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Die achtzehnjährige Teresa, genannt Tessa, kommt aus einer gewöhnlichen Kleinstadt. Hier passiert nie etwas Aufregendes. Normalerweise jedenfalls. In diesem Herbst jedoch ändert sich alles für die Abiturientin, denn von einem Tag auf den anderen ist Lucas da, sitzt im Matheraum ihrer langweiligen Schule und niemandem scheint das aufzufallen. Ihre Mitschülerinnen und Mitschüler ignorieren ihn, die Lehrerschaft übersieht ihn. Aber nicht Tessa. Fasziniert beobachtet sie ihn aus den Augenwinkeln, wann immer sie die Gelegenheit dazu bekommt: Den Jungen, der immer Grün trägt und der sie mit seinen goldgrünen Augen verzaubert hat. Den Jungen, der immer schweigt und alle ignoriert. Und der ihr trotz allem so vertraut vorkommt. Als ihr ein aufdringlicher Verehrer zu nah kommt und Lucas dies beobachtet, rettet sie ein plötzlich zufallendes Fenster. Tessa ist sich sicher, dass er etwas mit ihrer Rettung zu tun hat, auch wenn sie es sich nicht erklären kann. Sie beschließt, herauszufinden, wie er sie aus dieser Situation befreien konnte und wieso ihn alle ignorieren, während sie ihm direkt von der ersten Sekunde verfallen ist. Mutig stellt sie ihn zur Rede und ahnt dabei nicht, dass sein Geheimnis ihre Welt für immer verändern wird ...
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Seitenzahl: 553
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Zu diesem Buch
Die achtzehnjährige Teresa, genannt Tessa, kommt aus einer typischen Kleinstadt. Hier passiert nie etwas Aufregendes. Normalerweise jedenfalls. In diesem Herbst jedoch ändert sich alles für die Abiturientin, denn von einem Tag auf den anderen ist Lucas da, sitzt im Matheraum ihrer langweiligen Schule und niemandem scheint das aufzufallen. Ihre Mitschülerinnen und Mitschüler ignorieren ihn, die Lehrerschaft übersieht ihn. Aber nicht Tessa. Fasziniert beobachtet sie ihn aus den Augenwinkeln, wann immer sie die Gelegenheit dazu bekommt: Den Jungen, der immer Grün trägt und der sie mit seinen goldgrünen Augen verzaubert hat. Den Jungen, der immer schweigt und alle ignoriert. Und der ihr trotz allem so vertraut vorkommt.
Als ihr ein aufdringlicher Verehrer zu nah kommt und Lucas dies beobachtet, rettet sie ein plötzlich zufallendes Fenster. Tessa ist sich sicher, dass er etwas mit ihrer Rettung zu tun hat, auch wenn sie es sich nicht erklären kann. Sie beschließt, herauszufinden, wie er sie aus dieser Situation befreien konnte und wieso ihn alle ignorieren, während sie ihm direkt von der ersten Sekunde verfallen ist. Mutig stellt sie ihn zur Rede und ahnt dabei nicht, dass sein Geheimnis ihre Welt für immer verändern wird …
Vivien Vogt aus Berlin, geboren 1989, schreibt, seitdem sie schreiben kann, am liebsten über die ganz große Liebe. Die promovierte Naturwissenschaftlerin brennt für Wissenschaft und Forschung und teilt ihre Begeisterung darüber mit allen, die ihr zuhören. Mit ihren Romanen versucht sie, die Welt ein kleines bisschen fröhlicher zu gestalten. In ihrem Kopf gibt es noch unzählige weitere Ideen für Geschichten über die Liebe, die unbedingt erzählt werden möchten und die sie eines Tages aufschreiben wird.
Für L. und A.,
denn ihr seid mir das Allerliebste!
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Epilog
An einem ganz gewöhnlichen Montag im November sah er mich das erste Mal bewusst an und brachte damit meine Welt zum Schwanken. Das Wetter war am Wochenende umgeschlagen, vom schönen, lauwarmen Herbst zum kalten, düsteren Novemberwetter. Als ich am Morgen aufstand und zur Schule lief, wusste ich noch nicht, dass sich einfach alles für mich ändern sollte. Es war mein letztes Schuljahr, in dem ich mein Abitur machen würde. Ich zählte heimlich schon die Tage, aber bisher war die Zahl noch immer viel zu groß, als dass ich mich daran hätte erfreuen können.
Auf dem Schulweg traf ich meine beste Freundin Vicki. Wir beide kämpften mit den Regenschirmen gegen den widerlichen Nieselregen an, aber leider gewann der Regen, sodass wir bereits durchnässt in der Schule ankamen. In der ersten Stunde hatten wir Mathe. Mathe war nicht gerade eines meiner Lieblingsfächer. Meistens konnte ich die Erklärungen unseres Lehrers nur schlecht nachvollziehen, aber in diesem Semester behandelten wir Vektoren und zeichneten viel, da war es glücklicherweise nicht ganz so schlimm.
Als Vicki und ich das Klassenzimmer betraten, das genauso grau und kühl wie das Regenwetter draußen war, war er natürlich bereits da. Er kam nicht schlurfend wie wir durch die breite, graue Tür gelaufen, nein, er war einfach da. Von einem Tag auf den anderen war er irgendwie einfach da gewesen. Er stellte sich niemandem vor und sagte auch nie ein Wort. Er hatte sich in die letzte Reihe auf einen leeren Stuhl gesetzt und verfolgte von dort aus ruhig atmend den Unterricht. Die Lehrerschaft wunderte sich nicht über den sonderbaren Neuling und auch meine Mitschülerinnen und Mitschüler schienen sich nicht für ihn zu interessieren. Sie mieden ihn oder machten sich heimlich lustig über ihn. Im Unterricht beteiligte er sich nie, wurde aber auch nie aufgerufen, um etwas Konstruktives beizutragen. Ab und zu schrieb er etwas auf, aber meistens starrte er mit seinen grüngoldenen Augen, die an eine sonnendurchflutete Waldlichtung erinnerten, zur dunkelgrünen Tafel, als würde er mehr dort sehen können als wir, als könnte er direkt hindurchblicken, vielleicht sogar bis in den benachbarten Klassenraum oder noch weiter.
Es war, als würde ihn eine abweisende, fast schon düstere Aura umgeben, die jeden abschreckte, ihn anzusprechen, der es vorhatte. Scheinbar jeden. Mich schreckte sein Verhalten keineswegs ab. Ich beobachtete ihn vom ersten Moment an, seit er vor ein paar Wochen ohne jegliche Erklärung plötzlich in unserem Matheraum gesessen hatte und seitdem irgendwie dazugehörte. Ich stellte mir allerlei märchenhafte Möglichkeiten vor, was ihn dazu bewogen haben könnte, ausgerechnet hierherzukommen, in die langweiligste Kleinstadt der Welt, direkt in unsere Klasse, zu den langweiligsten Schülerinnen und Schülern der Welt. Es wirkte, als wäre er mit dem goldenen Oktoberwind wie ein loses Blatt in unsere Schule geweht worden und so beobachtete ich ihn heimlich von meinem Platz aus. Obwohl ich dieses innere Verlangen hatte, mit ihm zu sprechen, traute ich mich nicht, dies auch tatsächlich zu machen. Jeden Tag, an dem ich ihn sah, er mich jedoch ignorierte, wuchs dieses Gefühl in mir, dass ich unbedingt wissen musste, wer er war und wieso er sich so seltsam verhielt, aber jedes Mal, wenn ich einen Schritt in seine Richtung wagte, war es, als hielt mich eine unsichtbare Macht davon ab, zu ihm zu laufen.
Nach nicht einmal vier Wochen sprach niemand mehr irritiert hinter vorgehaltener Hand über ihn. Während das ohnehin schon magere Interesse der anderen an ihm noch weiter gesunken war, konnte ich ihn nicht vergessen.
Und dann an diesem grauen Montagmorgen sollte sich alles für mich ändern, obwohl alles zunächst wie immer schien. Er trug eine dunkle Jeans und ein hellgrünes Poloshirt. Er trug meistens grüne Kleidung, die seine hellbraunen Haare betonte und die grünen Augen, in denen ich sicherlich versinken würde, wenn ich länger als nur ein paar Millisekunden hineinsehen könnte, hervorhob. Sein frisches Grün erhellte die letzte Reihe und ich konnte wieder nicht aufhören, ständig zu ihm zu schauen.
Es war nicht nur, dass er gut aussah. Seine grünen Augen strahlten in einem seltsam abwesenden Glanz, während sie wie gebannt zur Tafel schauten. Wenn ich sie auch nur von der Seite sehen konnte, so verfing ich mich doch jedes Mal in diesem strahlenden Goldgrün. Ich hatte nie zuvor so ausdruckstarke Augen gesehen. Er hatte blasse Haut, eine fein geschwungene Nase und einen schönen Mund mit schmalen Lippen. Seine Haare fielen ihm vorn ein wenig in die Stirn. Aber sein Aussehen war nicht der Grund, weshalb ich ständig zu ihm schauen wollte. Für gewöhnlich ließ ich mich nicht so schnell von einem hübschen Gesicht beeindrucken. Nein, es war vielmehr etwas, das hinter seinem Blick lag, was mich nicht losließ.
Ich versuchte, mich auf den Unterricht zu konzentrieren, wirklich, ich versuchte, nicht ständig zu ihm zu schauen. Aber es wollte mir nicht gelingen und ich schweifte stets ab, verfing mich wieder in diesem Grünton, der meine Welt erhellte und meine Gedanken durcheinanderbrachte.
»Gefällt er dir?«, flüsterte mir Vicki plötzlich zu, die unter dem Tisch in einem Hochglanzmagazin blätterte und beim Horoskop stehen geblieben war.
Ich blickte sie unschlüssig an.
»Wer?«, fragte ich scheinheilig und versuchte, das Offensichtliche zu verschleiern.
Vicki lächelte mir spöttisch zu und verzog ihre Lippen.
»Hier steht es, Tessa«, meinte sie mit gedämpfter Stimme. »Was dir heute widerfährt, wird dich so schnell nicht mehr loslassen.«
Ihr mystischer Unterton lief mir kalt den Rücken herunter. Sie wandte sich schwungvoll um und fixierte den Neuen mit ihren eisgrauen Augen.
»Und ich glaube, ich weiß jetzt auch, was das Horoskop damit meint.«
Sie kicherte und ich stieß ihr unsanft in die Seite. Noch nie hatte ich etwas auf Horoskope gegeben und ich würde auch heute nicht damit anfangen, ganz gleich, was dort stand und wie ich mich fühlte.
»Jetzt sei nicht so!«, flüsterte sie beleidigt, weil ich ihren Sternen wieder einmal nicht glauben wollte. »Ich sehe doch, wie du dich ständig umdrehst und ihm diese eindeutigen Blicke zuwirfst.«
Ertappt wurde ich rot, als sie die Lippen zu einem Kussmund formte und mit den Wimpern klimperte, aber ich wollte nicht, dass sie falsche Schlüsse zog.
»Was für Blicke?«, fragte ich schnell, vielleicht zu schnell, aber sie kicherte nur und blätterte in ihrem Magazin. »Ich werfe ihm gar keine eindeutigen Blicke zu!«
Ich verdrehte die Augen, holte meinen Taschenrechner heraus und versuchte, ein paar Skalarprodukte auszurechnen, um mich abzulenken. Wieso hatte er sich immer noch nicht vorgestellt, wo kam er her und wieso blickte er immer wie gebannt zur Tafel? Er konnte sich doch nicht ernsthaft für diesen Unterricht interessieren?
Ich wollte wissen, wer er war und wieso er sich so merkwürdig benahm. Es war völlig unverständlich, dass er noch nie etwas gesagt hatte. Ein merkwürdiges Flattern in meinem Magen ließ mich innehalten. Irgendetwas in mir wollte, nein, musste unbedingt wissen, wie seine Stimme klang, und wartete sehnsüchtig darauf, dass er von unserem Mathelehrer aufgefordert wurde, aktiv am Unterricht teilzunehmen. Sein stoisches Schweigen ließ mich unruhiger werden, als es mir gefiel. Ich drehte mich um und in diesem Augenblick fühlte es sich an, als wäre sein Blick eine Tausendstelsekunde ebenfalls auf mich gerichtet gewesen. Als ich ihn aber direkt mit meinen Augen fixierte, sah ich, dass sich sein Blick nicht bewegt hatte. Dennoch hatte ich das Gefühl, dass seine Lippen kaum merklich hochgezogen waren, wie zu einem spöttischen Lächeln.
Ich drehte mich schnell wieder zurück und war mir auf einmal sicher, dass er sich über mich lustig machte, weil ich ihn wie eine Verrückte anstarrte. Die restliche Zeit zwang ich mich, mich nicht mehr umzudrehen, und kämpfte gegen dieses absurde, innere Verlangen.
Nach der schier endlosen Mathestunde beobachtete ich beim Zusammenpacken, wie er sich bewegte. Er ging mit seinem grünen Leinenrucksack zu Herrn Meyer, unserem Mathelehrer. Aber Gehen war vielleicht das falsche Wort, um seinen Gang zu beschreiben. Es wirkte vielmehr, als würde er über den Fußboden schweben, so leichtfüßig bewegte er sich. Mir lief ein Schauer über den Rücken. Menschen konnten nicht über Fußböden schweben. Ich musste dringend aufhören, ihn zu beobachten.
Er sprach leise mit unserem Mathelehrer. Angestrengt versuchte ich, seine Stimme herauszuhören, konnte aber nichts wahrnehmen, weil die anderen zu laut waren.
»Kommst du?«, rief Vicki ungeduldig.
Ich lächelte sie ertappt an.
»Geh ruhig schon vor, ich komme nachher direkt zu Bio«, antwortete ich rasch.
Sie zuckte gleichgültig mit den Schultern und verließ zusammen mit unseren Freunden den Raum. Mein Blick aber klebte schon wieder an dem Neuen, der mit dem Rücken zu mir stand und unserem Mathelehrer zuhörte. Unruhig verlagerte er sein Gewicht von einem Bein auf das andere, sodass ich schmunzeln musste. Wenigstens seine Reaktion auf Gespräche mit Lehrern war normal.
»Auf was wartest du?«, fragte eine Stimme hinter mir.
Ich zuckte zusammen und fühlte mich ertappt, wich aber instinktiv etwas zurück.
»Ach, ich habe geträumt«, murmelte ich verlegen und räumte meine Unterlagen zusammen.
Adrian stand neben mir und lächelte mich lässig an.
»Darf ich fragen, von wem du geträumt hast, Tessa?«, fragte er und zwinkerte mir unverhohlen zu.
Ich verdrehte innerlich die Augen. Er konnte nicht wissen, dass ich diesen fremden Jungen beobachtete und mir ständig den Kopf über ihn zerbrach. Dass ich mir jedes Mal vornahm, ihn anzusprechen, nur um einmal seine Stimme zu hören. All das konnte niemand wissen, denn ich hatte es noch niemandem erzählt. Was sollte ich auch sagen? Dass es mir komisch vorkam, weil sich niemand für ihn interessierte? Dass ich ihn unbedingt ansprechen wollte, aber Tag für Tag davon abgehalten wurde? Dass ich sogar im Schlaf von ihm träumte?
Adrian machte einen Schritt auf mich zu und lächelte selbstsicher. Vermutlich dachte er, ich würde von ihm träumen. Am Freitag waren wir mit ein paar Freunden im Kino gewesen. Von dem Film hatte ich jedoch nur wenig mitbekommen, da ich die ganze Zeit angespannt aufpassen musste, ihm keine Gelegenheit zu geben, irgendwelche Annäherungsversuche zu starten.
»Hattest du noch ein schönes Wochenende?«, fragte Adrian stattdessen, weil er keine Antwort von mir bekam.
Ich blickte ihn unschlüssig an. In diesem Moment lief der Neue direkt an uns vorbei. Meine Armhärchen richteten sich unter dem Pullover auf. Er schaute mich nicht an, aber ich war mir sicher, dass er mitbekam, wie ich mich fühlte.
»Alles okay mit dir?«
Adrian hatte sich schützend vor mich gestellt und funkelte den Neuen angriffslustig an.
»Ja, alles okay. Ich bin einfach noch müde. Hab nicht besonders gut geschlafen«, meinte ich leise.
In der Nacht hatte ich dreimal von dem fremden Jungen geträumt und war jedes Mal schweißgebadet aufgewacht. Dabei wusste ich nicht einmal seinen Namen. Den Rest der Nacht hatte ich damit verbracht, mir den Kopf über seinen Namen zu zerbrechen. Jemand, der einen Namen hatte, war viel weniger gefährlich.
Adrian lächelte mich an.
»Freitag war echt schön. Also ich meine das Kino mit dir«, flüsterte er und kam mir unangenehm nah.
Ich wich zurück.
»Ich … ja, es war ganz nett«, murmelte ich und schaute zur Decke, um seinem Blick auszuweichen.
»Das müssen wir unbedingt wiederholen, aber ohne die anderen. Tessa, ich habe das ganze Wochenende an dich gedacht.«
Er kam noch näher und ich hatte keine Möglichkeit mehr, zurückzuweichen, weil ich bereits mit dem Rücken an meinem Tisch stand. Es war mir unangenehm und ich verfluchte mich, dass ich überhaupt ins Kino mitgegangen war. Nun kam er immer näher und es gab niemanden, der mich aus dieser Situation befreien konnte.
Plötzlich knallte das hintere Fenster, welches nach dem Unterricht geöffnet wurde, so laut zu, dass wir beide erschrocken zusammenzuckten und Adrian von mir abließ. Er hatte die Augen zusammengekniffen und fixierte mich wie ein Raubtier seine Beute. Aber ich konnte die Gelegenheit nutzen, ihm ausweichen und wandte den Kopf hastig zur Tür. Und dort stand der Junge, von dem ich jede Nacht träumte, dessen Namen ich unbedingt wissen und dessen Stimme ich unbedingt hören wollte, und starrte mich abwesend an. Es war das allererste Mal, dass er mich bewusst anblickte. Seine grünen Augen waren starr auf mich gerichtet und plötzlich hatte ich das Gefühl, ich hätte schon einmal in sie hineingeblickt.
Unruhig biss ich mir auf die Unterlippe, um mich abzulenken, obwohl ich nichts lieber getan hätte, als ihn anzuschauen. Viele Gedanken rasten mir durch den Kopf. Draußen war es grau und eisig, aber momentan auch windstill. Selbst der Nieselregen hatte aufgehört. Ich verstand nicht viel von Physik, aber ich wusste, dass dieses Fenster niemals von allein hätte zufallen können, nicht mit dieser Wucht, denn die Tür des Klassenzimmers war geschlossen. Aber das war absurd. Der Neue stand viel zu weit vom Fenster entfernt, um es zuwerfen zu können. Und woher hätte er auch wissen sollen, dass mir Adrians Nähe so unangenehm war? Er kannte mich ja gar nicht. Wie sollte er wissen, dass ich Adrian loswerden wollte? Und was hätte er überhaupt davon, mir zu helfen, wo er sich doch überhaupt nicht für seine Mitmenschen interessierte?
Adrian hob meine Sachen auf, die mir vor Schreck heruntergefallen waren, und stopfte sie unachtsam in meine offene Tasche. Ich jedoch konnte meinen Blick nicht von diesem fremden Jungen nehmen, der sich wortlos umdrehte und ging, ohne dabei eine Miene zu verziehen.
Wie gebannt starrte ich auf die Stelle, wo er gestanden hatte. Er hätte es niemals zuwerfen können. Und doch war es zugefallen, genau in dem Moment, als Adrian mir unangenehm nah gekommen war. Genau in dem Moment, als ich in Gedanken um Hilfe gerufen hatte …
Jemand fuchtelte mit einer Hand vor meinem Gesicht herum und holte mich wieder in die Realität zurück.
»Hallo? Aufwachen!«, rief Adrian ungeduldig. »Du musst echt müde sein, wenn du im Stehen einschläfst!«
Er nahm meine Tasche und zog mich unsanft aus dem Matheraum. Ich zitterte immer noch. Es war eigenartig, dass außer mir niemand diese seltsame Aura des Jungen zu spüren schien.
Wieso aber reagierte ich so seltsam auf ihn?
Wieso ausgerechnet ich?
Im Biologieunterricht konnte ich mich einigermaßen beruhigen, weil er nicht da war. Da er einen anderen Leistungskurs gewählt hatte, konnte ich mich wieder besser auf den Unterricht konzentrieren.
Biologie war mein bestes Fach, was vermutlich daran lag, dass meine Mutter als Biologin in einer naturwissenschaftlichen Fakultät einer kleinen Fachhochschule arbeitete und mich schon in frühester Kindheit in ihre Forschung eingebunden hatte.
Vicki saß unruhig neben mir und schaute sich skeptisch ihre Fingernägel an.
»Mist! Schon wieder einer abgebrochen«, murmelte sie und biss auf ihrem Zeigefinger herum. »Die sind in letzter Zeit so brüchig. Ich sollte wieder anfangen, Zink zu nehmen. Oder Biotin? Was meinst du, Tessa?«
Sie hielt mir die Nägel unter die Nase. Ich lächelte sie an und versuchte, tief einzuatmen. Es war alles okay. Ich war in meiner Schule. Hier geschah nie etwas Unheimliches. Das einzige Unheimliche war ein unangekündigter Physiktest oder eine Lateinarbeit, vor der sich alle fürchteten.
Das Fenster war zum Temperatur- oder Druckausgleich zugefallen, weil es draußen so kalt war. Es musste eine einfache, physikalische Erklärung dafür geben. Der Neue hatte keine übersinnlichen Fähigkeiten. Und ich hatte in der Tat zu wenig geschlafen und eine blühende Fantasie.
Nach den beiden Bio-Stunden ging es mir schon etwas besser. Ich hatte mich beruhigt und reagierte nicht mehr so schreckhaft auf alle, die mich ansprachen.
In der Mittagspause gingen Vicki und ich mit dem Rest unserer Gruppe in die Mensa, um etwas Warmes zu essen. Ich bemerkte erst, als ich schon an der Essensausgabe stand, dass ich gar keinen Hunger hatte. Angespannt wartete ich, dass Vicki und die anderen ihr Essen bekamen. Wir setzten uns an unseren Stammtisch und ich hörte Max zu, der von seinem Wochenende berichtete. Hinter ihm sah ich, wie der Neue mit seinem Essen zu einem leeren Tisch ging. Ich konnte nicht erklären, wieso, aber irgendwie war ich in diesem Moment unfassbar erleichtert, dass auch er zum Essen in der Mensa erschienen war.
Er blickte sein Essen unschlüssig an. Dann schaute er auf, als ob er etwas suchen würde. Schnell duckte ich mich. Er sollte nicht mitbekommen, dass ich ihn immer noch beobachtete.
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie ein schlankes Mädchen auf ihn zulief. Er nickte ihm zu, als es sich zu ihm setzte. Ich runzelte die Stirn. Wie konnte er jemanden gefunden haben, der mit ihm aß, wo er doch sonst mit niemandem redete? Und wie konnte es sein, dass er seit einem Monat hier war und ich ihn noch nie in der Mensa bemerkt hatte? Dieses Mädchen kannte ich ebenfalls nicht, vielleicht war es auch neu an dieser Schule?
Während ich wieder in Gedanken versunken war, hatte Vicki ihr Essen beendet.
»Tessa?«, fragte sie mit sanfter Stimme. »Wir sind fertig. Wo bist du nur schon wieder mit deinen Gedanken?«
»Sie hat schlecht geschlafen«, rief Adrian und streckte den Arm aus, um meinen Nacken zu berühren. »Nicht verwunderlich, ich war ja auch nicht bei ihr in der Nacht.«
Er lachte dreckig. Vicki verdrehte die Augen. Sie verabscheute seine plumpe Art und seine angriffslustigen Blicke, mit denen er besitzergreifend um sich warf.
»Kommst du mit, Tessa?«, fragte Vicki ungeduldig und beachtete Adrian nicht. »Ich will rauchen!«
Sie nahm ihr Tablett und stand auf.
»Je öfter du rauchst, desto schwärzer werden deine Lungenbläschen und Zähne«, zischte ich ihr zu.
Vicki lachte. »Du musst mich ja nicht küssen!«
Ihr Blick ging fast unmerklich zu David, der auch noch nicht lange an unserer Schule war. David hatte mit dem Rauchen angefangen und damit war er insgeheim dafür verantwortlich, dass auch Vicki damit angefangen hatte, was mir sehr missfiel. Aber sie war hoffnungslos in ihn verliebt, seitdem er das erste Mal durch das Schultor gegangen und mit ihr zusammengestoßen war. Sie meinte, er hätte sie nicht nur körperlich umgehauen und seine blauen Augen hätten sich in ihr Herz gebrannt. Auf jeden Fall hatte sie sich seitdem das Rauchen angewöhnt, um öfter bei ihm sein zu können, da er jede Pause draußen mit seinen selbstgedrehten Zigaretten verbrachte.
»Warte draußen auf mich, Vicki, ich muss noch etwas erledigen«, sagte ich und nickte ihr zu.
Vicki lächelte, murmelte etwas von einem Horoskop und verließ zusammen mit David und Maja die Mensa. Max, Adrian und der Rest blieben noch am Tisch sitzen und redeten über belanglose Dinge.
Als ich ebenfalls aufstand und loslief, spürte ich Adrians Blicke an meinem Rücken. Ich hatte für einen kurzen Moment keine Ahnung, wo ich überhaupt hinlief. Es war, als würden sich meine Beine automatisch in eine bestimmte Richtung bewegen. Als mir das bewusst wurde, hatten sie mich schon durch die halbe Mensa getragen. Ich war auf dem Weg zu ihm!
Er saß immer noch mit dem unbekannten Mädchen am Tisch. Als ich mich näherte, stand das Mädchen auf und eilte an mir vorbei. Seinen Teller hatte es stehen gelassen.
Der Junge stocherte in seinem Essen herum und ich war mir sicher, dass er noch gar nichts gegessen hatte. Er blickte nicht auf, als ich mich setzte, aber ich wusste, dass er mich bemerkt hatte.
»Hi«, sagte ich leise. Ich versuchte, zu lächeln, aber mein Herz schlug so heftig, als müsste ich vorbereitet sein, im Notfall sehr, sehr schnell zu rennen, dass es misslang.
»Ich bin Teresa, aber eigentlich sagen alle nur Tessa.« Vor lauter Aufregung atmete ich viel zu schnell. Ich hatte es endlich geschafft, zu ihm zu gehen und ihn anzusprechen. Würden nun diese Träume aufhören, wenn ich seinen Namen erfuhr? Könnte ich dann wieder normal weiterleben und musste ihn nicht mehr ständig beobachten?
Ich legte meine Hände auf den Tisch und bemerkte, dass ich am ganzen Körper zitterte. Der Junge zögerte einen Moment. Dann blickte er auf und es fühlte sich an wie ein Geschenk. Ich konnte direkt durch seine grüngoldenen Augen schauen, als würde ich in seine Seele blicken, und doch lag dahinter ein dunkler, verschwommener Schleier, der mich zwar hineinblicken ließ, aber nicht hindurch. Wieder hatte ich das Gefühl, wir würden uns bereits kennen. Als hätten wir uns schon einmal gesehen, so vertraut kamen mir seine Gesichtszüge vor. Vielleicht aber hatte ich dieses Gefühl auch nur, weil ich ständig an ihn dachte und mir diese Situation schon so oft vorgestellt hatte. Weil ich ihn einfach kennen wollte.
Er lächelte immer noch nicht, sondern blickte mich ebenso gebannt an, wie er die Tafel angestarrt hatte.
»Lucas«, sagte er dann leise und sprach damit das allererste Mal in meiner Gegenwart.
Lucas.
Sein Name war wie Musik in meinen Ohren. Alle möglichen Vornamen hatte ich mir für ihn ausgedacht und keiner hatte gepasst.
Ich sah ihm tief in die Augen und er zuckte mit keiner Wimper. So viele Namen hatte ich ihm gegeben. Aber Lucas passte zu ihm. Ich wusste nicht wieso, aber es passte.
Seine Stimme war ungewöhnlich dunkel und ließ mein Herz noch schneller schlagen. Ich wischte mir nervös eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht und wollte ihn nach dem Mädchen fragen, welches bei ihm gesessen hatte, als er fortfuhr: »Das war Cordelia, meine kleine Schwester.«
Ich nickte, als würde ich ihm zustimmen wollen, obwohl ich doch gar keine Ahnung hatte, wie das Mädchen hieß. Für einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl, er hätte meine Gedanken gelesen, aber das war selbstverständlich völliger Blödsinn. Vermutlich hatte er nur die Fragezeichen in meinen Augen richtig gedeutet. Das war nicht schwer. Man hatte mir schon oft gesagt, dass jeder, der ein wenig Körpersprache verstand, sofort wusste, was in mir vorging.
In diesem Moment kam das Mädchen zurück. Cordelia war hübsch, aber nicht so faszinierend wie ihr Bruder. Sie hatte große, braune Augen, die dunkle Funken versprühten. Ihre Gesichtszüge erinnerten mich an ihren Bruder. Wie er war sie sehr schlank. Ihre dunklen Locken umrahmten ihr rundes Gesicht und ließen sie wie ein hübsches Lebkuchenmädchen erscheinen. Eine sonderbare Wärme ging von ihr aus, sodass ich die Zweifel vergaß, die mich verfolgt hatten.
Sie lächelte mich herzlich an und ich hatte das Gefühl, dass ich mich endlich entspannen konnte, mehr noch, als es die Situation eigentlich zuließ.
»Oh, Lucas hat gar nicht erzählt, dass er schon eine Freundin gefunden hat«, bemerkte sie erfreut.
Lucas blickte sie böse an und zeigte mir damit die allererste Regung seines außergewöhnlich hübschen Gesichts, das abwesend vor sich hingestarrt hatte und dabei völlig ausdruckslos und ausdrucksvoll zugleich gewirkt hatte.
»Sie ist nicht meine Freundin«, zischte er leise und ich hätte schwören können, dass ein dunkler Schleier durch seine hellen Honigwiesenaugen gezogen war.
Cordelia blickte mich unschlüssig an, zuckte dann aber mit den Schultern.
»Ich habe Nachtisch geholt«, sagte sie völlig unbeeindruckt von seiner schlechten Laune und stellte ihm eine Schüssel Schokopudding hin.
Dann musterte sie mich, als würde sie prüfen, ob ich gut genug für ihren Bruder wäre. Ich ließ die Musterung brav über mich ergehen, weil ich neugierig auf ihr Urteil war. Ich schaute sie nüchtern an und erntete dann ein fast schon erleichtertes Lächeln.
»Ich bin Cordelia«, sagte sie mit melodischer Stimme und hielt mir ihre zarte Hand hin.
Ich ergriff sie dankbar und lächelte zurück.
»Tessa«, sagte ich und ließ Lucas dabei nicht aus den Augen.
Er ignorierte mich und hatte begonnen, lustlos den Pudding in sich hineinzustopfen.
»Das ist aber ein schöner Name«, zwitscherte Cordelia munter. »Du kannst mich auch Lia nennen, so nennen mich meine Freunde.«
Sie zwinkerte mir zu und ihr Bruder zuckte schreckhaft zusammen. Ich blickte ihn fragend an, aber er schaute nicht von seinem Pudding hoch.
»Beachte ihn gar nicht«, meinte Lia abwinkend. »Lucas ist immer ein bisschen eigen. Wir sind erst letzten Monat hergezogen.«
Lucas schob seinen Pudding plötzlich weg und schaute mich durchdringend an, als würde nun auch er prüfen wollen, was ich für ein Mensch war. Mir wurde heiß. Diese goldgrünen Augen auf mich gerichtet waren noch schlimmer als Adrians graue Augen in meinem Nacken.
»Wir werden beobachtet«, stellte Lucas nüchtern fest.
Ich bemerkte erst jetzt, dass er gar nicht mich anschaute, sondern direkt an mir vorbeiblickte.
Als ich mich umdrehte, sah ich Adrians eifersüchtigen Blick.
»Er scheint dich ziemlich gern zu haben.«
Lia sprang auf.
»Lucas? Da vorn ist das Mädchen, von dem ich dir erzählt habe!«
Sie nahm ihr Tablett, lächelte mir kurz aufmunternd zu und blickte ihren Bruder eingehend an, als würde sie ihm etwas mitteilen, was nur die beiden verstanden. Von diesem Augenblick an wirkte er entspannter. Was Lia ihm auch immer mitgeteilt hatte, es hatte gewirkt und ich war ihr sehr, sehr dankbar dafür.
»Er ist ziemlich aufdringlich, was?«, fragte Lucas, als Lia bereits gegangen war, und lächelte mich kurz spöttisch an.
Ich kannte dieses Lächeln. Ich hatte es im Matheunterricht schon einmal flüchtig gesehen. Und trotzdem war es das erste Mal, dass er mich bewusst angelächelt hatte, wenngleich es mich verspotten sollte.
»Ja«, erwiderte ich matt. »Das ist er.«
Dann senkte ich den Blick und sammelte all meinen Mut.
»Danke übrigens«, murmelte ich verlegen.
Nur aus diesem Grund war ich zu ihm gegangen. Ich wollte mich bedanken. Wofür auch immer.
Lucas legte den Kopf schräg.
»Wofür?«, fragte er ruhig.
Ich seufzte. »Vielleicht denkst du ja jetzt, ich bin bescheuert, aber ich habe das Gefühl, dass du mich vorhin vor Adrian gerettet hast. Er hat so eine einnehmende Art und er kann ziemlich grob werden.«
Lucas presste die Lippen zusammen und schwieg, als wäre er wütend auf sich selbst.
»Wir waren am Freitag im Kino, also mit noch anderen, nicht allein als Date oder so, aber seitdem denkt er … ich weiß auch nicht. Dass ich sein Eigentum wäre oder so. Dabei will ich gar nichts von ihm!«
Es überraschte mich, wie offen ich ihm das erzählte und wie sehr ich betonte, dass ich nichts von Adrian wollte. Letztendlich hätte es mir doch egal sein können, was Lucas dachte. Aber aus irgendeinem Grund sollte er wissen, dass ich kein Interesse an Adrian hatte.
»Ich habe dich nicht gerettet«, sagte Lucas plötzlich. »Das Fenster ist zugefallen, weil es im Raum gezogen hat. Ich habe nichts damit zu tun.«
Ich lächelte ihn schwach an. Er hatte das Fenster von sich aus erwähnt, ohne dass ich zuvor davon gesprochen hatte. Er wusste ganz genau, was passiert war.
»Das versuche ich mir auch schon die ganze Zeit einzureden«, flüsterte ich stimmlos und blinzelte. Dann räusperte ich mich kurz und fuhr ablenkend fort: »Wieso hast du dich eigentlich niemandem vorgestellt? Du bist seit einem Monat hier und sprichst mit niemandem. Ist das nicht furchtbar einsam?«
Lucas lachte kurz, als hätte ich einen Witz gemacht. Es war das erste richtige Lachen, das er mir schenkte, und es machte mich auf seltsame Art und Weise glücklich.
»Wieso denkst du das? Ich bin doch gar nicht allein hier.«
Er atmete vorsichtig aus und versuchte, seine Gesichtszüge, die immer noch von dem Lachen zeugten, wieder erstarren zu lassen.
»Wenn sich jemand dafür interessiert, wer ich bin und woher ich komme, dann wird er schon fragen. Du hast ja schließlich auch gefragt.«
Er sah mich direkt an und das Lachen fühlte sich wie eine ferne, verschwommene Erinnerung an.
»Ich bin gar nicht so neugierig, wie du jetzt denkst«, murmelte ich und hob verteidigend die Schultern.
Lucas hob eine Augenbraue.
»Ach so?«
Da war es wieder – dieses spöttische Lächeln. Es brach seine starren Gesichtszüge auf und wirkte trotz allem einladend. Seine Augen funkelten und seine Lippen waren an den Seiten hochgezogen. Ich stellte mir kurz vor, wie es wäre, diese Lippen zu küssen. Wenn seine Nasenspitze die meine berührte, würden seine Wangen dann genauso erröten wie die meinen? Würde die rote Farbe etwas Leben in sein blasses Gesicht hauchen und ihn zum Glühen bringen?
Diese abstrusen Gedanken verwarf ich rasch wieder. Ich sollte so etwas nicht denken. Und ganz sicher würde ich ihn nicht küssen wollen, auch wenn ich viel dafür geben würde, ein kleines bisschen mehr Farbe in seinen Wangen erhaschen zu können.
»Das bildest du dir nur ein!«, versuchte ich, ihn schließlich zu überzeugen, indem ich seine spöttische Art kopierte, aber ich scheiterte kläglich an seinem Blick.
Er lachte aus vollem Herzen, melodisch, warm und vor allem ansteckend, als hätte ich etwas Komisches erzählt. Oder gedacht.
Ich wurde rot. Zum Glück konnte er keine Gedanken lesen. Dann wüsste er, dass ich mir vorgestellt hatte, ihn zu küssen, obwohl ich mich irgendwie vor ihm fürchtete.
»Ich glaube, die warten auf dich«, sagte er und war schlagartig wieder ernst. »Ich glaube, er sieht es nicht gern, dass du hier sitzt. Geh lieber rüber. Das erspart dir viel Ärger. Und mir auch.«
Ich blickte ihn verärgert an. Wieso würde es ihm Ärger ersparen, wenn ich jetzt wegginge?
»Du magst mich nicht«, stellte ich mürrisch fest.
Lucas schwieg verbissen.
»Ich werde mich dir nicht aufdrängen. Als du deiner Schwester sagtest, wir wären keine Freunde, hattest du Recht. Ich wollte nett sein. Ich wollte nur Danke sagen, Lucas«, sagte ich verärgert, weil ich das Gefühl hatte, dass er sich innerlich über mich lustig machte.
Ich atmete langsam aus und war überrascht, dass ich es tatsächlich geschafft hatte, meine Stimme beim Reden nicht zittern zu lassen. Gerade hatte ich das erste Mal seinen Namen gesagt. Ein Kribbeln in meiner Magengegend machte sich breit. Wieso konnte ich mich nicht darauf konzentrieren, genauso unnahbar zu wirken wie er? Und wieso war es so ein schönes Gefühl, seinen Namen auszusprechen?
Während ich mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt war, schwieg er beharrlich. Dann hob er seinen Kopf. Sein Blick hatte sich für einen kurzen Moment geändert, als hätte jemand die kühle Unnahbarkeit beiseitegeschoben und eine leicht verletzliche Seite zum Vorschein gebracht, die sich sonst hinter der kühlen, spöttischen Art versteckte.
»Das ist alles nur Einbildung«, sagte er, nahm sein Tablett und lief zielstrebig an mir vorbei.
Wieder war es kalt geworden. Aber immerhin sah ich dieses Mal ganz eindeutig, dass er nicht schwebte, sondern den Boden mit seinen Füßen berührte und das erleichterte mich. Ich drehte mich weiter um, sodass ich seine Schritte mit den Augen verfolgen konnte. Als Lucas an Adrian vorbeilaufen wollte, stellte sich ihm dieser demonstrativ in den Weg.
Mein Herz machte einen Sprung. Was zischte Adrian ihm zu? Hoffentlich machte er ihm keinen Ärger.
Ich sprang auf und lief rasch auf die beiden zu. Als Adrian mich sah, blickte er Lucas bitterböse an, dann stieß er ihn grob zur Seite und lächelte mich überlegen an.
»Tessa«, rief er. »Da bist du ja! Lass uns zu den anderen gehen. Die warten sicher.«
Er legte demonstrativ den Arm um mich. Ich versuchte, ihn abzuschütteln, damit Lucas das nicht sah, aber Adrian war stärker und zog mich enger zu sich, je mehr ich versuchte, mich zu wehren.
Als Lucas sein Geschirr zurückgegeben hatte, drehte er sich vorsichtig um. Er fixierte mich und ballte eine Faust. In diesem Moment nahm Adrian den Arm von mir, verzog das Gesicht und stöhnte.
»Was hast du?«, fragte ich verwundert.
Adrian runzelte die Stirn.
»Ich weiß es nicht. Ich hatte grad so ein merkwürdiges Gefühl.«
Glücklicherweise unternahm er keine weiteren Annäherungsversuche. Ich suchte abermals mit den Augen nach Lucas, aber er war fort und ich konnte nicht mehr sehen, in welche Richtung er gegangen war.
Der weitere Unterricht verlief ohne große Aufregungen. Ich sah Lucas erst im Sportkurs wieder. Ich war zwar nie besonders sportlich gewesen, aber die Bewegung tat mir wirklich gut. Als ich mit Vicki aus der Umkleide kam, erzählte sie schon wieder von ihrem Horoskop. Ich versuchte, mir bereits zum dritten Mal den weißen Gürtel umzubinden und lachte verlegen, weil ich mich jedes Mal so ungeschickt anstellte. Da Vicki dies nicht mehr sehen konnte, half sie mir.
Bevor sie in dieses Nest gezogen war, war sie ziemlich erfolgreich im Judoverein gewesen. Dass an einer Schule wie unserer überhaupt Judo als Sportkurs angeboten wurde, war neu und deswegen hatten wir uns sofort auf den Kurs gestürzt. Niemand wollte etwas so Langweiliges wie Leichtathletik oder Bodenturnen machen, wenn er stattdessen Judo wählen konnte. Ich musste zugeben, dass ich im Judoanzug keine besonders gute Figur machte. Ich hatte den Dreh mit dem Fallen und Werfen noch immer nicht raus, aber ich war stolz, dass Vicki beharrlich mit mir übte, obwohl ich so grottenschlecht war.
Wir liefen auf Socken in die Turnhalle (eigentlich turnte man im Judo barfuß, aber das hatten wir aus hygienischen Gründen abgelehnt). Es war immer kalt, besonders, wenn man keine Turnschuhe trug. Ich hatte meine langen Haare zu einem Dutt hochgesteckt, damit sie mich bei den Übungen nicht allzu sehr störten. Unsere Judolehrerin kam mit einer CD auf uns zu und wies uns an, uns eine Weile zum Aufwärmen einzulaufen. Ich ärgerte mich, weil ich keine Turnschuhe trug. Besonders beim Rennen brauchte ich stets meine festen Schuhe.
Als ich schon ein paar Runden gelaufen war, ohne Vicki, weil sie sich mit unserer Lehrerin absprach, um beim Unterricht zu helfen, öffnete sich die Hallentür und Lucas kam in die Turnhalle geschwebt. Er trug ein ausgeblichenes, gelbes T-Shirt, welches lässig über seinen schlanken Körper fiel, und eine weite, dunkle Hose.
Als er mich sah, weiteten sich seine Augen, als wäre er überrascht, mich zu treffen, und würde seine Entscheidung, zum Judo zu kommen, plötzlich zutiefst bereuen. Schweigend lief er an mir und den anderen, die ihn wie immer ignorierten, vorbei und ging direkt auf die Sportlehrerin zu. Frau Wehner lächelte ihn an und unterhielt sich kurz mit ihm, bevor sie ihm einen Judoanzug heraussuchte.
Ich wunderte mich, dass er nun in unserem Judokurs war, wo dieser doch schon seit Beginn des Semesters so voll war, dass einige einem anderen Kurs zugeteilt wurden. Und wo war er die letzten Wochen zur Sportstunde gewesen, wieso kam er ausgerechnet heute hierher?
Schweigend lief ich meine Runden und ließ ihn dabei nicht aus den Augen, als er zu den Umkleiden ging, um sich umzuziehen. Irgendwann bemerkte ich, dass sich Vicki zu mir gesellt hatte. Sie hatte meine gefesselten Blicke bemerkt.
»Er macht eine ziemlich gute Figur in seinem Judoanzug«, flüsterte Vicki, als Lucas die Halle nach dem Umziehen betrat.
Ich wollte nicht hinschauen, ich wollte nicht stehen bleiben und mich in seinem Blick verfangen. Aber es gelang mir nicht. Ich drehte mich also langsam um, damit es nicht zu auffällig war oder so wirkte, als würde ich auf ihn warten, und dann sah ich ihn bei den Matten stehen.
»Hört mal zu!«, rief Frau Wehner, als sie die Musik ausgeschaltet hatte. »Wir haben in den letzten Wochen die Fallschule so gut wie beendet. Ich habe mir überlegt, dass wir an den Würfen arbeiten, aber in einem anderen Schema als sonst. Gute Judoka können mit jedem ihre Übungen machen. Deswegen werden wir heute die Partner wechseln.«
Sie lächelte und strich abwesend über die CD. Mit keiner Silbe hatte sie Lucas vorgestellt, der jetzt anscheinend auch an unserem Sportkurs teilnehmen würde. Bei dem Gedanken, dass ich dann vielleicht auch mit ihm arbeiten musste, bekam ich Gänsehaut. Er war mir immer noch unheimlich.
Vicki blickte mich entschuldigend an, um mir mitzuteilen, dass diese Idee nicht von ihr war. Ich zuckte rasch mit den Schultern, um zu verbergen, wie aufgewühlt ich innerlich war.
Adrian winkte von hinten. Er lachte und wollte unbedingt mit mir üben, was mir nicht gefiel, da er ziemlich grob war. Frau Wehner warf ihm böse Blicke zu.
»Ich werde euch zuteilen«, betonte sie und begann, die Gruppe in Übungspaare aufzuteilen. Nachdem sie Vicki einem anderen Mädchen und Adrian einem seiner Freunde zugeteilt hatte, wandte sie sich an mich: »Teresa, du arbeitest heute mit Lucas.«
Ich erschrak und blickte Frau Wehner hilfesuchend an.
»Ich würde lieber mit einem Mädchen üben«, warf ich kleinlaut ein und starrte verlegen auf meine roten Pünktchensocken, die auffällig zwischen all den schwarzen Socken hervorstachen.
Frau Wehner sah mich streng an und seufzte.
»Stell dich nicht so an!«, ermahnte sie mich und fuhr unbeirrt mit der Teamzusammensetzung fort.
Niedergeschlagen lief ich zur hintersten Matte, wo Lucas stand und wartete. Vicki hatte bereits begonnen, ihrer neuen Partnerin den Wurf zu erklären.
»Du hast Angst vorm Fallen?«, fragte Lucas hinter mir mit beruhigender Stimme.
Ich wich seinem Blick aus.
»Das kann dir doch egal sein«, murmelte ich und wünschte mich an einen anderen Ort.
Lucas lachte leise.
»Du brauchst keine Angst haben«, flüsterte er dann. »Wenn du magst, zeige ich dir den Wurf.«
Ich zögerte und hatte Angst, mich vor ihm zu blamieren. Dann aber nickte ich. Es blieb mir ja keine andere Wahl. Als Lucas mir erklärte, wie und wo ich ihn festzuhalten hatte, fühlte ich einen Schlag durch meinen Körper gehen. Er wich erschrocken ein paar Schritte zurück, als seine Hand meinen Arm berührte, als hätte er sich an mir die Finger verbrannt.
»Vielleicht ist es doch besser, ich würde dir zuerst das Fallen zeigen.«
Adrian stellte sich zu uns und musterte Lucas abschätzig.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass du besonders gute Würfe hinkriegst«, flüsterte er ihm boshaft zu.
Lucas verzog keine Miene, während er nach mir griff und versiert die gewohnte Schrittfolge durchging. Einen Augenblick später, als ich schon fast in der Luft war, hatte ich das Gefühl, dass Lucas innerlich bebte. Ich wusste nicht, dass so viel Kraft in seinem schmalen Körper steckte. Aber es war nicht nur er, der bebte. Irgendwie spürte ich, dass der ganze Boden für einen kurzen Moment bebte.
Lucas keuchte angestrengt. Er zitterte, brach den Wurf ab und ließ mich los, sodass ich mit großer Wucht zu Boden fiel.
»Aua!«, rief ich, weil ich in meiner Verwirrung vergessen hatte, was man beim Fallen beachten musste.
Mit einem Mal war es ruhig geworden. Alle Trainingspaare hatten ihre Übungen unterbrochen und ihre Blicke waren auf Lucas und mich gerichtet. Dass jemand außer mir und Lucas das Beben mitbekommen hatte, glaubte ich nicht. Statt panisch zur Decke der Sporthalle sahen mich alle mitleidig an.
»Alles okay, Teresa? Hast du dich verletzt?« Frau Wehner lief besorgt auf mich zu.
Ich bemerkte erst jetzt, dass mein Arm ziemlich wehtat, weil ich direkt darauf gefallen war. Lucas atmete ungleichmäßig wie nach einer großen Anstrengung. Zuerst dachte ich, dass ich ihm wohl zu schwer gewesen sein musste, aber das war natürlich Unsinn. Es musste eine andere Erklärung für dieses merkwürdige Verhalten geben.
»Er hat sie mit Absicht fallen lassen«, zischte Adrian gehässig und zeigte übereifrig mit dem Zeigefinger auf Lucas, der unangenehm berührt zu Boden sah. »Ich habe seine Augen gesehen, als er sie werfen wollte. Seine Augen haben boshaft gefunkelt, als würde er Tessa aus tiefstem Herzen verabscheuen und dann ist sie gefallen. Lucas hat sie mit Absicht verletzt!«
Er grinste selbstsicher und es hatte gar nicht mehr den Anschein, dass er sich dabei große Sorgen um mich machte, sondern einfach nur Lucas eins auswischen wollte, weil ich mittags bei ihm gesessen hatte.
»Das ist nicht wahr!«, schrie ich ihn hysterisch an und bemerkte erst dann, wie laut ich geworden war.
Lucas hatte sich abseits auf eine Bank gesetzt und Frau Wehner holte ein Eisspray für meinen Arm, der vor Schmerz pochte. Das Pochen verhieß sicherlich nichts Gutes. Vorsichtig versuchte ich, den Arm zu bewegen, und stellte fest, dass es noch ging. Ich atmete erleichtert auf. Der Arm war also nicht gebrochen.
Ich lief zu Lucas und setzte mich neben ihn, während sich die anderen wieder auf ihre Würfe konzentrierten. Wenn sie das Beben tatsächlich mitbekommen hätten, hätten sie sicher immer noch auf Lucas eingeredet, um Antworten zu bekommen.
»Es … es tut mir leid, Tessa«, flüsterte Lucas niedergeschlagen. »Ich habe dich nicht mit Absicht fallen lassen.«
Ich nickte und blickte ihn mitfühlend an.
»Ich weiß«, meinte ich leise. »Es ist nicht so schlimm.«
Ich wusste zwar nicht, was genau geschehen war, aber Lucas hatte mich sicherlich nicht mit Absicht verletzen wollen. Wieso also, verhielt er sich so seltsam? Ich musste unbedingt wissen, dass es nicht an mir lag, wenn er sich so seltsam verhielt.
Frau Wehner hatte sich neben mich gestellt und besprühte meinen Arm mit dem kalten Spray. Ich stellte mit großer Erleichterung fest, dass die Kälte eine Wohltat für meinen Arm war und den Schmerz für kurze Zeit unterdrückte.
»Das sieht nicht gut aus«, murmelte sie kopfschüttelnd und schaute auf meinen Arm. In der kurzen Zeit war er ziemlich angeschwollen.
»Lucas, bitte, begleite Teresa zum Arzt. Ich möchte, dass das untersucht wird. Sport wird sie heute sowieso nicht mehr machen können.«
Ich blickte sie dankbar an und wollte schon zum Gehen ansetzen, als sich Adrian wieder einmischte.
»Aber Frau Wehner, wie können Sie ihn mit ihr gehen lassen? Wo er sie doch mit Absicht hat fallen lassen! Wer weiß, was er ihr auf dem Weg zum Arzt noch so alles antun wird?«
Frau Wehner blickte ihn bitterböse an.
»Erzähl nicht solchen Unsinn! In meinem Unterricht hat noch nie ein Schüler einen anderen völlig ohne Grund verletzt. Das ist Blödsinn. Also halte dich mit deinen Anschuldigungen zurück und richte deine Energie wieder auf das Werfen und Fallen. Ich möchte spätestens in einer halben Stunde eure Würfe überprüfen!«
Adrian murmelte einige Beschimpfungen vor sich hin, warf Lucas hasserfüllte Blicke zu und tätschelte meinen Kopf.
»Pass auf dich auf, Süße!«, flüsterte er mir zu.
Ich wich seiner aufdringlichen Berührung aus und ignorierte seine Worte, aber lächelte selbstsicher. Ich würde immerhin eine Sportleistungskontrolle verpassen und dafür hatte es sich schon gelohnt, verletzt zu werden.
Vicki sah mich besorgt an. Ich hauchte ihr einen Abschiedskuss zu und winkte ihr. Vielleicht würde mir die Zeit mit ihm die Antworten bringen, die ich unbedingt wissen musste. Also zog ich mich rasch um und wir schlossen unsere Judosachen ein. Lucas schwieg und sah nicht unbedingt glücklich aus. Wortlos nahm er mir die Schultasche ab, während wir uns auf den Weg zum Arzt machten.
»Jetzt schau doch nicht so unglücklich. Es ist doch nichts weiter passiert«, versuchte ich, ihn aufzumuntern und lächelte ihn an.
Lucas erwiderte mein Lächeln nicht. Er hatte die Stirn gerunzelt, als würde er nachdenken, aber zu keinem Schluss kommen.
»Es ist sehr wohl etwas passiert. Du hättest dich ernsthaft verletzen können. Es war unverantwortlich von mir, mit dir diese Übungen zu machen!«
Ich starrte ihn erschrocken an und blieb stehen.
»Es war ein Versehen!«
Lucas blieb ebenfalls stehen, aber drehte sich nicht um.
»Ein Versehen«, flüsterte er leise mit tiefer Stimme.
Mir wurde auf einmal kalt und mein Herz begann zu rasen.
»Ich … ich habe ein Beben gespürt. Die Wände haben gewackelt, für eine Millisekunde oder so!«, rief ich dann, weil ich es nicht mehr zurückhalten konnte.
»Bitte glaub mir, dass ich dich nicht verletzen wollte«, entgegnete er mit unglücklicher Miene. »Ich musste etwas viel Schlimmeres verhindern.«
Ich verstand seine Worte nicht.
»Ich verstehe das nicht. Erklärst du es mir?«
Er zuckte mit den Schultern.
»Vielleicht«, murmelte er abwesend und strich sich seine Haare aus dem Gesicht.
Ich versuchte, die Situation zu retten, indem ich das Thema wechselte.
»Wie kommt es eigentlich, dass ihr ausgerechnet hierhergezogen seid, in die wohl langweiligste Kleinstadt der Welt?«, sagte ich und lächelte.
Lucas schaute stur auf die Straße.
»Ich habe dich gesucht«, sagte er ernst.
Ich lachte schallend auf, weil ich dachte, er hätte einen Spaß gemacht.
Als Lucas aber nicht in mein Gelächter einfiel, schaute ich ihn überrascht an.
»Das war ein Spaß, oder?«, fragte ich verwundert.
Langsam nickte er.
»Natürlich«, bestätigte er, verzog keine Miene und lief weiter. Dabei schien es ganz und gar nicht so, als hätte er einen Spaß gemacht. Wieso sagte er so etwas? Das ergab alles überhaupt keinen Sinn. Ich überlegte, ob wir uns irgendwo schon einmal über den Weg gelaufen sein könnten, aber das war eher unwahrscheinlich, weil meine Familie schon immer hier gelebt hatte.
Er beantwortete natürlich auch keine meiner vielen Fragen, die ich ihm stellte, während wir zum Arzt liefen. Ich versuchte, ihm klarzumachen, dass er nicht warten müsste, weil das Wartezimmer schrecklich voll war, aber Lucas blieb stur neben mir sitzen. Er sagte die ganze Zeit kein Wort, sondern starrte nur verbissen zur weißen Wand des Wartezimmers.
Ich versuchte, ihn aus der Reserve zu locken, indem ich ihn anlächelte, aber er reagierte auch darauf nicht. Schließlich beschloss ich, es aufzugeben. Wenn er kein Interesse an meiner Freundschaft hatte, dann sollte es mir auch egal sein. Immerhin hatte ich Freunde und war nicht allein. Nicht so wie er.
In diesem Moment blickte Lucas mich an.
»Es war schön, dich beim Sportkurs zu sehen«, sagte er plötzlich.
Ich stutzte und hatte nicht damit gerechnet, dass er heute überhaupt noch ein Wort verlieren würde. Sein Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Er wirkte entspannter.
Meine Wangen glühten. Seine grüngoldenen Augen blickten mich direkt an und mir wurde ganz schummrig. Mein Herz schlug wieder schneller, aber dieses Mal nicht einer potenziellen Gefahrenquelle wegen.
»Das finde ich auch«, murmelte ich.
Lucas lachte leise.
Um seine Augen herum bildeten sich kleine Lachfältchen, die ich nun zum ersten Mal sah. Sie ließen ihn ganz anders wirken, viel freundlicher, und mein Herz höherschlagen.
Am anderen Ende des Wartezimmers saßen zwei Mädchen, die die ganze Zeit tuschelten und ihm anschmachtende Blicke zuwarfen. Als er mich offen anlächelte, schnaubte eines der Mädchen verächtlich, sodass unser Augenkontakt wieder abbrach.
»Wie geht es deinem Arm?«, fragte Lucas dann besorgt.
»Schon wieder besser. Eigentlich ist es unnötig, deswegen zum Arzt zu gehen.«
Lucas schüttelte energisch den Kopf.
»Nein, ist es nicht! Deine Gesundheit ist wichtig … für mich.«
Den letzten Teil des Satzes hatte er so leise geflüstert, dass ich mir nicht sicher war, ob ich es mir eingebildet hatte, aber irgendwie freute ich mich darüber und schaute lächelnd aus dem Fenster.
»Es tut mir leid, dass ich dich vorhin so abweisend beim Essen behandelt habe«, fuhr er fort. »Ich war überrascht, dass du zu mir gekommen bist und wusste nicht, wie ich mit dir umgehen sollte.«
Ich schaute ihn fragend an. Lucas war tatsächlich rot geworden und kratzte sich verlegen am Hinterkopf.
»Ich glaube, ich mag dich, Tessa«, meinte er leise.
Ich wollte ihn fragen, wie er das meinte, brachte aber kein Wort heraus. Dann wurde ich vom Arzt aufgerufen. Als ich aufstand, fürchtete ich, meine Beine würden zu sehr zittern, um wirklich laufen zu können. Aber niemand bemerkte es.
Enttäuscht, erneut unterbrochen worden zu sein, schlich ich ins Behandlungszimmer. Der Arzt stellte fest, dass mein Unterarm geprellt war. Er legte einen Verband an und wies mich an, den Arm mindestens zwei Wochen zu schonen. Lächelnd stellte ich fest, dass ich dann zweimal den Sportunterricht verpassen würde. Amüsiert stellte der Arzt mir daraufhin eine Sportbefreiung aus.
Als ich aus dem Behandlungszimmer kam, war Lucas nicht mehr da. Ich fragte eine der Arzthelferinnen, wo er hingegangen war, aber sie erwiderte nur, dass sie nicht mitbekommen hatte, wie er den Raum verlassen habe. Ich wollte im Wartezimmer eines der Mädchen fragen, das ihn so angeschmachtet hatte, aber hatte auch dort keinen Erfolg. Er war verschwunden.
Mit klopfendem Herzen lief ich nach Hause. Ich wollte mich nur noch in mein Bett verkriechen und die ganze Welt draußen lassen. Es fühlte sich merkwürdig an, dass Lucas nicht mehr in meiner Nähe war. Was hatte er nur an sich, dass ich auch jetzt noch ständig über ihn nachdenken musste?
In dieser Nacht hatte ich einen anderen Traum. Es war ein Traum, der mich seit der frühen Kindheit ab und zu begleitete, besonders wenn es emotional aufwühlende Situationen in meinem Leben gab. Zu der Zeit, als mein geliebter Großvater gestorben war, hatte ich den Traum fast jede Nacht gehabt. Ich wusste nicht mehr, wie alt ich war, als er das erste Mal auftrat. Ich wusste nicht einmal, woher er kam. Alles, woran ich mich nach dem Aufwachen erinnern konnte, war, dass ich auf dem Boden lag, völlig bewegungsunfähig, und um mich herum alles viel zu grell war, um irgendetwas erkennen zu können. Dann näherte sich ein Schatten und verdunkelte den Himmel. Ab und an hatte ich das Gefühl, die schwachen Umrisse eines Gesichts zu erkennen, aber meist sah ich nur den Schatten, der alles verdunkelte und sich näherte. Ein Ruck ging durch meinen Körper und mein Herz begann zu rasen. Im nächsten Moment wachte ich auf. Schweißgebadet.
Der Ablauf des Traums war immer identisch und endete damit, dass ich mit Herzrasen aufwachte und für den Rest der Nacht nicht mehr einschlafen konnte. Diese Nacht hatte ich genau diesen Traum wieder. Es war schon einige Zeit her, als er das letzte Mal aufgetreten war, weshalb ich ihn schon fast vergessen hatte. Mit pochendem Herzen saß ich im Bett, wischte mir die verschwitzten Haarsträhnen aus dem Gesicht und fragte mich, was der Traum zu bedeuten hatte. Meine Gedanken landeten wie selbstverständlich bei Lucas. Seine Begegnung, seine Stimme, sein Lächeln, das Fensterzufallen und das Beben im Judounterricht waren auf jeden Fall emotional aufwühlende Situationen, die alle an nur einem einzigen Tag geschehen waren. Den Rest der Nacht lag ich grübelnd wach und dachte über Lucas nach.
Der nächste Schultag begann mit einem angespannten Gefühl in meinem Magen. Ich wollte so schnell wie möglich in der Schule sein, um zu schauen, ob er wieder da war und ich nicht vielleicht alles nur geträumt hatte. Ob er mich wieder ignorieren würde, wie an all den Tagen zuvor? Da mein Arm immer noch wehtat und verbunden war, konnte dieser Unfall nicht nur in meinem Traum stattgefunden haben.
Als ich die Tür zu unserem Physikraum öffnete, schlug mein Herz schneller, als ich es wollte. Ich war ungewöhnlich früh angekommen und hatte erwartet, als Erste den Raum zu betreten. Aber er saß bereits hinten in der letzten Reihe und blickte aus dem Fenster. Er hatte sich nicht einmal gerührt, als ich die Tür öffnete, fast schon, als würde es ihn nicht interessieren oder als würde er es bereits wissen.
»Guten Morgen«, sagte ich heiser und räusperte mich.
Lucas rührte sich nicht. Er trug einen hellgrünen Kapuzenpullover, der etwas zu groß für ihn war, und wirkte darin ein wenig verloren. Seine haselnussfarbenen Haare standen ungekämmt von allen Seiten ab, sodass man vermuten konnte, dass auch er eine unruhige Nacht hinter sich hatte. Sein Blick war starr auf das Fenster gerichtet, aber ich fühlte, dass er nicht hinausblickte, sondern wirklich nur das Fensterglas anstarrte.
Langsam ging ich auf ihn zu und setzte mich neben ihn.
»Du sitzt auf meinem Platz«, sagte ich leise.
Lucas drehte sich vorsichtig zu mir um.
»Wirklich?«, fragte er, dann aber schmunzelte er.
Ich überlegte.
»Du weißt, dass Vicki und ich hier sitzen«, entgegnete ich und mir war mulmig zumute.
»Stimmt«, sagte er nickend.
Ich deutete auf den Platz auf der anderen Seite, auf dem er die letzten Wochen neben David gesessen hatte.
Lucas folgte meinem Finger mit seinen Augen und lächelte.
»Ich denke, deine Freundin wird sich freuen, wenn wir die Plätze tauschen«, sagte er lässig. »Du hast doch bestimmt nichts dagegen, wenn ich heute einfach hier sitzen bleibe?«
Ich hätte in diesem Moment gern die Hand ausgestreckt und seine Haare aus dem Gesicht gestrichen.
Lucas schaute mich eindringlich an, dann kam er näher auf mich zu und küsste mich. Ich war so überrascht, dass ich den Kuss gar nicht genießen konnte. Alles bebte um uns herum, sodass ich das Gefühl hatte, die Schule würde gleich einstürzen. Es bebte auch in mir drin, so tief, wie ich es noch nie zuvor gespürt hatte.
Der Kuss dauerte nicht sehr lange, da die Tür aufgerissen wurde und ein paar Mitschüler hereinkamen. Sofort ließ Lucas von mir ab.
Während mein Herz rekordverdächtig pochte und meine Wangen heiß wurden, blickte er wieder starr aus dem Fenster.
Ich fühlte das Beben noch immer unter meiner Haut. Ein Blick zur Zimmerdecke verriet mir, dass ich mich nicht geirrt hatte. Der Putz bröckelte und rieselte von der Decke. Das Gebäude oder zumindest der Raum musste gebebt haben, da die kleinen Lampen wackelten. Aber konnte das wirklich sein?
Ich sah Lucas auffordernd an und wollte sofort eine Erklärung. Für den Kuss. Für das Beben. Aber vor allem dafür, warum mein Herz so heftig schlug.
»Was ist passiert?«, fragte ich atemlos.
Lucas ignorierte meine Frage.
»Hey«, flüsterte ich eindringlich, während sich der Raum nach und nach füllte. »Du bist mir eine Erklärung schuldig!«
Ich funkelte ihn an.
»Du kannst jetzt nicht so tun, als ob nichts gewesen sei!«
Lucas hielt inne.
Ich sah in seinem Gesicht, dass er nicht wusste, was er darauf antworten sollte.
»Verzeih mir«, flüsterte er mit seiner melodischen Stimme. »Es ist eigentlich nicht meine Art, fremde Mädchen einfach so zu küssen.«
Ich runzelte die Stirn, als er mich verlegen anlächelte, und versuchte krampfhaft, nicht rot zu werden.
Fremde Mädchen … ein Stich fuhr durch mein Herz.
»Du musst es mir erklären, Lucas!«, antwortete ich bestimmt. »Das Beben!«
In diesem Moment betrat Vicki den Raum. Sie strahlte über das ganze Gesicht und tänzelte leichtfüßig wie eine Elfe durch den Gang, in einem bunten Kleid, das so gar nicht zu dem dunklen Novemberwetter passte. Sie sah, dass sich der fremde Junge, der eigentlich neben David saß, auf ihren Platz gesetzt hatte, und strahlte mich an. Fast schon wie selbstverständlich lief sie zu Davids Platz, redete kurz mit ihm, zeigte auf Lucas und lächelte dann selig, als sie sich direkt neben David setzte. Es wunderte mich, dass sie nicht sofort fragend zu mir gerannt kam, ja, dass sie nicht einmal zur Begrüßung zu mir kam, sondern nur kurz winkte und den Platztausch geschehen ließ.
»Du bist mir eine Erklärung schuldig«, zischte ich Lucas zu und winkte Vicki lächelnd zurück.
Ihr schelmisches Lächeln verriet, dass sie sich freute, dass sich ausgerechnet der nach ihrer Meinung »schnuckelige« Neue neben mich gesetzt hatte, sodass sie jetzt einen Grund hatte, neben David sitzen zu dürfen. Wenn sie wüsste, dass dieser Neue mich geküsst hatte, würde sie hysterisch toben und wieder von zu vielen mystischen Sterneneinflüssen reden, sodass ich mir vornahm, ihr lieber erst einmal nichts davon zu erzählen. Jedenfalls nicht, solange ich nicht wusste, was los war und wieso ich mich so unglaublich wohl in seiner Nähe fühlte, obwohl er die ganze Zeit so ablehnend und widersprüchlich war.
»Tessa!«, wurden wir plötzlich unterbrochen.
Vicki kam dann doch auf mich zugelaufen und begrüßte mich überschwänglich, während ich mich immer noch ärgerte, dass Lucas partout nicht antworten wollte. Es schien, als würde er mich mit Absicht ignorieren.
»Wie geht es deinem Arm?«, fragte Vicki und sah mitfühlend auf den Verband.
»Eigentlich gut«, antwortete ich brav. »Den trage ich nur als Alibi. Und ich hab für zwei Wochen eine Sportbefreiung.«
Ich lächelte und Vicki drückte mich sanft.
»Dafür hat sich das Ganze ja dann gelohnt«, sagte sie und grinste verräterisch, während sie zu Lucas schaute. Als ich ihr darauf keine Antwort gab, fuhr sie leise fort: »Du weißt, ich hasse Physik wie die Pest. Aber jetzt neben David wird das echt erträglich.«
»Hey, neben mir war das bis jetzt auch immer erträglich«, protestierte ich und stieß ihr beleidigt in die Seite. Dann lächelte ich, weil ich natürlich nachvollziehen konnte, wie sie das meinte.
Vicki lächelte entschuldigend. Ihr Blick wurde glasig.
»Er riecht so gut, Tessa«, flüsterte sie mir zu und legte ihren Kopf so verträumt auf meine Schulter, dass ich lachen musste und sie umarmte.
»Du riechst auch toll«, antwortete ich ihr. »Und dein Kleid ist der Hammer!«
Vicki hob den Kopf und lächelte.
»Ich weiß«, sagte sie selbstbewusst und nickte. »Wieso sitzt er jetzt eigentlich hier? Hat das einen besonderen Grund, Tessa?«
Sie runzelte die Stirn und sprach damit das aus, was ich ebenfalls gedacht hatte.
Wieso überhaupt hatte Lucas sich neben mich gesetzt?
»Meinst du, der hat wegen gestern so ein schlechtes Gewissen, dass er jetzt immer in deiner Nähe sein will?«, fragte Vicki leise, verzog ihre Lippen zu einem breiten Grinsen und klimperte mit ihren schwarzen, langen Wimpern, um mich herauszufordern.
Ich schüttelte heftig den Kopf, viel zu heftig, vielleicht um nicht nur sie allein zu überzeugen, dass ihr Gedankengang völlig absurd war.
»Wieso auch immer, ich freu mich total, neben David zu sitzen«, flüsterte sie dann.
Sie kam erneut näher an mich heran und ich ahnte, was mir bevorstand: »Die Sterne stehen heut wieder ausgezeichnet für einen tollen Flirt, Tessa. Das ist ein Zeichen. Die Sterne schicken dir Liebe und er setzt sich neben dich. Das ist ein Zeichen!«
Ich verdrehte die Augen und stieß sie behutsam zurück. Sie war zwar meine beste Freundin, aber für ihren Horoskop-Sterne-Quatsch könnte ich sie manchmal wirklich erwürgen.
Als die Stunde begann und unser Physiklehrer verzweifelt versuchte, uns die Kreisfrequenz näherzubringen, bemerkte ich, dass Lucas sehr verkrampft an der Wand saß und wieder wie erstarrt zur Tafel blickte. Ich ärgerte mich, dass ich ihn nicht zur Rede stellen konnte und überlegte, wann der beste Zeitpunkt dafür wäre, dies nachzuholen.
Da die letzten beiden Stunden Mathe waren, würde auch er vermutlich danach Schulschluss haben. Das wäre meine Gelegenheit, ihm nach dem Unterricht zu folgen. Irgendwann – spätestens vor seiner Haustür – musste er mir zuhören und mir einige Antworten geben.
Erleichtert über diesen simplen Plan konnte ich dem weiteren Unterricht folgen und verdrängte sogar kurzzeitig das Gefühl, ständig Lucas anschauen zu wollen. Allerdings konnte ich dem ausführlichen Tafelbild nicht folgen und wusste nicht, wie um alles in der Welt unser Lehrer von einer Kreisfrequenz auf ein Drehmoment gekommen war. Seufzend klappte ich also den Physikhefter zu. Es hatte keinen Zweck, ich würde alles nachholen müssen, um in der anstehenden Klausur nicht durchzufallen. Eigentlich war es ziemlich traurig, dass ich als Biologieleistungskursschülerin so verschwindend geringes Interesse und Verständnis für Mathe und Physik hatte.
Ein kurzer Blick zu meinem Nachbarn verriet mir, dass auch Lucas nichts mitschrieb. Entweder interessierte ihn der Unterricht genauso sehr wie mich oder – und so sah es für mich aus, da sein Blick wie üblich zur Tafel gerichtet war – er wusste schon alles. Ich lächelte. Das war ein wunderbarer Vorwand. Ich könnte ihn besuchen mit dem Ziel, seine Hilfe in Physik zu benötigen. Dann könnte er mir auch direkt alle anderen Fragen beantworten. Ich atmete zufrieden aus, als ich im Augenwinkel wieder dieses spöttische Lächeln sah, das seine Mundwinkel umspielte.
Der Matheunterricht am späten Nachmittag zog sich schleppend hin. Ich war angespannt, weil ich nicht wusste, ob Lucas es bemerken würde, wenn ich ihm folgte und ob er mich dann für noch durchgeknallter als sowieso schon hielt. Vicki versuchte, sich auf die Rechnungen zu konzentrieren, aber meine Nervosität brachte auch sie davon ab.
»Wieso bist du so unruhig?«, flüsterte sie mir zu.