Intimität und Verlangen - David Schnarch - E-Book
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Intimität und Verlangen E-Book

David Schnarch

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Beschreibung

Auch Paare, die eine gute und lebendige Beziehung führen, kennen sie: die Langeweile im Bett, das schwindende Verlangen nach dem Partner. Müssen wir uns damit abfinden? Ist das der Preis für eine verlässliche und monogame Bindung? David Schnarch, Pionier der Sexualtherapie, verneint die Frage vehement und entfaltet hier seine in zahllosen Paartherapien beobachteten neuen Erkenntnisse: Sexuelles Verlangen entsteht im Kopf und hängt mit allen Verhaltensmustern in einer Beziehung zusammen. Mehr über unsere Sexualität zu wissen bedeutet, die Dinge ändern zu können: Mehr Nähe, tieferes Empfinden und eine erfüllende Sexualität sind möglich.

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DAVID SCHNARCH

INTIMITÄT UND VERLANGEN

SEXUELLE LEIDENSCHAFT WIEDER WECKEN

Aus dem amerikanischen Englisch

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Besuchen Sie uns im Internet: www.klett-cotta.de Klett-Cotta Die Originalausgabe erschien unter dem Titel "Intimacy & Desire – Awaken the Passion in Your Relationship“ © 2009 by Beaufort Books, New York Für die deutsche Ausgabe © 2011 by J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg Abbildung: Mona Kuhn, Livia and Renan, 2009/Native Datenkonvertierung E-Book: Dörlemann Satz, Lemförde Printausgabe: ISBN 978-3-608-94662-8 E-Book: ISBN 978-3-608-10191-1

Dieses Buch ist Menschen gewidmet, die für mich in meinem Leben sehr wichtig waren und sind: Dr. Ruth MorehouseDie liebenswürdigste Frau, die ich kenne. Meine Frau. Der wichtigste Segen in meinem Leben. Steve SchnarchDer liebenswürdigste Mann, den ich kenne. Ich kann mich glücklich schätzen, ihn zum Freund zu haben. Mein Bruder ist für mich ein Segen. Dr. Barry LesterMein ältester Freund. Ein außergewöhnlicher Forscher auf dem Gebiet der Kinderheilkunde. Freund der Babys auf der ganzen Welt. Dr. James MaddockEin brillanter Theoretiker. Ein wunderbarer Mann. Sein Tod hinterlässt im Bereich der Sex- und Ehetherapie eine schwer zu schließende Lücke. Der Mann, dessen makellose Integrität es mir nicht gestattet, seinen Namen zu nennen.Zum Gedenken an einen Menschen, der das Beste in mir zum Vorschein gebracht hat.

Dank

In diesem Buch geht es um das Verlangen, und Verlangen bedeutet, etwas zu wollen. Viele Menschen haben mich dazu gebracht, Dinge besser zu machen, und mir geholfen, dies auch wirklich in die Tat umzusetzen.

Meine Eltern, Stan und Rose Schnarch, haben mir so viel gegeben, einfach indem sie gute Menschen waren und sind. Meine Arbeit hilft mir zu würdigen, wie glücklich ich mich schätzen kann, dies über meine Eltern sagen zu können.

Meine Frau, Ruth Morehouse, ist mit mir durch die Feuerprobe der Ehe gegangen und hat mich dabei nie im Stich gelassen. Gemeinsam haben wir viel über sexuelles Verlangen gelernt. Sie weiß wie niemand sonst, was in mir vor sich geht, und entscheidet sich immer noch dafür, weiter mit mir zusammen zu leben. Die Art, wie sie in mir lebt, fördert das Beste in mir zutage.

Meine Tochter Sarah Morehouse hat ihre Aufgabe gut erfüllt, indem sie mich dazu brachte, selbst zu leben, was ich über die Vier Aspekte der Balance geschrieben habe. Sie hat mir geholfen, eine wahrhaft herkulische Fähigkeit darin zu entwickeln, mir selbst treu zu bleiben – so erscheint es mir jedenfalls in Situationen, die für mich besonders schwierig sind. Sie weckt in mir den Wunsch, Dinge besser zu machen und die Welt besser zu machen, weil aus ihren Augen Schönheit und Güte strahlen, wenn sie lächelt.

Mein Bruder, Steve Schnarch, spornt mich durch sein Beispiel und seinen stets prüfenden Blick an, mich um Integrität zu bemühen. Ob in der Wüste oder in den Bergen oder wenn es um die Lösung von Alltagsproblemen geht, Steve ist mir oft einen Schritt voraus. Ob als Zimmermann oder als Mensch, er ist immer bemüht, das Beste zu geben.

Meine Freunde Barry Lester, Lynn Legasse, Jim Maddock, Susan Regas, Josh und Peggy Golden und Resmaa Menachim haben mich angeschoben, unterstützt und dazu motiviert, ein höheres Niveau zu erreichen. Sie weiten meinen Blick für das Mögliche und helfen mir, es Wirklichkeit werden zu lassen.

Meine Klienten erschließen mir neue Sichtweisen, indem sie sich zunächst weigern zu wachsen, sich dann aber mit sich selbst konfrontieren und mich schließlich an ihren Erfolgen teilhaben lassen. Studenten halten mich auf Trab, indem sie nach Unstimmigkeiten in meinem Denken suchen und mich so zwingen, Präsentation und Inhalt meines Unterrichts immer weiter zu verbessern. Ich bin völlig damit einverstanden, wenn Sie dieses Buch als einen Akt des »Weitergebens« ansehen.

Herzlich danken möchte ich meiner geschätzten Freundin Carol Gable dafür, dass sie mich mit dem Public-Relations-Experten, alten Hasen im Verlagsgeschäft und herzensguten Kerl Michael Wright von der Public-Relations-Agentur Garson-Wright bekannt gemacht hat. Er hat geholfen, jenes talentierte Team zusammenzubringen, welches das vorliegende Buch produziert hat. Zu dieser Gruppe gehören Eric Kampmann, Margot Atwell und Erin Smith vom Verlag Beaufort Books, die vom ersten Augenblick an spontan an den Erfolg des Projekts geglaubt haben. Trish Hoard hat großartige Arbeit geleistet, um dem Manuskript den letzten Schliff zu geben, und es hat viel Freude gemacht, mit ihr zusammenzuarbeiten. Jay Boggis und Oriana Leckert danke ich für das Korrekturlesen. Amy King hat sehr kurzfristig das schöne Cover (der Originalausgabe) gestaltet.

Meine Anwälte Marc Reisler und Amy Berge haben sich gleichermaßen sorgfältig um meine Urheberrechte gekümmert wie darum, mich bei Laune zu halten.

Meine Hoffnung, mein Wunsch und mein Verlangen ist, dass Sie dieses Buch lesen, danach aktiv werden und Ihre Ehe und Familie (und Gemeinschaft) zu einem Ort des Friedens und der Freude machen. Dies könnte Ihr Beitrag zur Revolutionierung des allgemeinen Verständnisses sexuellen Verlangens sein. Dies ist es, was ich will. Es ist mein Herzenswunsch.

Evolution ist Selbstverwirklichung durch Selbsttranszendenz. Erich JantschWake up to find out that you are the eyes of the world. Grateful Dead

Einleitung

Vor 30 Jahren habe ich einen völlig neuartigen Ansatz der Sexual- und Ehetherapie entwickelt.1 Man kann viel über das Verlangen herausfinden, wenn Paare sich auf die Scheidung zubewegen. Ein Aspekt, auf den ich mich damals besonders konzentrierte, waren Probleme, die mit dem sexuellen Verlangen zusammenhingen. Dies veränderte meine Sicht von Liebesbeziehungen völlig und verblüffte mich manchmal. Ganz sicher hatte ich nicht erwartet, durch Störungen des sexuellen Verlangens so viel über Intimität und Liebe zu lernen. Ich werde in diesem Buch versuchen, Ihnen all das, was ich auf diese Weise gelernt habe, zu vermitteln.

Menschen suchen in der Regel nach einer Sichtweise, die ihnen zusagt. Falls Sie in einem Buch nach der Bestätigung Ihrer Ansicht suchen, dass Ihr sexuelles Verlangen letztendlich von Hormonen und biologischen Faktoren gesteuert wird, ist das vor Ihnen liegende Buch für Sie nicht das richtige. Und falls Sie aufgefordert werden möchten: »Mach’ es einfach!«, sollten Sie Ihre Zeit nicht damit vergeuden, hier weiterzulesen. Und wenn Sie davon überzeugt sind, dass das Verlangen ohnehin irgendwann abstirbt und dann nie mehr zurückkehrt, lesen Sie besser etwas anderes.

Aber wenn Sie Ihr Verlangen stärker spüren oder es vertiefen und ihm mehr Bedeutung geben wollen, dann halten Sie mit diesem Buch einen wahren Goldschatz in Händen. Es wird dann nicht nur Ihr Denken und Fühlen über sich selbst, sondern Ihr gesamtes Denken und Fühlen verändern – nicht mehr und nicht weniger. Vielleicht verändert es sogar die Funktionsweise Ihres Gehirns. Sicher ist es schwer vorstellbar, wie all dies durch die Auseinandersetzung mit einem Problem des sexuellen Verlangens bewirkt werden soll, und erst recht, wie dies durch die Beschäftigung mit einer Frage gelingen könnte, die Sie bisher nicht haben beantworten können. Der Grund ist einfach: Sie kennen den hier vorgestellten revolutionären Ansatz noch nicht. Wenn Sie lernen möchten, Verlangen, Liebe, Intimität und Sex in längerfristigen emotionalen Beziehungen auf völlig neuartige Weise zu verstehen, dann rate ich Ihnen weiterzulesen.

Ein neuer Ansatz, der neue Chancen bietet

Die Anthropologin Stephanie Coontz schreibt, dass fast in der gesamten bekannten Geschichte der Menschheit Eheschließungen aufgrund finanzieller, politischer und familiärer Pläne des Familienclans von den Eltern des Paars arrangiert wurden. Die Männer und Frauen, die einander heirateten, kannten sich kaum oder gar nicht und hatten nur geringen oder keinen Einfluss auf die Auswahl ihrer Partner. Erst seit etwa 200 Jahren stehen bei Ehen nicht mehr politische und ökonomische Interessen im Vordergrund, und seit dieser Zeit wählen Menschen ihre Ehepartner selbst. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte basieren Ehen heute auf Liebe, Verlangen, Intimität und Sex. Wir mögen diese Entwicklung für eine Selbstverständlichkeit halten, doch durch sie sind Probleme mit dem sexuellen Verlangen zu einem häufigen Scheidungsgrund geworden. Natürlich kann die Lösung nicht darin bestehen, zusammenzubleiben und den Sex ganz aufzugeben oder sich damit abzufinden, dass die Beziehung unbefriedigend bleibt. Sie besteht vielmehr darin, gemeinsam auf die Verwandlung des gestörten Verlangens in neue Leidenschaft hinzuarbeiten.

Wenn wir über das sexuelle Verlangen nachdenken, stoßen wir auf unterschiedliche Sichtweisen: Zunächst ist es eine Programmierung zur Fortpflanzung, die durch Gene und Hormone gesteuert wird. Dann gibt es die von Freud geprägte Sicht des Verlangens als Libido, der zufolge sich die sexuellen Impulse ständig unerwartet melden und uns in Schwierigkeiten bringen. Außerdem gibt es die romantische Sicht, die das Verlangen als einen natürlichen Ausdruck wahrer Liebe versteht. Ein weiteres Modell stellt die sexuelle Erregung und die Vorstellung, man müsse »dem Ruf der Natur« folgen, in den Mittelpunkt. Und schließlich gibt es noch die Auffassung, die sexuelles Verlangen mit physischem Hunger und Durst vergleicht. Bevor ich meinen eigenen neuen Ansatz entwickelte, war es in der Sexualtherapie üblich, schwaches sexuelles Verlangen als eine Art »sexueller Anorexie« zu verstehen.

Alle aufgeführten Sichtweisen gehen von der Annahme aus, dass Sie – sofern Sie gesund sind und in einer gesunden Beziehung leben – sexuelles Verlangen haben. Und falls Sie (im Sinne dieser Sichtweise) Probleme bezüglich Ihres sexuellen Verlangens haben, stimmt mit Ihnen, Ihrem Partner oder Ihrer Beziehung etwas nicht. Natürlich wollen Sie kein schwaches sexuelles Verlangen haben, denn dann befänden Sie sich nicht im Bereich des Normalen.

In diesem Buch wird eine andere Auffassung vertreten. Es erläutert, warum bei normalen, gesunden Paaren das sexuelle Verlangen gestört sein kann. Es beschreibt, weshalb Sie und Ihr Partner früher oder später Probleme im Bett bekommen werden, so sehr Sie einander auch lieben, so gut Ihre Kommunikation auch ist und an wie vielen Tantra-Workshops Sie auch teilnehmen mögen.

Wie Untersuchungen zeigen, sind Störungen des sexuellen Verlangens so weit verbreitet, dass man sie als normal bezeichnen muss. Eine Studie aus dem Jahre 1994, an der 3432 nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Amerikaner teilnahmen, ergab, dass solche Störungen das häufigste sexuelle Problem waren. 33 Prozent der weiblichen und 16 Prozent der männlichen Probanden berichteten, sie hätten im Laufe des letzten Jahres unter Lustlosigkeit gelitten.2

Im Jahr 2006 organisierte ich eine Online-Umfrage für die Fernsehsendung Dateline des NBC, an der im Laufe von vier Tagen etwa 27500 Menschen teilnahmen: Von diesen bejahten 22 Prozent die Aussage »Mein Sex ist lebendig und gut«, und weitere zehn Prozent erklärten, ihr Sex sei »stark, erotisch und leidenschaftlich«. Doch 68 Prozent gaben an, sie hätten Probleme mit ihrem sexuellen Verlangen – also zwei von drei Teilnehmern! 13 Prozent erklärten, ihr Sexualleben sei »tot«, und 22 Prozent bezeichneten es als »komatös und in Gefahr, völlig abzusterben«. 33 Prozent der Teilnehmer bezeichneten ihren Sex als »eingeschlafen« und glaubten, er »brauche einen Weckruf«. Diese Resultate wurden von Dateline im Rahmen einer einstündigen Fernsehsendung vorgestellt, an der auch zwei Paare teilnahmen, die bei mir wegen sexueller Probleme in Therapie waren. Nach der Sendung erhielt ich über 1000 Anfragen von Hilfesuchenden.

Würde man die Ergebnisse dieser Umfrage im Sinne konventioneller Ansichten über sexuelles Verlangen verstehen, müsste man zu dem Schluss kommen, dass die überwiegende Zahl der Menschen heute ziemlich verkorkst ist. Doch dieses Buch behauptet das genaue Gegenteil: Aus dem Umfrageergebnis geht hervor, dass diese Menschen normal sind. Ich werde Ihnen in allen Einzelheiten erklären, weshalb im Falle einer normalen, gesunden Persönlichkeitsentwicklung Störungen des sexuellen Verlangens eine völlig alltägliche Erscheinung sind. Sie werden aber auch erfahren, wie Sie zu Intimität, Verlangen, Liebe und Sex kommen können, so wie moderne Paare es erwarten und sich wünschen: zu einem Verlangen, das in Ihnen den Wunsch weckt, mit Ihrem Partner zusammenzubleiben und mit ihm glücklich zu sein.

Was vor Ihnen liegt

Dieses Buch besteht aus vier Teilen. In Teil I, Warum normale Menschen Probleme mit ihrem sexuellen Verlangen haben, wird erklärt, wieso Störungen des Verlangens Ihre Beziehung oder Ehe nicht gefährden müssen. Sie werden Ihre eigene Situation in einem neuen Licht zu sehen lernen, die Ursachen Ihrer Probleme verstehen und außerdem erfahren, was Sie in dieser Situation tun können. In Teil I wird der Rahmen für die übrigen drei Teile abgesteckt.

Teil II, Wie wir uns durch die Lösung von sexuellen Problemen gemeinsam entwickeln können, zeigt auf, wie Partner an ihren Problemen mit dem Verlangen wachsen können. Dort lernen Sie die Vier Aspekte der Balance (Four Points of Balance™) kennen, die Ihnen in allen Lebensbereichen helfen. (Wahrscheinlich werden Sie sich dann wünschen, Sie hätten all dies schon gewusst, bevor Sie auf Partnersuche gingen.) In diesem Teil wird untersucht, wie Partner durch die Auseinandersetzung mit vier Konfliktbereichen wachsen, wobei es (a) um Unterschiede hinsichtlich des sexuellen Verlangens, (b) um Intimitätsprobleme, (c) um Fragen der Monogamie und (d) um sexuelle Langeweile geht.

Teil III, Lustlosigkeit vor dem Hintergrund Ihrer persönlichen Geschichte, erforscht, welchen Einfluss Ihre speziellen Lebenserfahrungen, ob aus der Kindheit oder aus neuester Zeit, auf Ihre sexuellen Probleme haben. Außerdem werden Sie lernen, dieses Wissen für Ihre persönliche Entwicklung zu nutzen. Der dritte Teil beschäftigt sich mit der Wechselhaftigkeit und Flüchtigkeit sexuellen Verlangens, etwa mit dem Phänomen, dass man »nicht wollen will«, mit normalem ehelichem Sadismus sowie mit den Aspekten der emotionalen und materiellen Sicherheit.

Teil IV, Benutzen Sie Ihren Körper, programmieren Sie Ihr Gehirn neu, und entwickeln Sie sich gemeinsam mit Ihrem Partner im Bett, erklärt, wie Sie durch Ihren Körper Entwicklungsprozesse anstoßen können. In diesem Teil geht es ausdrücklicher um Sexualität, und es wird beschrieben, was Sie mit Ihrem Partner zusammen tun können, um das Verlangen anzufachen und besseren Sex zu erleben. In vier Kapiteln werden wirksame Methoden beschrieben (darunter auch eine, die sich seit über 20 Jahren bewährt hat). Es geht dort darum, Sex so zu gestalten, dass er Ihnen als »lohnend« erscheint, und Sie lernen, Ihre Situation so zu verändern, dass Sie zu dem Menschen werden, der Sie sein wollen. In zwei Kapiteln wird erläutert, wie Sie dies erreichen können, ohne sich auch nur auszuziehen. Bei der Auseinandersetzung mit den beiden folgenden Kapiteln allerdings empfiehlt es sich, die Kleider abzulegen. Sie werden einen leidenschaftlichen, sanften und liebevollen Sex kennenlernen, der Ihre Seele erfüllt und vielleicht auch Ihr Gehirn verändert, und eine Ähnliches bewirkende, »knisternde« Erotik. Bei alldem sind ein wenig Humor, eine gewisse Bodenhaftung und ein Hauch von Abenteuerlust sehr nützlich.

(Falls Sie sich für interpersonale Neurobiologie und für die neuesten Erkenntnisse der Neurowissenschaften interessieren, empfehle ich Ihnen die ausführlichen Anmerkungen am Ende des Buches. Intimität und Verlangen ist so aufgebaut, dass Sie sich beim Lesen nicht mit wissenschaftlichen Fragen auseinanderzusetzen brauchen, sich aber über die für die verschiedenen Themen relevanten Fakten informieren können.

Was dieses Buch von meinen früheren unterscheidet

Falls Sie meine früheren Bücher Die Psychologie sexueller Leidenschaft und Resurrecting Sex gelesen haben, werden Sie feststellen, dass dieses hier eine gute Ergänzung zu den anderen beiden ist. Die Psychologie sexueller Leidenschaft beschreibt am ausführlichsten und tiefsten die Dynamik der Ehe. In Resurrecting Sex stehen sexuelle Dysfunktionen im Mittelpunkt (Probleme, die Erregung, Lubrikation, Erektion und Orgasmus betreffen). Es befasst sich mit medizinisch bedingten Sexualstörungen. Doch falls Ihr sexuelles Verlangen gestört ist, ist dieses Buch für Sie genau das richtige.

Lektüreempfehlungen

Vergessen Sie beim Lesen von Intimität und Verlangen alle Ihre Befürchtungen, mit Ihnen selbst, Ihrem Partner oder Ihrer Beziehung sei etwas nicht in Ordnung. Lösen Sie sich aus einer eventuellen Verteidigungshaltung. Bemühen Sie sich, von allem, was Sie schon wissen, Abstand zu nehmen. Ihr Gehirn wird versuchen, Neues zu begreifen, indem es frühere Erlebnisse als Bezugsrahmen nutzt. Das erschwert es Ihnen, Dinge anders als gewohnt zu sehen. Distanzieren Sie sich, so gut Sie können, von Ihren altbewährten Annahmen. Und lassen Sie sich nicht irritieren, wenn Ihre gewohnte Sichtweise in Frage gestellt wird.

Sie werden Paare kennenlernen, die sich mit sexuellen Problemen auseinandersetzen. Fixieren Sie sich nicht darauf, wie sich diese Menschen von Ihnen unterscheiden. Konzentrieren Sie sich beim Lesen besser auf Dinge, die Sie von sich selbst kennen. Sie werden in allen beschriebenen Fällen etwas finden, das Sie persönlich anspricht. Und nun noch etwas sehr Wichtiges: Stellen Sie sich anschaulich vor, was mit diesen Menschen geschieht, was sie fühlen und denken und was in ihnen vorgeht, auch wenn Sie selbst völlig anders sind. Wir verstehen die Interaktionen zwischen Menschen anhand von Beispielen besser als aufgrund abstrakter Prinzipien. Indem Sie sich in die Beispielpaare hineinversetzen, entwickeln Sie ein intuitives Verständnis, das Ihnen hilft, die beschriebenen neuartigen Vorstellungen und Ideen in einen für Sie verständlichen Zusammenhang zu bringen. Jeweils am Ende eines Kapitels finden Sie unter der Überschrift Gedanken zum Weiterdenken eine in mehreren Punkten formulierte Zusammenfassung, die Ihnen helfen soll, das Gelesene zu verinnerlichen und zu behalten. Diese kurzen Resümees ergeben insgesamt eine ganz erstaunliche, systematische Darstellung menschlicher Entwicklung. Sie beschreiben die Grundprinzipien sexuellen Verlangens. Denken Sie über die Punkte einfach nach, statt sie auswendig zu lernen: Entscheidend ist, dass Ihnen klar wird, wie sie zusammenwirken, nicht, dass Sie die Punkte auswendig hersagen können. Wenden Sie die Zusammenfassung auf das Paar an, dessen Situation im betreffenden Kapitel beschrieben wurde, und übertragen Sie sie auch auf Ihre eigene Situation. Davon haben Sie mehr als von dem Versuch, eine abstrakte Idee auswendig zu lernen.

Ziehen Sie den größtmöglichen Gewinn aus Ihren Bemühungen

Ich empfehle Ihnen und Ihrem Partner oder Ihrer Partnerin, sich jeweils ein eigenes Exemplar des Buches zuzulegen. Von vielen Paaren weiß ich, dass ihnen dies schon bei meinen vorherigen Büchern sehr geholfen hat. Sie können einander Passagen vorlesen, doch – um Khalil Gibran zu paraphrasieren – lesen Sie einander aus Ihrem eigenen Buch vor, nicht aus einem einzigen Buch. Sie können dann bedenkenlos unterstreichen oder markieren, was immer Sie besonders anspricht. Und benutzen Sie beim zweiten Durchlesen einen andersfarbigen Marker, damit Sie feststellen können, welche Punkte Ihnen auch beim zweiten Lesen weiterhin wichtig sind. Gibt es neue Punkte, die nun Ihre Aufmerksamkeit wecken, weil Sie mittlerweile woanders stehen? Unterstreichen Sie nichts, um Ihre Partnerin darauf aufmerksam zu machen, denn das weckt nur Widerstand und schmälert ihre Bereitschaft, über Ihre Sicht der Dinge nachzudenken.

Wenn Sie möchten, dass dieses Buch Ihr Leben verändert, dann setzen Sie das Gelesene in die Tat um. Sich den Inhalt nur vorzustellen und darüber nachzudenken reicht nicht aus. Nur durch Taten verändern Sie sich und Ihre Situation – eine wichtige neue Erkenntnis der Neurowissenschaft. Deshalb: Tun Sie sich im wahrsten Sinne des Wortes einen Gefallen.

Noch ein letzter Punkt: Das Buch beschäftigt sich damit, wer in einer Beziehung die Kontrolle über den Sex hat. Es gibt auf der Welt viele Orte und Situationen, wo Frauen nicht frei über ihren Körper verfügen können. Eine Gelegenheit nutzende und systematische Vergewaltigungen gibt es auf der ganzen Welt. In manchen Kulturen wird der Körper der Frau als Eigentum des Mannes angesehen. In solchen Fällen hat der Partner mit dem schwächeren sexuellen Verlangen nicht die Kontrolle über den Sex (ein Begriff, den ich in diesem Buch häufig verwende). Auch Frauen, die regelmäßig geschlagen werden, haben keine Kontrolle über den Sex. Das Gleiche gilt für Flüchtlinge, Gefangene, Folteropfer, illegale Immigranten, die dem weltweiten Menschenhandel zum Opfer gefallen sind, und für Kulturen, in denen Frauen keine Schule besuchen, nicht wählen und kein Eigentum haben können. Die Liste der von solchen Missständen Betroffenen ist lang, und wie mit ihnen umgegangen wird, ist entsetzlich. Alle diese Menschen sind zwar Partner mit schwächerem sexuellem Verlangen, haben aber keine Kontrolle über den Sex.

Zum Schluss möchte ich noch sagen, dass es mir große Freude gemacht hat, dieses Buch zu schreiben. Ich habe fünf Jahre daran gearbeitet. Ich hoffe, dass Ihnen die Lektüre ebenso viel Freude bereiten wird wie mir das Schreiben und dass sie der Anlass zu einer positiven Wende in Ihrem Sexualleben wird.

David Schnarch, Ph. D., Evergreen, Colorado

I Warum normale Menschen Probleme mit ihrem sexuellen Verlangen haben

1.  Es gibt immer einen Partner mit schwachem Verlangen, und dieser kontrolliert immer den Sex

Haben Sie Probleme mit Ihrem sexuellen Verlangen? Die haben früher oder später die meisten Paare. Sie zählen zu den häufigsten Sexualproblemen.

Haben Sie jemals daran gedacht, dass dies auch Ihnen passieren könnte? Die meisten Menschen tun das nicht. Wie sollten Sie auch auf den Gedanken kommen, dass Ihr Begehren so nachlassen könnte, wo Sie doch zu Beginn Ihrer Beziehung buchstäblich kaum »voneinander lassen« konnten? Wie konnte es dazu kommen, obwohl Sie noch relativ jung sind (oder sich zumindest so fühlen)? Warum ist sexuelle Lustlosigkeit so verbreitet? Warum ist es so schwer, etwas daran zu verändern? Warum stellt sich früher oder später bei fast jedem ein Problem ein, von dem alle glauben, es werde sie nie treffen? Ist dies der unvermeidliche Preis einer langjährigen Beziehung? Bedeutet es, dass Menschen generell nicht für die Monogamie geschaffen sind?

Falls Sie von zahllosen Fragen und Problemen gequält werden und Ihnen weder Antworten noch Lösungen in den Sinn kommen, befinden Sie sich in guter und vor allem zahlreicher Gesellschaft.

Die Geschichte von Brett und Connie

Paare wie Connie und Brett sind oft untröstlich, demoralisiert und hoffnungslos, wenn sie zur Behandlung kommen. Brett war von den beiden der Partner mit starkem Verlangen. Seiner Meinung nach wollte Connie keinen Sex. Connie war die Partnerin mit dem schwachen Verlangen. Sie hielt Brett für sexbesessen.

Bretts und Connies Positionen hatten sich im Laufe der Zeit polarisiert, und die Spannungen zwischen ihnen waren immer stärker geworden. Brett beklagte sich bitterlich darüber, dass er seine wunderschöne Frau nicht berühren dürfe. Er fand es unfair, dass es zwischen ihnen nur zum Sex komme, wenn sie dies wolle. Wo blieben da seine Wünsche und Bedürfnisse? Brett fand, Connie halte beim Sex »den Daumen drauf« und kontrolliere ihn auf diese Weise. Er meinte außerdem, in ihrer Beziehung »laufe« generell nur das, was sie wolle, und das gelte keineswegs nur für Sex.

Connie bezeichnete Brett als rücksichtslos, weil er sie ständig zum Sex zu drängen versuche. Seinen Vorwurf, sie dominiere die Beziehung, bezeichnete sie als Unsinn. Falls es tatsächlich so sei, dass immer nur geschehe, was sie wolle, wie könne es dann sein, dass sie sich ständig gedrängt fühle, Dinge so zu tun, wie er es wolle? Connie erklärte, Brett sei genauso wie viele andere Männer: Ihm gehe es nur um Sex.

Brett und Connie hatten schon einmal versucht, ihre Probleme mit Hilfe eines psychologischen Beraters zu lösen, doch das war fehlgeschlagen. Nun fürchteten sie, es werde ihnen mit mir wieder so ergehen. Connie sorgte sich, ich könnte meinen, mit ihr sei irgendetwas nicht in Ordnung. Brett betrachtete mich mit Argusaugen, um auch nur das geringste Anzeichen dafür zu entdecken, dass er unfair behandelt würde. Es ist schwierig, nicht defensiv zu reagieren, wenn man glaubt, man werde als »sexuell unzulänglich« oder gar »sexfeindlich« beurteilt.  

Sex ist keine »natürliche Funktion«

Es ist völlig normal, dass man sich nicht gut fühlt, wenn sexuelle Wünsche ausbleiben. Wahrscheinlich halten Sie Sex für eine natürliche Funktion. Die meisten Menschen glauben, sexuelles Verlangen stelle sich bei gesunden Menschen, die einander lieben, automatisch ein. Und tatsächlich liegt es nahe, dies für eine gesunde und aufgeklärte Einstellung zu halten – für einen Ausdruck des gesunden Menschenverstandes.

Doch wenn Sie glauben, sexuelles Verlangen melde sich »natürlich«, handeln Sie sich damit eine Menge Probleme ein: Es kann Sie unter Druck setzen, ständige Leistungsfähigkeit auf diesem Gebiet unter Beweis zu stellen. Vielleicht verlieren Sie auch den Mut oder fühlen sich sogar minderwertig, unzulänglich oder »krank«. Zudem bringt das Gefühl der Unzulänglichkeit Sie dazu, sich mit Ihren sexuellen Problemen entweder gar nicht zu beschäftigen, oder Ihre Bemühungen sind aufgrund Ihrer Haltung vermutlich zum Scheitern verurteilt.

Wenn Sie Sex für eine »natürliche Funktion« halten, macht Ihnen die Rolle des »Partners mit dem schwächeren Verlangen« sicher keine Freude. Sie sehen sich dann als »denjenigen, der das Problem hat«. Und Ihr verlangensstärkerer Partner sieht Sie wahrscheinlich genauso. Sie fühlen sich »defekt« und unzulänglich. Niemand möchte der Partner mit dem schwächeren sexuellen Verlangen sein.

Allerdings ist es auch nicht gerade spaßig, der Partner mit dem stärkeren Verlangen zu sein. Bei oberflächlicher Betrachtung könnte man ihn für den »gesunden« und den faktischen »Sex-Experten« in der Beziehung halten. Alles sieht danach aus, als hätte der verlangensstärkere Partner »kein Problem«. Weil der andere Partner so sehr in sein Gefühl, unzulänglich zu sein, verstrickt ist, bekommt er gar nicht mit, dass sich der verlangensstärkere Partner oft genauso fühlt wie er: Denn wenn Sie liebevoll, attraktiv und sexy sind, welchen Grund könnte Ihr Partner dann haben, Sie nicht völlig selbstverständlich zu wollen?

Sieht man das sexuelle Verlangen als einen natürlichen biologischen Trieb an, schafft man noch ein anderes Problem: Es ist schwierig, selbst Sex zu wollen, wenn man das Gefühl hat, der Partner wolle nur »seine körperlichen Bedürfnisse befriedigen« – etwa so, wie man sich kratzt, wenn’s einen juckt. Zu glauben, Sex sei eine »natürliche Funktion«, hat aber noch weitere negative Auswirkungen: Diese Auffassung erzeugt nämlich solche Probleme geradezu, weil sie das sexuelle Verlangen als unpersönlich hinstellt.

»Just do it!« empfiehlt sich nicht

Eine andere Theorie, die alles nur noch schlimmer macht, ist die Ermunterung »Tu’ es einfach!«. Brett hatte zu Connie immer wieder gesagt: »Tu’ es einfach!« Aber das hatte beide nicht weitergebracht. Und Connie hatte sogar selbst immer wieder versucht, sich einzureden: »Tu’ es einfach!«, ebenfalls ohne Erfolg. Wenn Experten ständig ihr anfeuerndes »Tut es einfach!« vom Stapel lassen – was sie ziemlich oft tun –, ist es eigentlich nicht überraschend, dass Therapien so häufig misslingen.

Der Therapeut, bei dem Connie und Brett vorher gewesen waren, hatte beiden als Hausaufgabe »Berührungsübungen« empfohlen. Connie hatten diese Übungen nicht zugesagt, und vor allem hatte ihr nicht gefallen, dass jemand ihr vorschrieb, was sie tun sollte. Auf ihren Einwand hin gab der Therapeut ihr den Rat, die Übungen auch auszuführen, wenn sie dies nicht wolle. Vielleicht bekomme sie ja Lust auf Sex, wenn die Berührungen sie erst einmal erregt hätten. Um seine Empfehlung zu unterstreichen, führte der Therapeut an, es gebe wissenschaftliche Untersuchungen, aus denen hervorgehe, dass Sex die Hormonproduktion anrege und diese die chemischen Prozesse im Gehirn so beeinflusse, dass man Sex wolle. Diese Entwicklung werde initiiert, wenn Connie »es« einfach tue, und sie brauche sich dann nicht mehr zu zwingen. Der Therapeut hatte dem Paar außerdem zu möglichst häufigem Sex während der nächsten beiden Wochen geraten, auch wenn Connie dies nicht wolle. Vielleicht werde sie zu ihrer eigenen Überraschung erleben, dass es ihr gefalle, und vermutlich werde sie sich schon allein deshalb besser fühlen, weil sie Brett stärker entgegenkomme.

Connie erklärte mir ohne Umschweife, diese Art, mit dem Problem umzugehen, gefalle ihr nicht. Die Methode habe ihr überhaupt nicht geholfen, und sie sei nicht mehr bereit »es einfach zu tun«, falls auch ich ihr dies empfehlen würde. Ich versicherte ihr, mir sei schon vor 30 Jahren klargeworden, dass die »Tu’ es einfach!«-Methode problematisch sei. Diese war im Rahmen der allerersten Bemühungen von Ärzten und Psychotherapeuten entstanden, Probleme des sexuellen Verlangens zu behandeln. Den vielen Klienten, denen die empfohlenen Berührungsübungen nicht gefielen, wurde einfach gesagt: »Tun Sie es trotzdem!« Die damaligen Kliniker dachten keinen Augenblick lang darüber nach, was es bedeutete, einen Partner mit schwachem Verlangen zu sexueller Aktivität aufzufordern, obwohl er dies gar nicht wollte – was manchmal sogar darin gipfelte, dass Klientinnen zum Sex mit einem Partner aufgefordert wurden, den sie nicht mochten! Man empfahl dem verlangensschwachen Partner dann, sich auf die eigenen sexuellen Empfindungen zu konzentrieren und sich vorzustellen, er sei mit einer anderen Person zusammen.1

Ich erklärte Connie, dass Therapeuten, Ärzte und Priester den Just-do-it-Ansatz schon entdeckt hätten, als noch niemand daran dachte, ihn zum Werbeslogan für Sportschuhe zu machen. Doch Untersuchungen haben gezeigt, dass sich die Beziehungssituation vieler Paare nach Abschluss einer Just-do-it-Therapie nicht verbesserte. Bei einigen lebte der Sex zwar kurzfristig auf, doch kam es dadurch nicht zu einer generellen Stärkung des sexuellen Verlangens. Die meisten waren nach spätestens zwei Jahren wieder genau an dem Punkt, an dem sie vor Beginn ihrer Therapie gestanden hatten.2 Diese Situation stand mir sehr klar vor Augen, als ich vor drei Jahrzehnten den Crucible®-Ansatz entwickelte, den ich später in diesem Buch eingehender erläutern werde.

Ich nannte Connie noch weitere Gründe dafür, dass ich sie nicht mit »Just do it!« unter Druck setzen würde. Erstens wollte ich vermeiden, dass ihr grundlegendes Reaktionsschema »Sag mir nicht, was ich tun soll!« aktiviert würde. Zweitens sei ich nicht der Auffassung, dass mit ihrem Verlangen in seinem momentanen Zustand etwas nicht in Ordnung sei. Ich sagte: »Viele verlangensschwache Partner hassen den »Tu’ es einfach«-Ansatz, weil er unpersönlichen Sex fördert. Wenn Ihr Verlangen durch einen Mangel an Intimität geschwächt ist, wird die Situation durch »Tu’ es einfach« nur noch schlimmer. Sie erhalten dann nämlich die klare Botschaft: »Tue, was notwendig ist, um dich antörnen zu lassen. Du musst dich öfter auf Sex einlassen, ob du es willst oder nicht.« Als Connie merkte, dass mir ernst war, was ich zu ihr sagte, entspannte sie sich und wurde aufgeschlossener.

»Wahrscheinlich hat Brett genau die gleiche Botschaft verinnerlicht«, vermutete ich. »Etwas wie: ›Mache Sex so, wie die Partnerin mit dem schwächeren Verlangen es will, auch wenn es dir eigentlich anders lieber wäre. Sei rücksichtsvoll. Sie gibt sich deinetwegen besondere Mühe. Mach’ es ihr nicht noch schwerer, als es sowieso schon für sie ist. Gib dich mit weniger zufrieden, als du eigentlich willst, den Rest klären wir dann später schon irgendwie. Jede Verbesserung ist besser als nichts.‹«

»Das haben Sie völlig richtig verstanden«, sagte Brett ärgerlich. »Genau diese Botschaft hat der Therapeut mir vermittelt.«

Connie schaute Brett an und deutete dann auf mich. »Ich glaube, er versteht meine Situation. Vielleicht kann er uns helfen.« Brett nickte zustimmend.

»Tun Sie es« nicht nur, um Ihren Partner glücklich zu machen

Hat der »Just do it«-Ansatz auch nur irgendwo seine Berechtigung? Vielleicht, falls Ihnen Sex gefällt, wenn er sich zufällig ergibt, Ihnen aber nie in den Sinn käme, ihn selbst zu initiieren. Aber nehmen wir einmal an, Sie sind nie im Voraus in der Stimmung dazu, und außerdem sind Sie und Ihr Partner sehr streitsüchtig. Vielleicht streiten Sie sich mit Ihrer Partnerin häufig wegen Sex. Vielleicht ist sich Ihr Partner Ihrer zu sicher, oder er redet abfällig über Sie oder untergräbt Ihre Autorität gegenüber Ihren Kindern. Wenn Sie bezüglich Sex negative Erwartungen hegen, Sie mit sich selbst nicht im Reinen oder auf Ihren Partner wütend sind oder wenn Sie sich von ihm entfremdet fühlen, sind Sie ganz sicher kein Kandidat für die »Just do it!«-Methode.

Wie sich herausstellte, fiel es Connie keineswegs schwer, sich im Voraus »in Stimmung« zu bringen. »Wenn ich an Sex mit Brett interessiert bin, habe ich manchmal vorher Tagträume darüber. Aber das ist nicht oft so, weil mir die Art, wie er mich behandelt, nicht gefällt. Er hält mir ständig vor, wegen meiner persönlichen Probleme sei unser Sexualleben so miserabel, und außerdem sei dies der Grund für das Scheitern unserer ersten Therapie gewesen. Er meint, ich hätte tun sollen, was der Therapeut uns geraten habe. Er wirft mir immer wieder vor, ich sei egoistisch.«

Deutlich defensiv fragte Brett: »Was ist denn dagegen zu sagen, dass man ›es‹ einfach tut, um den Partner glücklich zu machen? Wie steht es denn mit dem guten alten Mitgefühl?«

»Nun, wenn Sie der Partner mit dem starken Verlangen sind, klingt das natürlich gut in Ihren Ohren«, antwortete ich. »Aber der Sex, zu dem Sie auf diese Weise kommen, wird Ihnen wahrscheinlich nicht besonders gefallen. Einige Partner mit schwachem Verlangen verhalten sich beim Sex, als wollten sie ausdrücken: ›Ich tue dies nur dir zu Gefallen‹.«

»Das trifft ziemlich genau, was Connie macht«, murmelte Brett. »Sie gönnt mir keinen Spaß, selbst wenn wir ›es‹ tun.«

»Er bläst Trübsal und fühlt sich benachteiligt«, entgegnete Connie, »und versucht mir so Schuldgefühle zu vermitteln, damit ich mit ihm ins Bett gehe. Wenn Brett für Großzügigkeit und Rücksichtnahme eintritt, ist das nur eine spezielle Methode, mich dazu zu bringen, dass ich tue, was er möchte. Das törnt mich nicht an, sondern macht mich stinkwütend!«

Brett brauste auf: »Ich bin derjenige, der manipuliert wird! Und zwar dazu, dass ich nur dann Sex bekomme, wenn du es möchtest. Was ich will, ist völlig egal. Als unser früherer Therapeut mir einzureden versuchte, ich sollte mich grundsätzlich auf deine sexuellen Vorstellungen einlassen, hat mich das angekotzt. Ich hatte doch sowieso schon jahrelang nichts anderes gemacht! Und dieser Typ tut so, als ob das was völlig Neues für mich wäre!«

Brett wandte sich an mich: »Doc, wie Connie sich mir gegenüber verhält, das macht mich fertig. Ich hab’ das Gefühl, wir sind im Kindergarten und spielen ›Simon sagt, tu dies und tu das nicht‹. Wir machen alles so, wie es ihr passt. Wenn ich möchte, dass sie mich berührt, lautet die Antwort immer nein. Wenn ich sie küssen will, ist es genauso. Es spielt keine Rolle, ob ich den Abwasch mache, nett mit ihr rede oder mit ihr ausgehe. Sobald es um Sex geht, erstarrt sie, und ich bin gezwungen, nach ihrer Pfeife zu tanzen, weil ich sonst nur noch in die Röhre gucke. Wenn Sie mir jetzt auch noch sagen, ich solle es so machen, wie sie es will, dann gehe ich hier raus und komme nie mehr wieder!«

Ich wartete ein wenig, damit sich die Wogen glätten konnten, und antwortete: »Dann brauchen Sie jetzt wohl nicht zu gehen. Ich werde weder Ihnen noch Connie empfehlen, ›es einfach zu tun‹. Ein Grund dafür ist, dass ich Ihnen nicht verderben möchte, sich gewollt zu fühlen. Wenn Connie es tatsächlich einfach tun würde, würden Sie trotzdem nicht gewollt. Und ich höre Sie zwar sagen, Sie wünschen sich Sex mit Connie, aber ich glaube, Sie möchten auch, dass Connie Sie will.« Brett schaute verlegen auf seine Schuhe. Als sein Blick sich wieder mir zuwandte, nickte er, und seine Stimmung war deutlich gedämpfter.

»Meine Klienten sind irgendwann in der Lage, ›es‹ einfach zu tun, um ihren Partnern entgegenzukommen, und das stärkt dann ihr Selbstwertgefühl, statt es zu schwächen. Aber das ist ihnen erst am Ende der Behandlung möglich, nicht schon am Anfang. Würde ich ihnen gleich zu Beginn empfehlen: ›Tut es einfach!‹, käme das der Aufforderung gleich, die eigenen Gefühle zu ignorieren – was ich niemals tue. Um in der Lage zu sein, Ihrem Partner großzügig, flexibel und rücksichtsvoll zu begegnen, müssen Sie sich auf einen natürlichen persönlichen Wachstumsprozess einlassen. Abkürzungen und Predigten über Rücksichtnahme bringen Sie dabei nicht weiter.«

Beiden Partnern war mittlerweile klar, dass ich sie nicht auffordern würde, sich den Wünschen des anderen zu fügen. Was ich gesagt hatte, empfanden beide als plausibel.

»Warum ist mein Verlangen denn schwächer?«, fragte Connie.

»Ich könnte nicht einmal mit Sicherheit behaupten, dass Ihr Verlangen grundsätzlich schwach ist. Aber dass Sie in dieser Beziehung der Partner mit dem schwächeren Verlangen sind, ist offensichtlich.«

Nachdem sie diese Frage gestellt hatte, wusste ich, dass die Dinge allmählich in Bewegung kamen.

Es gibt immer einen »Partner mit schwachem Verlangen« und einen »Partner mit starkem Verlangen«

Ich möchte Sie auf eine grundsätzliche Wahrheit über das sexuelle Verlangen hinweisen, die von Zeit, Kultur und persönlichen Lebensumständen völlig unabhängig ist: Es gibt immer einen Partner mit schwächerem Verlangen, ebenso wie es immer einen Partner mit stärkerem Verlangen gibt. Dies ist eine wichtige Veränderung des Blickwinkels, ähnlich grundsätzlich wie der Wechsel von der Auffassung, die Welt sei eine Scheibe, zu der, die Welt sei rund. Eine solche Veränderung der Sichtweise führt zu einem völlig anderen Bild Ihrer selbst und Ihres Partners.

Dieses neue Bild kann Ihr Selbstempfinden völlig verändern, ganz gleich, ob Sie der verlangensschwache oder der verlangensstarke Partner sind. Es ermöglicht Ihnen, Ihre Defensivität und Ihr Gefühl, unzulänglich oder »anders« zu sein, aufzugeben. Es handelt sich dabei um eine nicht-pathologisierende Sicht der Entstehung von Lustproblemen: Der verlangensschwache und der verlangensstarke Partner sind Positionen in einer Beziehung.

Genauer gesagt sind die beiden Grundpositionen innerhalb einer Beziehung die des Partners mit dem schwächeren und die desjenigen mit dem stärkeren Verlangen. Allerdings ist es rein sprachlich leichter, von einem verlangensstarken und einem verlangensschwachen Partner zu sprechen, sofern uns der soeben beschriebene Sachverhalt klar ist.

Hinsichtlich jeder Thematik und jeder Entscheidung, um die es in Ihrer Beziehung geht, gibt es einen Partner mit stärkerem und einen mit schwächerem Verlangen. Der eine (der verlangensstarke) will etwas, das der andere (der verlangensschwächere) nicht oder zumindest erheblich weniger will. Selbst wenn Sie und Ihr Partner das Gleiche wollen, will einer von Ihnen die betreffende Sache stets mehr als der andere. An jedem Punkt einer Auseinandersetzung sind »starkes Verlangen« und »schwaches Verlangen« Positionen, die Partner zueinander beziehen. Und sobald ein Konflikt entsteht (in dem es nicht unbedingt um Sex gehen muss), ist klar, wer welche Position besetzt.

Niemand ist der verlangensschwache – oder verlangensstarke – Partner in jeder Hinsicht, sondern die beiden Positionen werden je nach Thema unterschiedlich besetzt. Ist Ihr sexuelles Verlangen stark, ist das Verlangen Ihrer Partnerin möglicherweise hinsichtlich des Bedürfnisses nach Intimität (Nähe) stärker. Oder Sie sind der verlangensstarke Partner bezüglich Sex oder Intimität und der verlangensschwache hinsichtlich Monogamie und Familiengründung. Ganz gleich, ob es um Sex geht, darum, zusammenzuziehen, die Kinder zu erziehen – oder keine Kinder zu bekommen – oder Freunde oder Schwiegereltern zu besuchen, in jedem Fall sind Sie entweder der verlangensstärkere oder der verlangensschwächere Partner.

»Schwaches Verlangen« und »starkes Verlangen« sind in einer Beziehung relative Positionen

Falls Sie der Partner mit dem schwächeren sexuellen Verlangen sind, bedeutet dies nicht, dass Sie kein (oder fast kein) Verlangen haben. Wenn Sie sich beispielsweise einmal pro Woche Sex wünschen, Ihrem Partner jedoch wären zweimal pro Woche lieber, sind Sie in dieser Hinsicht der Partner mit dem schwächeren Verlangen. Wollte Ihr Partner hingegen gar keinen Sex, wären Sie der Partner mit dem stärkeren Verlangen. Exakt die gleiche Verlangensstärke macht Sie also in der einen Beziehung zum verlangensstarken und in einer anderen zum verlangensschwachen Partner. Ihr sexuelles Verlangen ist nicht einfach schon deshalb »stark« oder »schwach«, weil es sich dabei um einen biologischen Trieb handelt oder weil sich das aus Ihrem bisherigen Leben so ergibt oder weil Sie so auf Sex stehen, sondern dies hängt immer von einem Maßstab ab, an dem Sie Ihr Verlangen messen – und in der Regel ist das Ihr Partner!

Es gibt keine »korrekte« Häufigkeit sexueller Aktivitäten. Wenn Ihnen erst einmal klar geworden ist, dass »schwaches Verlangen« und »starkes Verlangen« immer relative Positionen sind, erübrigt es sich, darüber zu streiten, wie »normal« oder »gesund« Verlangen grundsätzlich ist. Nun dürfte Ihnen klar sein, wie häufig Sie nach meiner Auffassung Sex haben »sollten«: Wenn Sie und Ihr Partner mit dem, was Sie tun oder nicht tun, glücklich sind, bin auch ich damit zufrieden.

Nun mag Ihnen meine Unterscheidung zwischen einem verlangensstarken und einem verlangensschwachen Partner aufgrund meiner Erklärung als einleuchtend und logisch erscheinen; doch möchte ich darauf hinweisen, dass diese Sichtweise nicht existierte, bevor ich meinen Ansatz entwickelte. Dafür musste ich zuerst das herkömmliche Verständnis sexuellen Verlangens überwinden. Therapeuten suchen nach den Ursachen von Problemen, die das sexuelle Verlangen betrafen, bisher »in« ihren Patienten. Obwohl ich in meiner Ausbildung zum Therapeuten erstaunlich viel gelernt habe, bin ich nie auf eine Vorstellung wie die von einer Ergänzung zwischen einem Partner mit starkem und einem mit schwachem Verlangen gestoßen.3 Aufgrund dieser neuen Sicht- und Denkweise veränderte sich mein Umgang mit Problemen des sexuellen Verlangens sehr stark, und ich erzielte infolgedessen in meiner Arbeit mit Klienten erheblich größere Erfolge.

Auch Sie müssen Ihre Sicht verändern, indem Sie beispielsweise nicht weiter davon ausgehen, dass schwaches Verlangen eine persönliche Eigenart sei. Es kommt gar nicht so selten vor, dass der Partner, der zu Beginn einer Beziehung das stärkere Verlangen hat, später derjenige mit dem schwächeren Verlangen ist (und umgekehrt). Wenn Ihnen völlig klar ist, dass »starkes Verlangen« und »schwaches Verlangen« keine Charakterzüge sind, geraten Sie wegen der Stärke oder Schwäche Ihres persönlichen sexuellen Verlangens nicht mehr so leicht in die Defensive. Insbesondere für Menschen mit schwachem sexuellem Verlangen gilt, dass sie sich dann nicht mehr so unzulänglich fühlen. Vielmehr begegnen Sie Ihrem Partner von gleich zu gleich und können auf Augenhöhe mit ihm verhandeln.

Auf Connie und Brett wirkte meine Unterscheidung zwischen einem verlangensstarken und einem verlangensschwachen Partner wie ein Weckruf. Sie reagierten nicht mehr übertrieben heftig aufeinander, und verbale Rangeleien wurden seltener zwischen ihnen. Nachdem sich ihre Sichtweise verändert hatte, gelang es ihnen schnell, ihre Situation zu verbessern. Sie akzeptierten nun, dass Probleme, die das sexuelle Verlangen betrafen, in jeder sexuellen Beziehung, also auch in einer gesunden, auftreten können.

Der Partner mit dem schwächeren Verlangen hat immer die Kontrolle über den Sex

Manche Paare trennen sich wegen Problemen, die mit ihrem sexuellen Verlangen zusammenhängen, weil sie das Wesen von Liebesbeziehungen nicht verstehen. Wenn Sie sich klarmachen, dass Beziehungen nicht nur von Ihren Gefühlen leben und dass Ihre Gefühle nicht immer »richtig« liegen, so hilft Ihnen dies, nicht alles grundsätzlich auf sich persönlich zu beziehen. Doch wenn Sie sich durch Aktivitäten Ihres Partners verletzt fühlen, fällt es Ihnen wahrscheinlich schwer, sich von dem Gedanken zu lösen, dass Ihnen Unrecht geschehen ist. So beschwerte sich auch Brett genau in dem Moment, in dem sich die Situation zwischen ihm und Connie ein wenig beruhigte, ausführlich darüber, dass und wie Connie beim Sex ständig »den Daumen drauf« hielte.

»Also gut, Doktor. Es gibt immer einen Partner mit schwächerem Verlangen. Und Connie sollte sich nicht schlecht fühlen, weil sie das in unserem Fall ist. Aber irgendwas muss doch bei Connie falsch laufen, sonst würde sie Sex mögen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das mit ihrer Kindheit zusammenhängt. Ihre Eltern haben sich scheiden lassen, als sie noch sehr jung war, und ihre Mutter hat Männer nie sonderlich gemocht. Ich nehme an, Connie hat diesen Hang zur Kontrolle von ihrer Mutter geerbt. Sie versucht mich zu kontrollieren, indem sie sich beim Sex verweigert.«

Ich antwortete: »Sie haben Ihrer Frau gerade klargemacht, dass Sie völlig verkorkst und genauso wie ihre Mutter ist und dass ihr Hauptziel im Leben darin besteht, Ihnen Sex vorzuenthalten. Die meisten Frauen würden wohl augenblicklich jedes Interesse an Sex verlieren, wenn sie so etwas hören würden, ganz abgesehen von der Frage, ob sie dann noch bereit wären, sich Ihnen gegenüber entgegenkommend zu verhalten. Ganz gleich, ob das, was Sie über Ihre Frau gesagt haben, zutrifft oder nicht, Ihre Beschwerden und Klagen wirken wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.«

Brett dachte einen Augenblick über meine Worte nach. »Ich verstehe, was Sie meinen. Aber ich habe nun einmal trotzdem das Gefühl, dass Connie mich sexuell kontrolliert. Ich bin einfach nur ehrlich. So, wie ich es beschrieben habe, fühle ich mich.«

»Ich weiß, dass Connie Ihr Sexualleben kontrolliert«, antwortete ich. »Da bin ich mir sogar absolut sicher.« Brett und Connie schauten mich entgeistert an.

»Vielleicht hat das tatsächlich etwas mit Connies Kindheit zu tun, aber vielleicht auch nicht. Vielleicht hält sie sich von Ihnen zurück – oder nicht. Möglicherweise ist Connie gar nicht das Problem. Es könnte auch sein, dass Sie gegen eine generelle Wahrheit über intime Beziehungen Sturm laufen und Connie die Schuld an etwas geben, womit sie überhaupt nichts zu tun hat. Natürlich bestimmt Connie, wann und wie in Ihrer Beziehung Sex stattfindet. Das ist deshalb so, weil sie der Partner mit dem schwächeren Verlangen ist!«

Diese Erklärung lag so fernab von allem, was Brett erwartet hatte, dass er nicht wusste, was er tun sollte. Obwohl beide einige Augenblicke lang schwiegen, spürte ich, wie die Feindseligkeit zwischen ihnen schmolz. Ich hatte Bretts ungeteilte Aufmerksamkeit.

»Brett, vielleicht meinen Sie, der verlangensschwächere Partner habe die Kontrolle über den Sex, wenn es in einer Beziehung Probleme gebe, und dies ändere sich, wenn sich die Beziehung selbst bessere. Die Wahrheit ist jedoch: Ganz gleich, ob die Situation in der Beziehung gut oder schlecht ist, der Partner mit dem schwächeren Verlangen hat in jedem Fall die Kontrolle über den Sex. Das ändert sich auch dann nicht, wenn die Beziehung zwischen Ihnen und Connie besser wird. Glückliche Paare können mit dieser Tatsache einfach nur besser umgehen.« Brett wirkte konsterniert.

Ich fuhr fort: »Nachdem mir klar geworden war, dass es in jeder Beziehung einen Partner mit schwächerem Verlangen gibt, entdeckte ich noch eine zweite Regel, die das sexuelle Verlangen von Menschen betrifft: Der Partner mit dem schwächeren Verlangen hat immer die Kontrolle über den Sex.«4

Daraufhin fragte Brett herausfordernd: »Und was ist, wenn mir diese Regel nicht gefällt?«

»Ob Ihnen diese Regel gefällt oder nicht, ändert nichts an ihrer Gültigkeit. Natürlich können Sie versuchen, sie auszuhebeln, indem Sie Ihren Partner zum Sex zwingen. Betteln, Überreden, Nötigen durch Kritik, Fordern und mit Rückzug drohen sind die üblichen Methoden. Aber Sie sind hier, weil Sie all dies ausprobiert haben und nichts davon seinen Zweck erfüllt hat. Vielleicht haben Sie versucht, Connie zum Sex zu zwingen, indem Sie sie unter Druck gesetzt haben; aber Sie können sie durch Druck nicht dazu bringen, dass Sie mit Ihnen ins Bett will oder Ihnen gegenüber Leidenschaft zum Ausdruck bringt … Das Resümee aus alldem könnte sein, dass weder mit Connie noch mit Ihnen noch mit Ihrer beider Ehe etwas nicht in Ordnung ist. Vielleicht ist das, womit Sie sich abmühen, größer als Ihre Gefühle füreinander oder Ihre Kindheitserlebnisse. Auf der ganzen Welt kontrolliert der Partner mit dem schwächeren Verlangen den Sex. Und in Ihrer Beziehung ist nun einmal Connie der Partner mit dem schwächeren Verlangen.«

Bretts Feindseligkeit klang deutlich ab. Sich klarzumachen, dass er »mit seinem Kopf gegen eine Mauer anrannte«, ließ seine Wut abebben und erleichterte es ihm, das, was er erlebte, nicht mehr so persönlich zu nehmen. »Wahrscheinlich ist es wirklich so, auch wenn es mir nicht gefällt. Aber weshalb weist einen niemand auf so wichtige Dinge hin?«

»Die Idee, dass eine Ehe ihre eigene Ökologie hat, ist relativ neu. Therapeuten haben über diese Möglichkeit nie nachgedacht, mussten sich aber trotzdem mit dem Problem auseinandersetzen. So sind sie auf die Devise ›Tu’ es einfach!‹ gekommen.«

Die Feststellung, dass der Partner mit dem schwächeren Verlangen immer die Kontrolle über den Sex hat, stellte Brett und Connie auf eine Ebene – schuf also Gleichheit zwischen ihnen. Sie merkten, dass ich keinem von ihnen Vorwürfe machte und auch niemanden dem anderen gegenüber in Schutz nahm. Ich hatte nur beschrieben, wie Beziehungen »funktionieren«. Connie und Brett beruhigten sich, aber ich sah förmlich, wie es in ihnen brodelte.

Schließlich ergriff Brett die Initiative. »Wie soll ich denn nun damit umgehen, dass der Partner mit dem schwächeren Verlangen immer den Sex kontrolliert? Soll ich mich etwa damit abfinden oder gar noch glücklich darüber sein?«

»Es steht Ihnen frei zu fühlen, was Sie wollen. Doch was Sie fühlen, ändert nichts an den Tatsachen. Sie sind nicht der einzige, der damit Schwierigkeiten hat. Genau deshalb haben zahllose Generationen verlangensstarker Menschen ihre Situation zu verbessern versucht, indem sie nach wirksamen Aphrodisiaka für ihre Partner Ausschau hielten.«

Brett lachte. »Glauben Sie nicht, dass ich daran nicht auch schon gedacht hätte.«

Die Regel gilt nicht nur für Sex

Das Wissen, dass es in jeder Beziehung einen verlangensschwachen Partner gibt und dass dieser immer den Sex kontrolliert, beruhigte Brett und Connie. Aufgrund dessen war es ihnen möglich, so lange mit den Streitereien aufzuhören, dass sie sich noch einmal klarmachen konnten, was zwischen ihnen vor sich ging. Trotzdem klagte Brett schon bald wieder, er sei sexuell nicht ausgelastet. Connie hingegen warf ihm vor, er engagiere sich nicht genügend bei der Erledigung der Haushaltsarbeiten. Ich unterbrach beide.

»Wenn Sie sich darüber beklagen, dass Brett nicht genug im Haushalt mitarbeitet, ist das nichts anderes, als wenn Brett sich über Ihren Umgang mit dem Sex beklagt. Aber wenn Sie möchten, dass er sich stärker im Haushalt engagiert, dann gilt auch dafür: Der Partner, der bezüglich der Hausarbeit das schwächere Verlangen hat, übt die Kontrolle darüber aus, wann, wie und ob diese Dinge erledigt werden. Sie können aufhören, Essen einzukaufen, und Sie können den Müll und schmutzige Kleidungsstücke so lange liegen lassen, bis riesige übelriechende Berge entstanden sind, um ihn darauf zu stoßen, dass er mehr Verantwortung im Haushalt übernehmen muss. Doch trotz all dieser Bemühungen hat einzig und allein er die Kontrolle darüber, ob diese Arbeiten fair verteilt und partnerschaftlich erledigt werden. Es ist immer das Gleiche, unabhängig davon, ob wir über Haushalt, Sex oder Kindererziehung reden. Die Regel gilt für alles, was ein Partner nicht allein erledigen kann oder will. Ganz besonders gilt sie in Situationen, in denen es auf Zusammenarbeit ankommt. Der Partner mit dem schwächeren Verlangen entscheidet stets darüber, ob das Resultat der Bemühungen positiv ausfällt.«

Connie schwieg einige Sekunden lang. Es schockierte sie, dass sie mit genau dem gleichen Problem zu kämpfen hatte wie Brett. In einem einzigen Augenblick hatte sie ein völlig neues Bild von der Situation und von ihren Interaktionen mit Brett entwickelt. An die Stelle ihrer üblichen Gedanken über Bretts Verhalten und Gefühle traten nun solche über Möglichkeiten, die ihr noch nie in den Sinn gekommen waren. Sie wendete die Regel auch auf andere Beziehungen an und merkte, dass sie dort ebenfalls zutraf.

»Ich verstehe jetzt, was Sie meinen. Meine Schwester Sally mag Familientreffen nicht; deshalb werden diese in unserer Familie immer so organisiert, dass sie sich um nichts zu kümmern braucht. Taucht sie dann auf, ist sie immer schlecht gelaunt, und alle geben sich Mühe, auf sie einzugehen, um sie nicht noch mehr aufzubringen.«

Ich nickte, um zu bestätigen, dass sie mich richtig verstanden hatte. »Sie haben es so dargestellt, als ob es Sally gefallen würde, auf diese Weise so viel Macht zu bekommen. Vielleicht ist das auch tatsächlich der Fall. Viele Menschen verhalten sich so. Allerdings kommt es in Paarbeziehungen oft vor, dass der Partner mit dem schwächeren Verlangen die Kontrolle über den Sex nicht haben will – dass er dies sogar als eine Belastung empfindet.«

Connie nickte. »Mir ist klar, dass mir das beim Sex so geht. Sally sagt, wenn Familienfeste näherrückten, empfinde sie einen ungeheuer starken Druck – als ob sie allen die Freude verderbe, wenn sie nicht zur Feier käme.«

Brett warf ein: »Ich glaube, Connie hat gerade zum ersten Mal etwas Richtiges gesagt, Doc. Sally genießt es, die Kontrolle zu haben. Und ich glaube, dass es Connie genauso geht. Alle Frauen in ihrer Familie sind so, sogar ihre Mutter!« Brett war wütend, weil er sich von Connie kontrolliert fühlte, und er erwartete, dass sie sich deswegen bei ihm entschuldigte. Dieses Problem tritt bei Menschen, die hauptsächlich emotional an ihre Beziehung herangehen, häufig auf. Brett fiel es sehr schwer, sich von der Vorstellung zu lösen, Connie »tue ihm dies an«, um ihn zu kontrollieren, weil er das nicht mit seinen Gefühlen in Einklang bringen konnte. An der Richtigkeit seiner Sichtweise hatte er nicht die geringsten Zweifel. Da er es so empfand, musste es so sein. Wenn Connie durch ihr Verhalten ein bestimmtes Resultat erzeugte, musste dieses Resultat ihre Motivation spiegeln.

Ich sagte: »Wenn Sie der Partner mit dem starken Verlangen sind, ist für Sie die Vorstellung, dass der Partner mit dem schwächeren Verlangen stets den Sex kontrolliert, verwirrend. Weil Sie sich kontrolliert fühlen, können Sie sich kaum von der Vorstellung lösen, dass Ihr Partner Sie kontrolliert – und dass er dies auch tatsächlich will. Es erleichtert Ihnen den Umgang mit dem Problem, wenn Sie es Persönlichkeitszügen und Motivationen Ihres Partners zuschreiben. Allerdings ist die Situation für den Partner mit dem schwächeren Verlangen auch kein Zuckerschlecken. Sie fragen sich wahrscheinlich, wie Sie zu einem solchen Einfluss und zu so großer Verantwortung kommen können, obwohl Sie dies gar nicht wollen. Sie fühlen sich dadurch schrecklich belastet und möchten diese Last loswerden. Wie kann es sein, dass Sie so mächtig und destruktiv und gleichzeitig so unzulänglich sind? Wie können Sie Ihrem Partner so schreckliche Dinge antun?!«

Connie fing an zu weinen. »Genau so ist es! So fühle ich mich! Ich fühle mich manchmal so erbärmlich und übel, weil ich die Kontrolle habe, obwohl ich nur das Gefühl haben will, mir selbst zu gehören!«

Befreien Sie sich vom Psychotalk

Im Gegensatz zu gängigen Stereotypen, nach denen Partner mit schwachem Verlangen »kontrollbesessene Miststücke« sind, die jede Minute ihrer üblen Machenschaften genießen, fühlen sich viele verlangensschwache Partner durch ihre Kontrollmöglichkeiten verwirrt, und diese Rolle überfordert sie. Schließlich geht es um die Kontrolle über den Sex. Du musst doch etwas davon haben, dass du dich so verhältst, sonst würdest du es ja wohl nicht tun, oder?

Falsch. Dieses oberflächliche Psychogequatsche – »Es passiert doch nur, weil du es insgeheim willst oder weil du irgendeinen Gewinn daraus ziehst« – macht Sie nur verrückt. Bleiben wir bei den Fakten: Der verlangensschwächere Partner kontrolliert den Sex, ob er es will oder nicht! Dass viele verlangensschwache Partner irgendwann kontrollieren und bestrafen wollen, muss nicht der Grund für die Entstehung dieser ganzen Situation sein, sondern ist manchmal eher das Endresultat.

Brett fuhr mich an: »Wollen Sie mir etwa nahelegen, ich solle die Situation aus Connies Perspektive sehen?«

»Nein. Sehen Sie die Situation ruhig aus Ihrer Perspektive; aber machen Sie sich zunächst einmal klar, was Ihre Perspektive ist. Dinge aus der Perspektive des Partners zu sehen ist nicht der Stein der Weisen. Wenn Sie sich mit Connies Augen sehen würden, was würden Sie dann sehen?«

»Dass ich sexbesessen bin.«

»Und sind Sie das?«

»Nein.«

»Soviel zu der Fähigkeit, Dinge aus der Perspektive des Partners zu sehen.« Brett lachte und durchbrach damit die Spannung, die sich im Raum aufgebaut hatte.

»Es bringt auch nichts, Ihre Gefühle wie unantastbare Wahrheiten zu behandeln. Wenn Sie sich kontrolliert fühlen, bedeutet das noch lange nicht, dass Connie Sie tatsächlich kontrollieren will oder dies auch nur versucht.«

Wieder lachte Brett. Er war nun wieder Herr seiner selbst. »Wenn ich nicht der Lustmolch bin, für den Connie mich hält, ist sie vielleicht auch nicht das kontrollbesessene Miststück, das ich ständig in ihr sehe.«

Dies war ein wichtiger Wendepunkt in unserer Sitzung. Brett und Connie hatten sich ein wenig aus ihrer festgefahrenen Haltung gelöst und fingen an, ihr Dilemma in einem neuen Licht zu betrachten: Der verlangensschwächere Partner kontrolliert den Sex unabhängig davon, ob er es weiß oder will.

Wie der Partner mit dem schwächeren Verlangen den Sex kontrolliert

Aber warum kontrolliert der Partner mit dem schwächeren Verlangen unvermeidlich den Sex? Wie kann es dazu kommen, wenn keiner von beiden dies will? Warum lässt es sich nicht einmal vermeiden, nachdem Sie dieses Buch gelesen haben? Und wieso passiert es ständig und überall auf der Welt?

1.  Der verlangensstarke Partner initiiert in den meisten, wenn nicht gar in allen Fällen sexuelle Aktivitäten.

2.  Der verlangensschwache Partner entscheidet darüber, auf welche sexuellen Initiativen er eingeht.

3.  Auf diese Weise wird entschieden, wann es überhaupt zu Sex kommt. Und damit hat der verlangensschwache Partner faktisch die Kontrolle über den Sex, ob ihm dies nun recht ist oder nicht.

Der Vorgang ist erschreckend einfach und völlig offensichtlich, sobald man ihn einmal erkannt hat, doch solange dies nicht der Fall ist, wird er leicht völlig übersehen. Der Partner mit dem schwächeren sexuellen Verlangen hat auch die Kontrolle darüber, wo, wie und warum es zu sexuellen Aktivitäten kommt – und auch diese Kontrolle übt er unabhängig davon aus, ob ihm dies gefällt. Schlägt der verlangensstarke Partner vor, die Häufigkeit der sexuellen Aktivitäten, deren Zeitpunkt oder Eigenart zu verändern, besteht die einzige Reaktion des verlangensschwachen Partners gewöhnlich darin zu zögern. Daraufhin tritt auch der verlangensstarke Partner den Rückzug an, weil er fürchtet, sonst völlig leer auszugehen.

Diese Tatsache macht Paare verrückt. Wenn Connie defensiv oder ängstlich wurde – was oft vorkam –, versteifte sie sich auf die Haltung »Entweder so, wie ich es will, oder gar nicht!« Das wirkte auf das Sexualleben beider wie eine »psychische Zwangsjacke«. Connie verfügte über ein ungeheures Maß an Kontrolle und Einfluss, wobei sie gleichzeitig das Gefühl hatte, Brett versuche, sie zu kontrollieren.

Connie akzeptierte zunächst nicht, was ich sagte. Sie selbst hatte nämlich ganz und gar nicht das Gefühl, irgendetwas unter Kontrolle zu haben. Vielmehr fühlte sie sich unter Druck gesetzt und machtlos. Manchmal ließ sie sich auf Sex mit Brett ein, obwohl sie dies gar nicht wollte. Wie konnte sie also diejenige sein, die eine so starke Kontrolle ausübte? Wenn sie tatsächlich so mächtig war, warum konnte sie Brett dann nicht daran hindern, sie zum Sex zu drängen? Connie verstand schließlich, was ich meinte, nachdem ihr zwei wichtige Dinge klar geworden waren.

Erstens kontrolliert der verlangensschwache Partner den Sex, weil seine Reaktion darüber entscheidet, wann es dazu kommt. Diese Kontrolle wird im Laufe der Zeit stärker. Wie Sie dies erleben und damit umgehen, sagt viel darüber aus, ob Sie der Partner mit dem schwächeren oder mit dem stärkeren Verlangen sind. Aber ganz gleich, ob Sie es wissen oder erleben oder mögen oder nicht, es trifft in jedem Fall zu.

Zweitens wurde Connie schließlich klar, dass ich ihr nicht die Schuld an den Problemen geben würde. Dies glaubte sie zunächst nicht, weil sie sich schuldig fühlte und weil sie sich für sexuell unzulänglich hielt. Connie sah sich tatsächlich mit Bretts Augen. Dies erschwerte es ihr zu glauben, dass nicht letztendlich ihr die Schuld zugeschoben würde.

Es muss nicht unbedingt »etwas falsch laufen«

Im Laufe unserer Sitzung nahmen die Feindseligkeiten zwischen Brett und Connie allmählich ab. Dennoch waren beide weiterhin davon überzeugt, dass mit ihnen etwas nicht in Ordnung sein könne. Connie sagte: »Vielleicht kann man ja wirklich keinem von uns eine Schuld geben; aber ich fürchte trotzdem, dass diese ganze Sache letztendlich an mir hängenbleibt. Es muss doch etwas falsch laufen, so wie es um unseren Sex bestellt ist.«

Ich fragte sie: »Warum glauben Sie, dass etwas nicht in Ordnung ist?« Brett und Connie schauten mich an, als ob ich verrückt geworden wäre.

»Was sagen Sie denn beispielsweise dazu, dass wir seit sechs Monaten keinen Sex mehr hatten? Das kann man doch nicht mehr als Ehe bezeichnen! Es ist einfach nicht in Ordnung, wenn Mann und Frau ohne Sex zusammenleben. Normal ist was anderes!« Bretts Stimme klang nicht mehr so beschuldigend und verurteilend wie vorher, wenn er etwas zu Connie gesagt hatte. Nun brachte er eher zum Ausdruck, dass er schockiert und verwirrt war.

Connie fragte zögernd: »Werden wir unsere Beziehung wohl wieder hinbekommen?«

Ich hielt einen Augenblick inne, um dem, was ich sagen wollte, Nachdruck zu verleihen: »Nein … weil sie gar nicht kaputt ist. Nach allem, was Sie mir bisher darüber mitgeteilt haben, ist eigentlich alles in Ordnung.«

»Er sagt doch tatsächlich, alles sei in Ordnung! Meine Frau will keinen Sex mit mir, und alles ist in Ordnung!« Brett machte sich über mich lustig, doch seine Stimme klang eher ironisch als feindselig.

»Genau so ist es. Zunächst einmal: Ob etwas nicht in Ordnung ist und ob die Dinge nicht so laufen, wie Sie es sich wünschen, sind zwei Paar Schuhe.«

»Oh.« Über diese Möglichkeit hatte er offenbar noch nie nachgedacht.

»Zweitens werden Sie Ihre Situation wahrscheinlich so verändern können, dass Sie eher damit einverstanden sind – weil eigentlich sowieso alles in Ordnung ist. Wenn etwas Merkwürdiges oder Ungewöhnliches im Gange wäre, ließe sich Ihre Beziehung möglicherweise nicht verändern. Aber sie scheint gut zu funktionieren: Sie verhält sich genau so, wie Beziehungen es tun, wenn die Partner so handeln wie Sie im Augenblick. Sobald Sie sich anders verhalten als jetzt, wird sich das auch auf Ihre Beziehung auswirken.«

Connie sagte: »Meinen Sie vielleicht, mit unserem ›Auto‹ sei alles in bester Ordnung, das Problem sei nur, wie wir damit fahren?« Ich nickte.

Mit ungläubigem Lächeln erklärte Brett: »Meine Frau will keinen Sex mit mir, weil sie mich für einen egoistischen und unsensiblen Trottel hält. Ich hingegen werfe ihr vor, sie sei ein kontrollbesessenes, manipulatives Miststück, und wir streiten uns deswegen ununterbrochen. Wir sind uns nicht einmal mehr sicher, ob wir weiter zusammenbleiben sollten. Eine Therapie haben wir schon abgebrochen. Und nun wollen Sie uns sagen, bei uns sei alles in bester Ordnung?«

»Ja.«

»Auf welchem Planeten haben Sie Ihre Ausbildung bekommen?«

Ich lächelte ihn an. »Auf dem Planeten, den Sie zurzeit besuchen. Man kommt schwer über die Annahme hinweg, Probleme mit dem sexuellen Verlangen würden zeigen, dass etwas nicht in Ordnung ist. So wurden solche Probleme in der ganzen Menschheitsgeschichte gesehen – wahrscheinlich auch schon vor Beginn der Geschichtsschreibung. Aber wenn Sie Ihre Sichtweise verändern, sieht dies alles völlig anders aus. Das hat schon vielen Paaren geholfen, und es könnte auch Ihnen helfen.«

Connie wirkte deutlich erleichtert. »Sie meinen wirklich, dass alles in Ordnung ist? Ich fühle mich schon so lange unzulänglich. Deshalb kann ich kaum glauben, was Sie sagen.«

»Vielleicht ist ja tatsächlich etwas nicht in Ordnung; was weiß ich denn. Aber Probleme mit dem sexuellen Verlangen zeigen oft, dass alles genauso läuft, wie es sein sollte.« Connie und Brett schauten einander an.

»Ich meine nicht, dass Sie Ihre Probleme mit dem sexuellen Verlangen ignorieren sollten, und auch nicht, dass das, was Sie durchleben, besonders spaßig ist. Ich sage nur: Da Probleme, die das sexuelle Verlangen betreffen, unvermeidbar sind, empfehle ich Ihnen, sie produktiv zu nutzen. Solche Probleme treiben uns zur Klarheit an. Das Verlangen ist in Ihrer Ehe kein Problem