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Glasklare Seen, blühende Wiesen und der Zauber einer Mittsommernacht
Auf dem herrlichen Anwesen Emilienlund will Annie ihre neue Stelle antreten. Als sie ihrem attraktiven Chef begegnet, verliebt sie sich auf Anhieb in ihn. Doch der erfolgreiche Unternehmer verwirrt sie zutiefst. Mal scheint er sich genauso stark zu hier hingezogen zu fühlen wie sie zu ihm, dann wieder behandelt er sie kühl und herablassend. Gibt es ein Geheimnis, das ihn quält? Doch als eines Nachts ein heftiges Gewitter über Emilienlund tobt, nimmt er sie zärtlich in die Arme, und Annie beginnt zu hoffen: Wird sich in Schweden ihr Traum von der großen Liebe endlich erfüllen ...?
Liebe und Romantik von Bestsellerautorin Pia Engström. Ein Roman so schön wie Urlaub in Schweden! Neuausgabe. Erstmals erschienen unter dem Titel "Happy End auf Emilienlund?"
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Pia Engström
Mittsommerküsse
„… für die Jahreszeit ungewöhnlich heftige Sturmböen und starke Regenfälle prognostiziert. Die Meteorologen raten allen Autofahrern, die in der Region unterwegs sind, ihre Fahrt an einem sicheren Ort zu unterbrechen, da es unter Umständen zu Überflutungen von Straßen und Wegen kommen könnte. Soviel zum Wetter, nun das Neueste aus …“
Das hat mir gerade noch gefehlt! Mit einem frustrierten Seufzen schaltete Annie Josephine Fielding das Radio aus und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Angespannt starrte sie durch die Windschutzscheibe des Volvos hinaus in das düstere Grau in Grau, das sich bis zum Horizont hin erstreckte. Die Scheibenwischer arbeiteten auf Hochtouren, hatten aber kaum eine Chance, mit den Wassermassen fertig zu werden, die vom Himmel herabstürzten. Seit gut einer Stunde schüttete es wie aus Kübeln. Eine Stunde, in der Annies Weg sie durch keine nennenswerte Ortschaft geführt hatte, in der sie hätte Zuflucht suchen können.
Sie unterdrückte einen wenig damenhaften Fluch. Auf was hatte sie sich da bloß eingelassen? Das Wasser stieg immer schneller, und es erforderte jetzt schon all ihre Konzentration, den Kombi auf der Fahrbahn zu halten. Vielleicht hätte ich die Autovermietung lieber um ein Ruderboot bitten sollen, dachte sie in einem Anflug von Galgenhumor. Oder um einen Außenbordmotor, um zu verhindern, dass mich diese Sintflut direkt bis hinaus auf die Ostsee treibt.
Ein greller Blitz zuckte vom Himmel und schlug nur ein paar Meter von Annie entfernt in die Erde – wenigstens kam es ihr so nah vor. Erschrocken fuhr sie zusammen. Sie hasste Gewitter! Obwohl sie eigentlich nicht besonders furchtsam oder zaghaft veranlagt war, hatte sie ihre Kindheitsangst vor Blitz und Donner niemals überwinden können. Hätte die Durchsage des Radiosenders sie auch nur ein paar Stunden früher ereilt, säße sie in diesem Augenblick in einem behaglichen Hotelzimmer und nicht am Steuer ihres Mietwagens, auf dem Weg zu einem …
Ohrenbetäubendes Donnergrollen ließ sie erneut erschaudern. Wenn sie doch nur endlich ihr Ziel erreichen würde! Allzu weit konnte es eigentlich nicht mehr sein. Vorausgesetzt natürlich, dass sie sich nicht hoffnungslos verfahren hatte. Und nach allem, was in den letzten Stunden schief gelaufen war, mochte sie darauf nicht wetten.
Es war lange her, dass sie zum letzten Mal in Schweden gewesen war – fast auf den Tag genau acht Jahre. Doch ihre Rückkehr in das Land, das sie beinahe ihre ganze Jugend lang als ihre Heimat betrachtet hatte, schien unter keinem guten Stern zu stehen. Zuerst war niemand am Flughafen erschienen, um sie, wie es verabredet gewesen war, abzuholen, und jetzt …
Hatte Mr. O'Brannagh es sich am Ende gar anders überlegt? Nein, daran durfte sie nicht mal denken. Alles, nur das nicht! Zu viel stand für sie auf dem Spiel. All ihre Hoffnungen und Sehnsüchte, ja, ihre ganze Zukunft. Bestimmt handelte es sich lediglich um ein dummes Missverständnis. Ja, so musste es einfach sein. Und glücklicherweise hatte sie ihr Ziel bald erreicht. Es konnte jedenfalls nicht mehr allzu weit sein bis …
Ein plötzliches Schlagen im Lenkrad des Volvos riss sie aus ihren Gedanken. Hastig trat sie auf die Bremse. Ein verhängnisvoller Fehler, wie sie einen Lidschlag später erkennen musste. Die Reifen blockierten auf der regennassen Fahrbahn, und Annie schrie gellend auf, als sie endgültig die Kontrolle über den Wagen verlor. Mit ungedrosselter Geschwindigkeit schoss der Volvo auf den tiefen Straßengraben zu.
Das Letzte, was Annie sah, war das Wasser, das wie ein reißender Strom durch die Rinne floss. Sie verspürte einen heftigen Ruck, danach wurde es schwarz um sie herum.
Stirnrunzelnd stand Grey am Fenster der Hütte und starrte hinaus in die Dunkelheit. Es war noch früh am Nachmittag, doch die Sonne lag hinter bleigrauen Gewitterwolken verborgen, die sich drohend am Himmel türmten. Seit Stunden regnete es nun schon ununterbrochen, und es bestand kaum Hoffnung, dass sich daran sehr bald etwas ändern würde.
Bei einem solchen Wetter jagte man nicht einmal einen Hund auf die Straße hinaus, und auch Grey selbst verspürte kein großes Verlangen, dem Sturm zu trotzen. Aber das seltsame Geräusch, das er vor ein paar Minuten vernommen zu haben glaubte, ließ ihm einfach keine Ruhe. Ein schrilles Kreischen, gefolgt von einem dumpfen Aufprall, fast wie ein Wagen, der …
Grey schüttelte den Kopf. Das war natürlich blanker Unfug. Niemand, der auch nur einen Funken gesunden Menschenverstand besaß, würde bei einem solchen Wolkenbruch über eine unbefestigte Straße fahren. Dummerweise waren ihm in seinem Leben bereits eine Menge Leute begegnet, die darüber eben nicht verfügten.
Mit einem resignierten Seufzen nahm er die Öljacke vom Haken an der Tür und streifte sie über. Wenn er sich schon den Naturgewalten aussetze, dann wenigstens in standesgemäßer Aufmachung.
Eisig schlug ihm er Wind ins Gesicht, als er aus der Hütte hinaus ins Freie trat. Grey fluchte unterdrückt. Was für ein Schwachkopf er doch war! Während eines solchen Unwetters vor die Tür zu gehen, grenzte an Wahnsinn. Aber wie konnte er einfach in die behagliche Wärme zurückkehren, ohne sich wenigstens zu vergewissern, dass sich nicht wirklich jemand in ernsthaften Schwierigkeiten befand?
Als Annie erwachte, herrschte rund um sie herum vollkommene Stille. Sie schlug die Augen auf und sah sich neugierig um. Goldenes Sonnenlicht fiel durch das Fenster und zeichnete ein helles Rechteck auf den blank polierten Holzboden.
Wo bin ich?, fragte sie sich unwillkürlich, seltsamerweise wenig überrascht, sich in einer völlig fremden Umgebung wieder zu finden. Vielleicht lag es daran, dass sie sich auf eine merkwürdige Weise an diesem Ort geborgen fühlte.
Vorsichtig richtete sie sich auf. Holz. Eindeutig das dominierende Element des Raumes. Annie mochte Holz, hatte es schon immer gemocht. Holz war natürlich, lebendig. Kein anderes Material vermochte so sehr eine Atmosphäre der Behaglichkeit zu schaffen. Und hier schien tatsächlich fast alles aus Holz zu bestehen. Das Bett, in dem sie lag, der kleine Tisch in der Ecke, auf dem sich noch die Überreste eines kargen Frühstücks stapelten, und auch die Stühle und der rustikale Kleiderschrank, der beinahe eine gesamte Wand des Zimmers für sich einnahm.
Sie stand auf und trat ans Fenster. Trotz ihrer leichten Kopfschmerzen begannen ihre Augen zu leuchten. Über der dichten Bewölkung und dem heftigen Regen des Vortages hatte sie beinahe vergessen, wie atemberaubend schön die Landschaft Südschwedens war. Strahlend stand die Sonne am makellos blauen Himmel, an dem sich einige harmlose Schäfchenwolken tummelten. Annie bemerkte, dass sie sich gut zwei Meter über dem Erdboden befand. Vermutlich war es eine umgebaute Lagerhütte, in der sie Unterschlupf gefunden hatte. Die Bauweise auf Stelzen war typisch, denn so wurden ungebetene Gäste – Tiere aller Art – davon abhalten, sich über die Vorräte herzumachen.
Eine sattgrüne Wiese mit farbigen Tupfern aus Rittersporn, Butterblume und Löwenzahn erstreckte sich unter ihr bis an das Ufer eines Sees, der so blau und klar war, dass Annie am liebsten sofort darin eingetaucht wäre. Die Wasseroberfläche schillerte in allen Regenbogenfarben, und Annie lachte vergnügt auf, als mit einem Mal eine Forelle daraus hervorbrach, nur um dann mit einem eleganten Bogen wieder einzutauchen.
Zu gern hätte Annie mehr Zeit damit verbracht, die Schönheiten der unberührten Natur zu bewundern, doch zuvor musste sie erst einmal herausfinden, wo sie sich überhaupt befand. Und wie sie hierhergekommen war.
Gähnend streckte sie ihre steifen Glieder, atmete dann aber scharf ein, als ein stechender Schmerz durch ihren Oberarm zuckte. Mit der freien Hand rieb sie sich über die schmerzende Stelle und entdeckte einen Bluterguss, der sich von der Schulter bis fast hinunter zum Ellbogen erstreckte. Irritierenderweise hatte sie nicht den blassesten Schimmer, wo sie sich diese Verletzung zugezogen hatte.
Verflixt, was war hier eigentlich los?
Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Inneren der Hütte zu. Es gab zwei Türen. Eine, direkt neben dem Fenster, führte ins Freie. Hinter der anderen vermutete Annie das Bad. Und eben jene zweite Tür öffnete sich in diesem Moment, und ein großer, breitschultriger Mann trat in den Raum. Er war damit beschäftigt, sein rabenschwarzes Haar mit einem Handtuch zu frottieren, doch das nahm Annie nur ganz am Rande wahr. Etwas anderes beanspruchte ihre Aufmerksamkeit viel mehr – dieser geradezu unverschämt gut gebaute Mann trug nämlich nicht mehr am Leib als enge Shorts!
Erst jetzt wurde Annie bewusst, dass auch sie selbst nur äußerst spärlich bekleidet war. Ihr Rock und die altmodische, hochgeschlossene Bluse hingen über dem Bettpfosten, sie hatte nicht mehr an als ein dünnes Hemdchen und einen Spitzenslip.
Sofort spürte sie, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Mit einem Satz war sie wieder im Bett und bedeckte sich hastig mit dem Laken.
Im Gegensatz zu ihr schien dem Unbekannten die Tatsache, dass er halbnackt vor ihr stand, nur wenig auszumachen.
Unbeeindruckt musterte er sie. „Schwarz, oder lieber mit Milch?“
Annie konnte ihn nur anstarren, doch er erwiderte ihren Blick ungerührt. Ihre Wangen schienen von innen heraus zu glühen.
Wie war sie nur in diese überaus merkwürdige Situation geraten?
„Ihren Kaffee“, wiederholte er, jetzt schon eine Spur ungeduldiger. „Trinken Sie ihn lieber schwarz oder mit Milch? Zucker habe ich keinen.“
„Ähm …“ Mühsam räusperte Annie sich. Ganz automatisch antwortete sie in derselben Sprache, in der er sie angesprochen hatte: Schwedisch. „Schwarz, bitte.“
„Na, wer hätte das gedacht? Sie kann tatsächlich sprechen.“
Annie blinzelte überrascht. „Wie bitte? Ich verstehe nicht.“
Er wandte sich ab, kehrte aber kurz darauf mit zwei Tassen Kaffee zurück, von denen er Annie eine in die Hand drückte. „Hier, trinken Sie. Und dann erzählen Sie mir, ob Sie irgendwelche Beschwerden haben. Ich habe Sie zwar heute Nacht schon einmal kurz untersucht, aber auf den ersten Blick schienen Sie keine schwereren Verletzungen davongetragen zu haben. Glücklicherweise, wie ich hinzufügen muss, denn es dürfte sich als recht schwierig erweisen, einen Arzt aufzutreiben, sollten Sie einen benötigen.“ Eine v-förmige Falte entstand zwischen seinen Brauen. „Dummerweise haben Sie Ihren Wagen nämlich nicht nur zielsicher im Straßengraben versenkt, Sie haben auch noch den Telefonmast umgefahren.“
Annie zuckte zusammen und hätte um ein Haar die Kaffeetasse fallen lassen, die sie jetzt so fest umklammerte, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. „Oh Gott!“, stöhnte sie und schloss die Augen – eine schlechte Idee, denn im selben Moment zuckten Bilder durch ihren Kopf, die sie am liebsten vergessen hätte. Ihr Wagen, der mit unverminderter Geschwindigkeit auf den Straßengraben zuraste. Der Aufprall, und danach … Sie schluckte schwer, als Übelkeit in ihr aufstieg. Stöhnend lehnte sie sich gegen die Rückwand des Bettes.
„Schon gut, Lady, das ist noch lange kein Grund, gleich in Ohnmacht zu fallen.“ Stirnrunzelnd trat er näher und musterte sie eindringlich. Offenbar hatte er ihre Reaktion gründlich missverstanden, denn schließlich seufzte er mürrisch und sagte: „Es dürfte offensichtlich sein, dass Sie Ihren Wagen nicht absichtlich zu Schrott gefahren haben. Allerdings ändert das nichts an der Tatsache, dass wir für wenigstens zwei Tage hier festsitzen. Die nächste größere Ortschaft befindet sich am anderen Ufer des Sees, und mein Boot hat sich anscheinend während des Sturms losgerissen. Wissen Sie, Sie können wirklich froh sein, dass ich gerade in der Nähe war. Wäre ich nicht zufällig Zeuge Ihres Unfalls geworden, hätten Sie da draußen wohl noch eine halbe Ewigkeit auf Hilfe warten können. Also, was ist nun? Kopfschmerzen? Übelkeit?“
Langsam schüttelte sie den Kopf, obwohl es sich um eine glatte Lüge handelte. Die Welt schien völlig aus den Fugen geraten zu sein. Das Zimmer um sie herum drehte sich wie ein verrückt gewordenes Jahrmarktkarussell. Doch es waren keine direkten Auswirkungen des Unfalls, sondern eher die Folgen eines leichten Schocks.
„Nein, nichts dergleichen“, murmelte sie schwach. „Es geht schon wieder.“
Er brummte etwas Unverständliches, ging zum Fenster und öffnete es. Langsam klärte sich Annies Blick, obwohl sie nicht sicher war, ob das wirklich etwas Positives war, denn dadurch hatte sie jetzt Gelegenheit, seine ansehnliche Kehrseite zu betrachten. Schon spürte sie wieder, wie ihre Wangen heiß wurden, und blickte beschämt zur Seite.
Klasse, Annie, du machst bestimmt gerade einen tollen Eindruck! Entweder läufst du knallrot an, oder du wirst kalkweiß. Prima Vorstellung!
Allerdings war ihr nicht ganz klar, warum es sie überhaupt interessierte, was er von ihr hielt. Okay, sie hatte in ihrem bisherigen Leben nicht besonders viele Erfahrungen mit Männern gemacht, doch für gewöhnlich konnte sie recht gut damit umgehen, wenn ihr einer über den Weg lief. Auch wenn es sich bei ihrem Gastgeber – Annie fiel beim besten Willen kein besseres Wort dafür ein – zugegebenermaßen um ein verdammt attraktives Exemplar der Spezies Mann handelte.
Fast war sie ein wenig überrascht darüber, dass sie das überhaupt zur Kenntnis nahm. Ihre neunzehnjährige Schwester Stephanie hatte einmal zu ihr gesagt, was Männer betraf, habe sie, Annie, Scheuklappen auf. Und so ungern sie sich das auch eingestehen wollte, in dieser Hinsicht hatte Steph sicher nicht ganz unrecht.
Bei dem Gedanken schob Annie trotzig das Kinn vor. Was hatte sie denn schon groß verpasst? Doch allenfalls unbeholfene Annäherungsversuche auf dem Rücksitz von Brant Mathesons' Vauxhall. Trotzdem hatten die Worte ihrer Schwester ihr wehgetan. War ein bisschen Respekt wirklich zu viel verlangt, nachdem sie für Steph und die Zwillinge auf so vieles verzichtet hatte?
„Es ist ganz schön unhöflich, jemanden so anzustarren, wissen Sie das eigentlich? Allerdings würde es mir, für den Fall, dass ich an weiblicher Gesellschaft interessiert wäre, ziemlich zu schaffen machen, dass Sie direkt durch mich hindurchzuschauen scheinen, Lady.“
„Annie.“
Er hob eine Braue. „Wie bitte?“
„Mein Name ist Annie.“
Anstatt ihr, wie man es eigentlich hätte erwarten können, die Hand zu reichen, verschränkte er die Arme vor der Brust. Für einen Moment schien er tatsächlich zu überlegen, ob er ihr das Geheimnis seines Namens wirklich preisgeben sollte, ehe er sich schließlich doch dazu durchringen konnte. „Sie können mich Grey nennen.“
Wie überaus gütig von ihm, dachte sie leicht verstimmt, ließ sich aber nichts anmerken. Sie atmete tief durch und räusperte sich. Angestrengt überlegte sie, was sie sagen konnte, um das angespannte Schweigen zwischen ihnen zu beenden. Doch obwohl es sicherlich mindestens eintausend Dinge gab, die sie unbedingt in Erfahrung bringen musste, war ihr Kopf augenblicklich wie leergefegt.
Himmel, konnte er sich nicht endlich etwas Anständiges anziehen? Der Anblick seiner muskulösen Oberschenkel in den schwarzen Shorts ließ ihren Mund trocken werden und wurde nur noch getoppt durch den durchtrainierten Oberkörper, um den ihn so mancher Bodybuilder beneidet hätte.
Was war bloß mit ihr los? Hatte ihr Kopf bei dem Unfall mit ihrem Wagen vielleicht doch mehr Schaden genommen, als sie zunächst angenommen hatte?
Plötzlich fiel ihr etwas ein, das er vor ein paar Minuten zu ihr gesagt hatte. Erst jetzt sickerte die Botschaft seiner Worte langsam in ihr Bewusstsein.
Erschrocken blickte sie ihn an. „Meinten Sie das vorhin ernst? Dass wir hier festsitzen?“
Grey nickte schlicht.
„Aber das geht nicht!“ Schlagartig wurde Annie blass, als ihr klar wurde, was das bedeutete. Ihre Zukunft, ihre Pläne! Sie fühlte sich, als hätte man ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. Sie hatte die einmalige Chance bekommen, ihr Leben zu verändern. Eine Gelegenheit wie diese bot sich ihr mit Sicherheit so schnell nicht wieder. Aber was würde es für einen Eindruck machen, wenn sie nun gleich mit mehreren Tagen Verspätung an ihrem Bestimmungsort eintraf? Grundgütiger, sie konnte ja nicht einmal jemanden erreichen, um ihre Unpünktlichkeit zu erklären!
Flehend blickte sie Grey an. „Bitte, gibt es denn gar keine Möglichkeit, von hier wegzukommen? Haben Sie kein Handy oder vielleicht ein Funkgerät?“
„Vergessen Sie es. Mobiltelefone funktionieren hier draußen nicht, und ein Funkgerät besitze ich nicht. Es wird uns also nichts anderes übrig blieben, als abzuwarten. Selbstverständlich steht es Ihnen frei, sich bis zur nächsten größeren Straße durchzuschlagen und dort zu warten, bis mal zufällig ein Wagen vorbeikommt, aber wenn Sie mich fragen, käme das schon einem Wunder gleich.“
„Und was ist mit Ihrer Freundin? Die wird doch bestimmt nicht begeistert sein, dass eine wildfremde Frau hier gemeinsam mit Ihnen in der Hütte übernachtet.“
Annie hatte geredet, ohne großartig darüber nachzudenken. Doch Greys eisiger Blick ließ sie ahnen, dass sie mitten in ein Fettnäpfchen getreten war.
„Glauben Sie mir, niemand, der mich kennt, wird deshalb auf dumme Gedanken kommen“, erwiderte er kühl. „Mich selbst eingeschlossen. Außerdem kann ich Ihnen versichern, dass ich den dummen Zufall, der Sie und mich in dieser unmöglichen Situation zusammengeführt hat, mindestens ebenso sehr bedauere wie Sie, Annie.“
Mit diesen Worten nahm er eine ziemlich verblichene Jeans aus dem Schrank, zog sie an und stapfte dann zur Tür hinaus, die mit einem solchen Knall ins Schloss fiel, dass Annie zusammenzuckte. Ein paar Minuten später hörte sie das gleichmäßige Geräusch einer Axt, die in einen Holzscheit geschlagen wurde.
So langsam wurde Annie klar, dass die Tage, die sie in Greys Gesellschaft würde verbringen müssen, verdammt lang werden konnten. Und er schien nicht das geringste Interesse zu haben, es ihr für die Dauer ihres Aufenthalts einfacher zu machen. Ganz im Gegenteil sogar. Grey mochte aussehen wie griechischer Gott, doch er führte sich auf wie ein ziemlicher Widerling. Klipp und klar hatte er ihr eben ins Gesicht gesagt, dass ihre Anwesenheit ihm ein Dorn im Auge war. Am liebsten hätte sie ihm für sein unhöfliches Verhalten gründlich die Meinung gesagt, auch wenn sie ihm natürlich dankbar dafür war, dass er sie nach dem Unfall aus ihrem Wagen gerettet hatte. Dummerweise war sie dazu jedoch viel zu schüchtern und gehemmt.
Seufzend erhob sie sich und nahm ihre Kleidungsstücke von der Stuhllehne. Wahrscheinlich hatte Grey recht, und es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich mit einer mehrtägigen Verzögerung ihrer Reise abzufinden. Ärgerlich vor allem deshalb, weil sie ihrem Ziel bereits so nahe gewesen war. Doch ohne Boot oder Auto, zudem in einer Gegend, in der sie sich nicht auskannte … Nein, sie würde das Beste aus dieser unerfreulichen Situation machen müssen.
Annies Blick fiel auf die Badezimmertür. Plötzlich sehnte sie sich nach einer heißen Dusche, um ihre Lebensgeister zu wecken. Ja, das wäre jetzt genau das Richtige.
Zack … Zack …
Mit zusammengebissenen Zähnen hob Grey die Axt und hieb ein weiteres Mal auf das bereits arg malträtierte Holzstück ein. Vergeblich versuchte er, sich selbst einzureden, dass er nur aus einem Grund hier draußen war: um ausreichend Brennholz für Kamin und Ofen der Hütte zu beschaffen. In Wahrheit allerdings war es mehr eine Flucht vor Annie und ihrer seltsam verstörenden Nähe.
Frustriert trieb er das scharfe Axtblatt tiefer ins Holz. Verdammt, warum musste ausgerechnet ihm so etwas passieren? Schweißüberströmt legte er das Beil ab und wischte sich mit dem Unterarm über die Stirn. Er wollte diese Frau nicht bei sich haben. Nicht hier in seiner Hütte und auch sonst nirgends in seinem Leben. Das galt im Übrigen auch für jedes andere weibliche Wesen auf diesem Planeten. Warum hatte das Schicksal sie ausgerechnet auf seiner Türschwelle stranden lassen?
Er nahm das Beil wieder auf und fuhr damit fort, den unschuldigen Baumstumpf zu Kleinholz zu verarbeiten. Schwere körperliche Arbeit war für Grey immer ein Mittel gewesen, um sich von Dingen abzulenken, über die er lieber nicht nachdenken wollte. Diesmal allerdings half es nicht. Aus unerfindlichen Gründen gelang es ihm nicht, Annie aus dem Kopf zu bekommen. Aber warum bloß?
Mit einem leisen Fluch schüttelte er den Kopf, schloss die Augen und atmete tief durch. Im Grunde war sie nicht einmal sein Typ. Grey bevorzugte für gewöhnlich rassige Frauen. Die Kombination blond und blass war ihm nie besonders reizvoll erschienen. Doch auf eine seltsame Art und Weise fühlte er sich trotzdem zu ihr hingezogen.
Dumm. Lästig. Riskant. All diese Attribute trafen auf die Regungen zu, die diese Frau in ihm hervorrief. Nachdem er sie aus ihrem Wagen gezogen und zu seiner Hütte gebracht hatte, war ihm nichts anderes übrig geblieben, als ihr sein Bett zu überlassen. Zuvor allerdings hatte er sie aus ihrer völlig durchnässten Kleidung befreien müssen, und das war ihm wesentlich mehr unter die Haut gegangen, als es eigentlich hätte sein dürfen.
Allein der Gedanke daran, wie seine Hand ihre nackten Schenkel gestreift hatte, als er ihr den Rock auszog – natürlich nur, damit sie sich keine Lungenentzündung einfing – ließ ihn erneut in Schweiß ausbrechen. Und die Erinnerung an ihr süßes, kehliges Seufzen, das sie bei seiner Berührung ausgestoßen hatte, ließ ihm heiße und kalte Schauer zugleich den Rücken hinunterrieseln. Ihre Haut war herrlich warm und samtig gewesen, und …
Nein, das war nun wirklich das Letzte, über das er nachdenken sollte. Allerdings war er auch nur ein Mann, und nach langen Monaten der Enthaltsamkeit wäre wohl beinahe jede Frau attraktiv genug gewesen, um seine Fantasie anzuregen. Zum Teufel, er war kein Roboter, natürlich sehnte auch er sich hin und wieder nach gutem, ehrlichem Sex. Allerdings war er nicht bereit, sich dafür der Arglist und Tücke einer Frau auszusetzen. Seine Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass es, war man ihnen einmal ins Netz gegangen, verflixt schwer war, sich aus dem klebrigen Gespinst zu befreien, das sie um einen herum woben.
Nein danke, dachte Grey und ließ die Axt ein weiteres Mal niedersausen. So groß konnte seine Sehnsucht gar nicht sein, dass er dieses Risiko noch einmal eingehen würde.
Als er schließlich in die Hütte zurückehrte, verriet ihm das Geräusch von rauschendem Wasser, das durch die geschlossene Badezimmertür drang, dass Annie ganz offensichtlich unter der Dusche stand. Ärgerlich runzelte er die Stirn, fragte sich aber im nächsten Moment auch schon wieder, was ihm eigentlich nicht passte.
Lag es wirklich allein daran, dass sie ihn nicht um Erlaubnis gefragt hatte? Nein, ganz so einfach lagen die Dinge nicht. Vielmehr kreidete er ihr die Tatsache an, dass sie es scheinbar mühelos schaffte, seine Gedanken in gefährliche Gewässer abdriften zu lassen. Im Augenblick zum Beispiel reichte bereits die Vorstellung aus, wie sie unter dem heißen Wasserstrahl …
Reiß dich zusammen! Grey atmete tief durch und versuchte, sich auf irgendetwas zu konzentrieren, das ihn von Annie und der von ihr ausgehenden Verlockung ablenkte. Es half alles nichts. Stöhnend ließ er sich in den alten Lehnsessel fallen, der der Badezimmertür gegenüber stand. Diese Frau war ganz eindeutig schädlich für seinen Seelenfrieden.
Grey wartete. Fünf Minuten. Zehn. Mit wachsender Ungeduld starrte er auf die Tür, so als könne er sie durch pure Willenskraft dazu bewegen, sich zu öffnen. Natürlich geschah nichts dergleichen. Weitere zehn Minuten verstrichen, ehe das Plätschern plötzlich verstummte. Kurz darauf trat Annie aus dem Bad. Sie trug Greys alten Frotteebademantel. Verdammt, er hätte es niemals für möglich gehalten, dass eine Frau darin so unglaublich sexy wirken könnte!
Es war einfach unfair. Jeder andere Mensch hätte nach einer so ausgiebigen Dusche völlig runzelig ausgesehen. Nicht so Annie. Grey schluckte hart. Das lange goldblonde Haar war noch feucht und kräuselte sich ein wenig. Sie trug jetzt kein Make-up mehr – und hatte es auch gar nicht nötig, wie Grey feststellte. Ganz im Gegenteil. Ihre Natürlichkeit wurde hierdurch sogar noch unterstrichen.
„Das wurde aber auch Zeit“, sagte er schroff, doch selbst in seinen Ohren klang seine Stimme verdächtig rau.
Glücklicherweise schien Annie nichts bemerkt zu haben. „Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen“, sagte sie und lächelte schüchtern. „Es war einfach herrlich. Wäre das Wasser am Ende nicht plötzlich kalt geworden, ich hätte noch ewig …“
„Na fabelhaft“, fiel Grey ihr barsch ins Wort. „Es sollte Ihnen auch besser gefallen haben, denn es war wohl vorerst das letzte Mal, dass Sie meine Dusche benutzt haben. Dasselbe gilt übrigens auch für mich – Sie haben den gesamten Wasserspeicher mit einem Schlag aufgebraucht.“
Sie senkte den Blick. „Oh, das tut mir leid.“ Doch dann schüttelte sie den Kopf und schaute ihn direkt an. „Allerdings finde ich dennoch, dass Sie ruhig ein wenig freundlicher zu mir sein könnten. Ich habe einen Fehler gemacht, das gebe ich zu – aber es ist schließlich nicht mit böser Absicht geschehen.“
Verdammt, diese Frau hatte etwas an sich, das ihn schier zur Weißglut trieb. „Jetzt hören Sie mir mal zu, ja? Ich habe Sie nicht hierher zu mir eingeladen, wenn ich mich nicht irre. Ganz im Gegenteil. Ich wäre froh gewesen, wenn sie niemals auch nur einen Fuß in diese Hütte gesetzt hätten! Dummerweise hat meine Mutter mich zu gut erzogen, als dass ich eine bewusstlose Frau während eines Unwetters unter freiem Himmel zurücklassen würde. Aber mehr können Sie wirklich nicht von mir erwarten!“
Annie starrte ihn an wie vom Donner gerührt. „Sie … Sie sollten sich was schämen! Wirklich, ich kann nicht behaupten, dass Ihre Mutter bei Ihrer Erziehung ganze Arbeit geleistet hätte! Ein Gentleman ist aus Ihnen jedenfalls nicht geworden.“
„Lassen Sie meinen Mutter aus dem Spiel“, fuhr Grey sie an. „Sie können froh sein, dass ich mich nicht entschlossen habe, Sie im Straßengraben zurückzulassen, Gnädigste. Eine Entscheidung, die ich inzwischen selbst zutiefst bedauere.“
Seine barschen Worte taten ihm im nächsten Moment auch schon wieder leid, doch es war zu spät, sie zurückzunehmen. Annie feuerte wütende Blicke auf ihn ab.
„Oh, Sie …!“
Dann drängte sie sich an ihm vorbei und stürmte aus der Hütte.
Es dauerte eine Weile, bis Annie sich unter Kontrolle hatte. Dann aber verfluchte sie sich auch schon wieder dafür, sich so kindisch aufgeführt zu haben. Sie schüttelte den Kopf. Einfach so wegzulaufen, noch dazu lediglich in einen alten Bademantel gehüllt … Eigentlich sollte sie aus dem Alter für solch impulsive Reaktionen längst heraus sein. Verflixt, seit wann war sie so ein erbärmlicher Feigling?
Ärgerlich wischte sie sich mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht. Sicher, Grey verhielt sich nicht gerade wie der perfekte Gentleman, doch er hatte sie aus einer Notsituation gerettet und danach bei sich aufgenommen. Durfte sie wirklich noch mehr von ihm erwarten? Nein, das durfte sie nicht. Dieser Mann hatte bereits mehr als genug für sie getan, und das, obwohl ihm ihre Gesellschaft ganz offenkundig nicht behagte.
Seufzend ließ Annie sich ins feuchte Gras sinken, lehnte sich mit dem Rücken gegen den Stamm einer Birke und ließ ihren Blick über den See schweifen, der sich glatt wie ein polierter Spiegel vor ihr erstreckte. Das Wasser war so kristallklar, dass man ungehindert bis zum Grund sehen konnte. Erst jetzt fiel ihr auf, wie friedlich und wunderschön dieser Platz war, an dem sie sich befand.
Aus den Augenwinkeln heraus nahm sie eine huschende Bewegung wahr. Rasch blickte sie zur Seite. Auf dem Ast einer Weide, der tief über dem Wasser hing, saß ein kleiner, leicht gedrungen wirkender Vogel.
„Ein Eisvogel“, murmelte Annie und hielt ehrfürchtig den Atem an. Ihr war klar, dass es sich um einen einmaligen Glücksfall handelte, diesen wunderschön gefärbten Vogel entdeckt zu haben, nicht nur, weil er vielerorts bereits vom Aussterben bedroht oder ganz verschwunden war. Trotz seiner auf den ersten Blick beinahe auffällig bunten Färbung passte er sich nämlich hervorragend an seine Umgebung an. Auf einem Baum sitzend war er, dank seiner orangebraunen Unterseite, beinahe unsichtbar. Dasselbe galt für seinen leuchtend türkisfarbenen Rücken, der mit der Wasseroberfläche verschmolz, wenn er über diese hinwegjagte.
In diesem Moment vernahm Annie einen lauten, durchdringenden Pfiff, und gleich darauf stürzte sich der Eisvogel von seinem Platz hinunter, durchstieß wie ein Pfeil die Wasseroberfläche. Wenige Sekunden später tauchte er, seine Beute sicher im Schnabel, wieder auf und flog davon.