, wenn sie aufsieht, mich gedankenversunken studiert und den Blick wieder auf ihre Leinwand heftet. Es fühlt sich jedes Mal wie ein Streicheln an. Wie eine körperlose, tröstende Berührung. Jeder andere Künstler hat verkniffen und aus gutem Grund verzweifelt gewirkt, aber Eomara malt, als würde sie träumen. Ihr Kopf ist leicht zur Seite geneigt, ihre Haltung entspannt. Jedes Mal, wenn sie mich ansieht, fällt ein Lichtstrahl in die Finsternis meines Gefängnisses, und als viel zu schnell der Abend kommt, tut es weh, sie gehen zu lassen. Die alte Verzweiflung fällt über mich her, als sich die Tür hinter dem Mädchen schließt. Mein einziger Trost ist der Geruch nach Farbe, der immer noch in der Luft hängt, und die Gewissheit, dass ich sie am nächsten Morgen wiedersehen werde.
Als Jamashree und Scylla kurz nach Eomara das Zimmer verlassen, ist meine Erleichterung grenzenlos. Die Königin verzichtet sogar darauf, mich zu bannen, sodass ich die wenigen Schritte zum Bett aus eigener Kraft gehen kann. Kaum falle ich auf die seidenen Decken, übermannt mich der Schlaf. Eine solche Erschöpfung zieht mich in die Schwärze, dass ich glaube, nie wieder aufzuwachen.
Wäre es doch nur so.
Aber dann geschieht etwas Seltsames: Eomara kommt zu mir. Wie eine Erscheinung steht sie da, strahlend hell in der Finsternis meines Kerkers, und lächelt mich an. Ihr Anblick ist so viel besser als all die Hässlichkeit, die sonst meine Träume erfüllt.
»Du bist nicht das Monster, von dem alle erzählen«, sagt sie mit weicher, fast noch kindlicher Stimme. »Wer bist du wirklich?«
Ich starre auf die Fesseln, die in der Wirklichkeit unsichtbar sind, im Traum aber tief in das Fleisch meiner Handgelenke schneiden. »Ich weiß es nicht mehr.«
»Doch, du weißt es.«
»Es spielt keine Rolle.«
Ein Funken Zorn huscht durch ihre Augen. »Oh doch! Es gibt immer einen Weg. Immer! Und es wird Zeit, dass du daran glaubst.«
Plötzlich verblasst sie. War das alles? Nur diese paar flüchtigen Momente, sonst nichts? Ich springe auf und greife nach ihr, aber meine Finger fassen durch ihre Gestalt, als bestünde sie aus Nebel. Stattdessen berührt mich etwas Kaltes im Nacken. Jamashree!
Unerbittlich reißt mich die Anwesenheit der Königin aus dem Schlaf und zwingt mich dazu, die Lider zu heben. Dunkelbraune Augen blicken auf mich hinab, während sie Küsse auf meine Stirn haucht. Ihr schwarzes Kleid sitzt wie immer tadellos, das lange blonde Haar ist zu einer komplizierten Frisur hochgesteckt und mit den Federn eines Sternenpfaus verziert. Jamashree sieht nicht mehr aus wie eine Frau, die sehnsüchtig den Tod erwartet. Sie scheint sich verjüngt zu haben. Womöglich hat sie sich an meiner Magie bedient, während ich geschlafen habe. Oder es liegt an Eomara, die es tatsächlich geschafft hat, der Königin ein Gefühl von Zufriedenheit zu schenken.
»Zieh dich an«, haucht sie an meinem Ohr. »Die Malerin wird jeden Augenblick kommen.«
Ist die Nacht tatsächlich schon vorbei? Es fühlt sich an, als hätte ich nur Sekunden geschlafen, aber hinter dem Fenster sehe ich die blassen Farben der Morgendämmerung.
Während mein Körper gleichgültig gehorcht, fühle ich im Inneren ein heftiges Sehnen. Ist das etwa Ungeduld? Ja, tatsächlich. Unter meiner toten Hülle bin ich so lebendig wie seit Jahrhunderten nicht mehr, und es gibt nur eine Erklärung dafür. Das Mädchen erweckt mit seiner reinen Seele nicht nur Jamashree zu neuem Leben, sondern auch mich.
Als Eomara mitsamt ihrer Staffelei und der Leinwand in das Zimmer tritt, ist es, als würde nach einem bitterkalten Winter zum ersten Mal wieder die Sonne scheinen. Die Malerin blickt in mich hinein und schenkt mir ein Lächeln. Wie gerne hätte ich es erwidert.
»Endlich versteht jemand sein Handwerk.« Jamashree mustert zufrieden das Gemälde. Sie lässt sich sogar dazu herab, die Schulter des Mädchens zu tätscheln. »Nur weiter so. Ich bin sehr zufrieden mit dir.«
Eomara bedankt sich scheu, nimmt dem herbei eilenden Sklaven die Kiste mit den Farben und Pinseln ab und reiht ihr Werkzeug auf einem kleinen Klapptisch auf. Als Jamashree sich kurz abwendet, um ihren Platz einzunehmen, wirft mir das Mädchen ein weiteres Lächeln zu. Ihre Rehaugen leuchten, während sie mich ansieht, dann färbt eine tiefe Röte ihre Wangen. Und was tue ich? Mein verfluchter Körper ist zu nichts anderem fähig, als mit unbewegter Miene zum Sessel zu gehen, die übliche Pose einzunehmen und in Bewegungslosigkeit zu verfallen.
Aber Eomara ist weder wütend noch enttäuscht. Sie nickt mir kaum merklich zu, nimmt die Holzpalette und taucht ihren Pinsel in einen noch flüssigen Rest Grau vom Vortag. Dann beginnt sie mit dem Malen, als hätte es den winzigen Augenblick der Nähe zwischen uns nie gegeben. Sie weiß, dass die Kälte meines Körpers nichts mit meiner Seele zu tun hat. Sie weiß, wie gerne ich ihr Lächeln beantwortet hätte.
Jemand reißt die Tür des Zimmers so heftig auf, dass ich zusammenfahre. Scylla kommt hereingetänzelt, gekleidet in ein bauschiges, himmelblaues Kleid, auf dem Blutflecken haften. Sie springt in ihren Sessel, zieht die Beine an und schlingt ihre Arme um die Knie. Ihr Blick trifft mich wie ein Schlag. Eine Grausamkeit liegt darin, die noch schärfer und kälter ist als die ihrer Mutter, und ich fürchte den Tag, an dem ich ihr meine Magie zu Füßen legen muss.
»Der Stoff war teuer«, seufzt Jamashree leidenschaftslos. »Ich habe ihn nur für dich von den Östlichen Inseln des Windes hierherbringen lassen. Fünf Schiffe hat mich das Uferlose Meer gekostet, und wie du weißt, wird es nie wieder eine Seidenlieferung geben. Was hast du angestellt?«
»Mein Zimmermädchen hat mir wehgetan.« Scylla zieht einen Schmollmund. »Sie kämmte mir die Haare und stellte sich ungeschickt an. Du wirst ein neues Mädchen kommen lassen müssen, Mutter.«
Jamashree rollt mit den Augen, aber sie scheint nicht ernsthaft wütend zu sein. »Dein Verschleiß an Bediensteten gefällt mir nicht.«
»Du wolltest doch immer, dass ich so bin wie du.« Scylla lächelt frech. »Glückwunsch, Mutter. Es ist dir gelungen.«
Die Königin verzieht keine Miene. Aber ich sehe, wie ihr ein Schauer über den Rücken läuft. Was ist los mit ihr? Wo bleibt ihr üblicher Stolz auf Scyllas Boshaftigkeit?
»Geh nachher in die Küche und suche dir ein neues Mädchen aus.« Jamashree reibt sich mit einer Hand über die Stirn, als plage sie der Kopfschmerz. Bei jeder Bewegung funkeln und schillern die Federn in ihrem Haar und erinnern mich an Ischmes Fell. Ich denke an die übermütigen Sprünge der Füchsin, die sie immer dann vollführt hatte, wenn es schneite oder regnete. Und ich denke an ihre bissigen Bemerkungen, mit denen sie mich oft auf den rechten Weg zurückgebracht hat. Aber Ischme ist nur noch ein Geist. Ein verhallendes Echo aus einem fast ausgelöschten Leben.
»Ich habe mich schon entschieden.« Scyllas Stimme klingt süß wie der Nektar giftiger Blumen. »Ich will die Malerin. Sie soll mein Zimmermädchen werden, wenn das Bild fertig ist.«
Ich gefriere. Endlose Herzschläge lang ist mein Denken von einem einzigen Wort erfüllt: Nein!
Jamashree denkt nach, spitzt die Lippen und seufzt. Ich schreie sie an, ich verfluche sie und zerre wie ein Wahnsinniger an meinem Gefängnis.
Nein! Erlaube es ihr nicht! Wage es nicht, sie ihr zu überlassen!
»Nun gut«, spricht die Königin das aus, was ich befürchtet habe. »Sie soll dir gehören. Aber du musst mir versprechen, sie am Leben zu lassen. Ihr Talent ist einzigartig.«
»Ich werde ihr nichts tun«, verspricht Scylla mit zuckriger Kleinmädchenstimme. »Versprochen.«
Eomaras verzweifelter Blick dringt in den meinen. Für die Dauer eines Herzschlages sind wir in unserem Schmerz und unserer Hilflosigkeit vereint.
»Mach weiter!«, befiehlt Jamashree. »Du träumst mir zu viel, Mädchen. Du bist hier, um ein Bild zu malen. Nicht, um deinen Gedanken nachzuhängen.«
Eomara wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Ich kreiere im Geiste tausend Arten, Jamashree umzubringen. Jede einzelne davon ist langsam und schmerzhaft.
»Verzeiht, Herrin.«
Die Königin schnaubt. »Bitte nicht um Verzeihung, sondern arbeite.«
Der Vormittag verstreicht. Hinter dem Fenster des Gemachs sammeln sich die weißen Reiher auf den Ästen des Emekar-Baumes, breiten ihre Flügel aus und lassen sich von der Mittagssonne wärmen. Dann steht Jamashree plötzlich auf, nimmt Scylla an die Hand und verlässt mit ihr das Zimmer.
»Du arbeitest weiter«, sagt sie noch, ehe sie die Tür hinter sich schließt. »Ich bringe dir etwas zum essen mit.«
Plötzlich sind wir allein. Allein mit den Blicken und mit dem Schweigen des anderen. Ich bete dafür, dass Eomara nichts tut, das die Herrscherin verärgern könnte. Jamashrees Blicke sind dank ihrer schwarzen Hexerei überall. Selbst eine Maus, die sich an den Vorräten bedient, kommt nicht ungeschoren davon.
Eine Zeit lang malt das Mädchen weiter, als wüsste sie, dass niemand in diesem Palast unbeobachtet ist. Aber nach und nach wird ihr Atem schwerer und ihre Blicke häufiger. Eine überwältigende Traurigkeit liegt in ihren Augen. Sie kämpft mit sich, windet sich hin und her. Zweifellos weiß sie, was ihr blüht, wenn Jamashrees Wohlwollen endet, und doch legt sie irgendwann den Pinsel nieder, lauscht eine Zeit lang und steht schließlich auf.
Nein!, flehe ich sie an. Bleib weg! Sie wird dich sehen! Sie sieht alles!
Aber Eomara strafft sich, holt noch einmal tief Atem und kommt zu mir herüber. Mit einem leisen Rascheln streicht der Saum ihres Rockes über den schwarzen Marmorboden.
Ich stelle mir vor, wie ich das Mädchen auf Jamashrees Befehl hin töte. Durch meine Magie oder durch jene Klinge, die die Königin an ihrem Gürtel trägt. Ich werde nichts dagegen tun können. Gar nichts. Warum hat diese Närrin keine Angst vor mir? Sie kennt doch die Geschichten. Sie weiß, zu was ich fähig bin.
Unfreiwillig atme ich den Duft ihres Körpers ein, als sie vor mir stehen bleibt. Farbe, Leinsamenöl und unschuldige Weiblichkeit. Ihr ist noch nie etwas Böses widerfahren. Jede Form der Niedertracht ist ihr fremd, kein Gedanke des Hasses trübt ihre Aura. Sie ist pures Licht, und ich will nichts anderes, als mich darin zu wärmen. Aber jeden Augenblick wird die Tür aufspringen. Jamashree wird tobend hereinstürmen, mir den Befehl zur Hinrichtung geben und zusehen, wie ich ihn ausführe.
»Mein Leben ist vorbei.« Das Mädchen geht in den Hocke, sodass ich direkt in ihr Gesicht blicken muss. Sie ist wunderschön. Auf alle Weisen, auf die ein Mensch schön sein kann. »Ich wusste es in dem Moment, in dem Jamashrees Wächter mich holten. Wir lebten glücklich und zufrieden in unserem kleinen Atelier. Mein Vater, mein Bruder und ich. Als die Menschen begannen, sich um meine Bilder zu reißen, dachte ich zuerst, unser Leben würde sich zum Besseren wenden. Aber das war ein Irrtum. Es sorgte nur dafür, dass Geschichten erzählt wurden, und diese Geschichten landeten irgendwann auch bei der Königin. Ich weiß, dass sie mich nicht wieder gehen lassen wird. Wenn ich diesen Palast verlasse, dann nur als Leiche.« Wieder füllen Tränen ihre Augen, aber diesmal wischt sie sie nicht fort, sondern lässt sie über ihre Wangen rinnen. Ich wünsche mir verzweifelt, meine Warnung laut hinausschreien zu können. Ohne Jamashrees Bann wäre es so leicht, sie zu retten. Ein einziger Zauber, ein kleiner Funken Magie hätte genügt, um uns zu befreien. Ich spüre die Macht in meinem Körper vibrieren, stark wie eine entfesselte Naturgewalt, aber ich kann sie nicht herauslassen. Nicht ohne den Befehl der Königin.
»Wir sind beide gefangen. Wir können beide nichts ungeschehen machen.« Eomara sieht mich eine Zeit lang an, dann hebt sie ihre Hand. Ich sehe, wie ihre Finger näherkommen. Wie ihre Wärme meine Haut erreicht. Und dann … dann … berührt sie mich. Lebendige Wärme trifft auf Eis. Ich will erschrocken nach Luft ringen, meinen Blick heben, nach ihrer Hand greifen und meine Finger über ihre legen. Aber ich kann es nicht. Ich kann es nicht! Meine Wange brennt unter Eomaras zartem Streicheln wie Feuer.
Nein! Nein! Nein!
»Was hat Jamashree dir angetan?«, flüstert sie. »Die Geschichten sagen, dass dein Volk unvorstellbar mächtig ist. Weit mächtiger als jeder Mensch. Was ist so stark, dass es euch bannen kann?« Ihre Sanftheit strömt in meinen kalten Leib. Ich will mich im Spiegel ihrer Augen erkennen. Ich will sie retten! Aber alles, was ich zustande bringe, ist die ewig gleiche Bewegungslosigkeit.
»Ist es wahr, dass die Königin den schwärzesten aller Zauber beherrscht? Ist es der Jasmah-Isdar, der dich fesselt?« Noch immer liegt ihre Hand auf meiner Haut. Unerträglich zärtlich streicht Eomaras Daumen über meinen Wangenknochen. »Ja, das muss es sein. Nur solch ein Fluch wäre stark genug, einen atlantischen Magier zu bannen. Aber es gibt einen Weg. Es gibt immer einen. Und ich werde ihn finden.«
Schritte erklingen. Mein Herz bleibt stehen.
Eomaras Hand zuckt zurück, und mit ihr verschwindet jeder Hauch von Wärme. Hastig eilt sie zum Sessel zurück, nimmt den Pinsel wieder auf und führt ihre Arbeit fort. Kaum hat sie sich über das Bild gebeugt und den ersten Strich vollführt, schreiten Jamashree und Scylla durch die Tür.
Aber kein wütender Befehl erklingt. Stattdessen stellt die Königin höchstselbst einen Teller auf den runden silbernen Tisch, an dem gewöhnlich sie selbst zu speisen pflegt, wenn ihr der Sinn nach Alleinsein steht. Ein ganzer Haufen erlesener Köstlichkeiten türmt sich darauf. Dinge, die sonst allein der Herrscherin und ihrer Tochter vorbehalten sind.
Eomara wirft einen misstrauischen Blick auf das ihr zugedachte Mahl und bedankt sich unterwürfig. Ich will sie so nicht sehen! Ich will sie so nicht reden hören! Aber jederzeit kann Jamashree den Dolch zücken und ihr die Kehle durchschneiden. Oder mir den Befehl geben, sie zu Tode zu foltern. Warum ist die Königin immer noch freundlich zu ihr? Ich glaube nicht daran, dass sie dem Mädchen vertraut. Jamashree vertraut niemandem. War sie vielleicht zu abgelenkt, um Eomara unter Beobachtung zu halten?
Ich kann es nur hoffen.
Bis zur Abenddämmerung sitze ich in meinem Sessel. Unverändert reglos und stumm. Die Erinnerung an die Berührung ist Trost und Folter in einem. Ich hungere nach mehr. Nein, Hunger ist ein zu harmloses Wort. Ich verliere den Verstand vor Sehnsucht.
Viel zu schnell vergeht der Tag, und als die Dunkelheit heraufzieht, schickt Jamashree ihre Tochter und die Malerin aus dem Zimmer. Ein Diener erscheint, bringt zwei üppig gefüllte Teller und verschwindet wieder so lautlos, wie er gekommen ist. Mir gefällt die Lebendigkeit nicht, die in den Augen der Königin leuchtet, denn sie bedeutet, dass die Herrscherin nach Dingen lechzt, die ich fast genauso verabscheue wie das Töten.