Insel aus Stein - Pia Engström - E-Book

Insel aus Stein E-Book

Pia Engström

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Beschreibung

Auf der Schäreninsel Svergå soll die Lektorin Cassie Dorkins dem faszinierenden Autor Dale Prescott ein Manuskript entlocken. Ein Verwirrspiel zwischen Nähe und Distanz beginnt auf der kleinen Insel aus Stein.

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Seitenzahl: 194

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Alle Rechte, einschließlich das der vollständigen oder auszugsweisen Vervielfältigung, des Ab- oder Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten und bedürfen in jedem Fall der Zustimmung des Verlages.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Pia Engström

Mittsommerglück – Insel aus Stein

Roman

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Titel der deutschen Originalausgabe:

Sturmwind der Liebe

Copyright © 2007 by Cora Verlag

erschienen bei: Cora Verlag GmbH & Co. KG

Copyright dieses eBooks © 2013 by MIRA Taschenbuch

In der Harlequin Enterprises GmbH

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Daniela Peter

Titelabbildung: Getty Images, München

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN eBook 978-3-86278-978-8

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

1. KAPITEL

Pfeilschnell schoss das kleine Motorboot über das Wasser und hinterließ eine Schneise aus weißer Gischt auf der ansonsten spiegelglatt daliegenden See. Der Bootsführer, dessen flachsblondes Haar vom Fahrtwind zerzaust wurde, drehte sich grinsend zu Cassie um und rief ihr etwas auf Schwedisch zu. Obwohl sie kein Wort verstanden hatte, schenkte sie ihm ein kleines Lächeln. Er konnte schließlich nichts für ihre missliche Lage!

Dann wandte Cassie ihre Aufmerksamkeit wieder der Insel zu, die ihr beim Ablegen am Ufer noch winzig klein erschienen war. Nun jedoch musste sie ihre erste Einschätzung korrigieren. Die mit ausgedehnten Grasflächen und niedrigen Bäumen bewachsene Schäre war zwar alles andere als groß, doch mehr als ausreichend, um dem prächtigen, in Faluröd, dem sogenannten Schwedenrot, getünchten Landhaus, einigen kleineren Nebengebäuden und einem Bootshaus samt Steg Raum zu bieten.

Ein Ort, abgeschieden und in traumhafter Umgebung, der die Kreativität eines jeden Künstlers einfach beflügeln musste. Wie geschaffen also für seinen derzeitigen Bewohner, den erfolgreichen Schriftsteller Dale Prescott alias Cara Stern, wie sein Verlagspseudonym lautete.

Für Cassie hingegen bedeutete der Aufenthalt auf Prescotts Insel vor allen Dingen eines: eine ungeliebte Verpflichtung.

Seufzend lehnte sie sich in ihrem Sitz zurück, schloss die Augen und gab sich für einen Moment der Illusion hin, hinter ihrem Schreibtisch im Verlagsbüro von Dolphin Books zu sitzen und mit Autoren und ähnlich unangenehmen Zeitgenossen nicht mehr Umgang pflegen zu müssen als gelegentliche Anrufe und schriftliche Korrespondenz.

Es ist ja nur für ein paar Tage, sagte sie zu sich selbst. Länger konnte es wohl kaum dauern, ihre Aufgabe zu erfüllen. Ein Auftrag, um den sie sich nicht gerade gerissen hatte. Dummerweise jedoch konnte sie nach dem schrecklichen Fiasko, das vor Kurzem ihre heile Welt ins Chaos gestürzt hatte, nicht wählerisch sein.

Aber so war das Leben nun einmal. Sie war naiv und dumm gewesen und hatte dafür teuer bezahlen müssen. Mehr als teuer, dachte sie bitter. Noch vor weniger als einem Jahr hatten ihr bei ihrem ehemaligen Verlag Mackenzie alle Türen offen gestanden. Mit viel Engagement und persönlichem Einsatz hatte sie die Liebesromanreihe Heartbeats zum Erfolg geführt, und es war ein unausgesprochenes Geheimnis gewesen, dass ihr der bald frei werdende Posten der Cheflektorin so gut wie sicher war.

Doch dann war Liam Masterson in ihr Leben getreten, ein erfolgreicher junger Autor. Cassies Job war es gewesen, ihn zu betreuen – dummerweise hatte sie diese Aufgabe nicht nur auf das Berufliche beschränkt …

“Das gehört der Vergangenheit an, Cass. Ein Zurück gibt es für dich nicht mehr, versuche endlich, das zu akzeptieren und nach vorne zu blicken.” Doch ihre gemurmelten Worte wurden vom Wind davongetragen und erreichten weder ihr Herz noch ihren Verstand.

Das Boot verlangsamte seine Fahrt, und im gleichen Maße beschleunigte sich Cassies Herzschlag. Nervös fuhr sie sich durch das schulterlange seidige Haar, das schwarz wie das Gefieder eines Raben war. Unterdessen legte der Steuermann geschickt am Steg an, sprang leichtfüßig hinauf und vertäute das Boot. Dann streckte er Cassie die Hand entgegen und nickte ihr aufmunternd zu.

Für einen Moment fühlte sie sich wie erstarrt. Ihr war, als würde sie dazu aufgefordert, blindlings in ihr Verderben zu laufen. Nur mit Mühe schüttelte sie diesen absurden Gedanken ab. Es war ein Teil ihres Jobs. Vielleicht nicht gerade der, der ihr am meisten Freude bereitete, aber dennoch. Sei nicht albern, ermahnte sie sich selbst. Es ist nur eine Insel, kein Gefängnis.

Kurz darauf stand sie mit ihrer Reisetasche und einigen Kisten – eine Lebensmittellieferung vom Festland, hauptsächlich frisches Obst und Gemüse – auf dem Pier und beobachtete, wie das kleine Motorboot in der Ferne verschwand. Als es nur noch als winziger Punkt im endlosen Blau des Meeres auszumachen war, seufzte sie schwer.

Unschlüssig blickte sie sich um. Was nun? Niemand war gekommen, um sie zu begrüßen. Eigentlich kein Wunder, denn der Verlag hatte sie erst für den übernächsten Tag angekündigt. Doch hätte sie das freundliche Angebot der Saunders, die sie während ihres Fluges nach Schweden kennengelernt hatte, ablehnen und lieber die Strapazen einer Überlandreise mit dem Bus auf sich nehmen sollen? Mit dem Wasserflugzeug, das die beiden gechartert hatten, war sie nicht nur in viel kürzerer Zeit, sondern auch wesentlich komfortabler bis nach Västervik gelangt, von wo aus es nur noch ein Katzensprung bis zu ihrem endgültigen Ziel gewesen war.

Einmal atmete Cassie noch tief durch, dann nahm sie ihren Koffer auf und betrat den unebenen, mit glatt polierten weißen Kieseln ausgestreuten Weg, der zum Haus hinaufführte.

Es war ein recht anstrengender Marsch, und der Inhalt ihres Koffers schien sich bereits nach einer kurzen Weile in Mühlsteine verwandelt zu haben, doch die berückende Schönheit, von der sie umgeben war, entschädigte sie beinahe für ihre Mühen.

Cassie war für gewöhnlich kein Mensch, der viel Zeit in der freien Natur verbrachte. Sie war ein Stadtmensch, in London geboren und aufgewachsen, und kleine Abstecher in den Hyde oder Regent’s Park genügten vollkommen, um ihr Pensum an Wiesen und Wäldern zu erfüllen. Hier jedoch, an diesem abgeschiedenen Ort, verspürte sie fast so etwas wie Ehrfurcht. Das erschien ihr umso ungewöhnlicher, da sie zuvor eine solche Abneigung empfunden hatte, überhaupt einen Fuß auf die Insel zu setzen.

Ein kurzer Blick hinauf zum Haus bestätigte ihr, was sie ohnehin bereits gewusst hatte: Niemand erwartete sie. Keine der hübschen, blütenweißen Gardinen bewegte sich, die Tür blieb geschlossen, und abgesehen vom Rascheln des Windes in den Kronen der Bäume war das leise Klimpern eines Windspiels, das seitlich am Dach der Veranda angebracht war, das einzig vernehmbare Geräusch.

Was soll’s? Du kannst dich ebenso gut ein wenig umschauen, denn vermissen wird dich ganz gewiss niemand.

Kurz entschlossen stellte sie ihren Koffer ab und verließ den Weg. Tief sog sie die klare, leicht salzig schmeckende Luft ein, die sich so gänzlich von der mit Autoabgasen verpesteten Atmosphäre der Metropole London unterschied.

“Hej! Vad heter du?”

Überrascht blickte Cassie sich um. Als sie zwei etwa sechs- und achtjährige Mädchen erblickte, die Hand in Hand dastanden und sie neugierig musterten, lächelte sie. “Tut mir leid, aber ich verstehe euch nicht.” Die beiden wechselten einen verständnislosen Blick, und Cassie kramte in ihrem Gedächtnis nach dem einzigen Satz, der ihr aus dem Schwedenreiseführer in Erinnerung geblieben war.

“Jag … Jag förstår inte vad du säger.” Ich verstehe nicht.

Kichernd schüttelten die Mädchen die Köpfe, sodass ihre langen blonden Locken flogen. Sie schienen die Vorstellung, dass jemand ihre Sprache nicht beherrschte, furchtbar komisch zu finden. Schließlich, nachdem sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatten, deutete die Ältere mit bedeutungsvollem Gesicht auf sich selbst, dann auf ihre jüngere Freundin und sagte: “Jag heter Hanna. Det är Marit.”

Das hatte nun auch Cassie verstanden. Lachend nickte sie den beiden zu. “Hej Hanna, hej Marit! Jag … Jag … Jag heter … Cassie?”

“Hej Cassie!”, riefen die Mädchen und strahlten über das ganze Gesicht. Dann plapperten sie munter auf Schwedisch drauflos, während Cassie lachend den Kopf schüttelte, da sie nach wie vor kein Wort verstehen konnte.

“Hanna! Marit!”

Sofort verstummte der Wortschwall der Mädchen. Sie winkten Cassie noch einmal zu, dann liefen sie mit wehenden Kleidchen zu der silberhaarigen Frau, die vom Haus her den Hügel hinunterschritt. Als Marit und Hanna sie erreichten, sprachen sie aufgeregt auf sie ein und rannten dann laut jubelnd Richtung Haus davon.

“Herzlich willkommen auf Svergå! Sie müssen Cassie Dorkins sein”, begrüßte die ältere Frau sie auf Englisch. Mit ihrem freundlichen, sonnengegerbten Gesicht und den strahlend blauen Augen erinnerte sie Cassie an ihre Großmutter. Sie war ihr auf Anhieb sympathisch.

“Richtig”, erwiderte sie. “Ich hoffe, es ist kein Problem, dass ich ein bisschen früher als angekündigt eingetroffen bin. Übrigens, zusammen mit mir sind einige Kisten mit Vorräten gebracht worden, die noch unten am Strand stehen.”

“Ach, das muss das Gemüse vom alten Johanson sein. Na ja, darum kümmern wir uns später.” Sie streckte Cassie die Hand entgegen. “Malin Gustavson. Ich bin Mr. Prescotts Haushälterin.”

“Freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Mrs. Gustavson.” Cassie lächelte sanft. “Sie haben es wirklich wunderschön hier draußen.”

“Nicht wahr? Ich liebe diese Insel, bin hier praktisch aufgewachsen. Ich kann mir keinen besseren Ort für Kinder vorstellen, um hier aufzuwachsen.”

“Hanna und Marit sind demnach Mr. Prescotts Töchter?”

“Nein, nein.” Malin Gustavson lachte. “Diese beiden Wildfänge sind meine Enkelinnen. Sie verbringen die Sommerferien hier. Nächste Woche fahren sie zurück zu meinem Sohn und seiner Frau nach Halmstad. Danach wird es wieder ruhig hier werden. Zu ruhig vielleicht …” Für einen Moment glaubte Cassie ein wehmütiges Glitzern in den Augen der Frau zu entdecken, dann war es auch schon wieder verschwunden. “Jedenfalls ist es immer schön, ein bisschen frischen Wind hier auf der Insel zu haben. Deshalb freue ich mich ja auch so, dass Sie jetzt für einige Wochen bei uns zu Gast sein werden.”

Einige Wochen? Allein der Gedanke, dass ihr Aufenthalt in Schweden sich so lange hinziehen könnte, ließ Cassie erschaudern. Sicher, diese Insel war ein Traum, und bei schönem Wetter ließ es sich hier bestimmt eine Weile gut aushalten, aber sie war schließlich nicht hier, um Urlaub zu machen.

Bevor sie etwas erwidern konnte, hatte Prescotts Haushälterin ihren Koffer aufgenommen und trug ihn – beschwingt und ohne große ersichtliche Kraftanstrengung – den Hügel zum Haus hinauf. Staunend schaute sie der älteren Frau hinterher, ehe sie sich selbst in Bewegung setzte.

Schon aus der Entfernung hatte das rote Haus beeindruckend ausgesehen, aus der Nähe betrachtet war es ein echter Traum. Die tief stehende Sonne tauchte die Fassade in goldenes Licht und funkelte in den blitzsauberen Fenstern. In einem kleinen Vorgarten wuchsen Oleander- und Rosmarinsträucher Seite an Seite mit Rittersporn und Flieder. Rechts und links der Treppe, die zu der niedrigen Holzveranda hinaufführte, blühten Hibiskusbüsche in hübschen Terrakottatöpfen.

Lächelnd strich Cassie mit den Fingern über eine der zarten Blüten. “Hier scheint jemand wirklich einen grünen Daumen zu besitzen”, sagte sie anerkennend.

Die Haushälterin wirkte verlegen. “Oh, vielen Dank. Ich bin sehr stolz auf mein kleines Gärtchen, aber im Grunde ist es gar nicht mein Verdienst. Die Pflanzen gedeihen beinahe von selbst.”

“Jetzt untertreiben Sie aber!” Cassie lachte. “Ich schaffe es nicht einmal, die Blumen am Leben zu erhalten, die auf dem Fensterbrett meines Londoner Apartments stehen.”

“Na, das sind ja wohl auch vollkommen unterschiedliche Voraussetzungen”, erwiderte Malin Gustavson tröstend, wobei ihr jedoch deutlich anzusehen war, wie sehr sie sich über Cassies Kompliment freute. “Mr. Prescott ist im Augenblick übrigens nicht da, aber ich erwarte ihn vor dem Abendbrot wieder zurück. Vielleicht möchten Sie in der Zwischenzeit ein Stück von dem Apfelkuchen kosten, den ich vorhin aus dem Ofen geholt habe?”

Der köstliche Duft, der ihr entgegenwehte, als Malin Gustavson die Haustür öffnete, veranlasste Cassies Magen, sie mit einem vernehmlichen Knurren daran zu erinnern, dass sie schon eine geraume Weile nichts mehr zu sich genommen hatte. Fast ein wenig erleichtert darüber, ihre erste Begegnung mit Dale Prescott noch ein bisschen aufschieben zu können, atmete sie tief durch und sagte: “Sehr gerne.”

Mit einem resignierten Seufzen riss Dale Prescott das eng beschriebene Blatt vom Schreibblock ab, zerknüllte es und warf es im hohen Bogen davon. Wie ein von ungeschickten Händen gefaltetes Papierboot trieb es für einige Sekunden ruhig auf der Wasseroberfläche, bis es vom Wind erfasst und hinaus aufs Meer getrieben wurde, wie schon Dutzende seiner Vorgänger.

Was für eine Verschwendung wertvoller Ressourcen. Eines Tages würde er sich wahrscheinlich fragen müssen, ob er nicht einen maßgeblichen Anteil am Abholzen der Regenwälder zu tragen hatte. Und das alles, ohne auch nur eine brauchbare Zeile zu Papier gebracht zu haben.

Es war zum Verrücktwerden. Sosehr er sich auch bemühte, es wollte ihm einfach nicht gelingen, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Wie sollte er auch, wo er doch all seine Energie darauf fokussieren musste, das nagende Unbehagen zu ignorieren, das sich seit dem Anruf seines Verlegers in seinem Magen breitgemacht hatte.

Ein leises Winseln und ein Gewicht, das sich auf seinen Oberschenkel legte, riss Dale aus seinen Gedanken. Lächelnd tätschelte er dem etwa vierjährigen Hirtenhund an seiner Seite mit dem zottigen beige-braun gescheckten Fell den Kopf. Manchmal hatte er das Gefühl, dass Ole das einzige Wesen auf der Welt war, das ihn wirklich verstand.

Der Tag, an dem Annika ihn von einem ihrer Ausflüge aufs Festland mitgebracht hatte, war ihm noch so gut in Erinnerung, als wäre es erst gestern geschehen, dabei waren seitdem bereits über drei Jahre vergangen. Sie hatte den kleinen Streuner, damals kaum mehr als ein Welpe, am Strand aufgelesen – oder umgekehrt, denn Annika hatte ihm berichtet, dass er ihr einfach nicht mehr von der Seite gewichen war. Sie hatte es einfach nicht über sich gebracht, ihn zurückzulassen.

Typisch Annika …

Wie stets, wenn er an sie dachte, war das Gefühl von Verlust und Schmerz so präsent, dass er es kaum ertragen konnte. Wer auch immer behauptet hatte, dass die Zeit alle Wunden heilte, war in Dales Augen ein Ignorant, denn er hatte offenbar noch niemals etwas verloren, das er von ganzem Herzen liebte.

Seufzend fuhr er sich über die Augen und verdrängte die Gedanken an die Vergangenheit. Er hatte in der Gegenwart wahrlich genug Probleme, mit denen er sich befassen musste.

“Ach, alter Junge, kannst du mir nicht sagen, wie’s jetzt weitergehen soll? Ich bin mit meinem Latein wirklich am Ende.”

Der Hund beantwortete seine Frage mit einem zaghaften Jaulen. Dann rappelte er sich auf und blieb schwanzwedelnd vor seinem Herrchen stehen.

“Hast ja recht, es macht keinen Sinn, hier herumzusitzen und Trübsal zu blasen.” Dale schüttelte langsam den Kopf. “Trotzdem gefällt mir der Gedanke nicht, jemand Fremdes auf unsere Insel zu lassen – ebenso wenig wie dir, was?”

Wuff!

Dale lachte auf. “Ich sehe, wir verstehen uns. Aber mach dir keine Gedanken, ich werde schon dafür sorgen, dass wir den ungebetenen Störenfried so schnell wie möglich wieder loswerden.”

Gedankenverloren klappte er sein Taschenmesser auf. Und während er weiter auf das Meer hinausschaute, schnitt er sich ein Stück Schafskäse ab, das Malin ihm mit auf den Weg gegeben hatte. Seine Haushälterin war stets bemüht, dass es ihm an nichts fehlte, und er war ihr dankbar, wenngleich sie es mit ihrer mütterlichen Fürsorge gelegentlich ein wenig übertrieb.

Nachdenklich ließ er das würzige Aroma auf der Zunge zergehen und fragte sich zum wiederholten Male, wie er sich gegenüber seinem Gast, der in wenigen Tagen hier auftauchen würde, verhalten sollte.

Irgendwann schüttelte er den Kopf. Was brachte es schon, jetzt darüber nachzudenken? Er stand auf, packte seine Sachen ein und ging los. Als Hund und Herrchen das Haus erreichten, das auf der anderen Seite der Schäreninsel stand, war der Himmel bereits mit einem Hauch von Bronze überzogen. Tief stand die Sonne am Horizont, und das Meer schien wie von einem inneren Feuer zu glühen.

Der köstliche Geruch von Lammstek, Malins besonderer Spezialität, stieg ihm in die Nase. Achtlos ließ er seine Jacke und die alte Ledertasche, die Schreibblock und Stifte enthielt, in der Diele neben der alten Bauernkommode auf den Boden fallen und rief: “Ich hoffe, du hast genug Lammkeule für eine ganze Kompanie gezaubert, Malin! Ole und ich sterben vor Hunger!”

Erst da fiel ihm das unbekannte Kleidungsstück auf, das ordentlich an einem Bügel an der Garderobe hing. Dale runzelte die Stirn. Ein modern geschnittener Mantel aus schwarzem Wildleder? Er konnte sich nicht entsinnen, Malin jemals darin gesehen zu haben – und irgendwie schien er auch überhaupt nicht zu seiner zweiundsechzigjährigen Haushälterin zu passen, die für gewöhnlich nur selbst gestrickte Jacken und Pullover trug.

Seine Stimmung sank dem Nullpunkt entgegen. Der fremde Mantel konnte nur eines bedeuten: Sie hatten Besuch. Und ihm fiel nur eine Person ein, die hierfür infrage kam: Es musste die Lektorin sein – oder die Spionin, wie Dale sie insgeheim getauft hatte –, die sein Verlag geschickt hatte, um ihm auf die Finger zu schauen. Aber verdammt, sie war viel zu früh dran!

Er spielte kurz mit dem Gedanken, sich einfach wieder aus dem Staub zu machen. Doch dummerweise hatte er seine Ankunft bereits lautstark angekündigt, und zudem würde er sich früher oder später ohnehin dieser unsäglichen Störung seiner Privatsphäre stellen müssen.

Mürrisch blickte er an sich hinunter. In der abgetragenen Jeans und dem Baumfällerhemd, das er vor drei Jahren von Annika zu Weihnachten bekommen hatte, bot er wahrlich keinen besonders eindrucksvollen Anblick. Doch eigentlich konnte es ihm ziemlich gleichgültig sein, was sein ungebetener Gast von ihm hielt. Immerhin war er Autor, nicht Dressman.

“Dale? Bist du das, Junge?” Malin trat aus der Küche. “Stell dir vor, dein Besuch aus London ist bereits heute eingetroffen. Ist das nicht eine nette Überraschung?”

“Ja, einfach wunderbar”, entgegnete er sarkastisch. “Ich bin vor Begeisterung völlig aus dem Häuschen.”

Er wollte gerade zu einer weiteren bissigen Bemerkung ansetzen, als sie hinter Malin die kleine Diele betrat. Dale schätzte die Engländerin auf Mitte bis Ende zwanzig – viel jünger also, als er angenommen hatte. Sie war klein, beinahe zierlich, und ihr herzförmiges Gesicht wurde von einer Flut nachtschwarzer Locken umspielt, die im Licht der untergehenden Sonne, das durch das Butzenfenster in ihren Rücken fiel, rötlich schimmerten.

Wie die schöne Fee aus einem Märchen von Hans Christian Andersen, dachte Dale versonnen. Es gelang ihm kaum, den Blick von ihren verträumt und zugleich scharfsinnig wirkenden, moosgrünen Augen abzuwenden, die von langen, dichten Wimpern beschattet wurden.

Jetzt trat sie an Malin vorbei und streckte ihm die Hand entgegen. “Mr. Prescott? Mein Name ist Cassie Dorkins, es freut mich sehr, Sie kennenzulernen. Ich hoffe doch, dass meine verfrühte Ankunft Ihnen keine großen Umstände bereitet.”

Ihre Worte holten Dale mit einem Mal wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Was machst du hier eigentlich, fragte er sich selbst. Diese Frau ist die Lektorin, die dir der Verlag geschickt hat, um dir hinterherzuschnüffeln – sie ist die Spionin! –, und du stehst da und starrst sie an, als sei sie das achte Weltwunder. Reiß dich zusammen, Dale Prescott!

“Wenn es nach mir ginge, wären Sie überhaupt nicht hier”, erwiderte er und ignorierte einfach die Hand, die sie ihm angeboten hatte. “Da kommt es wohl auf ein paar Tage mehr oder weniger auch nicht an. Hauptsache, Sie erledigen so rasch wie möglich, was immer Sie hier auch zu erledigen hoffen, und verschwinden dann schnellstens wieder in Ihre stinkende Millionenmetropole.”

2. KAPITEL

Hauptsache, Sie erledigen so rasch wie möglich, was immer Sie hier auch zu erledigen hoffen, und verschwinden dann schnellstens wieder in Ihre stinkende Millionenmetropole …

Was bildete sich dieser Kerl eigentlich ein? Ärgerlich schüttelte Cassie den Kopf und ließ sich auf das Bett in dem gemütlich eingerichteten Gästezimmer sinken. Er wollte sie also so schnell wie möglich loswerden? Nun, diesen Wunsch würde sie ihm mit dem größten Vergnügen erfüllen!

Sie beabsichtigte, nicht eine Sekunde länger auf Svergå zu bleiben, als unbedingt nötig. Und sofern Prescott sich kooperativ zeigte, würde sie im Handumdrehen wieder verschwunden sein. Nichts lieber als das! Sie konnte es kaum abwarten, endlich wieder nach London zurückzukehren. Nicht, dass dort viel auf sie wartete. Abgesehen von ihrer Freundin Laura gab es eigentlich niemanden, den sie vermisste. Doch sie liebte ihr kleines Apartment in Bloomsbury heiß und innig, und zudem konnte sie einfach keinen Vorteil darin sehen, erst mit einem Motorboot bis ans Festland fahren zu müssen, wenn man einmal spontan etwas unternehmen wollte. Selbst wenn die Umgebung noch so schön war.

Prescotts unverschämtes Verhalten würde sie sich jedenfalls nicht gefallen lassen. Wenn er glaubte, sie behandeln zu können wie eine unerfahrene Praktikantin, hatte er sich getäuscht.

Überhaupt war der viel gerühmte Dale Prescott, alias Cara Stern, eine ziemliche Überraschung für Cassie. Das war er also? Der Mann, der die Herzen von unzähligen Frauen höher schlagen ließ, indem er ihre geheimsten Wünsche und Fantasien zu Papier brachte, und dessen Romane sich besser verkauften als alle anderen seines Genres? Natürlich hatte sie sich vor ihrer Abreise sein Verlagsdossier angesehen, in dem sich auch eine Fotografie des Autos befunden hatte. Doch zwischen Bild und Realität klafften Welten.

Im Grunde genommen konnte man Dale Prescott nicht unbedingt als unattraktiv bezeichnen. Zumindest nicht, wenn einem der eher machohafte, ungehobelte Typ von Mann gefiel. Mit seinen verschlissenen Jeans und dem Flanellhemd hätte er fast besser auf eine texanische Rinderfarm gepasst als in die Idylle einer schwedischen Schäreninsel. Sein dunkelblondes Haar verlangte eindeutig nach einem anständigen Schnitt, was ihn überraschenderweise jedoch keineswegs ungepflegt, sondern in Kombination mit einem stoppeligen Dreitagebart irgendwie verwegen aussehen ließ. Sein Gesicht war so kantig wie ausdrucksstark, doch am beeindruckendsten waren seine Augen, golden wie die einer Raubkatze, von dichten Wimpern beschattet.

Keine Frage, dieser Mann hatte etwas. Und er war, gelinde gesagt, ziemlich ungehobelt.

Im Grunde ärgerte sie sich bereits darüber, dass sie ihn nicht gleich mit einigen klaren Worten in seine Schranken gewiesen hatte. Eigentlich war sie niemand, der sich ein solches Benehmen so einfach gefallen ließ.

Doch als sie hinter Malin Gustavson aus der Küche getreten war und plötzlich Dale Prescott Auge in Auge gegenüberstand, hatte ihr Herz wild zu hämmern begonnen, und ihre Knie waren mit einem Mal butterweich geworden. Blieb nur zu hoffen, dass sie sich auf ihrer Anreise nicht irgendeinen heimtückischen Virus eingefangen hatte. Eine Erkältung – oder Schlimmeres – war so ziemlich das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte.

Seufzend erhob sie sich vom Bett und machte sich daran, den Inhalt ihres Koffers in die rustikale Kommode zu räumen, die ihr laut Malin Gustavson zur Verfügung stand. Wenn sie Glück hatte, würde sie ihre Sachen schon in ein paar Tagen wieder einpacken. Es konnte ja unmöglich allzu lange dauern, einen Blick auf Prescotts Manuskript zu werfen und ihm vielleicht hier und da ein paar Tipps zu geben – was für sich genommen im Grunde schon lächerlich genug war. Seit wann war sie Autorin? Doch James Berkeley, der Verlagsleiter, hatte darauf bestanden, dass sie diese Sache persönlich in die Hand nahm. Und letzten Endes war ihr nichts anderes übrig geblieben, als sich seinem Wunsch zu fügen.

Noch vor einem Jahr, bei Mackenzie, hätte sie ein derartiges Anliegen mit Sicherheit noch konsequent abgelehnt. Doch sie arbeitete nicht mehr bei Mackenzie und war auf den Job bei Dolphin Books angewiesen. Im Grunde konnte sie wirklich froh sein, überhaupt noch einmal eine Anstellung als Lektorin bekommen zu haben. Ihre Kündigung hatte damals für ziemlichen Wirbel in Verlagskreisen gesorgt, und seitdem hatte sie einen gewissen Ruf.

Frustriert knallte sie die Schublade der Eichenkommode zu. Verdammt, sie würde es ihnen allen schon noch zeigen. Ja, es stimmte, dass sie gegen die eherne Regel verstoßen hatte, niemals Berufliches und Privates miteinander zu vermischen. Sich von Liam Mastersons Charme einwickeln zu lassen, war der größte Fehler ihres Lebens gewesen. Und sie hatte daraus gelernt.

Fürs Erste konnten ihr Männer im Allgemeinen gestohlen bleiben – doch ehe sie sich noch einmal mit einem Exemplar dieser selbstverliebten, arroganten Gattung namens Schriftsteller einließ, würde sie lieber das Keuschheitsgelübde ablegen und als Nonne einem Kloster beitreten, so viel stand fest.

“In drei Teufels Namen, Carl, bist du nun mein Agent oder nicht? Es ist mir völlig egal, wie du das anstellst, aber diese Frau muss von meiner Insel verschwinden – und zwar so schnell wie möglich!”

Für einen Moment herrschte Schweigen am anderen Ende der Leitung, dann hörte Dale seinen Agenten Carl Dawson leise seufzen. “Das ist nicht so einfach, wie du es dir vorstellst, Dale. Das Manuskript für deinen neuesten Roman ist schon seit sechs Monaten überfällig. Und ich darf dich daran erinnern, dass du selbst dem Besuch eines Lektors von Dolphin Books zugestimmt hast.”

Dale lachte bitter auf. “Dann darf ich dich vielleicht daran erinnern, dass mir diese Idee von Anfang an nicht gefallen hat, Carl. Du hast mich praktisch genötigt, so sieht’s doch in Wahrheit aus!”

“Jetzt sei doch mal realistisch”, entgegnete Dawson scharf. “Was hast du denn erwartet? Dass die Jungs vom Verlag geduldig Däumchen drehend darauf warten, bis du dich endlich bequemst, deine vertraglich vereinbarte Leistung zu erbringen? Himmel, Dale, du hattest einen fixen Abgabetermin! Mit Engelszungen habe ich auf James Berkeley eingeredet, um dir wenigstens eine Verlängerung der Frist um zwei Monate zu verschaffen! Wenn er im Gegenzug darauf besteht, dass du einen seiner Lektoren wenigstens einmal einen Blick auf die erste Rohfassung deines Manuskriptes werfen lässt, kannst du ihm das wohl kaum verdenken.”

“Aber ich will diese Frau nicht auf Svergå haben, verstehst du? Es geht einfach nicht!”

“Tut mir leid, alter Kumpel, aber in dieser Angelegenheit kann ich dir einfach nicht helfen. Es ist deine Entscheidung. Schick die Lektorin meinetwegen fort – aber mach mir hinterher keine Vorwürfe, wenn Dolphin Books daraufhin die Zusammenarbeit mit dir aufkündigt.”

Dale schluckte hart. “Das würde James Berkeley nicht wagen! Er verdient sich schließlich dumm und dämlich an mir!”

“Irrtum! Er verdient an deinen Romanen, Dale! Das ist ein kleiner, aber feiner Unterschied, verstehst du? Wenn du ihm nichts ablieferst, was er veröffentlichen könnte, bist du für ihn wertlos. Außerdem darf ich dich daran erinnern, dass Cara Stern nicht dir gehört. Der Verlag hat dieses Pseudonym erfunden und schützen lassen. Die können jederzeit einen anderen Autor beauftragen, einen Roman unter diesem Namen zu schreiben. Aber sie wollen dich, Dale. Sie wollen deinen Stil, deine Handschrift. Deshalb sind sie ja so geduldig mit dir. Noch jedenfalls. Das kann sich aber auch ganz schnell ändern. Also überleg dir gut, was du tust. Überdenke die Konsequenzen. Ich an deiner Stelle würde lieber versuchen, mit dieser Lektorin zurechtzukommen. Schmier ihr ein bisschen Honig um den Mund, sei charmant – verdammt, ich weiß, dass du das kannst. Denn anderenfalls”, sagte Carl Dawson und machte eine dramatische Pause, “kannst du dir jetzt schon einen Platz in der Schlange beim Arbeitsamt reservieren.”

“Nun, in diesem Fall werde ich den Platz direkt hinter mir für dich freihalten, Carl”, entgegnete Dale ungehalten. “Ich habe nämlich das Gefühl, dass du eine entscheidende Tatsache völlig vergessen hast: Du arbeitest für mich! Und manchmal frage ich mich ernsthaft, wofür ich dir eigentlich die Unsummen bezahle, die du mir jeden Monat in Rechnung stellst, wenn du nicht einmal in der Lage bist, ein einfaches Telefonat mit meinem Verlag für mich zu führen.”

“Jetzt wirst du aber ungerecht, alter Junge. Ich versuche doch nur, dich von einem Fehler abzuhalten, der …”

“Aber gut, dann werde ich das eben selbst erledigen”, schnitt Dale seinem Agenten das Wort ab. “Ich werde James Berkeley sagen, dass er die kleine Schnüfflerin, die er geschickt hat, um mich auszuspionieren, wieder zurückpfeifen kann. Und wenn das erledigt ist, werde ich in Ruhe und Frieden meinen Roman fertigstellen. Was, in Gottes Namen, ist daran so lustig?”, brauste er auf, als er Carl Dawson am anderen Ende der Leitung leise lachen hörte.

“Oh, gar nichts, ruf Berkeley ruhig an. Ich kann dir allerdings schon im Voraus sagen, dass du kein Glück haben wirst. Der Gute ist nämlich vorgestern mit seiner Familie in den wohlverdienten Jahresurlaub aufgebrochen. Erreichbar nur im absoluten Katastrophenfall, mach dir also keine Hoffnungen.”

Dale stieß einen gewaltigen Fluch aus, dann warf er den Telefonhörer zurück auf die Gabel. Verdammt, warum wollte denn bloß niemand begreifen, dass er nicht mit dieser Person zusammenarbeiten konnte!

Wütend sprang er von seinem Stuhl auf und trat ans Fenster. Inzwischen war tiefe Dämmerung heraufgezogen, doch über dem Meer lag noch immer ein sanftes Glühen, das bereits den nahenden Midsommar ankündigte. Bald schon würde es um diese Tageszeit noch immer hell sein.

Normalerweise übte der Anblick des Meeres eine besänftigende Wirkung auf Dale aus, dieses Mal jedoch störte etwas diesen therapeutischen Effekt. Nein, nicht etwas – jemand. Denn draußen, auf der grob gezimmerten Bank, die inmitten eines lichten Birkenwäldchens am Meeresufer stand, saß Cassie Dorkins. Sie saß einfach nur da, starrte hinaus zum Horizont und rührte sich nicht. Der Wind spielte mit ihrem langen, rabenschwarzen Haar und erweckte in Dale augenblicklich den unbändigen Wunsch, seine Hände darin zu vergraben.

Hastig wandte er sich vom Fenster ab.

Nein, sie konnte unmöglich auf Svergå bleiben. Es ging einfach nicht!

Verzweifelt barg er das Gesicht in den Händen. Er wusste nicht, wie er dieses verwirrende Durcheinander, das Cassie Dorkins in seinem Kopf anrichtete, auch nur eine Sekunde länger aushalten sollte. Erbärmlicher Schwächling! Hast du dir nicht an Annikas Grab geschworen, dass keine andere jemals ihren Platz einnehmen würde?

Nicht zum ersten Mal glaubte Dale, wie aus weiter Ferne Annikas Stimme zu vernehmen. Ich entbinde dich von deinem Schwur …

Als Cassie am nächsten Morgen erwachte, fühlte sie sich wie gerädert. Sie war an die ständige Geräuschkulisse Londons gewöhnt, die niemals ganz verebbte. Der Verkehrslärm, die Polizeisirenen, das Gelächter der Gäste des nahe gelegenen Pubs, die unter ihrem Fenster vorbeikamen – all das war ihr so vertraut, dass sie es schon gar nicht mehr wahrnahm. Doch hier, auf Svergå, herrschte in der Nacht eine so absolute Stille, dass sie Cassie beinahe ohrenbetäubend erschien. Bis weit nach Mitternacht hatte sie wach gelegen, ehe sie endlich Schlaf gefunden hatte.

Jetzt, nach ihrer ersten Tasse Kaffee, begannen sich ihre Lebensgeister langsam wieder zu regen. Trotzdem dauerte es einen Moment, bis sie tatsächlich begriff, was Dale Prescott da gerade zu ihr gesagt hatte.

“Wie bitte?” Sie verschluckte sich beinahe an ihrem frisch gepressten Orangensaft und starrte Dale über den reichlich gedeckten Frühstückstisch an. Das war doch einfach unglaublich! “Habe ich mich verhört, oder sagten Sie tatsächlich, dass Sie mir Ihr Manuskript nicht zeigen wollen?”

“Nun, ich bin kein Ohrenarzt, aber mir als Laie scheint Ihr Gehör tadellos in Ordnung zu sein.”

“Aber …” Verständnislos schüttelte sie den Kopf. “Ich verstehe das nicht, Mr. Prescott. Ich habe extra den weiten Weg hierher nach Schweden auf mich genommen, um einen ersten Blick in ihr Manuskript zu werfen – und jetzt weigern Sie sich, es mir zu zeigen?”

“Nennen Sie es, wie Sie wollen. Jedenfalls werde ich Sie nicht an meiner Arbeit herumpfuschen lassen, und wenn Sie sich auf den Kopf stellen.” In aller Seelenruhe biss er von seinem dick mit Moltebeer-Marmelade bestrichenen Toast ab und kaute genüsslich, ehe er noch hinzufügte: “Ganz davon abgesehen ist der Roman ja auch noch gar nicht fertig, und ich zeige niemals jemandem meine Manuskripte, ehe ich sie beendet habe.”