Infinite - Die Unsterblichen - D. Eric Maikranz - E-Book

Infinite - Die Unsterblichen E-Book

D. Eric Maikranz

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Beschreibung

Evan Michaels ist anders als andere Menschen: Er erinnert sich nicht nur an sein eigenes Leben, sondern auch an das zweier anderer Personen, die lange vor ihm gelebt haben. Als er eines Tages in einem römischen Antiquariat auf ein altes Dokument stößt, führt ihn das zu einem geheimen Bund, dessen Mitglieder behaupten, das Geheimnis der Unsterblichkeit zu kennen ...

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Seitenzahl: 630

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Das Buch

Evan Michaels ist anders als andere Menschen: Er erinnert sich nicht nur an sein eigenes Leben, sondern auch an das zweier weiterer Personen, die lange vor ihm gelebt haben. Die eindrücklichen Bilder aus der Vergangenheit machen ihm mehr und mehr zu schaffen, und so wird Evan zunehmend zum Außenseiter – bis er eines Tages der faszinierenden Poppy begegnet. Sie versteht Evans Ängste, denn auch sie hat schon mehrere Leben gelebt. Bald verliebt sich Evan nicht nur unsterblich in Poppy, er findet auch heraus, dass seine neue Freundin Mitglied eines geheimen Bundes ist, den Cognomina. Dessen Mitglieder haben im Laufe ihrer zahlreichen Leben beinahe übermenschliche Kräfte und Fähigkeiten erworben, die sie sich seit Jahrhunderten zunutze machen, um im Verborgenen die Geschicke der Welt zu lenken. Poppy nimmt Evan mit zu den Cognomina, doch bevor er in das Geheimnis der Unsterblichkeit eingeweiht wird, muss Evan sich einer Reihe von gefährlichen Prüfungen unterziehen …

Der Autor

D. Eric Maikranz wurde 1967 in Evansville, Indiana, geboren. Er studierte Russische Literatur an der University of Colorado und arbeitete in verschiedenen Berufen, bevor er anfing für die »Denver Post« zu schreiben. Maikranz lebte zwei Jahre in Rom, wo er als Tourguide arbeitete und zwei Reiseführer verfasste. Sein Debütroman Infinite ist ein großer Indie-Erfolg und wurde mit Mark Wahlberg in der Hauptrolle verfilmt.

D. ERIC MAIKRANZ

DIE UNSTERBLICHEN

Roman

Aus dem Amerikanischen übersetztvon Stefanie Adam

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Titel der OriginalausgabeTHEREINCARNATIONISTPAPERSDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Das Gedicht The Progress of the Soul von John Donne wurde von Stefanie Adam übersetzt.Deutsche Erstausgabe 09/2022

Redaktion: Sabine Kranzow

Copyright © 2021 by D. Eric Maikranz

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DASILLUSTRAT, München, unter Verwendung eines Motivs von kksr / Shutterstock

Satz: Uhl + Massopust, AalenISBN978-3-641-29274-4V001

www.diezukunft.de

VORBEMERKUNG DES VERFASSERS

DIESESMANUSKRIPTGELANGTEINMEINENBESITZ, als ich um die Jahrtausendwende in Rom lebte. Ich entdeckte die drei schlichten Notizbücher in einem Antiquitätengeschäft in der Via dei Coronari, unweit der Piazza Navona. Zu dieser Zeit recherchierte ich für mein erstes Buch, Insider’s Rome, einen Reiseführer zu einigen der weniger bekannten, aber nichtsdestotrotz interessanten Sehenswürdigkeiten der Stadt. Die Notizbücher schienen in dem Antiquitätengeschäft fehl am Platz, denn sie wirkten zwar abgegriffen, aber nicht sehr alt. Ohne mir groß etwas dabei zu denken, blätterte ich durch das erste Buch und war überrascht, eine kyrillische Handschrift darin zu entdecken. Da ich Russisch beherrsche, faszinierten mich die Seiten, also kaufte ich die Bücher für zwanzigtausend Lire, damals etwa zehn US-Dollar.

Allerdings konnte ich den Text der Notizbücher nicht richtig übersetzen und kam schließlich zu dem Schluss, dass sie auf Serbisch, Bulgarisch oder Ukrainisch, aber definitiv nicht auf Russisch verfasst waren.

Ein Bauchgefühl führte mich dann zur bulgarischen Botschaft in der Via Pietro Rubens. Dort kam ich mit einer Dame an der Rezeption ins Gespräch, die mir bestätigte, dass es sich um Bulgarisch handelte.

Marina Lizhiva, so hieß die Dame, war von den ersten Seiten so beeindruckt, dass sie sich bereit erklärte, mir bei der Übersetzung zu helfen. Wir arbeiteten einen Sommer lang daran, indem sie laut übersetzte und ich mittippte. Auf diese Weise verbrachten wir die Abende in meiner Wohnung an der Via Caio Mario, ganz in der Nähe des Vatikans, und verfolgten fasziniert, wie die Geschichte sich entfaltete. Als die Übersetzung fertig war, überprüfte ich Evans Behauptungen, soweit es mir möglich war. Die Ergebnisse meiner Nachforschungen sind in den Fußnoten vermerkt, die die einzige redaktionelle Bearbeitung des Textes nach der Übersetzung darstellen.

D. Eric Maikranz

ERSTES NOTIZBUCH

»Genau wie schon damals, als ich Schafhirte war in Assyrien, so schauen die Sterne auch jetzt in Neu-England auf mich herab.«

HENRYDAVIDTHOREAU, 1853

1

DIESCHLINGESAHALBERNAUS. Sie bestand aus einem Verlängerungskabel und war deswegen vermutlich sowieso zu steif, um sich damit das Genick zu brechen. Stattdessen würde sie mich langsam strangulieren, während ich in stummer Panik mit den Armen ruderte. Die asymmetrische Schlaufe an ihrem Ende stand nach rechts ab, sodass die ganze Schlinge wie eine lang gezogene Sechs aussah, und die leuchtend orange Farbe der geflochtenen Nylonhülle verlieh dem ganzen Vorhaben etwas Zirkushaftes. Ob sie mein Gewicht überhaupt aushalten würde, da das Kabel lediglich um die billige Deckenleuchte gewickelt war?

Mittlerweile fällt es mir leicht, darüber zu schreiben, dass ich oft mit dem Gedanken gespielt habe, mir das Leben zu nehmen. Dass ich bis ins Detail über das Wie nachgedacht habe: Ertrinken, Überdosis, Ersticken – Verbrennen war mein persönlicher Favorit. Sogar mit irgendwelchen Fremden im Bus habe ich schon die Vor- und Nachteile der verschiedenen Methoden erörtert.

»Warum um alles in der Welt sollten Sie so etwas tun?«, war eine häufige Erwiderung. Aber ich denke, das ist der falsche Ansatz. Meiner Meinung nach sollte die Frage besser »Warum sollte ich es nicht tun?« lauten.

»Was hält dich davon ab, so etwas zu tun? Gefällt es dir hier so gut? Bist du verliebt? Gibt es Menschen, die auf dich angewiesen sind? Bist du nur nie auf die Idee gekommen? Hast du Angst davor?«

Ich habe keine Angst.

Wenn du wüsstest, dass du wieder zurückkommst, wenn du wüsstest, dass ein weiteres Leben vor dir liegt – ich meine nicht glauben, sondern wissen –, warum solltest du es dann nicht in Erwägung ziehen?

Aber ich habe mir diese Schlinge dann doch nicht um den Hals gelegt, nicht etwa aus Angst, sondern eher aus Höflichkeit, denn dieser Ort und eine solche Verzweiflungstat wären eine zu schlimme Erinnerung gewesen. Das ist das Problem, wenn man sich für immer an alles erinnert. Das Gute daran ist, dass man sich an alles erinnern kann. Das Schlechte daran ist, dass man sich an alles erinnern kann. Ersteres lässt einen weise werden, aber Zweiteres nimmt einem jegliche Hoffnung. Ich habe mich entschieden, diese Geschichte niederzuschreiben. Und ich tue das in der Gewissheit, dass ich sie mit anderen Augen in einer anderen Zeit noch einmal lesen werde – und dass ich mich dabei daran erinnern werde, wer ich einmal war.

Vor drei Jahren habe ich Minnesota verlassen. Das war, als ich anfing, mich zu erinnern. Ich ging, um mich selbst zu finden, fand mich dann aber lediglich in Los Angeles wieder. In Los Angeles ist niemand, was er scheint. Hinter dem alltäglichen Leben eines jeden verbirgt sich noch ein anderes. Niemand ist nur Arzt, Student oder Verkäufer. Der Arzt ist Arzt und Kunstsammler, der Student hat nächste Woche ein Vorsprechen, der Verkäufer schreibt an einem Drehbuch. Hier – viel mehr als an jedem anderen Ort, den ich kenne – kann man sich dahinter verstecken, mehr zu sein, als man auf den ersten Blick scheint. Und das erklärt besser als alles andere, warum ich hier gelandet bin.

Es waren immer noch etwas über dreißig Grad, als ich mich auf den Weg in den Club machte. Wenn es in dieser Stadt heiß ist und kein Wind geht, hängt der Gestank ihrer Eingeweide dick in der Luft. Er fällt dich richtiggehend an. Trotzdem fühlte es sich gut an, draußen zu sein, irgendwo anders als in meinem Hotelzimmer.

Ich hatte drei Tage am Stück in meinem Zimmer verbracht, denn ich war mir sicher, dass der Hotelmanager die Tür nicht mit einem Vorhängeschloss von außen verschließen würde, solange noch jemand drin war. Ich lebte – wenn man es denn so nennen will – mittlerweile schon fünf Monate im Iowa Hotel1 und jedes Mal, wenn ich auch nur einen Tag zu spät mit der wöchentlichen Miete dran war, brachte dieser Mistkerl ein blau lackiertes Vorhängeschloss an meiner Tür an. Wenn man seine Miete dann nicht bis Ende der Woche bezahlte, nahmen sie das Vorhängeschloss wieder ab, aber auch deine ganzen Habseligkeiten mit. Das war mir bislang nicht passiert, aber in vier Tagen würde es so weit sein. Als ich auf dem Weg nach draußen an der Rezeption vorbeiging, kramte Leo, der Hotelmanager, bereits in der Schublade nach dem blauen Vorhängeschloss.

Vor dem Necropolis Club hatte sich bereits eine Schlange gebildet. Wie immer eigentlich, aber zum Glück ließ mich der Türsteher sofort durch. Um Mitternacht war ich dort mit Martin verabredet, und als ich ankam, war es Viertel vor elf.

Das früher einmal ruhige Necropolis war schon seit einem Jahr mein Lieblingsclub, aber nach einer Erwähnung in der LA Weekly2 kamen sie sogar extra aus Simi Valley oder Chino hierher. Auch wenn es nun plötzlich angesagt war, hatte das Necropolis sich eigentlich nicht verändert. Der Club befand sich in einem alten Kino. Man hatte lediglich die Sitze entfernt, den Boden begradigt und alles mit ägyptischen Motiven ausgestattet. Entlang der Seitenwände gab es Theken, und vor der Leinwand war eine Bühne aufgebaut. Während der Bandauftritte ließen sie dort im Hintergrund alte Filme laufen. Die Bartresen bestanden aus dicken, von unten mit blauweißem Neonlicht beleuchteten Milchglasplatten, sodass es so aussah, als würden den Gästen ausschließlich leuchtend blaue Drinks serviert. Die kahlen, schwarz gestrichenen Wände waren mit sechs Meter hohen weißen Flachreliefs von seltsam aussehenden ägyptischen Gottheiten bedeckt.

»Hallo, Evan«, sagte eine vertraute Stimme hinter der Theke.

»Henry.« Ich grinste ihn an und setzte mich auf den letzten freien Platz an der hinteren Bar.

»Was darf’s sein?«

»Ein Bier.«

»Macht zwei Dollar«, erwiderte er und nickte gleichzeitig jemandem am anderen Ende der Theke zu, der ein leeres Glas hochhielt.

Ich hatte weniger als zwei Dollar bei mir. »Mach mir einen Deckel, okay? Ich werde noch eine Weile hier sein.« Ich zündete mir eine Zigarette an. Henry grinste und ging dann zu dem Mann mit dem leeren Glas hinüber.

Um Mitternacht war der Club brechend voll. Die zweite Band des Abends begann zu spielen, während hinter ihr ein wütender Godzilla lautlos das Tokio des Jahres 1958 dem Erdboden gleichmachte. Das Stroboskoplicht zerlegte die Bewegungen der Menschen auf der vollen Tanzfläche in eine Reihe von Standbildern. Es war halb eins, und der Türsteher ließ immer noch Leute in den Club.

Ich hatte Martin den Weg zum Necropolis beschrieben und ihm eingeschärft, rechtzeitig da zu sein, ehe es immer voller wurde. Er sollte dem Türsteher gegenüber meinen Namen erwähnen und ihm ein Trinkgeld geben. Ich hatte ihm auch gesagt, nach einem eins achtzig großen, einundzwanzig Jahre alten weißen Mann mit blauen Augen und kurzen blonden Haaren in einem schwarzen T-Shirt Ausschau zu halten. Wenn ich mich umschaute, sah ich etwa drei Dutzend andere, auf die diese Beschreibung ebenfalls passte. Martin hatte von einem öffentlichen Telefon aus angerufen und war im Begriff gewesen, mir auch eine Beschreibung von sich zu geben, aber ich hatte ihm versichert, dass ich ihn schon erkennen würde. Bis jetzt jedenfalls war er noch nicht aufgetaucht.

Henry kam mit einem Bier zu mir. »Hier bitte«, sagte er, während er es auf einer neuen Serviette platzierte. »Hey, sieh dir den Lackaffen an.« Er deutete über meine Schulter hinweg auf einen Mann in mittleren Jahren mit einer beginnenden Glatze, der ein Kamelhaarsakko und cremefarbene Stoffhosen trug. Er entschuldigte sich fortwährend, während er sich durch die Menge drängte.

»Oh.« Ich musste schmunzeln. »Der gehört zu mir.«

»Ja klar«, sagte Henry, indem er sich abwandte.

Ich ging direkt auf Martin zu.

»Evan?«, fragte er nach Luft japsend. Er wirkte ziemlich durch den Wind.

»Ja. Martin, Sie kommen zu spät.«

»Ich weiß, ich hatte Probleme an der Tür.«

»Kann mir gar nicht vorstellen, warum.« Ich musterte ihn von oben bis unten, von seiner beginnenden Glatze bis zu seinen Penny-Loafers.

»Das hier ist ja wirklich mal ganz was anderes. Wie Sie gesagt haben. Ziemlich cool. Warum müssen wir uns unbedingt hier treffen?«, fragte er.

»Weil eine Wanze Ihnen hier nichts nützen würde, wenn Sie ein Cop wären«, rief ich ihm zu, während ich mit meinen Händen den Pullunder unter seinem Sakko nach einem Aufnahmegerät abtastete. »Stimmt’s?« Er wand sich unter meiner Berührung.

Dann riss er sich zusammen und strich sich beruhigend über den Revers, während ich mich wieder setzte. »War das hier mal ein Kino?«, fragte er.

»Ja. Wie kommen Sie noch mal auf mich?« Ich nahm einen kräftigen Schluck Bier.

»Preston. Er hat gesagt, dass Sie mir helfen können.«

Ich nickte.

»Können Sie mir denn helfen?«, sagte er und zog die Augenbrauen nach oben, um seiner Frage mehr Nachdruck zu verleihen.

»Ja. Haben Sie das Geld dabei?«

Er griff in die Tasche seines Sakkos und holte einen nicht zugeklebten weißen Umschlag hervor, den er neben mein Bier auf die leuchtende Theke legte. »Bin ich froh, das los zu sein. Es macht mich nervös, in diesem Teil der Stadt mit so viel Bargeld herumzulaufen.«

Ohne auf seine Bemerkung einzugehen, betrachtete ich den Umschlag, der dort auf dem matten Glas lag. Er war mehrere Zentimeter dick. Dann nahm ich ihn so vorsichtig, als ob er zerbrechen könnte. In dem Umschlag befanden sich fünfundzwanzig Hundert-Dollar-Scheine, eine handgeschriebene Adresse und ein Schlüssel. »Die andere Hälfte ist fällig, wenn alles erledigt ist.«

»Ich weiß«, erwiderte er. »Das hat mir Preston schon gesagt.«

Henry kam wieder zu uns rüber. Zuerst warf er mir einen neugierigen Blick zu, dann musterte er Martin. »Noch eins?«

Ich nickte.

»Und was darf ich Ihnen bringen, Paps?«, fragte Henry mit sarkastischem Unterton.

Martin sah mich an. »Was? Macht der sich etwa über mich lustig?«

Ich schüttelte den Kopf und unterdrückte ein Grinsen.

»Ich hätte gerne einen Weißwein.«

Henry grunzte und griff nach einem Glas.

»Irgendwelche Sonderwünsche?«, fragte ich Martin.

Er zog reflexhaft den Kopf ein und beugte sich zu mir. »Na ja, es muss natürlich wie ein Unfall aussehen, sonst taugt es einfach nichts.«

»Und abgesehen davon«, wischte ich seinen Kommentar beiseite, »gibt es sonst noch etwas, was ich wissen sollte?«

»Der Schlüssel ist für den Seiteneingang. Das ist eine schwere Eisentür, die können Sie gar nicht verfehlen.«

»Fenster?«

»Ja, im ersten Stock, aber keine im Erdgeschoss. Die sind schon vor Jahren zugemauert worden.«

Ich lächelte und griff nach meinem Bier. »In einer Woche ist es erledigt. Am Samstag danach treffen wir uns noch mal hier, um Mitternacht«, sagte ich und stopfte mir den dicken Umschlag in die vordere Hosentasche.

»Das war’s?«

Ich sah ihn von der Seite an. »Nein«, sagte ich ernst. »Wir sind fertig, nachdem wir uns noch mal getroffen haben.«

»Na gut, dann bis zum nächsten Mal.« Er prostete mir mit seinem Weinglas zu.

Ich stieß mit ihm an und nahm einen tiefen Schluck. Das kalte Bier dämpfte das aufregende Gefühl, finanziell wieder flüssig zu sein. Er schüttelte meine Hand und nickte kurz zum Abschied. Als er gehen wollte, legte ich ihm eine Hand auf die Schulter. »Ich hoffe, Sie sind versichert«, flüsterte ich ihm ins Ohr und konnte mir dabei kaum das Lachen verkneifen.

Er grinste freudlos und ergriff dann schnell die Flucht, so als wollte er sich von all dem hier distanzieren. So sind sie immer beim ersten Mal.

»Wer war das?«, fragte Henry.

»Keine Ahnung, finden wir’s raus.« Ich hielt sein Portemonnaie aus Aalleder in die Höhe und zog seinen Führerschein heraus. »Martin Shelby.«

»Nicht schlecht«, strahlte er. »Arbeitest du wieder?«

»Ja, hab einen neuen Auftrag.«

»Warum hast du ihm das Portemonnaie geklaut? War in dem Umschlag etwa nicht genug Geld? Zum Teufel, ich hab ihn doch gesehen. Der war so dick.« Henry zeigte mit Daumen und Zeigefinger eine Breite von etwa zweieinhalb Zentimetern an.

Ich griff nach seiner Hand und korrigierte den Abstand zwischen den beiden Fingern, bis er nur noch halb so groß war. »So dick ist er. Und nein, es geht nicht um das Geld. Hier drin sind nur acht Dollar. Aber der Rest könnte von Nutzen sein.«

Ich zog die acht Dollar heraus, steckte das Portemonnaie wieder weg und holte stattdessen meine Zigaretten und das Feuerzeug hervor. »Henry, Mr. Shelby würde mir gerne noch ein Bier spendieren.«

»Aber gerne, Mr. Shelbys Wunsch ist mir Befehl«, antwortete er und schenkte mir noch ein Bier ein.

»In ein paar Tagen könnte ich deine Hilfe brauchen. Das Übliche, zum üblichen Tarif. Hast du Zeit?«

»Für dich immer. Außerdem kann ich das Geld gut brauchen. Ruf mich einfach an, wenn es losgeht. Noch ein Bier?«

Ich griff in meine Tasche, holte den Umschlag hervor und nahm die handgeschriebene Adresse heraus. »Nein, das war’s für heute. Ich mache jetzt einen Spaziergang.«

Müll und zerbrochene Fensterscheiben bedeckten die Bürgersteige im Viertel rund um Martins Lagerhaus. Drei von vier Gebäuden wirkten verlassen. Im Vorbeigehen las ich die Hausnummern an den Türrahmen: 2678, 2674, 2670. Martins Haus war aus verputztem, grau angestrichenem Backstein. Es hatte zwei Stockwerke, im oberen gab es auf der Straßenseite vier intakte hohe und schmale Fenster. Die zwei großen Panoramafenster an der Hausfront waren schon vor langer Zeit mit Sperrholz vernagelt worden, das mittlerweile durch Smog und Regen dieselbe graue Farbe wie der Anstrich angenommen hatte. Ein einsamer Scheinwerfer bei einem Lagerhaus auf halbem Wege die Seitengasse hinunter ließ lange Schatten auf die Rückseite des Gebäudes fallen. Die von Martin beschriebene Tür war über einen Meter breit und fast zweieinhalb Meter hoch, aus Metall und mit horizontalen Stahlbändern mit Nieten verstärkt. Sie passte eher zu einem Gefängnis als zu einem Lagerhaus.

Ich sah mich um, hob eine alte Zeitung auf und faltete sie so, dass sie in meine linke Hand passte. Mit der Rechten zog ich den Schlüssel hervor und legte meine Hand auf die große eiserne Türklinke, wobei ich darauf achtete, dass ich sie nur mit der Zeitung berührte, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Vorsichtig steckte ich den Schlüssel in das Schloss. Er ließ sich mit Leichtigkeit und ohne Geräusch drehen.

Das wenige Licht, das aus der Seitengasse hereinfiel, erreichte das Innere nur ein paar Schritte weit. Ein fahler Lichtschein, der durch die Fenster im ersten Stock drang, fiel auf eine alte Holztreppe, die an der Wand entlang nach oben führte. Ich zog mein russisches Feuerzeug hervor, schlug es dreimal gegen meine Hand und machte es an. Die kleine Flamme tauchte das Hinterzimmer und die Treppe, die hoch zum Dachgebälk im ersten Stock führte, in spärliches Licht. Zu meiner Linken führte eine offen stehende Tür in ein schmutziges Badezimmer. Der Rest des Erdgeschosses vor mir lag im Dunkeln.

Ich ging hinein und achtete dabei darauf, nicht aus dem kleinen Lichtkreis meines Feuerzeugs zu treten. Die Decke bot ein verwobenes Muster aus Querbalken, den Bodendielen des ersten Stocks und Elektroleitungen. Es gab keine Sprinkleranlage. Der Betonboden hatte dieselbe schlachtschiffgraue Farbe wie die Außenwand des Gebäudes, und acht grob behauene Holzpfähle trugen das Gewicht des ersten Stocks. Nirgendwo war Licht oder sonst ein Lebenszeichen zu sehen. Ich ging zurück zu der Treppe an der Rückwand.

Jahrzehntelanger Gebrauch hatte die grob gezimmerten Treppenstufen in der Mitte geglättet. Mit jeder Stufe wurde es heller, denn durch die hohen Fenster, die ich von der Straße aus gesehen hatte, fielen lang gezogene rechteckige Lichtfelder auf den Holzboden des Obergeschosses. Ich ging an der der Seitenstraße zugewandten Wand entlang und überprüfte mit meiner von der Zeitung bedeckten Hand, ob sie sich öffnen ließen. Sie waren alle fest verschlossen. Die graue Farbe des Außenanstrichs war großflächig bis über die Fensterrahmen verteilt worden und hatte sie verklebt. Die Decke sah exakt genauso aus wie die des Erdgeschosses und besaß ebenfalls keine Sprinkleranlage. Ich sah mich auch im Obergeschoss um. Von hier oben breitet es sich bestimmt am besten aus, teilte ich den in meinem Kopf erwachenden Stimmen mit. Dann wollen wir mal überlegen, wie wir das alles hier am besten abfackeln.

2

AUFDEMRÜCKWEGNACHDOWNTOWN ging ich die einzelnen Schritte meiner geplanten Brandstiftung immer wieder im Kopf durch. Als ich das Iowa Hotel erreichte, lugte die Sonne schon fast über den Horizont. Ich öffnete die Tür und durchquerte die leere Lobby, wobei mir bewusst wurde, dass ich noch nie am frühen Morgen hier gewesen war. Normalerweise saßen hier immer ein paar kaputte Typen auf ebenso kaputten Möbeln. Der in einer Ecke unter der Decke angebrachte Schwarz-Weiß-Fernseher war zum ersten Mal in meiner Erinnerung nicht eingeschaltet, und die verschlissene Couch bei der Rezeption sah ohne jemanden darauf noch jämmerlicher aus. Die Lobby wirkte seltsam friedlich, wie das Bühnenbild eines heruntergekommenen Theaters lang nach dem Abgang des letzten Schauspielers. Ich ging leise zu der verlassenen Rezeption und genoss die Stille noch einen Moment lang, bevor ich mehrmals hintereinander mit der Hand auf die Klingel auf dem Tresen schlug und damit Schockwellen des Lärms durch den dreckigen braunen Vorhang in das Büro des Managers dahinter jagte. Ich fuhr damit fort, dreimal pro Sekunde auf die Klingel zu hauen, als wollte ich Alarm schlagen, bis der vertraute Glatzkopf endlich durch den Vorhang lugte.

»Guten Morgen, Leo«, grölte ich. »Nimm das Scheißschloss von meiner Tür ab. Ich zahl jetzt meine Miete.«

Der schmuddelige Manager kam hinter dem Vorhang hervor, hob die kleine Klingel hoch und schleuderte sie an meinem Kopf vorbei in die leere Lobby. Das kam so schnell und so unerwartet, dass ich nicht einmal die Zeit zum Zusammenzucken fand, als sie nah an meinem Kopf vorbeiflog. Sie landete vor der gegenüberliegenden Wand auf dem Boden und gab dabei eine Kombination aus gedämpftem Klingeln und dumpfem Poltern von sich.

»Her mit dem Geld.« Seine Stimme klang heiser.

Ich zog zwei Scheine aus der Tasche und legte sie auf die saubere kreisförmige Fläche auf der Theke, an der die Klingel gestanden hatte. »Für diese und für die nächste Woche.«

Er schnappte sich die beiden Hundert-Dollar-Scheine mit derselben Geste wie zuvor die Klingel, und ich erwartete schon fast, dass er sie mir gleich an den Kopf schmiss. Doch stattdessen griff er nach seinem Quittungsblock und kritzelte etwas darauf.

Dann ging er zu der Treppe, die zu den Zimmern im ersten Stock führte, und suchte dabei an seinem großen Schlüsselring nach dem blauen Schlüssel. Nachdem er mein Zimmer aufgeschlossen hatte, drehte er sich zu mir um, hielt seine blutunterlaufenen kleinen Augen aber auf meine Kniescheiben gerichtet. »Wehe, du fasst die Scheißklingel noch einmal an.« Jedes einzelne Wort bohrte sich wie ein ausgestreckter Zeigefinger in meine Brust.

Ich schwieg, als er an mir vorbei zurück nach unten in die Lobby ging, und legte mich sofort schlafen.

Ich wusste nicht, warum ich im Iowa wohnte. Ich wusste nicht, wohin ich wollte oder warum ich nicht längst dorthin unterwegs war. Jeder Tag in diesem Zimmer verschwamm mit dem nächsten, ohne Sinn oder Zweck, und ich fragte mich immer häufiger, ob ich nicht einfach Schluss machen und noch einmal von vorne anfangen sollte. Die steife orangene Schlinge hing immer noch jederzeit einsatzbereit an der Deckenlampe. Ich fragte mich, ob es das nächste Mal anders sein würde. Ob es möglich war zu vergessen, dass ich mich erinnern kann.

Ich stand auf und sah aus dem Fenster hinunter auf die dunkle Straße. Die Uhr an der Bankfiliale gegenüber zeigte halb zehn.

Es muss wohl Abend sein, draußen ist es dunkel, dachte ich, während ich auf der Suche nach dem Busfahrplan für Los Angeles in den englischen und bulgarischen Zeitungen auf der Küchenanrichte wühlte. Dann setzte ich mich aufs Bett, blätterte in dem mit Kaffeeflecken verunzierten Heftchen und plante meinen Weg vom Club zum Lagerhaus und zurück.

Als ich nach unten ging, um zu telefonieren, war die Lobby voller Leute. Leo saß auf einem Stuhl hinter der Theke und versuchte, auf dem schneeigen Fernsehbild in der anderen Ecke des Raums etwas zu erkennen. Red, Murphy, Cotton und ein alter Mann, den ich noch nie gesehen hatte, spielten an einem Kartentisch hinter einem der Sofas Gin.

»Hey, Kleiner, hast du das Geld für die Miete zusammengekratzt?«, rief Red mir quer durch die Lobby zu. Er kicherte in sich hinein und widmete sich wieder seinem Gespräch.

Das Iowa war schon seit Jahrzehnten kein normales Hotel mehr. Hier stiegen zwei Sorten von Männern ab: Solche, die nicht gerne Pläne machten und lieber von Woche zu Woche lebten, und solche, die hier einen Zwischenstopp einlegten, bevor sie endgültig auf der Straße landeten. Ich hoffte, dass ich zu der ersten Sorte gehörte.

Ich ging zu dem Münztelefon hinüber und wählte die Nummer des Clubs.

»Henry!«, rief ich über den Hintergrundlärm an seinem Ende der Leitung hinweg. »Ich bin’s, Evan. Hey, morgen ist es so weit.«

Ein lautes Klopfen riss mich aus dem Tiefschlaf. Ich rieb mir die Augen und öffnete die Tür.

»Guten Morgen, Sonnenschein!« Henry kicherte.

Ich winkte ihn herein.

»Allerliebst. Ist das eine Henkersschlinge?«, fragte er sarkastisch.

»Nein, das versteht man hier unter Zimmerdeko«, antwortete ich aus dem Bad und versuchte dabei fieberhaft, mir noch etwas Schlaueres auszudenken. »Das gehört zur neuen Motivationsinitiative für die Absteigen an der 7th Street.«

Henry sah sich um. Das Zimmer war sauberer als sonst. »Mann, du musst hier irgendwas machen. Das ist ja wie im Knast – keine Bilder, keine Kunst, nix Gemütliches, nur Bücher, Kleidung, ein Bett … und eine Henkersschlinge. Warum hängst du nicht wenigstens ein paar Vorhänge auf? Weißt du, was hier helfen würde? Pflanzen. Was Grünes, Lebendiges.«

»Bist du fertig?«, erwiderte ich gereizt. »Dann können wir ja los. Bist du mit dem Pick-up da?«

Henry nickte. »Kannst du das lesen?«, fragte er und nahm eine der bulgarischen Zeitungen vom Tisch, die voll von jenen für ihn seltsamen kyrillischen Buchstaben war.

»Ja.« Ich schloss die Tür hinter uns ab. Er hatte recht in Bezug auf das Zimmer, und das nervte mich. Es gab keinen Grund, so zu leben, an so einem Ort – eine reine Gewohnheitssache. Aber würde ich mir bessere Gewohnheiten zulegen, bräuchte ich auch eine geregelte Arbeit, um sie mir leisten zu können. Und was hilft einem schon ein höherer Lebensstandard, wenn man selbst nicht dem Standard entspricht.

Als wir seinen weißen Pick-up erreichten, zögerte ich kurz, bevor ich die Beifahrertür öffnete, und sah ihn durch das offene Fenster an. »Mach dir keine Sorgen wegen der Schlinge. Ich hab sie nur aufgehängt, um das Hotelmanagement zu ärgern.«

»Wohin soll es gehen?«

»Sierra Chemical Company, bei Riverside und State Route 2.3 Ich zeig dir, wo lang.«

Henry fuhr auf den Parkplatz der Chemical Company und ließ den Motor laufen. »Du gehst also einfach rein und kaufst das, oder wie?«

»Klar. Die verkaufen hier Chemikalien, das ist also nichts Ungewöhnliches. Und sie wissen ja nicht, wofür es dann letztendlich verwendet wird.«

Wie erwartet gab es keine Probleme beim Kauf, und ein paar Minuten später kam ich mit einem Kanister Industriealkohol wieder, der etwa zwanzig Liter fasste.

»Das ging ja schnell«, sagte Henry.

»Schnell und problemlos. Los geht’s.«

Henry bog in die Seitengasse und hielt vor der Tür von Shelbys Lagerhaus. »Mach dich vom Acker, wenn ich das Zeug ausgeladen habe, und komm in einer Stunde wieder. Länger sollte es nicht dauern – ich mache die Tür auf, wenn ich fertig bin. Sollte sie zu sein, wartest du noch eine Stunde.« Ich zog schwarze Gummihandschuhe an und stieg aus. In weniger als fünfzehn Sekunden hatte ich die Tür des Lagerhauses geöffnet, alles aus dem Pick-up ausgeladen und die Tür wieder hinter mir geschlossen.

Mein Herz raste und ich setzte mich auf die Treppe, bis meine Beine wieder aufhörten zu zittern. Dieses Mal war es heller, und ich konnte die Stufen hinaufsehen. Ich nahm mir eine Zigarette und rauchte sie bis zum Filter herunter. Dann drückte ich die Kippe aus und steckte sie in die Tasche, bevor ich die Farbwanne und den Wischmopp auspackte. Du denkst nicht mit. Du hättest das Verpackungsmaterial vorher loswerden sollen. Konzentrier dich.

Ich legte die durchsichtige Plastikfolie neben die Tür, damit ich sie nicht vergaß – nicht vergessen konnte. Konzentrier dich. Ich trug die gesamte Ausrüstung auf einmal die Treppe hinauf. Die Außentemperaturen waren schon wieder auf fünfunddreißig Grad gestiegen, und mit jeder Treppenstufe schienen noch ein oder zwei Grad dazuzukommen. Das heiße, stickige Obergeschoss wirkte im hellen Tageslicht kleiner, und mir fiel auf, dass ich in der Dunkelheit vorgestern Nacht zwei Kisten bei dem hinteren Stützpfosten übersehen hatte.

Ich öffnete den Alkoholkanister und füllte die Farbwanne. Dann wartete ich, bis sich der Wischmopp richtig vollgesogen hatte, und bestrich methodisch den Boden damit. Ich begann an der vorderen Ecke gegenüber der Treppe. Das Methanol ließ sich gut verteilen und wurde sofort von den Bodendielen aufgesogen. Ich arbeitete schnell und hielt mich dabei von den vorhanglosen Fenstern fern, indem ich mit längeren Schwüngen von der Seite über diese Stellen strich.

Die erste Lage endete an einer imaginären diagonalen Linie zwischen dem letzten Fenster an der hinteren Wand und dem Treppenabsatz. Als ich damit fertig war, hatte ich noch etwa elf Liter übrig. Mein T-Shirt war schweißnass, und beißender Alkoholgeruch hing in der stehenden Luft des Obergeschosses. Die Stützpfosten waren als Nächstes dran. Ihr raues, grob behauenes Holz schluckte im Handumdrehen zwei Lagen. Ich ließ den Mopp sinken und holte mein Feuerzeug und eine Zigarette für meine strapazierten Nerven hervor. Ich schlug das Feuerzeug zweimal an, bevor mir einfiel, dass es wohl besser wäre, es nicht in der alkoholgeschwängerten Luft des Obergeschosses zu entzünden.

Im Badezimmer im Erdgeschoss war die Luft erfrischend kühl. Ich zündete meine Zigarette an und sah in den Spiegel, der so dreckig war, dass ich mich darin kaum erkennen konnte. Meine blonden Haare wirkten braun und klebten an meiner verschwitzten Stirn. Selbst in dem fahlen Licht hier wirkte ich blass. Ich zog lange und tief an meiner Zigarette. Das glühende rote Ende beleuchtete mein Gesicht im Spiegel. Ich ging näher heran, um mich besser in dem verschmierten Glas betrachten zu können.

»Das ist der schlimmste Teil«, sagte ich laut. »Gleich hast du es geschafft. Konzentrier dich.« Ich nahm die Zigarette mit meiner schwarz behandschuhten Hand aus dem Mund und blies den Rauch in Richtung meines Spiegelbilds, während ich weitersprach. »Bis bald, mein alter Freund.«

Henrys Pick-up hielt mit quietschenden Reifen vor dem Lagerhaus. Ich riss die Tür auf, warf meine Sachen auf den Rücksitz und sprang hinein.

»Gib Gas, bloß schnell weg hier«, sagte ich und knallte die Tür zu.

Er sah mich alarmiert an. »Warum? Fliegt gleich alles in die Luft?«

»Nein, hier fliegt nichts in die Luft. Aber lass uns einfach schnell verschwinden.« Ich steckte den Kopf aus dem Fenster und versuchte, mir mit meinen nun wieder bloßen Händen den Schweiß aus den Haaren zu wischen. Als wir davonfuhren, blickte ich mich nach dem Gebäude um. »Jetzt ist alles startklar.«

Auf halbem Weg zurück zum Iowa holte ich zweihundert Dollar hervor und gab sie Henry.

»Wofür ist der Fünfziger extra?«

»Für mein Alibi morgen Abend.«

»Prima, du warst den ganzen Abend da.«

»Ich werde morgen Abend vorbeischauen und mich dann heimlich wieder vom Acker machen. Zur letzten Runde komme ich wieder, und du fährst mich heim.«

Er hielt vor dem Hotel an. »Wie ich der Polizei schon sagte: Du warst den ganzen Abend da. Hier wären wir.«

»Dann wollen wir mal hoffen, dass die Polizei erst gar nicht fragt. Danke für deine Hilfe.«

»Danke für die Kohle. Bis morgen.«

Ich wartete, bis Henry um die nächste Ecke verschwunden war, und leerte über ein Dutzend Kippen aus meiner Tasche auf den Gehweg. Dann überquerte ich die Straße, ging durch die Lobby und nach oben in mein Zimmer, ohne mit jemandem zu reden.

Mit dem getrockneten Schweiß klebte mein T-Shirt inzwischen an meiner Brust wie eine Vakuumverpackung. Ich zog es aus und nahm es mit unter die kalte Dusche. Dort wusch ich den Schweiß, so gut es ging, heraus. Ich trocknete mich nicht ab, damit die kühlende Wirkung der Wassertropfen auf meiner Haut noch etwas anhielt.

Henry hatte recht, dieses Zimmer wurde mehr und mehr zu einer Gefängniszelle und ich zu einem geradezu mustergültigen Sträfling. Weder schlug ich mit meiner Tasse gegen die Gitterstäbe, noch verbrannte ich aus Protest gegen die Haftbedingungen mein Toilettenpapier. Vielmehr akzeptierte ich, dass dieser Raum mich allmählich zermürbte, wie er auch seine anderen Bewohner vor mir zermürbt haben musste. Ich ging um die Schlinge herum zum Fenster und öffnete es, damit der Straßenlärm in meine stille Zelle dringen konnte.

3

LEERESCHNAPSFLASCHENLAGENÜBERALL auf der Seitengasse hinter dem Hotel herum. Auf meinem Weg zum Club nahm ich vier intakte Flaschen und ebenso viele Steine mit, bevor ich im Schnapsladen meine letzten Ausrüstungsstücke erstand: eine große Flasche billigen Wodka und zwei Päckchen Zigaretten einer Allerweltsmarke. Ich steckte die volle Flasche zu den vier leeren in meinen Rucksack und die Zigaretten in meine Jackentasche.

Als ich um die Ecke bog, gab es bereits eine kleine Schlange vor dem Club. Ich ging an ihr vorbei direkt zum Eingang, nickte dem Türsteher zu, betrat den Club und wartete, bis Henry kam.

»Was darf’s sein?«, fragte er, indem er hinter die Theke ging.

»Ein Bier und einen Old Grandad.«

Henry zog eine Augenbraue hoch. »Heute geben wir uns aber gleich richtig die Kante, was?«, sagte er und griff nach einer Flasche mit braunem Whiskey hinter der Theke.

Ich steckte mir eine Zigarette in den Mund und wartete darauf, dass er sie mir ansteckte. »Tu mir bitte einen Gefallen. Nimm meinen Rucksack und deponier ihn hinter der Bar.«

»Klar doch«, sagte er und zündete ein Streichholz an. »Ich mach dir auch einen Deckel. Und den bezahlst du dann so gegen halb zwei.«

»Und auf der Rechnung steht die Zeit. Sehr gute Idee.«

»Jep, du bist den ganzen Abend hier. Wir unterhalten uns später, okay? Ich muss erst mal klar Schiff machen, bevor es voll wird.«

Er füllte das Spülbecken und wusch die von letzter Nacht übrig gebliebenen Gläser ab. Ich trank von meinem Bier und behielt die bittere Flüssigkeit noch etwas im Mund, bevor ich sie herunterschluckte. Die bläulich weiße Beleuchtung von unten ließ den Whiskey wie grünes Sumpfwasser aussehen. Ich betrachtete ihn eine Weile, trank ihn dann in einem Zug aus und knallte das Glas wieder auf die Theke. Der Schnaps lief mir warm die Kehle hinunter.

»Noch einen?«, fragte Henry, ohne vom Waschwasser aufzublicken.

»Ja«, sagte ich matt. »Besser noch ein paar.«

Ich trank stetig weiter. Henry schenkte mir immer sofort nach, egal wie beschäftigt er gerade war. Um zehn spürte ich langsam die Wirkung des Alkohols und verlangsamte mein Tempo. Als ich das Glas mal wieder auf der Theke abstellte, kam er mit der Flasche in der Hand zu mir herüber, lehnte sich gegen die Bar und beugte sich zu mir vor. »Hey, ich hab das jetzt ja schon ein paarmal mitgemacht. Und jedes Mal frage ich mich, warum du alles so sorgfältig planst, nur um dich dann am fraglichen Abend volllaufen zu lassen.«

Ich sah von meinem Glas mit dem grünen Whiskey zu ihm auf und dachte sorgfältig über eine Antwort nach – wohl wissend, dass ich mich für immer daran erinnern würde. »Mut.«

Er sah mich lange schweigend an, so als ob er versuchte, den wahren Grund herauszufinden. »Verstehe«, sagte er schließlich, »du willst gerade benebelt genug sein, um es auch durchzuziehen?«

»So was in der Art«, sagte ich und drehte mich zu der Band um, die gerade zu Füßen von Vincent Price im Laborkittel ihre Instrumente stimmte.

»Gib mir mein Zeug, ich muss los.«

»Hier entlang.« Henry führte mich in den Lagerraum hinter dem schwarzen Vorhang. »Durch diese Tür kannst du raus und wieder rein. Ich werde sie ein Stück offen stehen lassen, bis wir schließen.«

Ich ging schnell zu einer Haltestelle in der Nebenstraße und wartete auf einer ansonsten leeren Bank auf den Bus der Linie 37. Dabei ertappte ich mich, wie ich nervös mit dem Fuß auf den Boden klopfte, und presste beide Schuhsohlen flach auf den Boden, um das zu unterbinden. Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie die Flammen an den Stützpfosten emporzüngelten.

Der Bus hielt direkt vor mir, ich stieg ein und bezahlte bei der Fahrerin, ohne sie anzusehen. Während wir losfuhren, setzte ich mich auf einen Platz gegenüber der hinteren Tür. Aus dem Augenwinkel zählte ich sechs weitere Fahrgäste.

Mein Fuß begann wieder zu klopfen, und ich spürte, wie sich die Anspannung in mir breitmachte. Am liebsten hätte ich lauthals herausgeschrien, was ich gerade vorhatte. Diese sechs anderen Menschen hochgeschreckt, indem ich sie mit meiner Realität konfrontierte. Bald würde ich eine Verbindung zu dem Menschen herstellen, der ich einmal gewesen war. Aber was ich wirklich wollte, war, mit diesen Menschen um mich herum Kontakt aufzunehmen, oder überhaupt mit irgendwem. Ich starrte sie einen nach dem anderen an, mein Fuß trommelte mittlerweile laut auf den Boden. Es war ihnen egal. Sie saßen nur da, blöde, abwesend, tot.

Seit meinem Weggang von zu Hause hatte ich niemandem mehr die Wahrheit über mich erzählt. Manchmal hatte ich mit dem Gedanken gespielt, mich Freunden oder Bettgefährtinnen anzuvertrauen, hatte es aber doch nie getan – und das schien sie alle früher oder später zu vergraulen. Ich mache mir da nichts vor: Während dieser drei Jahre hatte ich es vermisst, jemandem nahe zu sein, jemanden zu haben, der mich wirklich kannte. Henry hatte ich schon mehrmals fast eingeweiht. Aber jedes Mal entschied ich mich dann lieber wieder dazu, ihn wie alle anderen im Dunklen zu lassen. Gleichzeitig wollte ich ihn aber, solange es ging, in meiner Nähe behalten. Mir war ein unwissender Freund schon immer lieber gewesen als einer, der mir nicht glaubte. Seit ich Minnesota verlassen hatte, überkam mich oft das Bedürfnis, einfach gegenüber irgendwelchen Fremden herauszubrüllen, was ich keinem Freund zu erzählen wagte. Aber bislang hatte ich dieser Versuchung immer irgendwie widerstanden. Ich habe niemandem erzählt, dass all die reuigen Sünder und die braven kleinen Jungen nach ihrem Tod nicht in den Himmel kommen – sondern stattdessen manchmal in L.A. landen. Ich habe auch niemandem erzählt, dass es da oben sowieso keinen interessiert, ob sie brav oder ungezogen waren. Ich habe sie nicht angeschrien, dass sie ihren öden Job aufgeben und ihr ödes Leben ändern sollen – denn wenn sie sich nicht erinnern, ist das alles, was sie jemals haben werden. Ich werde ihnen das nicht erzählen, weil ich meine Fassade aufrechterhalten muss, damit ich weiterhin so tun kann, als wäre ich so wie sie. Und dann endet es immer damit, dass ich meine Fassade mit nach Hause nehme und mir selbst meine ganzen Geschichten immer wieder erzähle, um sicherzugehen, dass ich sie nicht vergessen habe. Ich vergesse nie etwas.

Anscheinend hatten die anderen Fahrgäste keine Lust gehabt, noch länger zu warten, ob ich der Versuchung vielleicht doch noch nachgeben würde, denn als wir meine Haltestelle erreichten, war der Bus leer. Die Türen am hinteren Ausgang öffneten sich, und ich stieg aus in die dunkle, leere Straße, ohne auch nur einmal in Richtung der Fahrerin zu sehen. Der Bus bog um die nächste Ecke und nahm dabei auch jedes Anzeichen von Leben mit sich. Ich habe mich in dieser Art von trostloser Umgebung immer wie zu Hause gefühlt. Mir war es dann fast so, als ob diese verlassenen Viertel mich darum bäten, sie aus ihrer Einsamkeit und schändlichen Existenz zu erlösen.

Das einzelne Scheinwerferlicht an der Seitengasse hinter dem Lagerhaus war hell genug, um den Schlüssel herauszusuchen und die Handschuhe anzuziehen. Ich nahm den Rucksack ab und ging hinein. Ein leichter Lösungsmittelgeruch strömte mir aus dem Obergeschoss entgegen.

Ich setzte den Rucksack an der Treppe ab und holte die beiden Zigarettenpäckchen heraus. Dann nahm ich vier normale Zigaretten und zwei Lights. Ich steckte mir die sechs Zigaretten in den Mund und zündete sie alle auf einmal mit meinem Feuerzeug an. Dabei achtete ich darauf, den konzentrierten Rauch nicht in die Lunge zu bekommen. Die sechs Zigarettenenden glühten rot in der Dunkelheit. Ich ließ das Feuerzeug brennen und stellte es auf die vierte Stufe der Treppe, dann legte ich die Zigaretten eine nach der anderen daneben, wobei ich die Glut über die Stufe ragen ließ, damit sie bis zum Filter herunterbrennen konnten. Als es so weit war, drückte ich sie alle auf dem grau angestrichenen Betonboden des Hinterzimmers aus. Anschließend holte ich die zwei leeren Flaschen aus dem Rucksack und warf sie auf den Boden. Dabei stellte ich mir vor, wie ein Brandexperte durch die verkohlten Überbleibsel gehen würde. Die Weinflasche zerbrach, die Ginflasche machte dagegen einen Satz und landete vor der Badezimmertür.

Ich hob mein Feuerzeug wieder auf, wobei ich darauf achtete, dass die Flamme weiter brannte, und wiederholte im ersten Stock die gleiche Prozedur mit den übrigen Zigaretten. Die beiden schwarzen Klappstühle platzierte ich einander gegenüber beim mittleren Stützposten, an dem ich meinen Brandherd geplant hatte. Jedes Mal, wenn ich eine Zigarette auf dem methanolgetränkten Boden austrat, achtete ich darauf, die Gummisohle meines Schuhs lange genug auf dem Stummel zu lassen, damit sich der Boden nicht entzündete. Ich setzte mich in den den Fenstern zugewandten Stuhl, nahm die letzten drei Flaschen aus meinem Rucksack und stellte die volle neben das brennende Feuerzeug.

Die Flamme des Feuerzeugs brach sich in der Ein-Liter-Wodka-Flasche und warf kleine Lichtflecken in den Spektralfarben auf den blanken Boden. Ich hob die Flasche hoch, drehte sie hin und her und beobachtete, wie die kleinen Regenbogen durch den dunklen Raum tanzten. Dann brach ich das Siegel, schraubte den Plastikverschluss auf, setzte die Flasche an den Mund und ließ mir die Flüssigkeit in die Kehle laufen. Es brannte. Ich biss die Zähne zusammen, bevor ich einen zweiten Schluck nahm. Dann einen dritten. Schließlich stand ich auf, hielt die Flasche an ihrem Boden fest und verteilte den Wodka in weiten Schwüngen in Richtung der Gebäudevorderseite auf dem Boden. Die Flüssigkeit zeichnete drei, vier, fünf lange Bögen auf den Boden – wie sich ausstreckende Finger. Mit den letzten Tropfen verband ich sorgfältig alle Bogenenden mit meinem geplanten Brandherd. Als die Flasche leer war, stellte ich sie neben die beiden anderen und trat dann dagegen, sodass sie alle quer durch den Raum rollten. Ich schob den Stuhl zurück und ließ mich auf allen vieren neben der kleinen Wodkalache am Brandherd nieder, nahm das immer noch brennende Feuerzeug von dem anderen Stuhl in meine linke Hand und zog mit meinem behandschuhten Zeigefinger eine nasse Spur. Nach mehrmaligem Streichen mit dem Finger war die Wodkaspur etwa einen halben Meter lang, zweieinhalb Zentimeter breit und ungefähr so tief wie die Wodkapfütze selbst. Ich nahm das Feuerzeug in die rechte Hand und ließ die Flamme ein paar Zentimeter über dem Ende der Spur schweben. Dann hielt ich einen Moment lang inne und betrachtete das Feuerzeug. Die seltsamen kyrillischen Buchstaben darauf und der rote Hintergrund mit dem Sternenmuster waren in dem Licht gut erkennbar. Meine Sicht verschwamm, und die kleine Flamme in meiner zitternden Hand begann zu tanzen.

Während meines vorletzten Jahres in der Highschool war mir klar geworden, dass ich anders war als die anderen. Ich brauchte nur eine Weile, um zu verstehen, was an mir anders war. Ich träumte während des Unterrichts häufig vor mich hin und wurde dafür von meinen Lehrern ermahnt – was aber kaum etwas brachte, wie sich später meinen Zeugnissen entnehmen ließ. Ich war einfach plötzlich geistig abwesend, ohne Vorwarnung oder erkennbares Muster. Diese sogenannten Anfälle kamen immer wieder. Manche dauerten nur eine Sekunde, andere mehrere Minuten. Zu dieser Zeit war mir nicht klar, was da mit mir passierte. Das Gefühl lässt sich am ehesten mit einem Besuch im Kino vergleichen. Damals wäre ich nicht auf die Idee gekommen, dass es sich dabei um Erinnerungen handeln könnte. Denn wie könnte sich jemand an etwas erinnern, was er gar nicht erlebt hat?

Zuerst waren es immer keine besonders langen Episoden, eher wie zehn- oder zwanzigminütige Kurzfilme, aber am Ende des Jahres hatten sie sich zu mehrstündigen Epen ausgewachsen, die in meinem Kopf keinen Platz mehr für die normale Gedankenwelt eines Teenagers ließen. Einige wiederholten sich immer und immer wieder, andere sah ich nur ein einziges Mal. Aber nach einer Weile entdeckte ich, dass sie alle – die langen wie die kurzen – eine Gemeinsamkeit besaßen. Und die machte mir Angst.

Die ersten Szenen boten immer einen Panoramablick, sie waren ländlich, friedlich, manchmal geradezu langweilig. Die Handlung begann erst später. Merkwürdige Menschen kamen und gingen, tauchten in anderen Szenen wieder auf. Seltsamerweise gab es keinen Hauptdarsteller und auch keinen roten Faden, der diese eigenartigen Menschen miteinander verbunden hätte. Erst als das, was ich hörte, sah und ertastete, bei mir emotionale Reaktionen auslöste, kristallisierte sich für mich eine Erklärung des Ganzen heraus. Die Szenen waren doch um einen Hauptdarsteller herum angelegt. Dieser war nicht zu sehen, sondern schien sich bei jeder Szene hinter der Kamera zu befinden. Zuerst war es nur so ein Gefühl, dann dachte ich lange darüber nach und war mir schließlich sicher: Dieser Hauptdarsteller war der rote Faden, alle anderen interagierten mit ihm, alles drehte sich um ihn – und das hieß, dass alles, was ihm passierte, durch diese seltsame Ich-Perspektive indirekt auch mir passierte.

Mit der Zeit und etwas Übung gelang es mir dann, diese Filme gezielt abzurufen und sie so immer wieder ansehen beziehungsweise erleben zu können. Ich versuchte, sie in eine chronologische Reihenfolge zu bringen. Je öfter ich einen bestimmten Film sah und je vertrauter ich mit ihm wurde, desto mehr fühlte ich mich auch darin bestärkt nachzuahmen, was ich in meinem Kopf so hautnah miterlebte.

Der unsichtbare Hauptdarsteller war ein Bauer, ein Soldat, ein Häftling. Mit der Zeit wusste ich jedes Detail auswendig, bis hin zu seiner Lieblings-Zigarettenmarke. Und ich lernte alles, was er konnte – wobei das fremde Alphabet den Anfang machte.

Im Herbst desselben Jahres begann ich damit, mir seine seltsame Sprache beizubringen. Die Ns waren spiegelverkehrt, ebenso die Rs, außerdem gab es einige mir unbekannte Buchstaben, während andere gar nicht auftauchten. Ich musste ein Jahr lang lernen, bevor ich die Sprache einigermaßen lesen und schreiben konnte, ohne jedes Mal wieder in die Vergangenheit dieses Mannes eintauchen zu müssen, der in meinem Kopf herumspukte. Mit der Zeit erfuhr ich auch seinen Namen: Wassili Blagawitsch Arda.

Die Erklärung dafür, wie ich auf wundersame Weise Bulgarisch – mittlerweile hatte ich die Sprache identifiziert – lesen und schreiben gelernt hatte, war meinen Eltern nur schwer vermittelbar.

Ich schrieb viele Seiten voll und las ihnen laut aus bulgarischen Büchern vor, die ich mir von der University of Minnesota hatte schicken lassen. Aber nichts davon konnte sie überzeugen. Zunächst amüsierte sie meine Behauptung, aber als ich dann behauptete, dass jeder Bulgare verstehen könne, was ich da geschrieben hatte, machten sie sich Sorgen. Als ich dann auch noch behauptete, dass ich die Sprache mithilfe der Erinnerungen eines fremden Mannes erlernt hätte, wurden sie ärgerlich, und als ich schließlich behauptete, dass ich mich an ein anderes Leben in einem anderen Land und zu einer anderen Zeit mit einer anderen Familie erinnern könnte, wurden sie wütend, vor allem mein Vater.

Ich hätte so gerne mit ihnen darüber gesprochen – mit ihnen oder mit überhaupt irgendwem –, und ich wollte, dass sie es verstanden, aber je mehr ich von meinen Erinnerungen erzählte, umso zorniger wurden sie, bis ich am Ende lieber schwieg. Das war das letzte Mal, dass ich versuchte, jemanden ins Vertrauen zu ziehen.

Obwohl ich nur noch zwei Monate in der Highschool hätte durchhalten müssen, teilte ich ihnen schließlich mit, dass ich auf Nimmerwiedersehen verschwinden würde – was nach den vielen schockierenden Dingen, die sie schon von mir gehört hatten, fast unterging. Fast.

Als sie begriffen, dass ich es wirklich ernst meinte, bemühte sich mein Vater halbherzig um eine Versöhnung, und meine Mutter schenkte mir dieses Feuerzeug mit dem russischen Schriftzug. Vermutlich waren ihr die kyrillischen Buchstaben auf der abgegriffenen Oberfläche aufgefallen, denn es waren dieselben wie in den bulgarischen Texten, die ich ihr gezeigt hatte. Zwei Tage vor meiner Abreise drückte sie es mir nach dem Abendessen wortlos in die Hand. Dann zog sie mich an sich, strich mir über mein blondes Haar und wiegte mich neben dem Tisch in ihren Armen. Ich ging hinauf in mein Zimmer, packte meine Sachen und weinte die ganze Nacht.

Die Streitigkeiten zwischen mir und meinen Eltern waren vorbei, die neuen Erinnerungen aber immer noch da. Und in der nächsten Nacht, meiner letzten Nacht zu Hause, nahm ich mein neues Feuerzeug und zündete die Scheune damit an. Sie brannte komplett ab.

Als ich wieder in die Realität zurückfand, war ich immer noch in Shelbys Lagerhaus, und das Feuerzeug zitterte immer noch ein paar Zentimeter über der Wodkaspur am Boden. Konzentrier dich. Ich nahm einen langen Zug von der Zigarette in meinem Mundwinkel und blies den Rauch gegen meine zitternde rechte Hand, als wäre ich ein Schamane, der einen Dämon ausräuchern will. Dann rückte ich mit dem Kopf noch näher an die Bodendiele, um das Wunder aus nächster Nähe zu beobachten. Es herbeizurufen ist immer der aufregendste Teil. Die Leute tragen Feuerzeuge mit sich herum und benutzen dessen Flamme als etwas ganz Alltägliches. Aber die wenigsten denken dabei daran, dass Feuer die Macht hat, wie ein wütendes Monster alles um sich herum zu verschlingen.

Ich brachte das Feuerzeug langsam immer näher an die feuchte Wodkaspur. Für mich ist es das Größte, dieses Monster zu rufen. Es baut Brücken in die Vergangenheit und enthüllt so die Wahrheit, es frisst kleine Jungs und bringt die Erlösung. Ich hielt das Feuerzeug noch näher und rief damit nach dem Monster, bis es schließlich käme. Als der Abstand zum Boden endlich klein genug war, sprang das winzige flackernde Flämmchen von dem Feuerzeug in meiner Hand über und raste die schmale Spur entlang. In meiner Hand war es gelb gewesen, aber am Boden wurde es zu einem blassgelb geränderten Blau. Die Flamme erreichte die Pfütze und leuchtete nun in einem brillanten Blau auf, das das ganze Obergeschoss erstrahlen ließ, dann liefen die Flammen lautlos jeden einzelnen der langen Bogenfinger entlang. Der Raum wurde immer heller, es näherte sich langsam.

Ich stand auf, um besser sehen zu können. Die Flammen liefen bis ans Ende jedes Fingers und zögerten dann, während sie den Raum weiterhin mit einem grellen elektrischen Blau erfüllten. Dann begannen sie langsam, ganz langsam, sich außerhalb der Wodkafinger auf den methanolgetränkten Bodendielen auszubreiten. Ich konnte fühlen, wie es zum Leben erwachte. Die Flammen brannten blau und lila, während sie den Wodka tranken und an dem Brandbeschleuniger leckten. Das Feuer breitete sich aus, wenn auch langsamer, als ich erwartet hatte. Und dann, wie durch ein Wunder, war das Monster plötzlich da, hier in dem Raum, mit mir. Das Feuer erhob sich auf seine Knie und bemächtigte sich des zentralen Stützpfostens neben dem Brandherd. Die kleinen Flämmchen leckten zunächst an seinem Holz und kletterten langsam nach oben. Dann färbten sie sich orange und begannen, mit aller Kraft am Holz des Pfostens zu nagen. Wenn es einmal so richtig in Fahrt kommt, ist ein Feuer nicht mehr aufzuhalten. Das habe ich gelernt, als ich es das erste Mal rief.

Während meiner letzten Woche in Minnesota wurde ich von einer neuen geisterhaften Erinnerung heimgesucht. Sie war stärker als die anderen und anders, denn ich hatte keinerlei Kontrolle über sie. Sie versetzte mich nach Macon in Georgia in den Siebzigerjahren. Hauptdarsteller war diesmal ein kleiner Junge namens Bobby Lynn Murray. Ich habe nicht viele Erinnerungen von Bobby geerbt, aber diese, durch die Augen eines Kindes betrachtet, ist die intensivste.

Ich beobachtete, wie die kleinen Flämmchen an dem Pfosten bis ganz nach oben zu den Dachsparren emporkletterten und wie das Feuer den ganzen Raum eroberte. Dabei wurde mir klar, dass eigentlich ich der Geist war – das hier war für den kleinen Bobby.

Für einen sechsjährigen Jungen war er unglaublich clever, und an diesem, seinem letzten Tag hatte er einen Spielzeugholzturm errichtet, der größer als er selbst war. Der Turm stand in einer Ecke seines Zimmers am Fenster. Die tragenden Elemente bestanden aus verschiedenfarbigen dünnen Holzstäben, die von Holzscheiben mit gebohrten Löchern zusammengehalten wurden. Er hatte den ganzen Tag daran gebaut, und nach dem Abendessen ging er wieder in sein Zimmer, um weiterzuspielen. Er ordnete die Stäbe an der Seite neu, sodass die Farben zusammenpassten, bis um acht seine Mutter Judith kam und ihn trotz seiner Proteste ins Bett steckte. Er wäre lieber aufgeblieben, um seinen Turm noch höher zu bauen. Vom Bett aus sah er zu ihm hinüber und fragte sich, ob er ihn vielleicht ins Freie bringen sollte, damit er ihn so hoch bauen konnte, wie er wollte.

Vor seinem Fenster leuchtete wie jede Nacht die Straßenlampe, und die Silhouette seines Turms zeichnete sich vor den Vorhängen ab. Bobby stand auf und ging hinüber, um ihn in dem schwachen Licht noch einmal zu inspizieren. Die Vorhänge ließen sich mit zwei Kordeln bedienen, aber er konnte nur diejenige erreichen, mit der man sie schloss. Es gab noch einiges an dem Turm zu tun, aber in dem schwachen Licht ließ sich nicht erkennen, welche Stäbe welche Farbe hatten, und solange dieser Teil des Turms nicht das gleiche Farbschema wie der Rest hatte, konnte er auch nicht weiterbauen. Das Licht anzumachen kam aber nicht infrage, da seine Mutter dann immer sofort mitbekam, dass er nicht im Bett war.

Bobby hatte schon einmal gesehen, wie William, der neue Freund seiner Mutter, Streichhölzer angezündet hatte, um im Dunkeln etwas zu sehen. Das war, als sie alle zusammen mit dem Auto nach Atlanta gefahren waren. Bobby hatte daraufhin das Streichholzbriefchen vom Armaturenbrett genommen und eingesteckt für den Fall, dass das beruhigende Licht der Straßenlaterne jemals verlöschen sollte. Er ging zu der Truhe am Fußende seines Betts, öffnete den Deckel, steckte seine kleine Hand hinein und tastete herum, bis er das Streichholzbriefchen fand. Dann ging er zurück zum Turm, nahm ein Streichholz und versuchte, es zu entzünden, indem er imitierte, was Will damit getan hatte. Nach ein paar Versuchen schlug ein Hölzchen Funken und entzündete sich. Die rote Spitze leuchtete auf und war innerhalb einer Sekunde verbrannt. Bobby war zu beschäftigt damit, dem Streichholz beim Brennen zuzusehen, um im dabei erzeugten Licht auf seinen Turm zu achten. Das Flackern der blau-orangen Flamme faszinierte ihn. Er beobachtete, wie die blaugraue Pappe des Streichholzes schwarz wurde, sich verdrehte und verschrumpelte. Als die Flamme Daumen und Zeigefinger erreichte, ließ er das Streichholz fallen und steckte sich seine verbrannten Finger in den Mund. Das Streichholz erlosch, noch bevor es den grünen Teppichboden erreichte.

Vorsichtig entzündete er ein zweites Streichholz und betrachtete dabei aufmerksam die am Boden liegenden verschiedenfarbigen Stäbe. Er hob einen gelben auf und hielt ihn zusammen mit dem Streichholz nahe an den Turm, um herauszufinden, ob dies die gelbe Seite war. Wie durch ein Wunder sprang die Flamme von dem Streichholz auf den Stützpfeiler seines Turmes über. Bobby staunte, dass so ein kleiner Funke von ganz allein zu so etwas in der Lage war. Die Flamme raste an dem Stab nach oben, die gelbe Farbe warf Blasen und wurde dann schwarz. Dann sprang die Flamme über die noch nicht komplett mit den anderen Bauteilen verbundene Scheibe bis zum obersten Stab. Der kleine Bobby beobachtete wie hypnotisiert diese Verwandlung direkt vor seinen Augen. Es dauerte nur wenige Minuten, dann brannte das ganze Grundgerüst des Turms und die Ränder der Vorhänge dahinter. Der Polyester der Vorhänge zerfloss zu Plastiktropfen, die den Teppich anzündeten. Als das Turmgerüst zu brennen aufhörte und Bobby erkannte, was hier vor sich ging, hatte sich das Feuer schon an der hölzernen Wandverkleidung rund um das Fenster und bis zur Decke hin ausgebreitet.

Wenn das Monster gerufen wird, benimmt es sich immer gleich. Es hatte sich mittlerweile auf dem Boden und bis zur vorderen Wand hin ausgebreitet und arbeitete sich nun bis zu den Raumecken vor. Ich wich vom Brandherd zurück in Richtung Treppenabsatz. Der mittlere und der vordere Pfosten brannten bereits lichterloh, der hintere bis zur halben Höhe. Als ich mich zurückzog, stand der Boden in gelben, knapp einen Meter hohen Flammen. Jene blutroten Flammen, die sich wellenförmig an der Decke ausbreiteten, waren viel kühler und schlugen nur dreißig Zentimeter hoch. Das lag am Sauerstoffmangel. Bald würden auch die Flammen am Boden dunkler werden, erst orange, dann rot – und dann, kurz bevor das Feuer anfing, sich zu langweilen und müde zu werden, würde ich es befreien.

Ich wich noch weiter vor der Flammenwand zurück und bewegte mich in Richtung eines Fensters. Die Hitze wurde unerträglich, auch wenn meine Lederjacke ein wenig Schutz bot. Das Feuer verschlang knisternd und knackend das Holz. Nun blieb mir nicht mehr viel Zeit. Die Flammen am Brandherd selbst waren höher als der Rest und formten einen symmetrischen, vulkanartig aussehenden Berg, der fast die ruhigeren Flammen an der Decke erreichte. Als der Kegel immer höher wurde, veränderte sich seine Farbe von gelb zu orange zu rot an der Spitze. Gleich war es so weit.

Ich sog die dünne Luft in langen Atemzügen durch den weit offenen Mund ein wie ein verschütteter Bergarbeiter. Dann öffnete ich den Reißverschluss meiner linken Jackentasche und holte den baseballgroßen Stein aus der Seitengasse hervor. Der Vulkan wurde dunkler und bereits wieder kleiner. Zwischen den beiden Flammenlagen bewegte sich nun eine träge, etwa dreißig Zentimeter dicke graue Rauchschicht. Da ich langsam schläfrig wurde und die Augen nur noch mit Mühe offen halten konnte, bückte ich mich und atmete tief die Luft auf Kniehöhe ein. Dann richtete ich mich wieder auf und schleuderte den Stein gegen die Scheibe des hohen Fensters, das mir am nächsten war.

Der Stein durchbrach das Glas, dessen Splitter nach innen explodierten, als der frische Sauerstoff in Richtung des Feuers gezogen wurde. Als die Luft in den Raum schoss, wandte ich mich von dem Windstoß und dem umherfliegenden Glas ab. Das Monster brüllte voller Wut, während wir beide tief einatmeten. Ich blickte gerade noch rechtzeitig auf, um die Spur zu sehen, die der Stein durch die Flammen an der Decke gezogen hatte. An deren Spitze waren sie immer noch blutrot, aber dahinter wurden sie hellgelb und kletterten hungrig nach unten. In der dicken Schicht aus grauem Rauch entstanden Wirbel, als sie die frische Luft aufsog. Und in diesen sich beständig verändernden Formen des Rauchs sah ich Bobby.

Der Junge wich zurück in die Mitte seines Zimmers. Der brennende Teppich unter dem Turm sandte knisternde Flammen aus, und das Monster fauchte, als es die dünnen Wände seines Bauwerks fraß. Bobby sah dabei zu, wie der Turm sich nach links neigte und dann nach ein paar Sekunden umkippte.

»Mommy!«, rief er, als er sah, wie sein Werk zerstört wurde. »Mommy!«, rief er noch einmal, als er zur Tür lief und feststellte, dass die obere Hälfte bereits in gelbe und orange Flammen gehüllt war. Er blieb stehen und sah, wie das Feuer an der Tür und der Wand darum herum nach unten kroch. Aus seiner kindlichen Wut wurde Angst, als ihm klar wurde, was gerade geschah.

»Mommy! Mommy! Mommy!«, schrie Bobby, bis er in der dünnen Luft kaum noch atmen konnte. Keuchend stand er nur da und sah dabei zu, wie die Flammen die Tür fraßen. Die kleinen gelben Vorderzähne nagten an ihr, während die orangen Backenzähne mit aller Kraft kauten. Die Hitze drängte ihn von der Tür weg zu der Truhe am Fußende seines kleinen Betts.

Das Feuer hatte sich bereits über die Decke und drei Wände, aber erst auf einem Drittel des Bodens ausgebreitet. Bobby setzte sich auf seine Spielzeugtruhe und konnte vor lauter Rauch kaum noch die Augen aufhalten. In seinem Kopf drehte sich alles.

»Mommy«, hauchte er. Das Wort war durch das laute Knacken und Krachen der Wandverkleidung kaum hörbar.

»Bobby!«, rief eine Stimme hinter der Tür, irgendwo am anderen Ende des Flurs. »Bobby!«, schrie seine Mutter, jetzt lauter, näher an der Tür.

Bobby atmete schwer und blickte gerade rechtzeitig auf, um zu sehen, wie sich der Türknauf drehte. Schneller, als seine Augen folgen konnten, flog die Tür nach innen auf und knallte gegen die brennende Wandverkleidung. Seine Mutter Judith stand im Türrahmen, umgeben von dunklen orangen Flammen, und sah erstaunt ihre Hand an, die eben noch den Türknauf gehalten hatte. Dann hob sie den Blick auf der Suche nach ihrem Sohn, während das Monster mit langen gelben Zungen in Richtung der frischen Luft raste. Im selben Moment ging ihr abgetragener blau-weißer Baumwollbademantel in Flammen auf.

Die unerträgliche Hitze des blitzartig auflodernden Feuers warf Bobby von der Truhe auf den Boden. Er flüchtete unter sein Bett und schaute von dort hervor, nachdem der Blitz vorbei war. Im Türrahmen schlug die in Flammen stehende Silhouette seiner Mutter wild um sich.

Das ist die letzte Erinnerung, die ich von Bobby habe.