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Der mysteriöse Mordserie auf Föhr, Amrum und Sylt bringt den Amrumer Polizisten Nils und Kommissarin Sandra Keller wieder zusammen. Gemeinsam verfolgen sie eine blutige Spur über die Inseln - bis in Nils ein furchtbarer Verdacht zu keimen beginnt. Denn die Wahrheit viel verstörender, als er es für möglich gehalten hätte.
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Seitenzahl: 564
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Bent Ohle, 1973 in Wolfenbüttel geboren, wuchs in Braunschweig auf und studierte zunächst in Osnabrück, bis er an die Filmhochschule in Potsdam-Babelsberg wechselte, wo er als Film- und Fernsehdramaturg seinen Abschluss machte. Heute lebt er mit seiner Familie wieder in Braunschweig.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2014 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: photocase.com/joexx Umschlaggestaltung: Tobias DoetschISBN 978-3-86358-423-8 Insel Krimi Originalausgabe
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Für Imke und Freerk
Wir sind aus solchem Stoff wie Träume sind,
und unser kleines Leben ist von einem Schlaf umringt.
William Shakespeare, »Der Sturm«
Vorwort
Sylt, Amrum und Föhr, die Schwesterinseln, wie sie genannt werden, waren einmal ein Teil einer mehr oder weniger zusammenhängenden Landmasse aus Marsch- und Moorland, die von schmalen Gezeitenrinnen durchflutet wurde und dem eigentlichen Festland vorgelagert war. Die dünenbewachsene Küste bildete damals eine Linie von der Südspitze Sylts bis hin zu dem Ort St. Peter. Dieses Gebiet nannte man die »Uthlande«.
In einer einzigen Nacht, am 16. Januar 1362, überrollte eine verheerende Sturmflut das Land. Sie war von so großem Ausmaß, dass sie nicht nur Tausende von Menschenopfern forderte, sondern auch das Gesicht des Landes vollkommen veränderte. Der »Blanke Hans« drang tosend und stürmend immer tiefer ins Landesinnere vor und ließ Landmassen untergehen wie auch Siedlungen und Städte. Die bekannteste Stadt, die dieser »Großen Mandränke«, wie man die Sturmflut taufte, zum Opfer fiel, war die sagenumwobene Stadt Rungholt.
Sylt, Amrum und Föhr wurden in dieser Nacht auseinandergerissen. Sie verloren einen großen Teil ihrer Landmasse an das Meer und wurden zu Inseln.
Heute kann man nur noch mit dem Schiff von einer Insel zur anderen gelangen oder bei Ebbe übers Watt von Amrum nach Föhr und umgekehrt wandern. Jede der drei Inseln hat ein ganz eigenes, charakteristisches Gesicht, doch man erkennt bis heute, wie diese Inseln einmal zusammenhingen.
Eine einzige Nacht.
Teil 1 Föhr
There is a heaven somewhere
Each word is its own little prayer
Where our souls can soar and be free
Away from this world.
John Mellencamp, »Away from this world«
Prolog
Sie bügelte in einem Raum tief unter der Erde. Es war das Hemd, das er immer trug, wenn er zu ihr kam und ihr Dinge antat, die alles Lebendige in ihr abgetötet hatten. Sie war nur noch eine menschliche Hülle, ohne Herz und ohne Seele. Er hatte beides gefressen wie ein ausgehungertes Raubtier, das rohes Fleisch verschlang.
Das Hemd war so etwas wie eine Ankündigung. Eine Einladung zu einer Feier. Zu einem Fest des Grauens. Wenn sie den glänzenden Stoff sah, der das Neonröhrenlicht reflektierte, und die blitzenden Knöpfe, in einer Reihe unter seinem hässlichen und so vertrauten Grinsen, dann kam die Angst wie ein pawlowscher Reflex. Panik in einem ausbruchssicheren Käfig. Sie konnte nicht entkommen. Sie musste einfach alles ertragen, was er und seine Freunde mit ihr taten.
Das Bügeleisen zischte. Eine heiße Wolke stob heraus. Sie drückte das Eisen auf den Stoff und stellte sich vor, es sei seine Haut. Seine fürchterlich aderscheinige, blassweiße kalte Haut, die sie so sehr verachtete.
An Flucht hatte sie von ihrem ersten Moment in diesem Gefängnis an gedacht. Ein fensterloser quadratischer Raum, kaum zwanzig Quadratmeter groß, mit betonummantelten Wänden, die das sie umgebende Erdreich davon abhielten, ihren seelenlosen Körper in vier Metern Tiefe unter sich zu begraben. Flucht war zu einem irrationalen Gebilde geworden in all den Jahren. Ihre mannigfaltigen Pläne, die vom Graben eines Tunnels bis hin zur Ermordung ihres Peinigers reichten, waren Fiktion geworden wie die Geschichten, die sie tagtäglich in ihrem Fernseher sah. Der Fernseher war ihr einziges Fenster nach draußen in die normale Welt. Durch ihn konnte sie sehen, wie sie beschaffen war. Durch die Figuren in den Filmen und die Menschen in den Reportagen und Magazinen ging sie durch die Welt. Der Fernseher war ihr Lehrer, ihr Spion, ihr Ersatz für Leben.
Als sie heute früh aufgestanden war und das Morgenmagazin eingeschaltet hatte, hatte sie das eingeblendete Datum in den Nachrichten gesehen. Vier Ziffern, die sie erkennen ließen, dass heute ihr Geburtstag war. Ihren Geburtstag konnte sie nicht vergessen. Es waren nur Zahlen in einer bestimmten Anordnung, aber sie blieben fest verankert in ihrem Kopf, auch wenn sie die meisten ihrer Erinnerungen an das Leben vor ihrer Gefangenschaft verloren hatte. »Herzlichen Glückwunsch«, hatte sie sich gesagt und daran gedacht, wie er diesen Tag mit ihr feiern würde. Da hatte sie gewusst, dass sie das nicht noch einmal ertragen könnte. Sie wusste nicht, wie oft er sich an ihr vergangen hatte, wie viele Male er diese unaussprechlichen Dinge mit ihr getan hatte. Sie wusste nur: Heute war Schluss damit. Wenn sie das nur noch ein einziges Mal durchleben musste, würde sie sterben. Und auch wenn der Tod so manches Mal nichts Bedrohliches mehr an sich gehabt hatte und vielleicht sogar eine Erlösung gewesen wäre – sie wollte nicht sterben. Nicht so. Es war ihr dreißigster Geburtstag. Heute würde sie fliehen.
Er war in die Stadt gefahren. Sicher wollte er ein Geschenk für sie besorgen. Was er so Geschenk nannte. Vielleicht würde er auch ein paar Partygäste mitbringen. Fremde oder alte Freunde, die an ihrem Geburtstag feiern wollten. Sich selbst, sich und ihre perversen, abartigen Gedanken und Neigungen. Sie würden sie benutzen wie ein lebloses Spielzeug. Eine Puppe in den Händen von teuflischen, verrohten Kindern, die alles ausprobierten und testeten, was ihre dreckigen Phantasien überkam.
Eine Welle der Platzangst traf sie so heftig, dass sie aufsprang, ihren Mund aufriss und die abgestandene Kellerluft inhalierte, als schnürte ihr jemand die Kehle zu. Sie streckte ihre Hände aus, um für sich Platz zu schaffen, um die Wände weiter wegzuschieben, Wände wie das Innere eines Sarges. Gott, sie musste sich bewegen, sie musste laufen.
Hastig lief sie hinaus in den kalten Kellerflur und schlug dabei mit der Schulter gegen die Tür. Sie hastete die Treppe hinauf in das überirdische Haus, wo es Fenster gab und Türen. Es war ihr strengstens untersagt, hier oben zu sein. Die Strafe, die darauf stand, war ihr wohlbekannt. Doch heute war es so weit. Heute würde sie sich ihm widersetzen.
In seinem Schlafzimmer fand sie einen Rucksack im Kleiderschrank, den sie unten in der Küche mit einigen Nahrungsmitteln füllte. Wurst aus dem Kühlschrank. Ein halbes Brot, zwei Äpfel, eine Flasche Wasser. Das Fleischmesser aus der Schublade hatte sie schon am eigenen Leib ertragen müssen. So manche Narbe an ihrem Körper hatte er ihr damit beigebracht. Sie nahm es an sich und steckte es in den Rucksack. Im Wohnzimmer fand sie Geld und Kartenmaterial. Eine alte zerfledderte Klappkarte von Norddeutschland fiel ihr in die Hände. Das war das Letzte, was sie sich griff, bevor sie zur Haustür ging.
Da stand sie nun. Er konnte jeden Moment zurückkommen. Sie war frei, konnte sich hier im Haus ungehindert bewegen. Das Einzige, was sie davon abhielt, einfach nach draußen zu gehen, war ihre Angst. Es war eine ungeheuerliche Angst, so unglaublich stark, dass sie sie völlig lähmte. Wie ein Stück Vieh vor einem elektrisch geladenen Zaun stand sie im lichtlosen Flur. Sie musste sich überwinden. Ihr ganzer Körper zitterte, bebte, als sie die Hand nach der Klinke ausstreckte. Ihre Finger flirrten wie die Fühler eines Insekts. Sie meinte tatsächlich, so etwas wie einen Stromstoß zu fühlen, als sie die Türklinke berührte. Ihr Magen zog sich zusammen, und ein Würgereiz krümmte ihren Körper. Sie musste es tun, jetzt. Für sich. Es blieb ihr keine andere Möglichkeit mehr. Es musste sein. Es gab kein Zurück. Jetzt! Jetzt, endlich! Mit einem leisen Aufschrei drückte sie die Klinke nach unten. Die Tür sprang auf, und kalte, frische Luft drang herein. Sie glaubte augenblicklich, sein Auto hören zu können, und setzte instinktiv zur Flucht zurück ins Haus an. Doch da war nichts weiter als der Wind.
Bitte, bitte, tu es endlich, bettelte sie sich selbst an. Sie hörte Laub über Pflastersteine rascheln. Geh endlich, geh, bevor er dich erwischt! Und dann stieß sie sich von der Wand ab und lief ins Freie. Sie verschluckte sich fast an der frischen Luft, die ihr entgegenschlug. Frische, kalte, feuchte Luft, voller Gerüche und Bewegungen.
Es war das erste Mal, dass sie ihren Kerker im Keller verließ. Das erste Mal, dass sie unter freiem Himmel stand.
Sie sah sich das Haus von außen an, sah sich auf dem Grundstück um, suchte nach Gefahren, nach Fluchtmöglichkeiten und nach ihm. Sie hatte das Gefühl, er sei überall. Versteckt hinter der Hausecke oder hinter einem Baum. Aber sein Auto war nicht da. Die Garage hatte ihr Maul weit geöffnet, sie sah geradewegs in den schwarzen Rachen. Sah die Geräte, die er dort sorgfältig an der Wand aufgehängt hatte. Fast alle hatte sie schon zu spüren bekommen, auf die eine oder andere Art.
Du musst weg! Lauf endlich!
Ihre inneren Worte hallten laut in ihrem Kopf wider, und sie duckte sich instinktiv. Das Grundstück war groß, Nachbarn konnte sie keine sehen. Die Auffahrt führte leicht abschüssig hinunter auf eine von Laub übersäte asphaltierte Straße. Nadelbäume flankierten eine kleine Allee auf der hinteren Seite, und sie meinte, blau schimmerndes Wasser durch die dunklen Zweige erkennen zu können. Sie lief los. Folgte der Auffahrt, duckte sich an der Straße und blickte vorsichtig in die Ferne. Niemand zu sehen, nicht links und nicht rechts. Und so lief sie über die Straße und schlug sich ins Dickicht der hohen Tannen und Fichten. Goldbraune Tannennadeln federten ihren Schritt ab und stoben auf, wenn sie sie mit ihren Füßen durchpflügte.
Schneller, schneller!
Gott, sie musste schneller sein, sie musste hier weg, weit weg, so schnell es ging. Wenn er erst ihre Spur aufnahm, würde er sie verfolgen wie ein Bluthund. Sie lief und lief, und immer deutlicher konnte sie vor sich jetzt das Wasser des Sees erkennen.
1
Sandra bereitete alles vor. Es war später Abend. Sie hatte gegessen, ein wenig ferngesehen und dazu eine Flasche Wein getrunken. Der Alkohol hatte sie träge und müde werden lassen, sie würde schnell einschlafen, wenn sie sich jetzt auf die Couch legte.
Vor dem Wohnzimmerfenster strich ein starker, böiger Wind vorbei, und hin und wieder blieben einzelne Laubblätter an der nassen Scheibe haften. Sie stellte den benutzten Teller und das Weinglas in die Spüle. Abwaschen brauchte sie beides nicht mehr. Das war nun egal. Sie löschte das Licht in der offenen Küche, drehte alle vier Gasleitungen am Herd auf und legte sich auf die Couch. Sie hörte das Zischen des Gases und den Wind und die Blätter vor dem Fenster. Jetzt würde sie schlafen. Sie würde einschlafen, wie sie es schon tausende Male getan hatte, und was dann kam, würde eine Überraschung sein. Sie hatte keine Ahnung, keine Vorstellung von dem, was sie erwartete. Sie würde einen fremden Raum betreten in einem Haus, in dem sie noch nie gewesen war, in einem unbekannten Land, in einer unbekannten Welt. Sie hoffte nur, dass es dort besser war als hier.
Sie hatte sich alles genau überlegt. Ihre Zeit auf der Insel bei Nils war so etwas wie ein Hinweis gewesen, ein Zeichen, das sie für sich gedeutet hatte. Er hatte sie nicht gewollt. Niemand wollte sie, weil sie niemanden wollte. So war sie einfach. Es war keine Schüchternheit, es war ein genereller Rückzug von den Menschen. Menschen waren ihr unheimlich. Vielleicht war das ein Paradoxon für sie als Kommissarin, vielleicht aber auch nicht. Sie war einfach nicht geschaffen für ein Leben unter Menschen. Und wo sollte sie sonst hin? In die Wildnis? Australien? Kanada? Nepal? Wo war ihr Platz? Sie wusste es nicht und glaubte auch nicht mehr daran, dass er sich irgendwo hier auf der Erde befand. Warum das so war, hatte sie sich eine Million Mal gefragt. Ebenso wie sie sich gefragt hatte, warum sie keinen Kontakt aufnehmen konnte zu dieser Welt. Was hemmte sie? Ihre kranke Mutter? Ihre Kindheit, an die sie sich kaum erinnern konnte? Zu viele Fragen, auf die sie keine Antworten hatte.
Schschschschsch. Das Gas strömte weiter in die Luft hinein. Wenn sie eingeschlafen war, würde der Raum gefüllt sein. Dann begann ihre Reise. Sie war niemandem böse, sie war mit sich im Reinen. Es konnte losgehen. Sie dachte an Amrum, an Inseln und daran, dass auch sie eine war. Sie dachte an Wasser, die Brandung und die Ebbe, und dann schlief sie ein.
Um dreiundzwanzig Uhr fünfundfünfzig schaltete sich die Zeitschaltuhr für die beiden Stehlampen im Wohnzimmer ein und verursachte einen Funken in der Zehnersteckdose unter der Heizung. Das Gas aus dem Herd entzündete sich und explodierte in einer großen Verpuffung, die die Fenster bersten und das Glas auf die Straße regnen ließen.
Sieben Minuten später erreichten die Feuerwehr und ein Krankenwagen die Wohnung. Ein Nachbar hatte sie gerufen.
Die Tür wurde aufgebrochen, zwei Brandherde gelöscht, und man fand den leblosen Körper von Sandra Keller auf der Couch. Der Notarzt leitete sofort Maßnahmen ein, um sie zu reanimieren, und dreißig Sekunden später begann Sandra wieder zu atmen.
Sie verspürte einen Druck an ihrem kleinen Finger und versuchte das, was sich dort an ihr festgeklammert hatte, abzustreifen, doch sie war zu schwach, zu müde. Selbst ihre Augenlider konnte sie kaum öffnen. Durch den milchigen Schleier ihrer fast geschlossenen Wimpern erkannte sie ein Gesicht und eine grelle Farbe. Rot. Irgendetwas piepte unentwegt, und manchmal wurde sie durchgeschüttelt. Dann begriff sie, wo sie war. Und sie wollte nicht hier sein, nicht wieder hier, wo alles so schwer und schmerzhaft war. Nein, sie wollte zurück. Dahin, wo sie hergekommen war.
»Nein«, stöhnte sie in ihre Sauerstoffmaske, und das Plastik beschlug.
»Sie hat etwas gesagt«, meinte der Mann, dessen Gesicht sie gesehen hatte, und ein zweiter beugte sich nun über sie. Er riss ihre Augen auf und leuchtete mit einer kleinen Taschenlampe hinein.
»Nein«, jammerte sie.
»Alles gut, Frau Keller. Sie sind in Sicherheit. Wir fahren Sie ins Krankenhaus. Es ist alles in Ordnung.«
Nein, ist es nicht. Sie spürte ihren schweren Körper, sie spürte Schmerzen im Kopf und in den Ohren und auf der Haut. Sie fühlte wieder alles, was sie gefühlt hatte, bevor sie dem entkommen war.
»Lasst mich zurück«, sagte sie kraftlos.
»Frau Keller, wir kümmern uns um Sie. Es ist alles in Ordnung«, wiederholte der Mann.
Er sprach furchtbar laut, und in ihren Ohren pfiff es schmerzhaft.
»Haben Sie Schmerzen?«, rief er und musterte sie prüfend.
Sie nickte müde. Allerdings habe ich die. Deinetwegen habe ich sie.
Er besprach etwas mit seinem Kollegen, und der zog eine Spritze auf, die er in ihren Infusionszugang injizierte.
Nach ein paar Sekunden fühlte sie die Schmerzen nur noch als dumpfen Druck. Trotzdem weinte sie, obwohl sie eigentlich zu müde dafür war. Sie weinte in sich hinein. Dann übermannte sie der Schlaf.
2
Noch nie hatte sie sich so schwer gefühlt. Die Schwerkraft ihres Körpers schien sich verdoppelt zu haben. Die Schmerzen waren dank dem ganzen Zeug in der Infusion zu ertragen. Doch ihre Niedergeschlagenheit lag wie ein nasses Tuch auf ihren Augen. Sie konnte die Lider nur schwer offen halten, und ihr Blick war leer und gläsern. Das spürte sie selbst. Sie hatte kaum Kraft, den Arzt länger als zwei Sekunden lang anzusehen. Immer wieder fiel ihr Blick müde und erschöpft auf die weiße Bettdecke.
»Sie haben unglaubliches Glück gehabt, Frau Keller. Die Explosion war sehr stark. Sie haben das nur so glimpflich überstanden, weil sie flach und geschützt auf dem Sofa lagen. Aber sie haben einige Verbrennungen an den Händen und im Gesicht erlitten, die allerdings nicht sehr schwer sind. Das größte Wunder ist, dass wir sie wieder zurückgeholt haben.« Er lächelte mit zusammengekniffenen Lippen und tätschelte ihren Arm. Dann kam er etwas näher. »Frau Keller, wie ich von der Polizei gehört habe, war der Herd völlig zerstört, daher muss ich nachfragen. Haben Sie versucht, sich umzubringen?« Er blickte ihr eindringlich in die Augen, soweit das bei ihren halb geschlossenen Lidern möglich war.
Sandra kannte die Situation, nur war sie bis jetzt nicht in der Position der Befragten gewesen.
»Ich weiß, dass Sie das fragen müssen, und nein, ich wollte mich nicht umbringen. Natürlich muss es für Sie so aussehen, aber ich hatte einen sehr schweren Fall hinter mir und wollte einfach nur einen Tee kochen. Dabei bin ich wohl auf der Couch eingeschlafen. Glauben Sie mir, ich bin nicht selbstmordgefährdet. Ich habe den Fall gelöst, er hat ein gutes Ende genommen, ich habe einen neuen Freund gewonnen. Es läuft gut in meinem Leben. Ich bin so … froh, dass ich gerettet wurde, ich kann’s immer noch nicht fassen.« Sie gab sich unglaublich viel Mühe, ihr zuversichtlichstes und positivstes Lächeln aufzusetzen und dabei größtmögliche innere Gelassenheit auszustrahlen.
Der Arzt sah ihr unbeeindruckt in die Augen. Sie blinzelte verunsichert. Hatte er den Köder geschluckt oder nicht? Er ließ sich unverschämt viel Zeit. Doch dann folgte ein Lächeln. Ein erleichtertes Lächeln. Seine Augen hellten sich auf und verloren für einen Moment diesen professionellen Ausdruck, den Ärzte mehr als jede andere Berufsgruppe innehaben.
»Das ist gut, freut mich zu hören.« Er atmete hörbar aus und sank einige Zentimeter in sich zusammen. »Wissen Sie, Sie haben da eine neue Chance bekommen. Ein Geschenk des Himmels. Das müssen Sie einfach wissen. Sie sind gestern wiedergeboren worden.«
»Wann kann ich nach Hause?«, fragte Sandra mit rauer Stimme und hoffte, dass sie nicht zu fordernd klang.
»Aber Frau Keller, wir wollen doch nichts überstürzen.«
»Muss ich denn noch lange hierbleiben? Ich meine, ich habe doch keine schweren Verletzungen, oder?«
»Nein, aber Sie waren einige Minuten klinisch tot, Frau Keller. Sie hatten keinen Herzschlag und keine Atmung mehr.«
»Ja, aber was soll ich jetzt hier? Ich bin doch gesund. Sie haben mich ausgiebig untersucht.«
»Körperlich gesehen, sind da nur Ihre Verbrennungen und das Knalltrauma. Psychisch jedoch …«
»Kann ich das nicht von zu Hause aus erledigen? Ich möchte nicht länger hier sein.«
»Frau Keller, Sie haben jederzeit die Möglichkeit, zu gehen. Dann müssten Sie allerdings unterschreiben, dass Sie gegen das ärztliche Anraten gehen möchten und die volle Verantwortung übernehmen. Mir wäre es lieber, wir behielten Sie noch für ein paar Tage hier. Ihre Wohnung ist sowieso zerstört. Erholen Sie sich erst mal, und dann sehen wir weiter. Wie wäre das?«
»Ich möchte lieber unterschreiben.«
Der Arzt atmete unzufrieden aus. Seine Lippen waren nun so fest zusammengekniffen, dass sie weiß wurden.
»Ist gut. Aber wenn Sie Verschlechterungen spüren – Kopfschmerzen, Herzschmerzen, Ausfallerscheinungen im Gedächtnisvermögen, Druckgefühl oder Ähnliches –, dann melden Sie sich sofort bei uns. Ja?«
Sandra nickte.
»Ich mache die Unterlagen fertig. Aber ganz wohl fühle ich mich nicht dabei.«
»Kein Sorge, ich passe auf mich auf.«
Er erhob sich und ließ sie allein. Sandra sank kraftlos in ihr Kopfkissen zurück und schloss die Augen. Das konnte alles nicht wahr sein. Das war nur ein riesengroßer, überwältigender Alptraum. Verzweifelt legte sie die Hände aufs Gesicht und schüttelte den Kopf. Sie würde sich an niemanden wenden. Nicht mit körperlichen Beschwerden und erst recht nicht mit dieser … Sache. Kein Mensch würde ihr glauben. Wenn sie erzählte, was vorgefallen war, würde man sie in die Irrenanstalt sperren und mit Beruhigungsmitteln vollpumpen, bis sie nur noch ein sabberndes Häufchen Elend war. Nein, sie musste hier raus. Weg von diesen Menschen in weißen Kitteln. Weg von allem hier. Gott, warum hatten sie sie bloß zurückgeholt?
***
Sandra hatte das Krankenhaus verlassen und sich mit einem Taxi zu ihrer Wohnung fahren lassen. Vom Fußweg aus hatte sie hochgeschaut und die Handwerker gesehen, die bereits neue Fenster einbauten. Sie war nach oben und durch die offen stehende Tür in ihre Wohnung gegangen, wo einer der Handwerker sie aufhalten wollte. Als sie ihm sagte, dass das ihre Wohnung sei, hatte der Mann ganz betreten geschaut und sie gewähren lassen.
Noch während sie in ihrem Schlafzimmer ein paar Sachen in einen Koffer packte, hörte sie die Stimme ihres Vermieters, den die Handwerker wohl verständigt haben mussten. Er stand in der Wohnung, als sie aus dem Schlafzimmer kam, und sprach sie an. Er redete mit einer Mischung aus Wut und Besorgnis auf sie ein, doch Sandra hörte überhaupt nicht zu. Sie wollte nur die Wohnung verlassen, dieses kleine Asyl, das sie nun zerstört hatte, sodass es keines mehr war und auch nie mehr sein würde. Mit dem Henkel ihres Rollkoffers in der Hand stand sie da und wusste genau, dass sie niemals an diesen Ort zurückkommen wollte, wo sie dem Leben entflohen und so rau und brutal wieder hineingeworfen worden war. Sie nickte zu den Worten des Vermieters, ließ die Blicke der Männer an sich abprallen und ging ohne ein einziges Wort. Sie setzte sich in ihren Wagen und fuhr los.
Es gab zwei Ziele, die ihr spontan einfielen. Zwei Orte, zwei Menschen, zu denen sie flüchten konnte. Nils und ihre Mutter. Amrum war ein verlockender Fluchtort, aber sie würde zuerst bei ihrer Mutter haltmachen. Bleiben konnte sie dort sowieso nicht. Was dann kam, würde sie noch sehen.
Das dreistöckige Haus mit dem eigelben Anstrich lag inmitten einer kleinen Grünanlage mit Lindenbäumen und rund geschnittenen Buchsbäumen. Das Anwesen lag etwas erhöht, die Auffahrt stieg leicht an, und der Parkplatz lag rechter Hand etwas versteckt in einem Carré aus typisch nordfriesischen Steinmauern, die mit inzwischen verblühten Rosen bepflanzt waren.
Sandra stellte ihr Auto auf einen Schattenplatz und ging zum Eingang. In ihren Ohren schrillte immer noch ein unangenehmer Ton, untermalt von einem steten Rauschen, sodass sie sich immer wieder unwillkürlich ans Ohr fasste. Die automatischen Türen schoben sich auseinander, und sie betrat eine kühle Halle mit Steinfußboden, einer größeren Sitzgruppe am Fenster, einem Snack- und Getränkeautomaten und einer Rezeption. Sandra steuerte auf die Treppe zu, die hinter den beiden Aufzügen im Schatten lag. Die Dame an der Rezeption folgte ihr mit ihrem Blick. Auf der zweiten Stufe hörte Sandra plötzlich eine Stimme in ihrem Rücken.
»Frau Keller?«
Sandra drehte sich um und erkannte Frau Dr. Alberts, die Ärztin ihrer Mutter.
»Oh, hallo«, grüßte Sandra, wenig erfreut über diese Begegnung. Nicht weil sie Dr. Alberts nicht mochte, im Gegenteil, sie hatte eine sehr entspannte und liebevolle Art, mit ihren Patienten umzugehen. Sandra wollte einfach niemanden sehen oder sprechen. Menschen waren ihr zu aufdringlich, zu störend, zu … ach, sie wusste es auch nicht. Sie wollte nach dem, was geschehen war, einfach nur ihre Ruhe haben.
»Schön, Sie zu sehen«, sagte die Ärztin erfreut und reichte ihr die Hand, die gleich darauf wieder in der Kitteltasche verschwand. »Sie waren länger nicht mehr hier.«
»Ja, ich hatte viel zu tun.« Sandra stellte einen Fuß auf die nächste Stufe, als Zeichen dafür, dass sie sich nicht auf eine lange Unterhaltung einlassen wollte. »Wie geht’s meiner Mutter?«
»Ganz gut so weit. Unverändert. Sie hatte Probleme mit den Gelenken, aber wir haben ihr leichte Schmerz- und entzündungshemmende Mittel gegeben, und sie kommt sehr gut klar damit.«
»Ist sie oben?«
»Ja, ich denke schon. Ist alles in Ordnung? Sie sehen etwas blass aus«, forschte Dr. Alberts nach.
»Ja, ja, alles bestens. Zu wenig Schlaf vielleicht.«
»Das kenne ich. Nehmen Sie sich doch oben einen Tee.«
»Werd ich, danke.«
»Hat mich gefreut.«
»Ja, bis bald.«
Sandra stieg die Treppe empor bis in die zweite Etage. Vor dem Zimmer Nummer 53 am Ende des linken Flurs machte sie halt. Sie klopfte und trat ein. Ihre Mutter saß auf einem Stuhl am Fenster und schaute hinaus. Eine Tasse Tee stand auf einer Wolldecke auf ihrem Schoß. Die rötlichen Reste darin waren bereits angetrocknet.
»Hallo, Mama.«
Ihre Mutter hob die Augenbrauen und drehte den Kopf zur Tür. Sie sah ihre Tochter aus milchigen Augen an. Sandra drehte einen Sessel herum und setzte sich ihr gegenüber ans Fenster. Ihre Mutter sah ihr aufmerksam zu, so, als wisse sie nicht genau, worauf das alles hinauslief.
»Hallo, ich bin’s«, sagte Sandra ruhig und lächelte müde. Sie ließ sich in den Sessel zurücksinken und schloss die Augen. Sie war furchtbar kraftlos.
»Möchten Sie etwas Marmelade?«, fragte ihre Mutter nach einer Weile. Sandra öffnete die Augen.
»Nein, danke.«
»Mmmh, wie Sie meinen. Wann kommt denn Herr Schuster?«
»Herr Schuster ist unterwegs«, sagte Sandra, die es aufgegeben hatte, ihrer Mutter deren Hirngespinste auszureden. Wenn man sie einfach annahm, war es leichter für beide Seiten.
»Mögen Sie keine Marmelade?«
»Doch, ich bin einfach nur satt.«
Ihre Mutter schaute wieder aus dem Fenster. Sandra nahm ihr die Tasse vom Schoß, bevor sie herunterfiel. Ihre Mutter schien es nicht einmal zu bemerken. Sandra überlegte, ob sie nicht vielleicht doch eine Nacht hier verbringen sollte. Sie könnte sich die beiden Sessel zusammenschieben und darauf schlafen. Aber ob sie es eine ganze Nacht mit ihrer Mutter in einem Zimmer aushalten konnte, wusste sie nicht.
»Sandra, mein Mädchen!«, rief ihre Mutter plötzlich. »Sandra!« Sie erhob sich, sodass die Decke von ihren Beinen rutschte, und streckte ihre Arme aus. Sandra stand auf, und ihre Mutter zog sie zu sich heran und drückte sie, als müsste sie sie vor irgendetwas retten.
»Schon gut, Mama.«
»Mein Mädchen«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Dass ich dich noch mal sehe. Wie geht es dir? Ach, es ist so schön, dass du mich besuchen kommst.«
Sie setzten sich wieder, und Sandras Mutter staunte sie mit großen Augen an. Ihre knotigen Hände strichen über ihre mageren Oberschenkel. Sie war erst einundsechzig, aber ihre Hände sahen aus wie die einer Achtzigjährigen. Sandra sah die feinen weißen Narben an den Innenseiten ihrer Handgelenke und wandte sich ab. Das waren Erinnerungen, die sie nicht zulassen durfte. Sie versuchte, an etwas anderes zu denken, und landete am Strand von Amrum. Krampfhaft klammerte sie sich an diesem Bild fest.
»Bleibst du länger?«
»Nein, nein. Ich habe zu tun, tut mir leid.« Sandra dachte einen kurzen Moment lang daran, ihrer Mutter alles zu erzählen. Doch sie hätte es im nächsten Augenblick sowieso wieder vergessen.
Gott, wie sie ihre Mutter um diese Krankheit beneidete. Vergessen war etwas Wunderbares, es war vielleicht die beste Erleichterung, die man sich verschaffen konnte. Was für ein einfaches Leben musste das sein.
Da erst fiel ihr auf, was sie getan hatte. Sie hatte versucht, sich umzubringen. Das gestern war ein Selbstmordversuch gewesen. Erschrocken fuhr sie zurück. Jetzt registrierte sie auch, was das bedeutete. Sie war wie ihre Mutter. Sie hatte das alles von ihr geerbt, diese ganze Scheiße, die im Kopf ihrer Mutter vor sich hin kochte. Es war ihr genetisch weitergegeben worden. All das, was sie so sehr hasste und verachtete an ihrer Mutter, war sie nun plötzlich selbst. Sie sprang auf.
»Ich muss los.«
»Was, aber du bist doch gerade erst gekommen. Bleib doch noch ein bisschen.«
»Es geht nicht.«
Sandra hatte ein Gefühl von Atemnot. Die Geräusche in ihren Ohren wurden lauter und lauter. Sie ging zur Tür.
»Tut mir leid, Mama.«
»Sandra«, sagte ihre Mutter nur. Dann öffnete Sandra die Tür und ließ sie allein zurück.
Je näher sie der Küste kam, desto verlockender und gleichzeitig absurder wurde der Gedanke, einfach eine Fähre zu nehmen und zu Nils’ Haus zu fahren. Wie gern hätte sie sich in dem kleinen engen Häuschen mit den niedrigen Decken versteckt, sich auf das Sofa gelegt, unbemerkt vom Rest der Welt, und geschlafen. Geschlafen, bis Nils sie geweckt hätte.
»Du bist doch wirklich so dämlich«, schimpfte sie mit sich selbst und betrachtete sich kurz im Rückspiegel. »Du dämliches Stück.« Sie schüttelte den Kopf und konzentrierte sich wieder auf die Straße. Der Wind peitschte die Bäume und Büsche entlang der Landstraße. Blätter flogen oder rutschten vereinzelt über die grau schimmernde Fahrbahn. Die Sonne war ein gedämpft gleißender Fleck hinter einem dünnen Wolkenschleier und blendete Sandra, dass ihr die Augen schmerzten.
Sie fuhr auf der Hauptstraße zwischen Sprakebüll und Leck. Nur noch ein paar Kilometer, dann musste sie sich entscheiden. Dagebüll oder Niebüll. Amrum oder das Revier. Als es so weit war, entschied sie sich für das Revier. Sie glaubte, durch die Arbeit alles schneller beiseiteschieben zu können, und als sie das Ortsschild von Niebüll passierte und durch die Straßen des Ortes fuhr, hatte sie Flensburg schon fast vergessen. Sie konnte sich kaum noch daran erinnern, jemals dort gewesen zu sein. Die Explosion, das Krankenhaus – nur noch sich auflösende Reste einer ihr unbekannten Substanz im Meer ihrer Gedanken.
Das Nummernschild, das ihren Stellplatz markierte, verschwand hinter der Motorhaube ihres Wagens. Sie stellte den Motor ab, richtete ihre Haare ein letztes Mal und machte sich auf den Weg in ihr Büro.
Das Revier sah aus wie immer, die Geschäftigkeit war die gleiche wie immer. Ihre Kollegen grüßten auf dieselbe Weise wie sonst auch, freundlich, aber distanziert. Niemand wusste etwas von den letzten Stunden, niemand wusste, wie zerrissen und haltlos es in ihr aussah. Das war wunderbar.
»Frau Keller?«
Die Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Es war Oberkommissar Jensen, ihr Vorgesetzter, der mit einigen Akten in der Armbeuge und einer Tasse Kaffee in der Hand in der Tür seines Büros stand.
»Herr Jensen, guten Morgen«, grüßte sie und zeigte ihre Zähne, was wie ein Lächeln aussehen sollte.
»So früh schon zurück? Ich dachte, Sie wollten nach Hause und sich zwei Tage freinehmen?«
»War ich auch, aber inzwischen bin ich mehr hier zu Hause als anderswo«, sagte sie.
»Soso. Na ja, das kenn ich. Und der Fall auf Amrum hat sich ja etwas anders entwickelt als gedacht, was?«
»Etwas anders entwickelt« war eine maßlose Untertreibung, und Sandra missfiel es, wie lapidar Jensen diesen Satz von sich gab. Es war eine schreckliche Familientragödie daraus entwachsen, und sie dachte voller Mitgefühl an Nils, der nun einen schier unüberwindbaren Berg an Verarbeitungsprozessen vor sich hatte.
Sandra hatte auf Amrum im Fall der vermissten Anita Bohn ermittelt und war gerade erst aufs Festland zurückgekehrt, als ihre Dienststelle von der Feuerwehr über Hauke Petersens Selbstmordversuch unterrichtet worden war. Gleich am nächsten Morgen war sie wieder nach Amrum gefahren und hatte mit Elisabeth Petersen, Nils’ Mutter, gesprochen, die nach dieser Sache nur noch ein Schatten ihrer selbst gewesen war. Noch während Elisabeth die Zusammenhänge geschildert hatte, die zu dem Selbstmordversuch geführt hatten, war Sandra klar geworden, dass sie den Fall abgeben musste, dass sie Abstand brauchte, Ruhe und Abgeschiedenheit. Sie vermutete, dass es daran lag, dass sie Nils inzwischen zu nahestand, denn üblicherweise zog sie sich nicht aus laufenden Ermittlungen zurück, egal, wie schrecklich sie auch sein mochten. Aber aus einem ihr nicht bewussten Grund hatte die durch den Fall ans Licht gebrachte Familiengeschichte der Petersens sie dermaßen belastet, dass sie sich ausgeklinkt und um zwei Tage Urlaub bei Jensen gebeten hatte. Ein Urlaub, den sie dazu nutzen wollte, sich von alledem weit zu entfernen. Unheinholbar weit. Mit jedem Kilometer, den sie ihrer Heimatstadt näher gekommen war, hatte sich ihr Entschluss immer mehr gefestigt. Sie würde heimkehren und sich befreien. Allein der Gedanke daran hatte ihr die Last von den Schultern genommen und sie sich leichter fühlen lassen.
»Tja, wir wissen immer noch nicht mit Sicherheit, ob Anita Bohn ertrunken ist, aber alles deutet darauf hin. Was die Geschichte von damals angeht, entscheidet die Staatsanwaltschaft, ob überhaupt noch Anklage erhoben werden kann«, erklärte Jensen.
»Und Nils? Ist Herr Petersen noch im Krankenhaus?«, fragte sie.
»Ja, beide sind noch dort.«
Sandras Gedanken schweiften wieder auf die Insel.
»Frau Keller«, begann Jensen und stieß seine Tür mit der Schulter weiter auf, »würden Sie einen Augenblick in mein Büro kommen?«
Sandra folgte ihm und setzte sich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Jensen war ein guter, gewissenhafter Polizist, Familienvater und ein netter Kerl. Auch jetzt, nach den inzwischen mehr als zwei Jahren seit ihrer Versetzung von Flensburg nach Niebüll, sprach er sie immer noch mit dem Nachnamen an, als spürte er ihre Abneigung gegen allzu viel Nähe. Er respektierte das ohne jeglichen offenen oder stummen Kommentar. Die anderen Kollegen hatten sich schon öfter scherzhaft über ihre Art beschwert und sie »Miss Rührmichnichtan« oder »Revierprinzessin« betitelt. Doch mit der Zeit hatten sie ihre Versuche, sie in die Gemeinschaft aufzunehmen und zu privaten Treffen zwischen Kollegen einzuladen, aufgegeben und ihre Zurückhaltung einfach akzeptiert. Sie würde zwar nie die Medaille zur beliebtesten Mitarbeiterin des Monats gewinnen, aber wenigstens hatte sie dadurch ihre Ruhe.
Jensen stellte seine Tasse auf einen freien Platz auf seinem Schreibtisch und schob einen kleinen Aktenstapel beiseite. Er fuhr sich kurz und ruckartig mit beiden Händen durch seine widerspenstigen braunen Haare, rieb sich über das Gesicht und blickte Sandra dann besorgt über seinen Schreibtisch hinweg an. Sandra vermutete einen neuen schwerwiegenden Fall, den er ihr übertragen wollte.
»Frau Keller, Sie sind eine wirklich gute Polizistin, und ich bin sehr froh, Sie bei uns zu haben. Sie haben unsere Dienststelle seit Ihrem Wechsel hierher sehr bereichert.«
Das konnte nur ein unvermeidliches Aber nach sich ziehen. Sandra überlegte, was sie falsch gemacht haben könnte. Hatte sie sich irgendwas zuschulden kommen lassen? Ein verspäteter Bericht? Nichteinhaltung des Dienstweges? Oder hatte Jensen etwas von ihrer kurzen Affäre mit Nils mitbekommen? Das musste es sein. Deswegen hatte er eben auf ihre Frage, ob Nils noch im Krankenhaus war, auch betont, dass das für Hauke Petersen ebenfalls galt. Es hatte eine Anspielung sein sollen, die sie nicht verstanden hatte. Das Opfer sollte sie mehr interessieren als dessen Retter. Innerlich versuchte sie, eine Barriere gegen die nun folgenden Anschuldigungen aufzubauen. Sie setzte sich kerzengerade auf den Stuhl, hob ihr Kinn und blickte ihn aus schmalen Augen an.
»Frau Keller, wann war Ihr letzter Urlaub?«
»Mein …«, stammelte sie und sank auf dem Stuhl vor Überraschung zusammen.
»Urlaub, wann waren Sie das letzte Mal im Urlaub?«
Sandra war so perplex, dass sie nicht einen klaren Gedanken fassen konnte. Was wollte er ihr eigentlich vorwerfen?
»Sehen Sie, ich mache mir Sorgen. Sie arbeiten seit über zwei Jahren für uns und haben eine unglaubliche Latte an Überstunden angehäuft. Urlaub haben Sie so gut wie nie genommen oder sind, wenn Sie mal ein paar Tage weg waren, so wie jetzt früher wiedergekommen. Nur einmal waren Sie vierzehn Tage am Stück in Urlaub, aber soviel ich weiß, haben Sie in der Zeit den Umzug Ihrer Mutter ins Pflegeheim organisiert.«
Sandra blinzelte nervös und rutschte ungeduldig auf ihrem Stuhl hin und her. Es wurde plötzlich unangenehm heiß hier im Büro.
Jensen verzog den Mund zu einem freundlichen Grinsen und hob versöhnlich seine dunklen Augenbrauen.
»Ich mache mir lediglich Sorgen um Sie. Ohne Sie beleidigen zu wollen, Frau Keller: Sie sehen nicht gut aus. Sie sind abwesend. Ruhen Sie sich doch mal aus. Fahren Sie irgendwohin. Entspannen Sie sich.«
»Herr Jensen, ich … weiß nicht …« Sie wusste nicht mehr weiter.
»Ihr letzter Fall ist so gut wie abgeschlossen. Was noch zu tun ist, werden die Kollegen problemlos ohne Ihre Hilfe erledigen können. Ansonsten ist im Moment Ruhe. Die übliche Routine.«
»Aber ich –«
»Kein Aber. Sie nehmen sich frei. Haben Sie keinen Ort, an den Sie schon immer fahren wollten? Niemanden, den Sie gerne mal besuchen wollen?«
Sandra rieb ihre feuchten Handflächen an ihren Hosenbeinen ab. Besuchen? Orte, die sie sehen wollte? Sie könnte zu Nils fahren. Ins Krankenhaus. Das wäre eine Möglichkeit. Amrum hatte sie bereits kennengelernt, Föhr wäre mal was Neues. Inseln gefielen ihr grundsätzlich. Ja, vielleicht würde sie nach Föhr fahren. Sich eine kleine Wohnung nehmen, lesen, ins Café gehen und hinaus aufs Meer schauen. Sie stand auf.
Jensen fuhr überrascht zurück. »Hoppla, soll’s gleich losgehen?«
»Was? Ach so, ja. Gute Idee. Sie haben sicher recht. Danke. Ist noch irgendwas?«
»Nein. Von meiner Seite aus nichts.«
Sie verabschiedete sich und ließ Jensen zweifelnd zurück.
Er glaubte nicht recht, dass ein paar Urlaubstage Sandras Gemütszustand verbessern würden. Falls sie überhaupt fahren würde.
***
Die Fähre polterte langsam der Landungsbrücke entgegen, nachdem sie sich einmal um hundertachtzig Grad gedreht hatte. Die vordere Ladeluke öffnete sich wie das Maul eines monströsen Hais, und Sandra konnte die am Anleger wartenden Fahrgäste erkennen. Das Schiff vibrierte. Die meisten ihrer Mitreisenden saßen bereits wieder in ihren Autos und blickten erwartungsvoll auf die meterbreite Öffnung vor ihnen, die sie in wenigen Minuten in die Freiheit entlassen würde. Die Brücke krachte auf Deck, und der Mann mit der Fernbedienung machte den Weg frei für die Gäste, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs waren. Sandra folgte der losstürmenden Gruppe bis auf den Parkplatz des Hafens. Unschlüssig blieb sie stehen. Sie konnte sich ein Taxi nehmen oder mit dem Bus zu ihrer Wohnung fahren. Aber eigentlich wollte sie jetzt mit niemandem sprechen. Ein lautes Hupen in ihrem Rücken ließ sie auffahren, und sie machte der Autoschlange Platz, die sich nun von der Fähre auf die Insel schob.
In dem auf einer Anhöhe stehenden Hafenbüro holte sie sich eine Karte der Insel und studierte diese vor der Tür. Ihre Wohnung lag in der Mittelstraße, in der Nähe des Gemeindehauses von Wyk, und konnte kaum weiter als zehn Minuten von hier entfernt sein. Sie machte sich mit ihrem Rollkoffer auf und schritt durch das Wasserschutztor der einzigen Stadt von Föhr. Sie erreichte einen kleinen Platz. Restaurants und Geschäfte und das rege Treiben hier auf der rot gepflasterten Straße ließen sie erkennen, dass sie sich auf der Promenade befinden musste. Hinter einem größeren Hotelkomplex begann der schmale weiße Sandstrand. Ein italienisches Restaurant pries seine deutsche Küche an, und an einer Pommesbude, die laut Aushang ohne Fett briet, standen Eltern mit ihren Kindern in der Schlange und wurden von den über ihnen kreisenden Möwen beobachtet. Sandra bog rechts in eine Straße ein und folgte dieser über eine kleine Anhöhe bis zu einer Gabelung, an der sie sich links halten musste. Die Dame am Telefon hatte ihr gesagt, sie solle nach einem Teeladen suchen. Die Wohnung befände sich gleich darüber.
Sie roch den Laden, noch bevor sie ihn sah. Frau Stinnes wohnte im selben Haus in der unteren Etage und öffnete Sandra. Sie war eine freundliche weißhaarige Frau mit einem noch jungen Gesicht und stahlblauen Augen.
»Sind Sie das erste Mal auf Föhr?«, fragte sie, während sie die schmale Treppe nach oben gingen.
»Ja, das ist richtig.«
»Wir haben hier ein ganz tolles Angebot für Jung und Alt. Ich gebe Ihnen gleich ein paar Prospekte, damit Sie sich schnell zurechtfinden und einen schönen Urlaub verbringen können.«
»Danke, das ist nett«, sagte Sandra, und sie erreichten eine weiß gestrichene Tür mit einem Blumenkranz. Er war echt, fiel Sandra auf.
Frau Stinnes öffnete die Tür und führte sie in ein mit weißem Holz getäfeltes Zimmerchen, das sich unter zwei Dachschrägen duckte und ein bogenförmiges Fenster hatte, das nach vorn auf die Fußgängerzone blickte. Der Raum sah aus wie eine Puppenstube, weiß getüncht, mit hübschen winzigen Möbeln und einer kleinen Teeküche, die mit einem Quadrat aus Kacheln in Friesenmuster hinterlegt war.
»So, das wäre Ihre Wohnung«, sagte Frau Stinnes und lächelte so einnehmend, dass Sandra sich auch wohlgefühlt hätte, wenn ihr die Wohnung nicht gefallen hätte. Aber sie mochte sie.
»Schön, wirklich. Genau das, was ich gesucht habe.«
»Da bin ich aber froh. Sie ist sehr ruhig und gleichzeitig zentral gelegen. In Wyk können Sie praktisch alles zu Fuß erreichen. Den Strand, die Restaurants, das Schwimmbad, das Kino, das Gemeindehaus.«
»Wo finde ich denn das Krankenhaus?«, fragte Sandra, und sofort verschwand das Lächeln aus Frau Stinnes’ Gesicht und wurde durch einen besorgten, fast mütterlichen Blick ersetzt.
»Das Krankenhaus?«
»Ja, ich möchte jemanden besuchen.«
»Oh ja, das ist auch ganz leicht zu finden.«
Frau Stinnes beschrieb Sandra den Weg, worauf die nur ihren Koffer in die Ecke hinter dem Bett stellte und mit ihrer Vermieterin gleich wieder nach unten ging. Frau Stinnes verschwand in ihrer Wohnung, aus der es nach Tee, Zitrone und gekochtem Fisch roch.
Auf der Promenade bekam Sandra fast den Eindruck, sie befände sich in Italien. Die Sonne stand zwei Finger breit über Amrum an einem blauen Himmel, der nur vereinzelt von ein paar schneeweißen Wolken bedeckt war. Der Wind ging schwach, kaum merklich, es roch nach Salz und Kaffee und süßem Kuchen. Nur die Temperaturen stiegen jetzt in der Herbstsaison nicht mehr höher als fünfzehn Grad. Auf der Grünfläche zwischen dem Fußweg und dem Strand hatten die zahlreichen Cafés und Restaurants im Schatten der Bäume Tische und Stühle mit warmen Decken bereitgestellt. Kinderlachen drang vom Strand zu ihr herauf und das Geräusch von Volleybällen, die über die Netze geschlagen wurden. Sandra war ganz allein. Niemand kannte sie hier. Sie war frei und unabhängig, und dies war der Zeitpunkt, um endlich einmal zu entspannen, alles von sich abfallen zu lassen, was wie Ballast an ihr hing. Sie wollte die Säcke loslösen und hinunterwerfen und wie ein Ballon in das unendliche weite Blau des Himmels emporsteigen. Leicht und ohne jeden Zweifel. Einfach mit dem leichten Wind ziehen, dorthin, wo es hell und freundlich war und die Luft klar und frisch.
Beinahe hätte sie die Augen geschlossen, um diesem Bild zu folgen, doch dann flatterten ihre Augenlider ängstlich, und Schatten trübten den Himmel, sodass ihr Ballon nicht mehr abheben konnte. Sie dachte an ihre Mutter, die jetzt im Heim am Fenster saß. Das war ein Bild, das sie nicht lange ertragen konnte, und so wendete sie sich den Restaurants zu und setzte sich schließlich an einen Tisch. Die Beine in eine Decke gewickelt, aß sie früh zu Abend und genoss die Aussicht auf die untergehende Sonne. Gleich morgen früh wollte sie Nils besuchen. Für heute hatte sie genug erlebt. Wenn sie daran dachte, dass sie am Morgen noch selbst in Flensburg im Krankenhaus gelegen hatte, konnte sie es kaum glauben. Sie war von einer Küste zur anderen gefahren, und es erschien ihr wie der Wechsel in ein vollkommen anderes Leben.
3
Nils erwachte von den Sonnenstrahlen, die durch die gazeartigen Vorhänge in sein Zimmer fielen. Sogleich bemerkte er die ungewohnten und geschäftigen Geräusche, die von draußen zu ihm hereindrangen. Stimmen, Schritte, Klappern, Quietschen. Wo war er? Er hatte das Gefühl, Jahre geschlafen zu haben und soeben aus einem Traum erwacht zu sein, einem Traum, der sein Leben auf den Kopf gestellt hatte. Ein Alptraum. War das alles wirklich passiert? Er sah sich um. Er lag in einem Krankenhaus. Allein. Die Vorhänge bewegten sich atmend in der Luft, die durch ein geöffnetes Fenster drang. Er stand auf, tapste auf nackten Füßen über das kalte Linoleum zu der Fensterreihe und öffnete die Vorhänge. Vor ihm lag ein kleiner Park. Die Dächer der benachbarten Häuser schimmerten durch die Kronen der Bäume. Für den Winter war es noch ein wenig früh, der Herbstwind hatte jedoch schon einige Blätter von den Zweigen gerissen. Irgendwo hinter den Dächern meinte Nils, das Meer erahnen zu können. Diffuse Wolken zogen sich über den blauen Himmel. Das hier war nicht Amrum. Alles war fremd und anders. Seine Insel lag ein paar Kilometer weiter draußen, sagte ihm sein Verstand. Das war nicht nur befremdlich, es war auch beängstigend. Amrum war sein Mittelpunkt, es war immer unter seinen Füßen gewesen, war der Ursprung aller seiner Perspektiven. Und nun befand er sich außerhalb davon. Er machte einen Schritt zurück. Schwindel ergriff ihn, und er musste sich an seinem Bett festhalten. Da wurde die Tür geöffnet, und eine Schwester kam herein.
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