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Ein ungleiches Geschwisterpaar ermittelt: amüsanter Landkrimi mit Schauplatz Münsterland
Ein grausiger Fund stört das sonst so friedliche Dorfleben in Horstmar: Auf mehreren Bauernhöfen werden Leichenteile gefunden. Handelt es sich bei dem zerstückelten Toten um den verschwundenen Tierarzt Dr. Stratmann?
Tanja Terholte ist Kommissarin im Dezernat für Schwerverbrechen in Münster und übernimmt die Mordermittlung in ihrem Heimatort. Doch die Dorfbewohner machen es ihr nicht leicht – schließlich galt Tanja schon immer als schräger Vogel. Dass sie nun unangenehme Fragen stellt, gefällt vielen nicht.
Zum Glück kann sich Tanja auf die Unterstützung ihres Bruders Rudi verlassen. Durch seinen Beruf als Metzger verfügt er über großes Fachwissen, das er als Hobby-Forensiker anwendet. So gelingt es Rudi, die Mordwaffe zu identifizieren: Der Tote wurde mit einem sehr scharfen Ausbeinmesser zerteilt. Wer könnte hinter dem brutalen Mord stecken?
Ein Regionalkrimi blickt hinter die trügerische Dorfidylle
Als Metzger ist Rudi Terholte Experte für Stichverletzungen. Das macht ihn in den Augen der Dorfbewohner zum Mordverdächtigen – schließlich galt er immer schon als verschroben. Doch Tanja gibt nichts auf den Dorfklatsch und ermittelt im privaten wie im beruflichen Umfeld Stratmanns. Verbirgt sich hier ein Mordmotiv?
Bent Ohles erster Münsterlandkrimi ist eine Krimi-Empfehlung für Leser, die schon immer ahnten, dass das Leben auf dem Land voll unerwarteter Abgründe steckt!
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Seitenzahl: 319
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Deutsche Originalausgabe:
LV.Buch im Landwirtschaftsverlag GmbH,
48084 Münster
© Landwirtschaftsverlag GmbH,
Münster-Hiltrup 2021
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Herausgeber:
top agrar im Landwirtschaftsverlag GmbH
Idee:
Guido Höner und Melanie Suttarp
Gestaltung:
LV MediaPro im Landwirtschaftsverlag GmbH
Titelillustration:
Noemi Bengsch, www.noemis-atelier.de
Lektorat:
Marit Obsen
Druck:
GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-7843-5614-3
eISBN 978-3-7843-9243-1
www.lv-buch.de
Bent Ohle
Auf Messers Schneide
Ein MünsterLANDkrimivon Bent Ohle
Nach einer Idee von Guido Höner und Melanie Suttarp
Zum Buch
eins
zwei
drei
vier
fünf
sechs
sieben
acht
neun
zehn
elf
zwölf
dreizehn
Das Messer blitzt, die Schweine schrein,
Man muß sie halt benutzen,
Denn jeder denkt: »Wozu das Schwein,
Wenn wir es nicht verputzen?«
Und jeder schmunzelt, jeder nagt
Nach Art der Kannibalen,
Bis man dereinst »Pfui Teufel!« sagt
Zum Schinken aus Westfalen.
Wilhelm Busch: „Bis auf weiters“
„Man muss nicht mehr schlachten,
als man salzen kann.“
Volksmund
Mein Fritz lebt nun im Vaterland der Schinken,
Im Zauberland, wo Schweinebohnen blühen,
Im dunkeln Ofen Pumpernickel glühen,
Wo Dichtergeist erlahmt, und Verse hinken.
Heinrich Heine: „An Fritz von Beughem!“
„Wenn man auf dem Lande lebt,
weiß man, ob man will oder nicht, alles,
was ringsum vor sich geht.“
Leo Tolstoi
Ich möchte an dieser Stelle ein paar Worte über die Entstehung des Buches verlieren. Im Frühjahr 2019 kamen Guido Höner, der Chefredakteur des Magazins top agrar, und Melanie Suttarp aus dem Landleben-Ressort von top agrar auf mich zu und fragten mich, ob ich mir eine Zusammenarbeit mit ihnen vorstellen könnte. Die Idee war, einen Krimi zu entwickeln, der nicht nur auf dem Land spielen sollte, sondern in dem auch Figuren, die auf dem Land zu Hause sind und in der Landwirtschaft arbeiten, als Ermittler auftreten.
Wir trafen uns in Münster im Landwirtschaftsverlag zu einem ersten Brainstorming mit Kristin Sommer und Lena Siemann von LV.Buch und waren uns sofort einig, dass der Krimi im Münsterland beheimatet sein sollte, da mit Guido Höner und Melanie Suttarp auch zwei Redakteure an meiner Seite waren, die hier zu Hause sind und Land und Leute kennen. Beide hatten bereits zu dem Brainstorming eine Ideenskizze mitgebracht, die das Geschwisterpaar von Kommissarin und Metzger als Hauptfiguren einführte. Ich war begeistert von der Idee und auch überzeugt, dass man daraus einen Krimi entwickeln könnte, der mit einer guten Story und dem nötigen Maß an münsterländischem Humor den Leser fesseln kann.
Guido Höner schlug den Ort Horstmar als Setting vor und lud uns an zwei Tagen auf Recherche ins Münsterland ein, um vor Ort besondere und typische Orte, Gebäude, Dörfer und Geschichten kennenzulernen. Von da an stand dem Münsterlandkrimi nichts mehr im Weg, und ich muss zugeben, dass ich schon während des Schreibens sehr viel Spaß an der Story hatte – was man dem fertigen Skript hoffentlich anmerkt. Insgesamt ist das Buch ein schönes Beispiel für eine gelungene Teamarbeit und alle Beteiligten freuen sich auf ein Wiedersehen mit den Figuren im zweiten Teil.
Hinter einem Schleier aus Nebel ging eine blutrote Sonne über den Feldern des Münsterlands auf. Die Nacht war kalt gewesen, doch es kündigte sich wieder ein heißer, sonniger Tag an, und in der Luft lag dieser kräftige, aromatische Geruch von reifem Korn. Das kleine Städtchen Horstmar erwachte langsam aus seinem Schlaf. Lichter gingen an, Haustüren wurden geöffnet, Hähne krähten, Trecker wurden gestartet, und über allem zwitscherten die Vögel. Es hätte so schön sein können, wäre da nicht diese eine Sache gewesen, die nicht nur eine Sache bleiben, sondern sich auf erschreckende Art und Weise für den Ort und seine Bewohner ausweiten sollte.
Wie eine Fliege auf dem frisch gebackenen Kuchen, könnte man sagen. Nein, das ist ein zu harmloser Vergleich. Wenn Horstmar der Kuchen war, und diese eine Sache die Fliege, dann hatte sie jemand brutal mit einer Klatsche auf dem Tortenguss des Kuchens erschlagen, wodurch dieser ungenießbar geworden war.
Tanja Terholte stand am Gatter, beide Arme auf der obersten Holzbohle abgelegt, und sah amüsiert zu, wie ihre Rinderherde auf sie zugelaufen kam wie ein Wurf Welpen, den man zu sich gerufen hatte. Sie hatte die Ärmel ihres blau-weiß karierten Hemdes hochgekrempelt und einen Fuß in die Streben des Gatters gestellt. Ihre schulterlangen strohblonden Haare trug sie wie immer offen und lächelte, was nicht allzu oft vorkam.
Die Tiere drängten sich ans Gatter und ließen sich bereitwillig von ihr kraulen und streicheln. Es waren japanische Wagyu-Rinder in einer Herde von inzwischen achtundzwanzig Tieren, die sie auf dem ehemaligen Hof ihrer Mutter hielt.
„Moin, Schwester“, sagte eine raue Stimme hinter ihr. Es war ihr Bruder Rudi, mit dem sie sich diese Herde und den Hof teilte. Er war ein kräftiger Kerl mit leichtem Bauchansatz, der auf dem Hof immer schwarze Gummistiefel und blaue Leinenhemden mit Rundkragen trug. Aber sein auffälligstes Merkmal war ein feiner, sehr spitzer Oberlippenbart, den er jeden Morgen minutenlang zwirbelte, bis er so saß, wie er ihn haben wollte.
„Moin, Metzger“, sagte sie, ohne ihn anzusehen. Sie nannte ihn Metzger, weil er Metzger war und diese Bezeichnung Distanz und Nähe zugleich zwischen ihnen aufrechterhielt.
Rudi betrieb eine Schlachterei im Ort und bot auch das Fleisch ihrer eigenen Tiere dort an, größtenteils verkauften sie es jedoch an die Gastronomie in der Region. Das Fleisch war eine absolute Delikatesse und wurde entsprechend bezahlt. Nur so konnten sie die Bewirtschaftung des Hofes halbwegs profitorientiert ausrichten. Da Tanja das Ganze nur im Nebenerwerb bewältigen konnte und ihre Mutter in ihrem fortgeschrittenen Alter keine volle Arbeitskraft mehr war, hatten sie vor knapp dreizehn Jahren die Entscheidung getroffen, auf Wagyu-Rinder umzusatteln. Sie besaßen auch noch vier Glanrinder, ein paar Ziegen und Hühner. Einen Hofhund wie die meisten anderen hatten sie nicht. Dafür saß ihre Mutter Elisabeth den lieben langen Tag auf der Bank vor dem kleinen Hofladen, den sie außerdem betrieben, und bellte die Leute an, wenn sie auf den Hof kamen. Manchmal glaubte Tanja, dass ihre Mutter ihnen mit dem Hofladenverkauf mehr schadete als nützte, aber sie wollten ihr eine Aufgabe geben, damit sie sich nicht nutzlos fühlte.
An ihren Vater hatten sowohl Tanja als auch Rudi keine Erinnerungen mehr. Er hatte die Familie verlassen, als es dem Hof wirtschaftlich so schlecht ging, dass er kurz vor dem Konkurs stand. Von einem Tag auf den anderen hatte Elisabeth die ganze Verantwortung und die gesamte Last allein tragen und zusätzlich noch Tanja und Rudi großziehen müssen. Das war eine harte Zeit gewesen, und der Hof hatte einige Federn gelassen. Die meisten Flächen hatte Elisabeth an den Nachbarn Vossenkuhl verkauft und von Ackerwirtschaft auf Mutterkuhhaltung umgestellt. Keiner wusste genau, wie sie das alles hinbekommen hatte. Aber der Hof konnte dadurch gerettet werden.
„Ich muss los“, sagte Tanja und klopfte Gunnar auf den Hals.
„Morgen muss ich ihn schlachten“, bemerkte Rudi mit belegter Stimme und kratzte sich am Kopf.
Tanja entgegnete nichts, sie drehte sich um und ging zu ihrem 97er Mitsubishi Pajero, den sie – für alle anderen völlig unverständlich – innig liebte. Kurz darauf fuhr sie vom Hof und auf den Sonnenaufgang zu, der heute wie bereits gesagt durch den Nebel recht blutig, aber darum nicht weniger schön aussah.
Rinderzüchterin im Nebenerwerb war Tanja nämlich deswegen, weil sie hauptberuflich als Kriminalhauptkommissarin bei der Mordkommission in Münster arbeitete.
* * *
„Mein Gott, für dieses prähistorische Blechmonster brauchen Sie einen gesonderten Waffenschein“, begrüßte sie ihr Abteilungschef auf dem Parkplatz, als sie kurz nach seiner Ankunft in ihre Parklücke gefahren und ausgestiegen war. „Wenn Sie sich einen neuen Wagen kaufen, gebe ich Ihnen gerne was dazu“, meinte er und zog sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche. „Ich wette, Ihre S-Klasse gibt zuerst den Geist auf“, konterte Tanja. „Das Geld nehme ich nur als Wetteinsatz an.“
Mürrisch stopfte Fritz-Anton Zaunholz die Scheine wieder zurück. „Ihnen kann man nicht mehr helfen.“
„Ich brauche gar keine Hilfe, komme bestens ohne klar.“
„Dieser rollende Wellblechschuppen ist ein Schandfleck für eine Einrichtung wie diese.“
Seite an Seite gingen sie auf den Hintereingang des Präsidiums zu.
„Sprechen Sie jetzt als der Kurator des Westfälischen Automuseums Münster zu mir?“
„So ein Museum gibt es doch gar nicht, Frau Terholte“, polterte er und öffnete die Tür.
„Eben, Herr Zaunholz, eben.“
Sie huschte vor ihm durch den Eingang.
„Und den ganzen Dreck von Ihrer vietnamesischen Kuhwirtschaft tragen Sie auch noch hier herein.“ Er deutete mit hochrotem Kopf auf einige Klümpchen Erde auf den glänzenden Fliesen.
„Im Gegensatz zu Ihnen und den anderen Kollegen schaffe ich es, gleich zwei Berufe auszuüben und dabei in beiden Spitzenleistungen zu bringen. Und wenn Sie das nächste Mal vor dem Bürgermeister damit prahlen, was für ein tolles Kobesteak Sie bei Sternekoch Lauchhammer gegessen haben, denken Sie daran, dass es von meinem Hof kommt.“
„Also …“ Zaunholz stand der Mund offen, weil er so schnell nichts zu erwidern wusste. „Das ist doch wohl …“
„Das ist doch wohl mal Fakt“, half sie ihm aus und drückte, da sie direkt vor dem Aufzug standen, den Knopf für ihn. Ich nehme die Treppe. Irgendwie muss ich den ganzen Kuhmist ja von den Sohlen kriegen.“
Mit diesen Worten ließ sie ihn stehen und lief fröhlich in den zweiten Stock hinauf.
* * *
Lothar Wenninghoff hieb mit der Schulter gegen die Tür zum Schweinestall, weil sie immer ein wenig klemmte, und trat ein. Er machte gerade seinen morgendlichen Kontrollrundgang durch seinen Schweinemastbetrieb mit 1200 Tieren. Ein aufgeregtes Grunzen und Schmatzen weiter hinten im Stall erregte seine Aufmerksamkeit. In einer der Buchten stritten sich die Schweine um irgendetwas. Lothar kannte dieses Verhalten von ihnen nicht, daher befürchtete er das Schlimmste, nämlich dass eines der Tiere krank war und von den anderen angefressen wurde. So etwas konnte passieren. Allerdings hatte Lothar das seit über zehn Jahren nicht mehr erlebt. Eilig stapfte er den Gang hinunter zu der besagten Bucht und fand die Schweine tatsächlich um die Futterausgabe geschart vor.
„Hey, was zum Henker fresst ihr da?“, rief er, trat in die Bucht und drückte die Tiere zur Seite. Schon auf den ersten Blick erkannte er, dass es nicht sein Futter war, was ihnen hier so schmeckte. „Was ist das?“
Mit dem Finger stocherte Lothar in der Masse herum. Es schien sich um Fleisch zu handeln. Aber wie war das in den Trog geraten? Er dachte an seine Frau, verwarf den Gedanken jedoch sofort wieder, denn sie würde so etwas nicht tun.
Fluchend besorgte er sich ein paar Eimer und Handschuhe und schöpfte den gesamten Inhalt aus dem Trog, während er die wilden Fressversuche der Schweine abwehrte.
„Was machst du denn da?“, fragte seine Frau irritiert. Sie hatte von ihm unbemerkt den Stall betreten und stand nun mit in die Hüfte gestemmten Fäusten hinter ihm.
„Jemand hat hier Fleisch in den Trog getan!“
„Was? Wer denn?“
„Ja, was weiß ich. Irgendjemand. Keine Ahnung, was das soll. Aber irgendwer war hier drin. Das gefällt mir überhaupt nicht.“
„Meinst du, das ist vergiftet?“, fragte sie besorgt.
Er schaute abschätzend in den Eimer. „Hoffe nicht. Das müsste ein Arzt untersuchen.“
„Da …“, sagte Wenninghoffs Frau mit einer merkwürdig hohen Stimme, bevor sie die Augen nach oben verdrehte und in sich zusammensackte.
Lothar ließ den Eimer fallen. „Schatz, was …“
Er eilte ihr zu Hilfe, kniete sich neben sie und nahm ihr Gesicht in beide Hände. Sie war ohnmächtig. Ein Blick zurück in den Stall sagte ihm auch, warum. Eines der Schweine hatte etwas im Maul, das daraus hervorschaute wie eine Zigarre.
Es war ein menschlicher Finger.
Tanja stand zusammen mit ihrem Kollegen Oberkommissar Jens Förster im Käseladen der Szepanskis. Herr Szepanski war vorgestern Abend, am Samstag nach Ladenschluss hinter seiner Theke überfallen und erschlagen worden. Seine Witwe verharrte mit zerknittertem Taschentuch und verlaufenem Kajal in der Mitte des Ladenraums und hatte den Blick vom Tatort abgewandt.
„Noch mal zum zeitlichen Ablauf“, hakte Förster nach und leckte seinen Bleistift an, eine Marotte, die Tanja jedes Mal wieder anekelte. „Sie verließen den Laden um?“
Frau Szepanski atmete röchelnd durch die Nase ein und drückte das Taschentuch auf ihr linkes Auge.
„Ich ging etwas früher, so zwanzig Minuten ungefähr, weil ich Essen machen wollte.“
„Also um siebzehn Uhr vierzig“, stellte Förster fest und schrieb es auf.
„Ungefähr, ja.“
„Und Sie wohnen wo?“
„Zu Fuß sind es nur zehn Minuten von hier, Georgstraße.“
Tanja lauschte ihren Ausführungen, während sie sich im Laden umsah. Sie musterte die üppig bestückte Theke, die alten Holzregale hinter dem Tresen, die Auslagen im Fenster und den Blutfleck auf dem Boden vor der Kasse. „Und wann sind Sie zurück in den Laden gekommen?“
„Das war so gegen zwanzig nach sechs. Oder noch später. Er ging nicht an sein Telefon, deshalb bin ich noch mal zurück“, sagte sie nasal und schnäuzte in das Taschentuch. Na, hoffentlich wischt sie sich damit nicht gleich wieder die Augen, dachte Tanja und warf einen Blick in die leere Kasse.
„Als Sie reinkamen, sahen Sie was?“
„Na, meinen Mann, am Boden!“ Sie riskierte einen sekundenkurzen Blick auf die benannte Stelle und schaute gleich wieder hinaus auf die Straße.
„Und dann riefen Sie die Polizei an, richtig?“
„Genau.“
„Ach ja, und Sie kamen durch die Hintertür, nicht wahr?“
„Das musste ich, der Laden war ja bereits geschlossen.“
„Richtig. Und die Tür war aufgebrochen.“
„Das hab ich gesehen und gleich so eine schreckliche Ahnung gehabt.“
Tanja schlich durch einen Türrahmen ohne Tür in den hinteren Bereich des Ladens. Dort lag die aufgebrochene Hintertür lose im Schloss. Die Kriminaltechnik hatte ihre Arbeit hier bereits abgeschlossen. Tanja zog die Tür ein Stück weit auf und inspizierte das gesplitterte Holz aus der Nähe. Anschließend ging sie in die enge Küche, sah in die Spüle und inspizierte den Müll. Darin fand sie die Glasscherben eines zerbrochenen Aschenbechers. Und auf der Innenseite der Küchentür fiel ihr eine frische Kerbe ins Auge, wo ein Stück Holz abgeplatzt war. Mit dem Finger fuhr sie darüber, bis sie sich einen Splitter einfing und die Hand zurückzog. Doch es war kein Holzsplitter, der in ihrer Fingerkuppe steckte, sondern ein winziger Splitter aus Glas.
„Na, sieh mal an“, sagte sie zu sich selbst und drückte den Finger, bis ein wenig Blut kam.
„Was mach ich denn jetzt bloß?“, wimmerte Frau Szepanski in ihr Taschentuch, als Tanja in den Verkaufsraum zurückkehrte. Förster stand noch immer vor dem Blutfleck und notierte sich irgendetwas auf seinem Block.
„Sie gehen ins Gefängnis“, sagte Tanja in nahezu aufmunterndem Tonfall.
Die Witwe ließ ihre Hände sinken und starrte Tanja mit offenem Mund an.
„Was soll das denn jetzt, Tanja?“, flüsterte Förster.
„Nun, Sie gaben an, Ihren Mann gegen achtzehn Uhr dreißig hier gefunden zu haben. Die Täter hätten also eine gute halbe bis dreiviertel Stunde Zeit gehabt, um ihren Überfall durchzuführen.“
„Ja, und?“, fragte sie fast schnippisch.
„Nun, sicher stimmen Sie mir zu, dass es recht dumm von den Tätern gewesen wäre, die Hintertür aufzubrechen, sollten sie gewusst haben, dass Ihr Mann noch hier im Laden ist, nicht wahr? Ich meine, das dauert eine Weile, und es macht Krach. In dem Fall wäre es einfacher und sicherer für sie gewesen, zu klopfen und ihn dann zu überwältigen. Doch egal, ob sie geklopft haben oder eingebrochen sind, sie hätten ihn dadurch zur Hintertür gelockt. Wie kann es dann sein, dass sie ihn hier rücklings überwältigen?“
„Keine Ahnung, was die gedacht haben“, meinte sie laut.
„Schaut man nun auf die Kasse, ist es ja so, dass sie ihn überfallen haben müssen, während er den Kassensturz gemacht hat, richtig?“ Tanja wartete die Antwort erst gar nicht ab, sondern trat auf die Kasse zu und zog die Schublade weiter heraus. „Laut unseren Aufzeichnungen ging Ihr Notruf um achtzehn Uhr vierunddreißig bei der Polizeidienststelle ein.“
„Ja, dann ist das halt so“, sagte Frau Szepanski mit einem Schulterzucken. Ihre Tränen waren bereits versiegt.
„Sehen Sie, die Kasse produziert ja diese hübschen Kassenbons“, fuhr Tanja fort. „Und wenn Sie sich den letzten Bon ansehen, werden sie feststellen, dass die Kasse um achtzehn Uhr achtunddreißig zum letzten Mal geöffnet wurde. Sie hätten den Tätern eigentlich hier im Laden begegnen müssen. Aber das konnten Sie nicht, weil Sie selbst Ihren Mann umgebracht haben.“
„Das ist doch wohl die Höhe“, tönte Frau Szepanksi und schlug ihre Hand gegen ihren Oberschenkel.
„Finde ich auch“, sagte Tanja. „Sie hatten entweder die Tat von langer Hand geplant, oder es kam spontan zu einem Streit mit Ihrem Mann, in dessen Verlauf Sie ihn von hinten niederschlugen. Das würde die späte Abrechnung erklären, die Sie dann für die tödliche Attacke ausnutzten. Nun mussten Sie zusehen, wie Sie Ihre Hände reinwaschen konnten, und inszenierten diesen Überfall. Sie suchten hier im Laden nach einem Gegenstand, mit dem sie die Tür aufbrechen konnten, und taten das auch. Dann kamen Sie wieder herein und legten den Gegenstand zurück an seinen Platz. Förster, diesen Gegenstand und vermutlich auch die Mordwaffe werdet ihr also hier im Laden finden“, sagte sie an ihren Kollegen gewandt. „Dann gingen Sie in die Küche und beseitigten die Überreste Ihres Streits im Mülleimer, gingen anschließend in den Verkaufsraum und nahmen das Geld aus der Kasse. Förster, das Geld hat sie auf jeden Fall noch bei sich oder in ihrer Wohnung versteckt. Zum Wegschmeißen ist sie zu gierig, um es auf die Bank zu bringen, zu schlau.“
„Was fällt Ihnen eigentlich ein, mich zu beschuldigen und zu beleidigen? Ich werde Sie anzeigen wegen … wegen …“
„Machen Sie nur. Um meine Ausführungen zu Ende zu bringen: Zu guter Letzt riefen Sie die Polizei an und meldeten den Überfall. Sie sind nie nach Hause gegangen und haben auch kein Essen vorbereitet. Sie waren hier und haben Ihren Mann erschlagen.“
„Warum sollte ich das tun?“
„Verraten Sie es uns. Ich weiß nur, dass Sie es gewesen sind. Und die Beweise dafür werden sich finden lassen. Gut, ich wäre dann fertig. Hast du noch was?“, fragte sie Förster.
Dessen Handy klingelte, und er nahm das Gespräch entgegen.
„Aha. – Ja. – Okay, ich sag’s ihr. – Gut, bis dann.“
„Was ist?“
„Wir haben einen neuen Fall. In deinem Heimatort, wie’s aussieht. Der Chef dachte, das solltest du übernehmen.“
„Da sind wir ausnahmsweise mal derselben Meinung.“
Er trat auf Tanja zu. „Was sollte denn dieser Auftritt hier eben?“, fragte er leise.
„Du wolltest meine Hilfe.“
„Ja, aber doch nicht …“
„Was? Indem ich den Fall löse?“
„Du kannst doch gar nichts beweisen.“
Ein leises Klackern unterbrach sie. Beide drehten sich um und sahen, wie Frau Szepanski auf ihren Stöckelschuhen die Flucht antrat. Sie hatte die Ladentür aufgezogen und wollte sich hinausstehlen.
„Da läuft deine Unschuld. Schnell hinterher, Förster!“
* * *
Als Tanja ihr Büro betrat, stand Zaunholz bereits vor ihrem Schreibtisch und wartete auf sie.
„Sie können’s wohl kaum erwarten, mich hier gleich wieder rauszukriegen?“
„Ja, ich muss zugeben, dass mich dieser Anruf nicht ohne eine gewisse Freude zurückließ.“ Er reichte ihr das Telefonprotokoll des Gespräches mit den Kollegen aus Steinfurt. „Ein Bauer aus Ihrem Heimatdorf …“
„Stadt“, korrigierte sie ihn. „Sogar Burgmannstadt, falls Ihnen das was sagt.“
„Von mir aus auch das. Dieser Bauer gab jedenfalls an, Leichenteile in seinem Schweinestall gefunden zu haben, die wohl ein fremdes Individuum dort eingebracht hat.“
„Menschliche Überreste?“
„Das werden Sie herausfinden. Sie kennen sich dort aus, vielleicht kennen Sie sogar diesen Bauern und sind Nachbarn oder im gleichen Ortsverein oder was weiß ich. Ich will jedenfalls bis heute Abend wissen, ob das ein Mord war oder nicht.“
„Was soll es denn sonst sein? Ein Unfall? Selbstmord? Oder Killerschweine?“
Zaunholz rückte unwirsch seine rote Fliege zurecht, die Tanja so verabscheute. „Fahren Sie hin und erstatten Sie mir Bericht. Schriftlich bis heute Abend einundzwanzig Uhr.“ Tanja salutierte, und Zaunholz verließ schnaubend vor Wut das Büro. Dann las sie sich das Protokoll der Polizeidienststelle aus Steinfurt genauer durch. Lothar Wenninghoff war der Name des Bauern. Tanja kannte ihn und seine Frau Lisbeth. Sie ließ keine Zeit mehr verstreichen und machte sich auf den Heimweg, der heute zum ersten Mal auch der Weg zur Arbeit war.
* * *
Lothar und Lisbeth standen beide leichenblass vor ihrer Haustür, als Tanja ihren Pajero auf den Hof lenkte. Sogar von Weitem konnte sie erkennen, wie die Knie der beiden schlotterten. Lisbeths Augen war geschwollen vom Weinen, und in Lothars Lippen war keine Farbe mehr zu erkennen.
„Tanja“, sagte er überrascht, als sie ausstieg. „Es geht jetzt schlecht, wir warten gerade auf die Polizei.“
„Ich weiß, ich bin die Polizei, Lothar.“
Er runzelte die Stirn.
„Ach richtig“, raunte Lisbeth mit schwacher Stimme, „du bist ja …“
„Bei der Mordkommission“, beendete Tanja den Satz für sie. Sie reichte beiden die Hände. „Tut mir leid, dass ihr das mitansehen musstet.“
„Ja, wir haben die Kinder erst mal zur Oma gebracht. Damit die nichts mitkriegen. Es war einfach … fürchterlich.“
„Glaub ich. Könnt Ihr es mir bitte zeigen und kurz erklären, was heute Morgen passiert ist?“
„Ist denn sonst niemand von der Polizei hier?“, fragte Lisbeth.
„Nein, nur ich.“
„Aha. Und … ich dachte, es wäre mehr Personal da, wenn …“
„Das ist jetzt mein Fall. Ich entscheide, was getan werden muss. Aber dazu muss ich es mir ansehen. Nach dem zu urteilen, was ich bereits weiß, müssen wir von einem Verbrechen ausgehen. Ich schau’s mir an, und dann gebe ich den Kollegen von der Kriminaltechnik Bescheid.“
„Okay.“
„Also, wie lief das heute früh ab? Wer ging in den Stall?“
„Ich“, meldete sich Lothar. „Ich wollte meine Kontrollrunde machen und hörte plötzlich, dass in einer Box laut gefressen und um das Futter gekämpft wurde. Ich bin hin, und da waren alle Tiere am Trog. Als ich nachsah, entdeckte ich das Fleisch.“
„Verstehe. Zeigst du mir bitte die Box?“
Lothar öffnete die Tür, und sie traten ein.
„Die Schweine hab ich in eine leere Bucht umgestallt.“
„Das war völlig richtig.“
Lothar ging vor zu der besagten Box, in der immer noch Reste vom Fleisch im Trog und dem von ihm gefüllten Eimer lagen.
„Ich hab erst versucht, das alles rauszuholen. Dann ist Lisbeth in Ohnmacht gefallen, weil sie sah, wie einem Schwein ein Finger ausm Maul hing.“
„Ach du je. Das ist ja der Horror.“
„Ich …“ Lothar unterdrückte ein Würgen. „Ich hab ihn oben auf das Zeug im Eimer gelegt.“
„Okay, danke.“ Tanja zog sich Handschuhe an. „Ihr bleibt einfach hier stehen, und ich schau es mir genau an.“
Sie betrat vorsichtig die Box und sah zuerst in den Trog. Dann machte sie Fotos mit dem Handy von dem, was darin noch übrig war. „Habt ihr Kameras hier drin?“
„Nein, leider nicht.“
„Das wäre einfacher gewesen“, sagte Tanja und lächelte aufmunternd. Sie sah sich um und prüfte die Wände und die Decke. „Einen zweiten Eingang gibt es nicht, oder?“
„Nein, nur den vorne und die Klappen zu den Ausläufen.“
Sie nickte und widmete sich dann dem Eimer und seinem Inhalt.
„Ach du Scheiße“, entfuhr es ihr. Sie bückte sich, inspizierte alles und schoss weitere Fotos. Dann zückte sie ihr Handy.
„Ja, Terholte, Mordkommission. Ich brauche eine Technikereinheit und den Rechtsmediziner. Einen Sarg werden wir nicht brauchen, aber ’ne Menge Plastikbeutel.“
* * *
„So was hab ich überhaupt noch nicht gesehen“, sagte Karl Brüning von der Kriminaltechnik. Er stand in seinem weißen Overall neben Tanja im Stall. Etwa eine Stunde war vergangen, seit sie die Kollegen unterrichtet hatte.
„Den Schweinen zum Fraß vorgeworfen“, murmelte sie ganz in Gedanken.
„Hab gehört, Sie wohnen hier?“
„Ja.“
„Nette Gegend.“
„Moin zusammen“, flötete da eine Stimme, und Tanjas Schultern sanken herab. Dr. Schulze-Brennigkemper war der wahrscheinlich schlechteste Rechtsmediziner der Welt, von dem sie vermutete, dass er irgendein untalentierter Sohn eines wichtigen Mannes war, der seinen tumben Jüngling mit Vitamin B durch alle Instanzen des Studiums und des Berufslebens bis zu diesem Posten gelotst hatte. Aus dem Jüngling war nun ein ebenso tumber Mann Anfang dreißig geworden, was die Sache um keinen Deut besser machte. „Was haben wir denn Schönes?“, fragte er und klatschte in die Hände.
Tanja und Brüning sahen sich gequält an.
„Was an einem Eimer voll menschlicher Überreste schön sein soll, dürfen Sie sich gern selbst beantworten. Ich will es nicht hören. Ihr Untersuchungsobjekt befindet sich jedenfalls im Eimer. Im Trog werden Sie auch noch das ein oder andere Teilstück finden.“
„Eimer? Trog?“, fragte er und blieb stehen, so als ob er gar nicht mehr weiter in die Box gehen wollte.
Tatsächlich stellte er sich jetzt auf die Zehenspitzen, um einen Blick in den Eimer zu werfen.
„Das sieht ja gar nicht so gut aus“, kommentierte er seinen ersten Eindruck. „Wie kommen Sie darauf, dass es menschliches Dings … äh … Gewebe ist?“
„Da war ’n Finger dabei.“
„Ach so? Naja, dann sehe ich das so wie Sie.“
„Ich brauche so schnell wie möglich eine Analyse des Gewebes. War es ein Mann oder eine Frau? Wir müssen das Opfer identifizieren und die Todesursache ermitteln. Können Sie uns jetzt schon irgendetwas sagen? Todeszeitpunkt wird auch schwer, oder?“
Er sah sie entsetzt an. „Ja, extrem schwer.“
„Von hier aus“, fügte Brüning an.
Schulze-Brennigkemper schluckte. „Dann geh ich mal rein“, sagte er zögerlich.
„Bitte, gern.“ Tanja machte eine einladende Geste.
„Ach du heiliger Vater“, sagte er, als er über dem Eimer stand.
„Sie meinen, es ist ein Geistlicher?“
„Nein! Nein, ich, ich hab nur … ich … das ist ja wirklich ein absolutes Abschlachten gewesen. Wer tut denn so was?“
„Wenn Sie mit Ihrer Arbeit beginnen würden, könnte ich es sicherlich bald herausfinden“, sagte Tanja. Dann kam ihr noch eine viel bessere Idee. „Ich lasse euch kurz mal allein, bin gleich wieder da“, meinte sie an Brüning gewandt.
„Alles klar, wir sind hier noch ’ne Weile dabei. Das Gelände ist groß.“
Tanja fuhr in den Ort, parkte an der Straße und betrat den Laden ihres Bruders, „Rudis Metzgerei – Wenn Sie einen sauberen Schnitt wollen.“ Es warteten zwei Kundinnen an der Theke. Tanja ging um den Tresen herum, und Rudi machte große Augen.
„Was machst du hier?“
„Ach, hallo Frau Terholte“, begrüßte sie eine der Damen. „Es ist doch noch Terholte, oder nicht?“
„Wenn ich heirate, kriegen Sie die erste Einladung, Frau Pissmeier.“
Rudi unterdrückte ein Lachen.
„Pies-meier“, sagte Frau Piesmeier leicht angefasst.
„Kann ich dich kurz sprechen, Metzger?“, fragte Tanja ihren Bruder.
„Geh nach hinten, ich komme gleich.“
Er bediente die Damen noch einige Minuten lang, bevor er zu ihr in die kleine Küche kam, wo sie gegen die Arbeitsplatte gelehnt dastand und nachdachte. „Was gibt’s, warum arbeitest du nicht?“, fragte er.
„Das ist es ja. Ich arbeite. Ein äußerst unschöner Mordfall hier in Horstmar.“
„Was, hier? Wer wurde denn …“
„Wissen wir nicht. Genau deswegen bin ich hier.“
„Ich versteh kein Wort von dem, was du sagst.“
„Ich brauche deine Hilfe. Das Opfer ist zerstückelt aufgefunden worden. Wir haben Teile, vermutlich aber nicht die ganze Leiche, bei Wenninghoffs im Schweinestall gefunden.“
„Wenninghoff hat jemanden zerstückelt?“, fragte Rudi entsetzt.
„Nein, lass mich doch mal ausreden. Er hat die Überreste nur gefunden, jemand hatte sie im Stall platziert, damit die Schweine sie fressen.“
Er zwirbelte nervös das linke Ende seines englischen Barts und pustete die Luft aus.
„Was ist denn hier los?“, fragte er ratlos.
„Das will ich herausfinden, und du musst mir dabei helfen.“
„Ich?“
„Ja, dieser Rechtsmediziner ist die absolute Vollniete, der kann eine Niere nicht von einem Choco Crossie unterscheiden. Ich will, dass du mit von der Partie bist, wenn wir die Leichenteile untersuchen.“
„Bist du jetzt völlig übergeschnappt? Ich bin Schlachter, verdammt noch mal, sieh dich mal um.“
„Du bist der beste Schlachter, und keiner kennt sich mit Anatomie und Schnitttechniken so gut aus wie du. Ich weiß, dass du heimlich diese CSI-Forensik-Serien guckst, du bist ganz süchtig danach.“
„Spionierst du mir nach?“
„Mann, Metzger, ich mach einfach nur meine Augen auf, sogar Muttern weiß das. Jetzt hab dich nicht so, und hilf mir.“
„Und wie soll das gehen? Willst du mich heimlich da einschleusen, oder was?“
„Ich wette, Brennigkemper ist froh, wenn du kommst, weil er dann endlich mal fachliche Unterstützung bekommt. Den haben sie doch nur in die Rechtsmedizin gesteckt, damit er als Arzt keinen umbringt.“
„Ich weiß nicht.“
Die Ladenglocke klingelte.
„Kundschaft“, sagte Rudi.
„Also?“
„Ja, okay. Ich mach’s. Auch wenn das völlig irre ist.“
„Danke dir. Aber zieh dir was anderes an. ’ne Anzugjacke und ’n Pullover reichen schon, dann siehste aus wie alle anderen.“
* * *
Tanja war gerade auf dem Rückweg zu den Wenninghoffs, da erreichte sie ein Anruf aus ihrer Dienststelle.
„Sag mal, was ist denn das nur für ein Dorf, in dem du wohnst?“, meldete sich Förster. „Hier ging eben ein Anruf ein, dass ein Herr Holthefe wahrscheinlich Leichenteile in seinem Garten gefunden habe.“
„Heiliger Zeus. Das gibt’s doch nicht“, sagte Tanja.
„Kennst du den etwa auch? Oder soll ich dir die Adresse nennen?“
„Nein, kenn ich. Liegt etwas außerhalb, aber ich weiß, wo.“
„Wird immer gruseliger, was?“
„Ja, hast du den Käseladen schon durchsucht?“
„Mmh. Wir haben eine Schaufel gefunden. Ist bereits im Labor.“
„Na siehste. Dann bis später.“
„Halt, das war noch nicht alles“, rief Förster.
„Was denn nun noch?“
„Eine Vermisstenanzeige haben wir auch.“
„Aus Horstmar?“
„Jo, ein gewisser Dr. Stratmann, der dortige …“
„Tierarzt, ich weiß. Verdammte Axt. Was passiert hier?“
„Da wird wohl jemand mit seiner Rechnung sehr unzufrieden gewesen sein, schätze ich.“
„Keine Zeit für Scherze, Förster. Ich kenne Stratmann persönlich.“
„Tschuldigung. Das war’s jetzt aber. Mehr hab ich nicht.“
„Für heute reicht’s.“ Tanja legte auf und hielt kurz am Fahrbahnrand an. Es war schwer zu glauben, was hier gerade passierte. Ihr Zuhause war immer so etwas wie eine Zuflucht von ihrer Arbeit gewesen, und nun drang ihre Arbeit auf grausame Art in diese Schutzzone ein. Das behagte ihr nicht. Noch weniger mochte sie, dass Menschen betroffen waren, die sie kannte. Dr. Stratmann war seit Ewigkeiten ihr Tierarzt. Mit Lothar und Lisbeth war sie zusammen zur Schule gegangen.
Sie setzte den Blinker, um direkt zu Holthefes zu fahren. Sie hatten einen Pferdehof knapp vier Kilometer von hier entfernt, und Tanja kannte Jürgen über ihren Bruder. Sie lenkte den Pajero zurück auf die Fahrbahn und kurbelte ihr Fenster herunter. Inzwischen stach die Sonne regelrecht, und sie spürte, wie sie am Rücken und am Haaransatz zu schwitzen begann.
Der Hof lag abseits der Landstraße und war über einen kleinen Wirtschaftsweg zu erreichen. Eingebettet in ein fast quadratisches Wäldchen aus Eichen und umgeben von Feldern, war das Anwesen kaum zu erkennen. Die tatsächliche Größe der Gebäude und Stallanlagen wurde einem erst bewusst, wenn man durch das eiserne Tor fuhr.
In der Mitte des Hofes ragte eine alte Eiche über zwanzig Meter hoch auf und warf ihren Schatten auf eine kreisrunde, von einer Sandsteinmauer eingefasste Fläche, die mit weißem Kies und sternförmig vom Stamm des Baumes ausgehenden alten Holzbohlen bestückt war. Eine Messingschrift auf der Mauer empfing den Gast auf dem „Hof Holthefe“. Die alten Fachwerkgebäude waren aufwendig renoviert worden und leuchteten in einem kräftigen Rot. Die Holzbalken waren naturgrau. Die beiden Schäferhund-Mischlinge der Holthefes liefen nicht wie sonst üblich frei herum, sondern waren an der Waschstelle für die Pferde angeleint worden und bellten aufgeregt.
Tanja stieg aus, und schon kam ihr Jürgen Holthefe aus dem Wohnhaus entgegengeeilt.
„Moin“, rief er und winkte. „Herzlich willkommen. Was kann ich für Sie tun?“ Im Näherkommen erkannte er Tanja. „Bist du nicht die Schwester von Rudi Terholte?“
„Ja, hallo.“
„Sag nicht, dass ihr Pferde zum Schlachten sucht. Da ist bei mir nichts zu holen.“ Er lachte zwar, aber er wirkte dennoch sehr nervös und unruhig.
„Nein, ich bin in einer anderen Sache hier. Ich arbeite bei der Mordkommission Münster.“
„Richtig, ach, das bearbeitest du? Klasse, prima. Ja, dann zeig ich dir alles.“
„Was ist denn überhaupt passiert?“
„Leo und Lupo haben heute Morgen beim Spaziergang etwas gefunden und versucht, es zu fressen. Meine Frau war mit ihnen unterwegs und hat darin … naja … so Leichenteile erkannt, denken wir. Ihr geht’s nicht so gut, sie liegt im Bett. Hat sie sehr mitgenommen. Auch wegen Dr. Stratmann.“
Tanja stutze. „Woher wisst ihr das mit Stratmann?“
„Oh, das war die Praxis. Er wollte heute rumkommen, aber die Damen riefen an, weil er nicht in der Praxis erschienen ist. Sie machten sich Sorgen. Also haben sie erst mal alle Termine abgesagt.“
„Verstehe.“
„Du meinst doch nicht, dass der Stratmann da draußen auf der Wiese liegt?“, fragte er leiser.
„Kann ich nicht sagen. Ich muss erst alles genau untersuchen.“
Sie waren kaum fünf Minuten gegangen, da deuteten Kratzspuren auf dem Weg bereits an, dass sie die Stelle erreicht hatten. Jürgens Frau Annika hatte die Hunde von dem kleinen Umflutgraben regelrecht wegzerren müssen.
„Da unten“, sagte Jürgen und wandte sich gleich wieder ab.
Tanja kletterte hinunter.
„Uaoh!“, stieß sie plötzlich aus und zuckte erschrocken zurück.
„Was ist? Was hast du?“, fragte Jürgen besorgt.
„Da ist ein Fuß.“ Sie versuchte, ihre Übelkeit wegzuatmen. „Was hier liegt, ist eindeutig menschlich. Schon wieder.“
„He?“
„Ihr seid nicht die Einzigen. Ich hab heute schon eine andere Stelle untersucht. Hilf mir mal hier raus.“ Sie streckte eine Hand aus, und Jürgen zog sie wieder auf den Weg. „Ich denke, eins ist damit bewiesen. Ein Unfall oder ein Selbstmord kann es schon mal nicht gewesen sein.“
„Ein Mord, hier bei uns?“, fragte Jürgen entsetzt.
„Ja, hundertprozentig. Und ein widerwärtiger noch dazu. Kann ich mit deiner Frau sprechen, bitte?“
Jürgen war sich nicht sicher, ob das eine gute Idee war, aber bei einem Mordfall blieb Tanja keine andere Wahl. Sie informierte die Kriminaltechnik und den Rechtsmediziner und betrat mit Jürgen das Wohnhaus.
„Sie ist oben im Schlafzimmer.“ Jürgen ging die Treppe hinauf, und Tanja folgte ihm. „Schatz? Hier ist jemand für dich. Tanja Terholte, die Schwester von Rudi. Sie möchte mit dir sprechen“, sagte er vorsichtig durch die Tür hindurch.
„Die Schwester vom Schlachter?“, kam es dumpf zurück.
„Genau die.“
„Okay“, rief sie.
Jürgen öffnete die Tür, und Tanja trat ein. Annika Holthefe lag in Alltagskleidung unter der Decke in ihrem Ehebett. Sie hatte geweint, das konnte Tanja erkennen.
„Tut mir leid, dass ich etwas verhindert bin“, entschuldigte sie sich und richtete sich auf.
„Oh, das ist doch kein Problem, Frau Holthefe.“
„Worum geht es denn?“
„Na, um die vermeintlichen Leichenteile, die Sie gefunden haben.“
„Woher wissen Sie das?“
„Ich bin Kriminalhauptkommissarin in Münster, das ist mein Fall.“
„Oh“, rief Annika Holthefe überrascht aus. „Ich wusste gar nicht, dass Sie bei der Polizei arbeiten, ich dachte, Sie hätten die Rinderzucht und helfen Ihrem Bruder.“
„Nein, das mache ich nur nebenbei. Kommissarin ist mein Hauptberuf.“
Annika Holthefe blickte unsicher zur Tür, wo ihr Mann schüchtern im Türrahmen stand. „Also gut, dann … stellen Sie mir Ihre Fragen.“
Viel Neues erfuhr Tanja nicht. Doch Annika Holthefes Verhalten während ihrer Schilderungen kam Tanja merkwürdig vor. Sie wirkte weniger geschockt als total niedergeschlagen, war reizbar und fahrig.
„Können denn die … ich meine … kann mein Fund mit dem Verschwinden von Dr. Stratmann zusammenhängen?“, fragte sie, als Tanja sich wieder verabschieden wollte.
„Das ist noch viel zu früh zu sagen. Wir wissen bisher nicht einmal, ob es sich bei der Leiche um eine Frau oder einen Mann handelt.“
„So was kann doch kein Zufall sein. Lassen Sie denn schon nach ihm suchen? Wie nennt man das noch gleich?“
„Eine Fahndung? Nein, bis jetzt gibt es keinen Anhaltspunkt für ein Verbrechen, was das Verschwinden von Dr. Stratmann angeht. Aber wir werden das klären, keine Sorge.“
Zitternd wischte sich Annika Holthefe die Haare aus dem bleichen Gesicht. „Es muss doch so schnell wie möglich etwas getan werden.“
„Ich habe auf dem Weg hierher überhaupt erst davon erfahren. Doch ich werde mich darum kümmern. Versprochen.“
Sie verließ das Zimmer und ging mit Jürgen hinunter in den Flur.
„So, dann vielen Dank fürs Erste“, sagte Tanja und gab Jürgen die Hand. „Es werden noch Leute von der Kriminaltechnik und der Rechtsmediziner kommen. Der Fundort wird abgesperrt.“
Oben drangen schluchzende Laute aus dem Schlafzimmer.
„Ist in Ordnung. Danke dir“, sagte Jürgen leise zu Tanja und schloss behutsam die Haustür hinter ihr.
Auf dem kurzen Weg zu ihrem Wagen überlegte sie, dass es sich gerade so anfühlte, als hätte sie den Angehörigen von Stratmann einen Besuch abgestattet. Aber das stand ihr ja erst noch bevor.
Ein Streifenwagen kam mit Blaulicht, jedoch ohne Martinshorn auf den Hof gefahren, gefolgt vom VW-Bus der Kriminaltechnik. Tanja winkte sie zu dem kleinen Weg, den sie entlangfahren mussten, und beschrieb ihnen die Stelle, bevor sie ihnen zu Fuß folgte. Der schmale Wirtschaftsweg wurde gesperrt, damit die Spurensicherung ohne Störfaktoren erfolgen konnte.
Auf dem Rückweg zum Hof sah Tanja schon von Weitem, dass Annika Holthefe sie vom Schlafzimmerfenster aus beobachtete. Irgendwas stimmt mit dir nicht, meine Liebe, dachte sie und tat so, als hätte sie sie nicht bemerkt.
Sie erreichte ihren Pajero und steuerte ihr nächstes Ziel in dieser Anhäufung an Verbrechen und Merkwürdigkeiten in ihrem Heimatort an: die Praxis von Dr. Stratmann.
Die Praxisräume waren natürlich leer, sah man von den drei Mitarbeiterinnen ab, die dabei waren, die doch sehr große Kaffeemaschine zu reinigen, die im Wartezimmer stand, wohl um überhaupt irgendeine Beschäftigung zu haben. Es zischte und dampfte gefährlich, als Tanja eintrat und die drei Damen erschreckte.
„Ha“, rief die älteste von ihnen und zuckte zusammen, als sie Tanja hinter sich bemerkte. „Wir haben geschlossen.“
„Ich weiß, ich bin von der Kripo Münster. Tanja Terholte.“
Einer der jüngeren Kolleginnen ging sichtlich ein Licht auf. „Sind Sie nicht die mit den chinesischen Edel-Rindern?“
„Es sind japanische. Aber ja, die bin ich.“
„Ihr Mann ist der Schlachter im Dorf“, informierte die Arzthelferin die beiden anderen.
„Mein Bruder“, korrigierte Tanja.
„Ach, die Schlachterei Rudi. Da kaufe ich immer, wenn wir Besuch bekommen“, freute sich die Ältere. „Aber wieso sind Sie bei der Kripo?“
„Hab mich beworben, und sie haben mich genommen“, antwortete Tanja. „Kann ich jetzt bitte erfahren, was heute Morgen passiert ist?“
„Na, da gibt’s nicht viel zu erzählen. Der Doktor kam einfach nicht. Er ist sonst nie zu spät. Hat nicht angerufen, nicht auf den AB gesprochen, kein Zettel, gar nichts. Also hab ich bei ihm zu Hause angerufen, aber seine Frau wusste auch nicht, wo er sein kann. Seit gestern Abend nicht.“ Den letzten Satz flüsterte sie Tanja bedeutungsschwer zu.
„Verstehe. Sie drei haben ihn letzte Woche aber noch gesehen?“