Invictum - Danielle Trussoni - E-Book

Invictum E-Book

Danielle Trussoni

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Beschreibung

Ein perfekt codierter Tresor, ein meisterhafter Rätsellöser und ein skrupelloser Psychopath    Mike Brink, der seit einem Unfall jedes Rätsel lösen kann, wird vom japanische Kaiser nach Tokio eingeladen, um dort an einem internationalen Wettbewerb teilzunehmen, in dessen Mittelpunkt die sagenumwobene Drachenrätselbox steht. Bisher ist es niemandem gelungen, diese Box zu öffnen, der Inhalt ist ein Mysterium. Doch als der Wettbewerb beginnt, betritt ein Widersacher die Bühne, der Mike zu einer Entscheidung zwingt, bei der plötzlich die Zukunft des ganzen Landes auf dem Spiel steht.

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Seitenzahl: 472

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Danielle Trussoni

Invictum

Das zweite Rätsel

Thriller

Für meinen Sohn Alexander, geboren in Japan im Jahr des Golddrachen

Das erworbene Savant-Syndrom (auch: Inselbegabung) ist ein seltenes, aber reales medizinisches Phänomen, bei dem ein Mensch nach einem Schädelhirntrauma außergewöhnliche kognitive Fähigkeiten erlangt. Es gibt weltweit weniger als fünfzig dokumentierte Fälle des erworbenen Savant-Syndroms.

Zweites Rätsel Die Drachenschatulle

1

Ise-jingū, Großschrein von Ise, Japan

23. Februar 2024

Im Jahr des Holzdrachen

Der Shintō-Priester rennt zum Tempel und hebt dabei den Saum seiner Robe, um nicht zu stolpern. Er hat keine Zeit zu verlieren. Das erste Licht der Dämmerung fällt durch die Bäume und wirft lange Schatten über den frisch gefallenen Schnee. Schon bald werden seine Brüder das Heiligtum betreten und sich betend vor den Schrein setzen. Schon bald wird der wichtigste Tag seines Lebens beginnen und mit ihm die heilige Pflicht, auf die er sich seit Jahren vorbereitet hat.

Der Priester schüttelt den Schnee von seiner Robe, verbeugt sich und betritt den Tempel. Dichter, duftender Weihrauch erfüllt die Luft. Hinter den Shōji-Türen flackern Kerzen auf dem Altar, deren Licht sich in den Kupferkesseln biegt und sich auf den Tatami-Matten sammelt, was in ihm den Impuls hervorruft, auf die Knie zu fallen und zu beten.

Es ist ein Instinkt. Tief verankert. Jeden Tag der zurückliegenden zwölf Jahre ist er vor Sonnenaufgang zum Tempel gegangen, um meditierend vor dem Altar zu sitzen. Er hat seine Pflicht nie infrage gestellt – weder, warum er dort ist, noch, was passieren würde, sollte er versagen. Keiner von ihnen tat das.

Und dennoch hatte er im Verlauf der Jahre Fragmente über das kostbare Objekt erfahren, das er bewachte, getuschelte Überlieferungen, die die kaiserliche Drachenschatulle umgaben. Er hatte gehört, dass der Kaiser das Kästchen während des Krieges versteckte, um es vor den amerikanischen Bomben zu schützen. Seit diesen Jahren war es von einem japanischen Shintō-Schrein zum nächsten gewandert – Ise-jingū, Atsuta-jingū und den Kyūchū sanden, den »Drei Heiligen Schreinen im kaiserlichen Palast« –, wo Priester Tag und Nacht Wache hielten und es mit ihrem Leben beschützten.

Er hatte Gerüchte gehört, dass in dem Kästchen ein Schatz verborgen war, vielleicht ein uraltes Schriftstück, vielleicht sogar ein Gegenstand, der der kaiserlichen Familie persönlich gehörte. Er hatte von den Gefahren gehört: Ein Blick, und du erblindest; eine Berührung, und deine Finger versengen. Er glaubte den Warnungen. Vor einigen Jahrzehnten war ein junger Priester beim Reinigen des Altars gestorben, und kein Arzt konnte erklären, warum. Die Wahrheit war nicht für Männer wie den Priester gedacht. Also hatte er keine Fragen gestellt. Eine Indiskretion, das leiseste Nachgeben seiner Neugier, könnte verheerend sein.

In der Ferne erklingen Glocken und rufen die Priester zum Gebet. Die ersten Sonnenstrahlen fallen durch den Schrein, ergießen sich über den Boden und beleuchten den Altar. Die Sekunden rauschen vorbei, schneller, immer schneller, und überholen ihn. Er muss sich beeilen, bevor die anderen eintreffen. Jetzt ist der Moment.

Vor dem Altar kniend, öffnet er die Türen des Tabernakels, und da ist sie: die Drachenschatulle. Sie ist so groß wie zwei ausgestreckte Hände und besteht aus Hartholzstreifen, die fachmännisch geschnitten und zu einem einzigen Block zusammengefügt wurden. Auf der Oberfläche befindet sich die gewundene Form eines Drachen, eine Intarsienarbeit aus Holzlocken.

Der Priester sieht nur das Äußere, aber im Inneren der Schatulle, umgeben von Schichten tödlicher Fallen, liegt ein uraltes Rätsel, das seit Jahrtausenden auf seine Lösung wartet.

Seine Anweisungen sind klar. Er muss das Kästchen in ein Stück Seide wickeln und nach Tokio bringen. Er darf es nicht berühren und nicht einmal ansehen. Das hat er so verinnerlicht wie seine norito. Doch als er auf die Drachenschatulle hinunterblickt, gerät seine Entschlossenheit ins Wanken. Könnte es wahr sein, was sie sagen?

Ein Blick, und du erblindest; eine Berührung, und deine Finger versengen.

Er lässt einen Finger über die Holzoberfläche gleiten, fühlt die feinen Erhebungen der Verbindungen, erspürt eine Öffnung, steckt den Fingernagel in eine Kerbe und drückt ganz leicht. Das Rasiermesser schneidet schnell – die Klinge heiß und brennend wie Feuer –, und er blutet.

Der Priester wischt das Blut ab, wickelt das Kästchen in ein Seidentuch, bindet den zeremoniellen Knoten und steckt es sich unter den Arm. Dann verbeugt er sich vor dem Altar, der aufgehenden Sonne und allem, dem er dient – den Kami, dem Kaiser, den Bergen, dem Meer –, dreht sich um und eilt fort.

Doch der Tropfen Gift hat in seiner Blutbahn bereits Wurzeln geschlagen. Noch bevor die Sonne über dem Schrein steht, noch bevor der Priester zur Gänze den Fehler erkennt, den er begangen hat, wird er tot sein.

2

New York City

22. Februar 2024

Im Jahr des Holzdrachen

Mike Brink hielt seinen Dackel Conundrum – kurz, Connie – eng an der Leine. Es war ein eisiger Donnerstagmorgen im Februar, aber der Columbus Park war bereits voller Hunde – Dobermänner und Collies, Golden Retriever und Labradoodle, Boxer und Pudel. Connie wollte unbedingt zu den anderen Hunden und zerrte an der Leine. Mike verstand ihren Trieb, frei herumzurennen, diesen überschäumenden Moment, der sie zu dem Gewühl an Hunden zog, die durch den frischen Schnee tollten und sprangen. Er beugte sich zu ihr hinab, machte sie von der Leine los, und sie raste davon, hechelnd und kläffend, erfüllt von der übersprudelnden Energie eines Geschöpfes, das einer Duftspur folgt.

Mike atmete tief ein, dann aus und betrachtete die Luft, die um ihn herum gefror. Es fühlte sich gut an, durch den Schnee zu gehen, einen heißen Becher Kaffee in der Hand, die Morgenzeitung unter dem Arm. Es war gut, am Leben zu sein, trotz allem, was in der Welt passierte – und er konnte die Zeitung nicht lesen, ohne tausend Dinge zu finden, die schiefliefen –, sich auf einen guten Kaffee verlassen zu können, das tägliche Kreuzworträtsel und einen Park, in dem sein Hund frei herumlaufen konnte.

Er öffnete die New York Times und blätterte durch die Rubriken, bis er die Rätselseite fand. Sein Rätsel war auf der ersten Seite in der Mitte, die Unterzeile fett gedruckt. Sein Lektor Will Shortz hatte ihn gebeten, ein moderat anspruchsvolles Zahlenrätsel zu kreieren, und er hatte ihm ein Triangulum geliefert.

Um es zu lösen, musste man in jeden Kreis eine Zahl von eins bis sechs setzen. Entlang der grauen Linie durften keine identischen Zahlen stehen. Er hatte ein paar Summen zwischen die Kreise gesetzt, und die Zahlen in den Kreisen mussten addiert diese Summen ergeben.

Sein Job, regelmäßig einen Beitrag zur Rätselseite zu liefern, war nur eine von Mikes Tätigkeiten. Man hielt ihn insgesamt für einen der talentiertesten Rätselmeister der Welt. Vor sechs Monaten hatte man einen Beitrag über ihn in 60 Minutes ausgestrahlt. Das Interview war tief in seine Vergangenheit vorgedrungen und hatte über die Gehirnverletzung berichtet, die ihn von einem jugendlichen Footballstar zu einem Mathegenie gemacht hatte, der die schier unbegrenzte Fähigkeit besaß, unmögliche Rätsel zu lösen. Man beschrieb ihn als »nukleare Intelligenz«, woraufhin in den sozialen Medien haufenweise peinliche Memes mit Explosionen auftauchten. Seitdem hatte er aufgehört, Interviews zu geben.

Mike empfand die Aufmerksamkeit als beunruhigend. Er bevorzugte es, im Stillen Rätsel zu entwickeln, anstatt in der Öffentlichkeit zu stehen. Dennoch, nachdem er das gelöst hatte, was unter dem Namen »das Gottesrätsel« bekannt wurde – ein Code, der den Schlüssel zu einem Mord in Upstate New York darstellte –, tauchte sein Name überall auf. Seine Weigerung, über das zu sprechen, was passiert war – auch nicht in einer der Morning-Shows, noch nicht mal mit Colbert, seinem Lieblingstalkmaster –, machte ihn nur noch geheimnisvoller. Man nannte ihn einen Exzentriker, ein Einsiedler-Genie, der durch seine Fähigkeiten zu gestört war, um am Zirkus des Konsumismus, genannt Prominenz, teilnehmen zu können. Und wenn er ehrlich war, dann war das gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt.

Gestört. Das Wort hallte in Mike nach. Er hatte die zurückliegenden sechzehn Jahre gelernt, mit dem Schädelhirntrauma zu leben, das ein Savant-Syndrom nach sich gezogen hatte, ein seltenes medizinisches Phänomen, bei dem das verletzte Gehirn nach einem Rausch an Verformbarkeit überentwickelt war. Für Mike resultierte daraus eine erstaunliche Gabe – er löste mit Leichtigkeit die schwierigsten und ausgeklügeltsten Probleme. Er sah die Welt als eine Serie ineinandergreifender Muster. Er hatte ein fotografisches Gedächtnis, eine erstaunliche Fähigkeit, zu lernen und Informationen zu speichern, und konnte die unmöglichsten Rätsel entwirren, ohne zu üben.

Seine Gabe war eine Superkraft, doch sie war gleichzeitig auch seine größte Hürde. Er mühte sich damit ab, ein normales Leben zu führen und sich in seiner Haut wohlzufühlen. Während er von außen unversehrt wirkte – er war charmant, durchtrainiert und bei seinen Freunden und Kollegen beliebt –, fühlte Mike sich angespannt und nervös. Nach der Verletzung war sein Nervensystem geschädigt, er litt unter Schlaflosigkeit und Synästhesie, einem Zustand, in dem sich seine Sinne vermischten, was eine Verzerrung von Farben und Klängen zur Folge hatte. Dr. Trevers, ein Neurowissenschaftler, der von Anfang an mit Mike gearbeitet und sogar seine Praxis aus dem Mittleren Westen nach New York City verlegt hatte, um in der Nähe sein zu können, vermutete, dass Synästhesie für seine mathematischen und mnemonischen Gaben verantwortlich war.

»Ihr Gehirn reagiert auf Muster in gleicher Weise wie ein normales Gehirn auf Gefahr«, hatte Dr. Trevers ihm einmal erklärt. »Wenn Sie mit einer Herausforderung konfrontiert sind, werden die gleichen Botenstoffe freigesetzt, wie wenn man bedroht wird. Oder wenn man sich verliebt. Das Ergebnis ist eine Super-Salienz, die sich wie eine Verbindung anfühlt, als ergäbe alles einen Sinn. Doch diese Stoffe nutzen sich ab. Ihr Bedürfnis, sich mit Hürden auseinanderzusetzen, ist ein Weg, mehr davon zu erhalten. Ihr Gehirn ist ständig auf der Suche nach Nervenkitzel und legt die Latte dabei immer höher. Sie brauchen immer kompliziertere, gefährlichere Herausforderungen, nur, um sich normal zu fühlen. Sie müssen sich in körperliche Gefahr begeben, um sich lebendig zu fühlen.«

Und das stimmte. Mike lechzte nach anstrengenden Rätseln. Zehn-, zwölf- oder vierzehnstündige Wettbewerbe, die ihn physisch und psychisch erschöpften, brachten ihm ein oder zwei Tage Frieden, manchmal mehr. Doch dann begann der Kreislauf von Neuem.

Mit Dr. Trevers’ Hilfe hatte er Wege gefunden, seinen Zustand in den Griff zu bekommen. Meditation, Diät und Sport halfen bis zu einem gewissen Grad, aber nur vorübergehend. Wie bei der Einnahme von Aspirin gegen Kopfschmerzen ließ die Wirkung irgendwann nach, und Mike fühlte sich hinterher oft genau wie vorher.

Erschwerend kam hinzu, dass sein innerer Kampf anderen Menschen verborgen blieb. Er galt als extrem erfolgreich, als gut aussehendes, jungenhaftes Genie, als ein Mann, der alles hatte. Und während sein hoher Bekanntheitsgrad und sein von internationalen Rätselwettbewerben gefüllter Terminkalender eine Blase um ihn herum erschufen, sehnte er sich nach den einfachen Dingen des Lebens. Nach Freunden. Familie. Dem Trost, ein ganz normaler Mensch zu sein, der ein normales Leben führte. Diese Sehnsucht wäre der Außenwelt absurd vorgekommen. Alle meinten, Erfolg und Ruhm machten ihn glücklich. In Wirklichkeit waren die physischen und psychischen Auswirkungen seiner Verletzung eine langsame, allgegenwärtige Form der Folter. Mit seiner Gabe klarzukommen, war die schwierigste Herausforderung, der sich Mike jemals stellen musste.

»Ihr Gehirn ist ein Labyrinth«, hatte Dr. Trevers mal gesagt. »Das schwierigste Rätsel, mit dem Sie je konfrontiert sein werden, sind Sie selbst.«

Mike nahm einen letzten Schluck Kaffee und klemmte sich gerade die gefaltete Zeitung unter den Arm, als er eine Frau bemerkte, die ihn vom Rand des Parks beobachtete. Auf der Hundewiese waren Dutzende von Leuten – es war halb acht an einem Donnerstagmorgen, eine beliebte Zeit im Park. Doch aus irgendeinem Grund stach diese Frau heraus. Als ihre Blicke sich begegneten, blinzelte sie nicht, sondern sah ihn an und folgte ihm mit ihrem Blick. Etwas an ihrer gelassenen Miene, der Art, wie sie ihn zu erkennen schien, aber keine Anstalten machte, sich ihm zu nähern, machte ihn unruhig.

Genau wie ihre Kleidung. Es war eisig, mit scharfen Böen, und doch trug sie nichts weiter als einen schwarzen Blazer über einem pinkfarbenen T-Shirt. Ihr Haar war windzerzaust, mit einer dicken, knallblau gefärbten Strähne. Sie war Asiatin, jung, trug keine Mütze, keine Handschuhe, noch nicht mal einen Schal.

Mike zog einen Gummiball aus der Tasche und warf ihn Connie zu. Seine Finger schmerzten vor Kälte. Er rieb sie aneinander und warf erneut einen kurzen Blick zu der Frau hinüber. Der Wind störte sie noch nicht mal. Was wollte sie? Warum schaute sie ihn so an?

Möglich, dass sie ihn wiedererkannte. Das passierte nicht oft – die Leute kannten Mikes Rätsel, aber nicht sein Gesicht. Dennoch wurde er gelegentlich von jemandem angesprochen, eines seiner Rätsel in der Hand, und um ein Autogramm oder ein Selfie gebeten. Doch diese Frau hielt keines seiner Rätselbücher, und sie schien auch nicht zu den Menschen zugehören, die gern für Fotos posierten. Er entschied, sie zu ignorieren, und warf noch ein paarmal für Connie den Ball, machte sie dann an der Leine fest und begab sich auf den Heimweg.

Er hatte die Frau aus dem Park schon vollständig vergessen, bis er die fünf Etagen hoch zu seinem Loft gegangen war und feststellte, dass sie vor seiner Wohnungstür wartete. Ihre Haut war von der Kälte rau, die Wangen knallrot, und ihre schwarzen Leder-Doc-Martens hatten Salz- und Schneeränder. Sie war eindeutig vom Park zu ihm gerannt. Das erklärte, warum sie schneller bei seiner Wohnung angekommen war als er. Es erklärte aber nicht, woher sie wusste, wo er wohnte.

»Hallo«, sagte sie und musterte ihn von oben bis unten. »Ich wollte Sie nicht erschrecken.« Sie reichte ihm die Hand. »Ich bin Sakura. Sakura Nakamoto. Dürfte ich Sie kurz sprechen?«

Sie hatte einen japanischen Namen, sprach jedoch in gebildetem, akzentfreiem Englisch mit ihm. Er schüttelte ihre Hand. »Mike Brink.«

»Ich weiß, wer Sie sind.«

Bevor er antworten konnte, griff sie in die Tasche ihres Blazers und zog, wie ein Zauberer eine Taube aus einem Hut, ein kleines Holzkästchen hervor und legte es ihm auf die Handfläche. Dann trat sie vorsichtig zurück, als wäre das Kästchen gefährlich, wie ein zartes kleines Ding, das verdrahtet war und gleich explodieren würde. Mike starrte es erstaunt an. Dort, auf seinem Handteller, lag, so leicht wie ein Deck Karten, ein japanisches Geheimkästchen.

Er drehte das himitsu bako um und begutachtete es von allen Seiten. Es war einfach und elegant, die Oberfläche schimmernd und glatt. Er blickte zurück zu Sakura. Warum, um alles in der Welt, war sie ihm aus dem Park gefolgt, um ihm ein Geheimkästchen zu geben?

Sie verbeugte sich, eine formale Geste, die im schmuddeligen Flur vor seiner Wohnung deplatziert wirkte. »Im Namen des Kaisers von Japan, bitte nehmen Sie diese Herausforderung an.«

Als er begriff, was sie meinte, stockte ihm der Atem. Diese Frau war kein unerschrockener Fan. Sie war ihm nicht gefolgt, weil sie ein Autogramm wollte. Sie hatte ihm die Einladung überbracht, das anspruchsvollste und mysteriöseste Rätsel der Welt zu lösen: die Drachenschatulle.

3

Mike gab seinen neuen Türcode ein – sein Geburtstag addiert mit seiner Sozialversicherungsnummer, durch zwei geteilt und in einer Reihe absteigender Zahlen sortiert. Er hatte sich die Zahlen nicht gemerkt, sondern sah sie als eine Skala aus Farben am Rande seines Blickfeldes, eine Nebenwirkung seiner Synästhesie. Mike wusste nicht, wie es funktionierte, nur, dass die Farben ihn zu den Lösungen führten, und sie hatten immer recht.

Er führte Sakura in seine Wohnung, die vollgestopft war mit seiner Rätselsammlung. Stapelweise spiralgebundene Bücher mit Kreuzworträtseln, Sudokus, Zahlenrätseln und Labyrinthen; eine Sammlung seltener Bücher über Rätsel; eine Glasvitrine mit Zauberwürfeln, an die fünfhundert Stück, alle gelöst, die schimmerten wie geschliffene Edelsteine. Seine kryptischen Puzzlebilder hingen an den Wänden, jedes komplizierte Puzzle aufgeklebt und gerahmt, wie abstrakte Kunst. Und an der hinteren Seite der Loftwohnung standen, auf dafür angefertigten Regalen, seine japanischen Geheimkästchen.

Himitsu bakos waren komplizierte Trickschatullen, in denen sich Geheimfächer befanden, listige Öffnungen, falsche Wände und andere Ablenkungstaktiken, dazu gedacht, einen Enträtsler zu verwirren und zu frustrieren. In Wahrheit war es nicht ein Kästchen, sondern viele – eine Kiste in einer Kiste in einer Kiste. Um eine zu lösen, musste man die Teile Schritt für Schritt verschieben, auf eine Art, die die Struktur des gesamten Objekts veränderte. Ein falscher Schritt, und das Ding schloss sich wie eine Faust. Zauberwürfel, Tangram, Puzzles, Labyrinthe, Vexiere – all das waren Beispiele für mechanische Knobelspiele. Es waren seine Lieblingsrätsel, doch sie konnten wahnsinnig schwierig sein.

Sein erstes himitsu bako hatte er vor über einem Jahrzehnt erworben. Er hatte sich einen japanischen Händler herausgesucht, der traditionelle japanische Geheimkästchen exportierte, und sie dutzendweise bestellt. Er hatte mit ausgeklügelten und verblüffenden Kästchen experimentiert, Geheimschatullen, die dazu entwickelt worden waren, dass sich ein Enträtsler im Kreis drehte. Er hatte einen amerikanischen Geheimkästchen-Entwickler kennengelernt, der ihm seine Designs gezeigt und ihm vorgeführt hatte, zu was ein Entwickler – mit einer bösartigen Phantasie und einem geschärften Sinn fürs Hinterhältige – fähig war. Mit ihrer Präzision, Schwierigkeit und der eisernen Schrittreihenfolge waren Geheimkästchen, als würde man einen physischen Code entschlüsseln.

Die meisten Menschen tasteten sich durch den Wirrwarr an verschiebbaren Teilen und benutzten das Trial-and-Error-Prinzip, um voranzukommen. Mike nicht. Er besaß einen sechsten Sinn für Geheimkästchen. Jede seiner Bewegungen war intuitiv, er erspürte sie wie ein Pianist die nächste Taste oder ein Sprinter den nächsten Schritt. Er verstand die geheime Sprache des Kästchens, reagierte auf das leiseste Klacken und Klicken des Mechanismus und erkannte die Bedeutung, wenn ein Teil sich leicht verschieben ließ oder nur mit Widerstand. Ein Geheimkästchen hatte seine eigene Sprache, und Mike sprach sie.

Er blickte auf das Kästchen in seiner Hand und verspürte den überwältigenden Drang, es zu öffnen. »Ist es das, was ich denke?«

Sakura hielt seinem Blick stand, als würde sie sein Unbehagen genießen, und nickte dann, eine kurze Geste, bei der sein Herz einen Satz machte. »In dem himitsu bako ist eine Einladung, die Drachenschatulle zu enträtseln«, sagte Sakura. »Wenn Sie sie herausholen, ist sie Ihre.«

Natürlich ist dieses kleine Kästchen nicht das eigentliche Rätsel. Die Drachenschatulle würde Japan nie verlassen. Dies war das Rätsel vor dem Rätsel. So funktionierte ein himitsu bako: Rätsel innerhalb von Rätseln, Muster innerhalb von Mustern, ein Nest an vertrackten Enigmata, deren Komplexität dazu gedacht war, selbst den versiertesten Enträtsler zu verwirren. Die Drachenschatulle war das komplizierteste Kästchen von allen. Sie war legendär, so mystisch wie das Rätsel der Sphinx. Eine Einladung, es zu lösen, erhielt man nur einmal im Leben. Er konnte immer noch nicht glauben, dass sie real war.

Er drehte das Geheimkästchen in seiner Hand und begutachtete die Oberflächen. Er spürte die Stabilität, die fachmännische Konstruktion und die unbarmherzige Sparsamkeit der Mittel. Abgesehen von seiner Größe war es ein meisterhaftes Rätselkästchen, eines, das er nicht auf die leichte Schulter nehmen sollte.

»Wie viele Schritte?«

»Es ist ein Drei-Sun-Kästchen«, sagte sie. »Und man braucht vierundzwanzig Schritte, um es zu öffnen.«

Ein Sun, wusste Mike, war ein japanisches Längenmaß und bedeutete umgerechnet gut drei Zentimeter. »Sieht unheimlich klein aus für vierundzwanzig Schritte.«

»Die Größe hat nichts mit dem Schwierigkeitsgrad zu tun.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und musterte ihn. »Oder dem Wert der Kostbarkeit, die darin wartet.«

Kleine Dinge kommen in großen Paketen. Er lächelte. Wie wahr. »Irgendwelche besonderen Designelemente, die ich kennen sollte?«

»Es besteht nur aus besonderen Designelementen. Ein himitsu bako ist nie das, was es zu sein scheint. Es ist ein Meisterwerk der Illusion. Wiegen Sie sich nie in Sicherheit, keine einzige Sekunde.«

Sie blickte kurz auf seine Regalwand, gefüllt mit Rätseln. Er spürte, dass sie sich fragte, ob er gut genug war. Zweifelte sie an seinen Fähigkeiten? Es gab keinen Besseren. Er hatte Jahre damit zugebracht, diese Dinger zu knacken. »Bereit, wenn Sie es sind«, sagte er.

»Gut.« Sie drehte das Handgelenk und schaute auf eine Apple- Watch mit schwarzem Lederarmband. Sie tippte auf den reflektierenden Bildschirm und rief eine leuchtende Stoppuhr auf. »Sie haben sechzig Sekunden.«

Sie wartete nicht auf seine Antwort. Mit einem Tippen auf den Bildschirm begann der Countdown.

Mike hatte eine Minute, um das Geheimkästchen zu enträtseln. Aber er benötigte keine Minute. Noch nicht mal annähernd. Ohne groß nachzudenken und ohne überhaupt zu wissen, was er tat, kreiste sein Verstand um das Kästchen, schätzte es ein, zupfte an der Oberfläche und suchte einen Weg hinein. So war es immer. Sein Verstand absorbierte ein Rätsel so, wie seine Zunge einen Geschmack oder seine Nase einen Duft aufnahm – mühelos, als wäre es nur für diesen einen Zweck gemacht. Seine Gabe, diese unerklärliche geniale Fähigkeit, die nach dem Trauma zurückgeblieben war, übernahm. Ihm wurde der erste Schritt klar. Dann der zweite. Die Lösung erschien in seinem Kopf wie ein Hologramm, das Schieben der Teile, die Anordnung der Schritte, klar und eindeutig, bis das Kästchen offen auf dem Tisch lag und das Rätsel gelöst war.

»Beeindruckend«, sagte Sakura, deren Augen vor Bewunderung weit aufgerissen waren, als sie die Stoppuhr anhielt. »Sie haben sie in zwölf Sekunden geöffnet.«

Eine Welle der Freude durchfuhr ihn, ein triumphaler Rausch, ein köstliches Freisetzen von Botenstoffen in seinen Blutkreislauf. Das war es. Das war es, was er am Enträtseln liebte, genau das – den Augenblick, wenn alle Teile sich ineinanderfügten. Der Moment, in dem alles einen Sinn ergab.

»Aber Sie sind noch nicht fertig«, sagte Sakura. »Sie können die restlichen achtundvierzig Sekunden nutzen, um das zu lösen …«

In dem Kästchen lag ein sauber gefaltetes Origami, dessen Papierblüten eine leuchtend gelborange Chrysantheme ergaben.

»Die Chrysantheme ist das Symbol des Kaisers von Japan«, sagte Sakura. »Er lässt Ihnen seine aufrichtige Hoffnung übermitteln, dass Sie mein Rätsel lösen werden.«

»Haben Sie das entwickelt?«, fragte er, als ihm klar wurde, dass ein Origami mehr sein konnte als eine kunstvoll gefaltete Papierskulptur.

Sakura nickte, und Mike nahm die Origamiblume auf, drehte sie, um die Kanten und Schatten zu mustern, ihre Tiefen und das Gewicht. Sie war unglaublich leicht, ein Ding wie aus Luft gewebt. Eine der Blüten war etwas länger, und als Mike daran zog, entfaltete sich die Blume zu einem flachen Blatt. Das Papier verschob sich, es befand sich etwas darunter. Er ließ einen Fingernagel am Rand entlanggleiten, die obere Schicht der Chrysantheme löste sich, und es kam ein Rätsel zum Vorschein. Es war ein Kreuzworträtsel, ein Rätsel in einem Rätsel, eine köstliche Versuchung, genau auf Mike zugeschnitten.

Sakura tippte auf ihre Uhr, startete die Zeit, und Mike machte sich an die Arbeit.

4

Sakura Nakamoto wusste, dass die Eröffnungszüge eines Kombinations- und Strategiespiels die wichtigsten waren – und die schwierigsten. Von außen wirkten sie vielleicht nur wie Spekulation – eine Serie von zufälligen Entscheidungen –, doch das waren sie nicht. Man musste wissen, welches die richtigen Spielzüge waren, ohne sie zu kennen. Man musste der Phosphoreszenz seiner Intuition vertrauen, der Weisheit der angesammelten Erfahrung, diesem subtilen, nicht quantifizierbaren Etwas, das einem den Weg weist wie eine Laterne auf einem dunklen Weg. Es war, wie eine Frage zu beantworten, die nicht gestellt worden war. Oder eine Gleichung zu lösen, die nicht formuliert worden war. Es war ein Moment der reinen Phantasie, alle Möglichkeiten waren vor einem ausgebreitet und wollten einen verführen. Einige Leute sprangen einfach hinein; andere waren vorsichtig, bewegten sich langsam in der Dunkelheit, einen Schritt nach dem anderen. Welche Methode man auch immer benutzte, mit der Eröffnung den Nagel auf den Kopf zu treffen, war wesentlich. Ein falscher Schritt am Anfang, und das Ganze würde kippen.

Mike war für seine Eröffnungszüge berühmt. Sakura hatte das erste Mal vor zehn Jahren von ihm gehört, als sie dreizehn war und sich auf ihren ersten Zauberwürfel-Wettbewerb in New York City vorbereitete. Mike galt damals als Maß aller Dinge, der Enträtsler, der jeder sein wollte, also hatte sie bei YouTube nachgeschaut und ihn sich in Aktion angesehen. Sein Stil, seine Geschwindigkeit, sein intuitives Verständnis für das Lösen von Rätseln hatten dazu geführt, dass sie das Spiel mit anderen Augen sah.

Seitdem hatte sie Hunderte von Videos mit Mike angeschaut und alles gelesen, was sie über ihn finden konnte. Der Mann, der jetzt vor ihr stand, passte zu dem, was sie online gefunden hatte. Er war groß, hatte blaue Augen, eine blasse Haut und eine römische Nase, die ihm ein markantes Profil verlieh. Sein sandblondes Haar war stylish verwuschelt, und durch seinen Dreitagebart sah er gleichermaßen strubbelig und gut aus. Seine Kleidung war schlicht, fast unscheinbar. Er trug Chucks, vom geschmolzenen Schnee durchgeweicht, eine schwarze Jeans und ein T-Shirt mit der Aufschrift MIT Puzzle Hunt 2015.

Sakura war in Japan geboren worden und mit neun Jahren nach New York gezogen. Sie sprach beide Sprachen perfekt, und ihre tiefreichenden Kenntnisse über die Vereinigten Staaten würden ihr bei der Zusammenarbeit mit Mike von Nutzen sein. Genau wie ihre Ausbildung. Sie besaß ein großes Strategietalent, hatte ihr Vater gesagt und ihr das Spiel Go beigebracht, noch bevor sie komplexe Schriftzeichen schreiben konnte. Ihr erstes regionales Turnier gewann sie mit acht Jahren, in der Kategorie Erwachsene, ein Meisterstück, das ihr ungewünschte Aufmerksamkeit einbrachte, aber auch eine Leidenschaft für kombinatorische und strategische Spiele entfachte, die sie nie wieder losließ.

Als sie dann in New York lebte, intensivierte sich ihr Training. Sie spielte bei Go-Turnieren mit, gewann Schachwettbewerbe und reiste kreuz und quer durch die USA, um an allen möglichen Wettbewerben teilzunehmen. Aus Spaß begann sie auch bei kompetitiven Videospielen mitzumachen. Sie gewann oft und wurde zu einer der wenigen einflussreichen Teenager-Gamerinnen. Videos von ihr, wie sie Fortnite spielte, wurden Millionen Mal angesehen. Sie inspirierte Mädchen eines gewissen Alters dazu, sich eine Haarsträhne leuchtend aquamarinblau zu färben. Selbst jetzt, Jahre nachdem sie aufgehört hatte zu spielen, bekam sie Post von Fans.

Doch wenige Menschen kannten den wahren Grund ihres Trainings. Ihre Fähigkeiten waren, wie ihre Tante immer sagte, eine Geheimwaffe. Wissen anzusammeln ist gut, kann aber auch gefährlich sein, habe der Priester Kōnan Oshō einst gesagt. Ein kusemono, ein heldenhafter Krieger, muss stets darauf eingestellt sein, dass Wissen, selbst bei den besten Absichten, gefährlich werden kann. Ist man zu klug, wird man arrogant. Zu stark, wird man herausgefordert. Zu freundlich, und man wird ausgebeutet. Und so verbarg Sakura ihre Fähigkeiten. Doch nun war der Zeitpunkt gekommen, sie einzusetzen.

Die jugendliche Sakura wäre vor Mike in Ehrfurcht erstarrt, doch die dreiundzwanzigjährige Frau konnte es sich nicht leisten, beeindruckt zu sein. Es stand zu viel auf dem Spiel. Man hatte ihr die Verantwortung übertragen, in Übersee jeden Teil der kaiserlichen Einladung zu überwachen: die Auslieferung des Kästchens; die Einschätzung von Mikes Fähigkeiten, das Rätsel zu lösen; die Erstellung eines weiteren Rätsels, das in dem Kästchen verstaut wurde. Ihr war aufgetragen worden, sich auf Mikes Fragen vorzubereiten, bevor sie ihn nach Tokio begleitete. Sie hatte nicht mit Überraschungen gerechnet – sie wurde nur sehr selten von irgendetwas überrascht –, doch all das war so schnell passiert.

Vor zwei Tagen war sie bei einem Besuch in Tokio in den Fukiage-Palast eingeladen worden. Man hatte sie in den Privatbereich des Kaisers geleitet, einen modernen Raum mit vornehmen weißen Teppichen und schicken zeitgenössischen Möbeln. Ein Ikebana-Arrangement auf dem Marmor-Sofatisch und ein paar Gegenstände traditioneller Kunst waren die einzigen japanischen Elemente im Raum. Der Kaiser und die Kaiserin saßen wartend nebeneinander auf einem großen weißen Sofa. Ihre Tante Akemi, die kaiserliche Privatsekretärin, saß in der Nähe. Sakura zögerte, unsicher, warum sie dort war, doch ihre Tante warf ihr einen strengen Blick zu, und Sakura betrat den Raum, verbeugte sich tief, mit steifem Rücken, den Blick auf den Boden gerichtet, und wartete darauf, angesprochen zu werden.

»Danke, dass Sie gekommen sind, Nakamoto-san«, sagte die Kaiserin. Sie sprach Sakura mit dem Nachnamen an, eine formelle Geste. Sakura wurde von einer leichten Unruhe erfasst. Sie sah zu ihrer Tante hinüber, auf der Suche nach irgendeinem Hinweis, um was es ging, doch Akemi nickte nur und signalisierte ihr, sie solle sich setzen. Sakura gehorchte.

»Wir benötigen Ihre Unterstützung«, sagte der Kaiser und starrte sie direkt an. Als sich ihre Blicke begegneten, durchfuhr sie ein kalter Schauer. Seit Jahrtausenden wurde der Kaiser von Japan als Gottheit verehrt, ein direkter Nachfahre der Göttin Amaterasu. Sakura war eine moderne Frau, mit modernen Ansichten, und doch war es da, ein instinktives Bedürfnis, den Blick abzuwenden. »Wir benötigen einen Menschen, der diskret ist, fließend Englisch spricht und absolut loyal ist.«

Auf dem Tisch zwischen ihnen stand ein kleines Kästchen mit einem komplizierten Holzdesign – genau das Kästchen, das sie Mike in New York in die Hände legen würde. Der Kaiser hatte erklärt, was sie von ihr wollten, und sie hatte eingewilligt.

»Offiziell existiert diese Einladung nicht«, hatte der Kaiser gesagt. »Genauso wenig wie diese Reise. Wenn es herauskommt, werde ich alles abstreiten. Genau wie Sie das tun werden.«

»Sakura wird das alles problemlos erledigen«, hatte ihre Tante erwidert. Akemi hatte ihr in die Augen gesehen, und Sakura verstand, dass ihre Tante alles eingefädelt hatte, dass Jahre und Jahre der Planung in diesen einen Moment geflossen waren. Ihre Tante hatte den Boden bereitet. Nun musste Sakura ihren Teil erledigen.

»Den Amerikaner, den du treffen wirst …«, hatte Tante Akemi gesagt, bevor Sakura an Bord des kaiserlichen Jets ging, um nach New York zu fliegen. »Nimm ihn genau unter die Lupe. Wir haben ihn beobachtet und glauben, dass er das ist, wonach er aussieht. Aber du musst das bestätigen. Wie du weißt, gibt es Leute, die auf jede Gelegenheit lauern, um uns zu schaden. Wenn du Zweifel hast und wenn auch nur den geringsten, musst du mich informieren. Bitte sei vorsichtig.«

Sakura hatte sich vor ihrer Tante verbeugt und die Verantwortung für die Mission angenommen. Sie hatte gespürt, wie sich die Last ihrer Aufgabe auf sie legte. Sie war nicht nur eine einfache Abgesandte. Alles beruhte auf ihrer Expertise, ihrer Einschätzung und ihren Fähigkeiten. Erst in diesem Moment, nach jahrelangem Training, verstand sie es ganz. Die Drachenschatulle hatte auf sie gewartet. Sie hatte sich ihr Leben lang darauf vorbereitet, sie zu öffnen.

5

Mike schaute flüchtig auf Sakuras Uhr. Er hatte achtundvierzig Sekunden, um das Rätsel zu lösen, nicht viel Zeit. Er kramte in seiner Tasche nach seinem Lieblingsstift, einem Bic-4-Farb-Kugelschreiber, und begann, die Antworten einzutragen. Die Lösung fiel ihm leicht – sobald er den Hinweis gelesen hatte, war die Antwort da. Er war sich nicht sicher, wie das passierte, aber Kreuzworträtsel zu lösen bedeutete für ihn eher, sich an die Antworten zu erinnern, als nach ihnen zu suchen. Wie ein Déjà-vu, nur klar, präsent und zugänglich.

Nicht, dass dieses Rätsel einfach gewesen wäre. Bei weitem nicht. Sakura hatte ein Sonntagsrätsel entwickelt, wie man es bei der Times nannte, das schwerste der Woche. Doch trotz des ausgeklügelten Designs des Gitters und der anspruchsvollen Hinweise löste er es wie im Flug. Irgendeine Alchemie zwischen seinem fotografischen Gedächtnis und dem großen Wortschatz machte das Lösen für ihn so leicht wie das Atmen: Atme den Hinweis ein, atme die Lösung aus.

Die Drachenschatulle würde anders sein, eine größere Herausforderung als alles, womit er es je zu tun gehabt hatte. Als er als Student am MIT zum ersten Mal davon gehört hatte, war er fasziniert gewesen. Er hatte überall nach weiteren Informationen gesucht und gehofft, ein Foto der Schatulle zu finden, einen akademischen Aufsatz, irgendwelche Beweise, dass sie tatsächlich existierte.

Doch er fand nichts – nicht online, nicht in Bibliotheken. Nirgendwo.

Die einzigen Menschen, die je davon gehört hatten, waren seine nerdigen Rätselentwickler-Freunde. Als er das Thema auf Reddit postete, bestanden die Antworten allesamt aus Verschwörungstheorien – dass die Schatulle eine Karte zum Yamashita-Schatz enthielt, dem gestohlenen Gold, das die kaiserlichen Truppen während des Zweiten Weltkrieges den Ländern in Südostasien entwendet hatten; dass es einen yōkai oder Dämon enthielt, der durch einen Fluch darin gefangen war; dass die Drachenschatulle nur ein Märchen war, um die amerikanischen Besatzungsmächte nach dem Krieg abzulenken. Dass sie nie existiert hatte. Ein Teil von ihm präferierte diese Erklärung. Wenn sie gar nicht existierte und es nur ein Gerücht war, das von Verschwörungstheoretikern und Rätselfreunden erfunden worden war, dann konnte sie ihn nicht quälen.

Ob echt oder nicht – er hatte Gerüchte gehört, dass der letzte Wettbewerb, ausgetragen 2012, mit einem Versagen endete. Onlinerätselgruppen behaupteten, dass ein australischer Enträtsler, ein vielfacher Rätselweltmeister, der sich auf Zahlenrätsel spezialisiert hatte, nach Japan gebeten worden sei, um das Geheimkästchen zu öffnen. Er sei an Bord eines Fluges nach Tokio gegangen und seitdem nicht mehr gesehen worden.

Was nur dafür sorgte, dass die Gerüchte sich vervielfachten. Einige von Mikes Freunden in der Rätselwelt glaubten, dass die Drachenschatulle an sich tödlich sei, und der Typ bei dem Versuch gestorben sei, sie zu lösen. Andere spekulierten, dass der Enträtsler, nachdem er vergeblich versucht habe, das Kästchen zu knacken, zu viel darüber wusste und umgebracht worden war. Andere sagten, der Typ sei über dem Geheimkästchen verrückt geworden und würde nun als Wahnsinniger durch die Straßen Tokios irren.

Es war unmöglich zu sagen, was wahr sein könnte, doch Mike verstand, dass dieser Wettbewerb keine einfache Herausforderung war. Es war ein Spiel um Leben und Tod. Eines, zu dem sich Mike hingezogen fühlte, ohne sagen zu können, warum.

Die Wahrheit war: Er hatte keine Wahl. Nach seiner Verletzung waren diese Herausforderungen essenziell geworden. Sie nahmen eine große, wichtige Rolle in seinem Leben ein. Er sah überall Übereinstimmungen und Muster und fand in dem scheinbar chaotischen Fluss des Lebens elegante, mathematische Ordnungen. Er löste mühelos unmögliche Gleichungen, ordnete mit Leichtigkeit extrem komplexe Systeme an Informationen und erinnerte sich an Tausende über Tausende von Zahlensequenzen, ohne auch nur zu üben. Doch das, was ihn antrieb, war die Art, wie er sich dabei fühlte. Das Rätsellösen war zu seiner Identität geworden. Er brauchte es, wie Luft oder Wasser oder Liebe oder Schutz. Wenn er etwas gelöst hatte, ergab alles einen Sinn. Das Universum verwandelte sich für einen Augenblick in eine wunderschöne, kunstvolle Symmetrie. Es war eine Illusion, das wusste er, aber es war seine Illusion.

Das Blumen-Kreuzworträtsel vor ihm zum Beispiel löste sich von selbst. Als er wieder auf das Chrysanthemen-Rätsel schaute, war es vollständig.

Mike legte den Kuli nieder. Er ließ den Blick über das Rätsel gleiten und erkannte eine Botschaft inmitten des Chaos aus Buchstaben. Sechzehn Buchstaben waren farblich unterlegt. Eine Lösung innerhalb der Lösung. Vor ihm bewegten sich die Buchstaben im Uhrzeigersinn um die Blume: Invitation to Play – Einladung zum Spiel.

»Ausgezeichnet, Mr Brink«, sagte Sakura und tippte auf ihre Uhr, um die Zeit anzuhalten. »Sie haben mein Rätsel gelöst und noch vierzehn Sekunden übrig. Der Kaiser wird erfreut sein zu hören, dass Sie so gut sind, wie alle behaupten.«

»Das war ein gutes Rätsel«, sagte er, als ihm bewusst wurde, dass Sakura Nakamoto selbst eine Rätselmeisterin war, eine wie er.

»Danke«, sagte Sakura und nahm das Kompliment leichthin entgegen. »Wenn Sie nichts dagegen haben, müssen wir jetzt los. Unten wartet der Wagen.«

»Moment«, sagte er. »Ich habe den Test bestanden, aber das heißt nicht, dass ich die Einladung annehme.«

Sie starrte ihn mit demselben enervierenden Blick an, der ihm schon im Park aufgefallen war. Dass er sich widersetzte, hatte sie eindeutig nicht erwartet. Keine Fragen. Keine Verzögerungen. Sie wollte, dass sie jetzt direkt losfuhren. Was absolut verrückt war und dennoch absolut zu allem passte, was er über den Wettbewerb gehört hatte.

»Geht es um die Belohnung?«, fragte sie. »Ich kann Ihnen versichern, dass sie substanziell ist. Wenn Sie Erfolg haben, erhalten Sie die Drachenschatulle selbst. Sie ist, wie Sie sicher wissen, ein Kunstwerk von unschätzbarem Wert; viele private Sammler wären begierig, sie zu kaufen. Konservativ geschätzt, beträgt der Wert mehrere Millionen.«

Sakura warf einen flüchtigen Blick auf seine Regalwand mit den Geheimkästchen. »Aber ich habe das Gefühl, dass es einem Mann wie Ihnen nicht um Geld oder Ruhm geht. Für jemanden wie Sie wäre das Lösen des schwierigsten, mysteriösesten Rätsels der Welt Belohnung genug.«

Natürlich hatte sie recht. Der Preis, den Mike sich am meisten wünschte, waren die Herausforderung und der Triumph, etwas zu lösen, das noch nie jemand zuvor gelöst hatte. Doch er sollte das nicht auf die leichte Schulter nehmen. Er wusste aus Erfahrung, dass ein Enigma einen an unerwartete und gefährliche Orte führen könnte. Wenn die Gerüchte stimmten, stand viel auf dem Spiel. »Bevor ich akzeptiere, muss ich die Wahrheit über ein paar Dinge erfahren. Zum Beispiel der australische Enträtsler …«

»Beziehen Sie sich auf den Mann, der 2012 versucht hat, die Drachenschatulle zu öffnen?«

Mike nickte. »Er ist nie wieder nach Hause gekommen.«

Sakura blieb stumm, weigerte sich, zu bestätigen oder zu leugnen, dass der australische Enträtsler vermisst wurde.

»Und der Enträtsler davor«, sagte Mike. »Auch über ihn existieren nirgendwo Aufzeichnungen, dass er es zurückgeschafft hat.«

Sie seufzte und wählte ihre Worte mit Bedacht. »Jeder Enträtsler, der je versucht hat, die Drachenschatulle zu öffnen, ist bei dem Versuch gestorben. Es ist gefährlich, vermutlich das Gefährlichste, was Sie je im Leben tun werden. Es besteht eine echte Chance, dass Sie nicht aus Japan zurückkehren werden.«

»Wie beruhigend.« Ohne nachzudenken, nahm Mike das Kästchen, und seine Finger begannen, die Schritte rückwärts zu durchlaufen. Er schob die Holzteile hin und her, bis jedes wieder mit einem Klick dort war, wo es hingehörte. Dann stellte er es vor Sakura auf den Küchentresen. Eine Gabe. »Die meisten Menschen würden es noch nicht mal in Erwägung ziehen.«

»Sie sind nicht wie die meisten Menschen.« Sakura sah ihm direkt in die Augen. »Und die Drachenschatulle ist kein gewöhnliches Enigma. Sie wurde erschaffen, um ein Geheimnis zu bewahren, eines, das für viele mächtige Leute von Bedeutung ist. So ein Geheimnis ist von unschätzbarem Wert. Besonders für Sie.«

Von unschätzbarem Wert für ihn? »Tut mir leid, ich verstehe nicht, was Sie damit meinen …«

»Sie haben mehr zu gewinnen als den Ruhm des Erfolgs«, sagte Sakura. »Ich gebe Ihnen die Chance, die Bedeutung und den Sinn Ihrer außergewöhnlichen Gabe zu verstehen.«

Mike ließ die erstaunliche Wendung des Gesprächs auf sich wirken. Diese Frau kannte ihn kaum – sie war erst vor weniger als zwanzig Minuten in sein Loft marschiert –, und doch bot sie ihm die Antwort zu seinen tiefgründigsten Fragen an? Er wusste nicht, was er davon halten sollte. »Das ist ein verdammt großes Versprechen.«

»Ich würde das nicht zu jedem sagen, aber Sie sind auch nicht jeder. Sie sind der beste Enträtsler, den ich je gesehen habe. Ich weiß, Sie können gewinnen. Aber dafür müssen Sie wissen, dass Sie einen Grund haben, es zu tun. Und ich bin hier, um Ihnen zu sagen, dass Sie den haben, Mr Brink.«

6

Die Hanwha-IR-Sicherheitskamera mit Bewegungssensor entdeckte die Anwesenheit eines Menschen am südöstlichen Eingang des Kōkyo. Die Livestream-Aufnahme wurde ausgelöst, der Kameraarm schwenkte nach rechts, die Linse weitete sich, verengte sich wieder und fokussierte sich dann auf einen Mann, der durch den breiten Mittelgang des Palastes kam. Er trug ein hellblaues jōsō-Priestergewand, an dem sein Rang abzulesen war, und schlichte schwarze Schuhe, die Schneespuren auf dem Marmorboden hinterließen. Er trug einen Gegenstand fest unter den rechten Arm geklemmt, ein Paket, eingewickelt in ein weißes Tuch. Ganz bestimmt die Drachenschatulle.

Der Priester schwankte, während er sich durch den breiten Korridor bewegte, mit planlosem Gang, sodass die Kamera ihm in einer schwindelerregenden Sequenz von Bewegungen folgen musste, bis er zu Boden sackte, so schwer wie eine Marionette mit abgeschnittenen Schnüren. Die Ausrichtung der Kamera fixierte sich auf ihn und zeichnete alles auf. Sie nahm das Gewand auf, das sich ausbreitete wie sich sammelndes Wasser. Sie sah seine ruhigen Finger, das ausdruckslose Gesicht, die bewegungslosen Stiefel. Nichts rührte sich. Auf dem Infrarotmonitor sah man, dass seine Körpertemperatur sank. Der Priester war tot.

Akemi Saito, die Privatsekretärin der kaiserlichen Familie, betrat den Kamerabereich und hockte sich neben dem Mann hin. Sie legte zwei Finger an seinen Hals und suchte nach einem Puls. Die Kamera zeichnete ihre schockierte Miene auf sowie die gewissenhafte Dringlichkeit, mit der sie aufstand, um die Leiche herumging und sie von allen Seiten betrachtete. Doch ihre Gedanken aufzeichnen konnte sie nicht. Sie konnte den rasenden inneren Monolog nicht sehen, der in ihr aufkeimte und der ihre Beherrschung gefährdete.

Es hätte viele mögliche Komplikationen geben können, dachte sie, aber mit dieser hatte sie nicht gerechnet. Was, um alles in der Welt, sollte sie jetzt tun? Sie würde die Leiche wegschaffen müssen. Den Kaiser informieren. Sie wusste genau, was die Kaiserin sagen würde: Ein Tod vor dem Wettbewerb ist ein sehr schlechtes Omen.

Als Privatsekretärin des Kaisers und der Kaiserin war Akemi in Informationen eingeweiht, die der allgemeinen Bevölkerung und selbst den anderen Mitgliedern der kaiserlichen Familie unbekannt waren. Es waren kleine, persönliche Geheimnisse, die sie schützen musste, alles, was offenbaren könnte, dass die kaiserliche Familie genauso menschlich war wie alle anderen. Und dann waren da noch die dunkleren Geheimnisse, jene, die um jeden Preis beschützt werden mussten. Die Drachenschatulle war ein solches Geheimnis.

Jetzt war keine Zeit zum Zaudern. Im Eingang des kaiserlichen Palastes lag eine Leiche. Sie musste sofort entfernt werden. Während sie damit rang, ihre Gedanken zu ordnen, stellte Akemi im Kopf eine Liste zusammen, eine Reihe von Aktionspunkten. Als Erstes und Wichtigstes – sie musste das hier aufräumen. Aber wie wurde man eine Leiche los? Vor einem solchen Problem hatte sie noch nie gestanden. Sie konnte ja schlecht das Kloster anrufen und dafür sorgen, dass die Leiche des Priesters zurückgebracht wurde, und die Polizei Tokios konnte sie definitiv auch nicht informieren. Selbst das Kaiserliche Hofamt, dessen Gebäude etwa hundert Meter vom Kōkyo entfernt lag, konnte nicht mit dieser Aufgabe betraut werden.

Sie nahm ihr Handy und schickte eine Nachricht an die einzige Person, der sie vollständig vertraute. Der Gesandte ist tot. Schick sofort jemanden her.

Während sie wartete, stand sie wie gelähmt über dem Priester. Sie musterte seine Gesichtszüge und versuchte seine Miene zu lesen. Was konnte ihn dazu bewegt haben, sich einem so wichtigen Befehl zu widersetzen? Was hatte er in diesen letzten Momenten seines Lebens gespürt? Reue, dass er den Kaiser betrogen hatte? Erleichterung, dass er vor seinem Tod etwas über die Drachenschatulle erfahren hatte, war es auch noch so wenig? War ihm, während seine Glieder schwerer wurden und jeder Schritt eine Anstrengung, bewusst geworden, dass genau der Gegenstand, den er so viele Jahre gehütet hatte, ihn betrogen hatte? Es war unglaublich. Die Neugier des Priesters war mächtiger gewesen als sein Glaube, stärker als seine Ehre. Sie hatte Jahrzehnte der Loyalität untergraben, Tausende an Stunden der Verehrung. Doch das sollte Akemi nicht überraschen. Neugierde lag in der Natur des Menschen. Auch sie selbst war neugierig, was diese Schatulle enthalten mochte. Nur würde sie niemals, niemals zulassen, dass ihre Neugier sie betrog.

Sie seufzte, schob diese frivolen Gedanken beiseite und verbeugte sich vor der Leiche des Priesters auf die tiefste, förmlichste Art, die ihr möglich war. Dann nahm sie mit dem Seidentuch – um sich zu schützen – dem Priester das Kästchen aus den Händen. Es war bemerkenswert schwer, wie ein mit Holz umhüllter Stahlziegel. Sie stellte sich das Labyrinth von Rätseln darin vor, die komplizierten und grausamen Tests. Sein Inhalt hatte die Macht, alles zu verändern. In ein paar Stunden würde sie seine Geheimnisse kennen.

Sie trat von der Leiche zurück und wickelte das Kästchen in das Quadrat weißer Seide. Als sie das Tuch befestigte und die Ecken zu einem festen Knoten zusammenband, bemerkte sie einen Blutstropfen auf dem Stoff, das Blut des Priesters. Es hatte sich zu einem diffusen Kreis verteilt, eine perfekte rote Sonne auf dem weißen Stoff. Wenn sie einen Beweis gebraucht hätte, dass der Priester versucht hatte, die Schatulle zu öffnen, so sah sie ihn jetzt direkt hier vor sich – der Schnitt in seinen Finger, die blutbeschmierte Seide. Er hatte den Kaiser betrogen. Dass er verdientermaßen gestorben war, stand außer Frage.

Und doch hatte sie Mitleid, nicht direkt mit dem Priester, sondern mit der Menschheit. Pandora war letztlich doch nicht böse gewesen. Sie hatte nicht beabsichtigt, Leid über die Welt zu bringen. Sie hatte nur wissen wollen, was in der Büchse war.

7

Mike nahm die Linie Q an der Canal Street. Er hatte in weniger als einer halben Stunde einen Termin bei Dr. Trevers im New York Presbyterian, ganz oben an der 68sten und York, und selbst mit der Express-Linie würde er zu spät kommen. Er suchte sich einen Platz in der Nähe der Tür. Connie setzte sich zu seinen Füßen hin, die Nase auf eine Tüte chinesisches Take-out-Essen gerichtet, dann auf die verschwitzten Sportsocken eines Typen, dann auf eine Frau, die ein Parfum mit einer Holz- und Zitrusnote trug. Der Geruchssinn eines Hundes war scharf und überwältigend, das einzige Organisationsprinzip, mit dem er die Welt wahrnahm, ganz ähnlich den Mustern und Rätseln bei Mike. Während Connie dem Sammelsurium an Gerüchen der U-Bahn nicht entkommen konnte, hatte Mike keine andere Wahl, als das Webmuster der Sechsecke auf einer Werbung für eine Dating-App zu sehen, die perfekten Zylinder der Metallstangen, die im Wagen verteilt waren, das fein karierte Muster auf einer Seidenkrawatte, von der er wusste, ohne genau zu wissen, warum, dass es 749 winzige Quadrate hatte.

Er schloss die Augen, um die Reize auszublenden, und die außergewöhnlichen Ereignisse des Morgens kamen ihm in den Sinn. Er sah das Geheimkästchen, die Origamiblume, das komplizierte Kreuzworträtsel: Einladung zum Spiel. Er hörte Sakura, die ihm sagte, bei dem Wettbewerb würde er etwas über sich selbst erfahren, etwas, das er wissen müsste. Doch am meisten dachte er über die Entscheidung bezüglich der Drachenschatulle nach, die er fällen musste. Er hatte sich als würdig erwiesen. Er war nach Japan eingeladen worden, um das trügerischste und anspruchsvollste Rätsel der Welt zu lösen. Doch war es das Risiko wert?

Er musste mit Dr. Trevers reden. Er würde ihm dabei helfen, alles zu durchdenken. Über die zurückliegenden anderthalb Jahrzehnte hatte Mike gelernt, Trevers’ Urteil zu vertrauen. Trevers wusste, an welchen Wettbewerben er teilnehmen sollte und welche ihn fertigmachen würden. Er hatte ihm geholfen, das zu verstehen, was Mike als »rücksichtslose Impulse« bezeichnete: seine Unruhe, seine Angespanntheit, sein ständiges Bedürfnis, die – wie Dr. Trevers sich ausdrückte – Botenstoffe in seinem Gehirn wieder auszugleichen. Dr. Trevers glaubte, dass Mike abhängig von jenem Zyklus an Risiko und Belohnung war, die ihm das Enträtseln bescherte, und von ihm ständig zu neuen Herausforderungen getrieben wurde, doch dass es einen Weg aus dieser Achterbahn gab. Einen Weg, es zu stoppen. Und wenn er bei Dr. Trevers war, dann glaubte Mike das auch.

Trevers war mehr als nur ein Arzt. Er war über die letzten fünfzehn Jahre wie ein Vater für ihn geworden. Mikes eigener Vater war vor über zehn Jahren gestorben, als Mike noch am MIT war. Seine Mutter, eine Französin, war zurück nach Paris gezogen. Weitere Angehörige besaß Mike nicht. Dr. Trevers hatte die Leere gefüllt, ihn sonntags zum Mittagessen in seiner Wohnung eingeladen und war gelegentlich bei Mikes Loft vorbeigekommen, um nach ihm zu sehen, hatte mit ihm und Connie lange Spaziergänge durch den Central Park gemacht. Er war zu einem Freund und Mentor geworden, zu seiner einzigen Familie.

Trevers würde froh sein, wenn er hörte, wie Mike mit der Einladung, die Drachenschatulle zu enträtseln, umgegangen war. Obwohl sein erster Impuls gewesen war, die Einladung sofort anzunehmen, hatte er einen kühlen Kopf bewahrt und Sakura gesagt, er müsse erst noch darüber nachdenken. Er würde sie später anrufen und ihr seine Antwort mitteilen. Mit anderen Worten, er hatte sich weniger wie ein Süchtiger, sondern mehr wie ein rationaler Mensch benommen.

Und selbst jetzt, auf der Fahrt zu Dr. Trevers, zitterte er bei der Vorstellung. Rätsel innerhalb von Rätseln, Muster innerhalb von Mustern, ein Nest an vertrackten Enigmata. Es war die verführerischste Chance seines Lebens.

Er nahm Connie auf den Arm, stieg an der Station 72nd Street aus und ging hinaus auf die Second Avenue. Es war kalt, mit einem beißenden Wind, und er zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch bis zum Kinn und eilte dann in Richtung Osten. Ein flüchtiger Blick auf seine Armbanduhr sagte ihm, dass er zehn Minuten zu spät war. Dr. Trevers würde nicht erfreut darüber sein, doch inzwischen war er an Mike gewöhnt und verstand, dass, abgesehen vom Speed-Rätsellösen, sein Timing Schwächen haben konnte.

Es war kein guter Tag, um zu spät zu kommen. Abgesehen vom Drachenrätsel hatte er eine Menge zu besprechen. Seit einem Jahr entwickelte Dr. Trevers eine neue Behandlung. Mike wusste wenig darüber, nur dass Dr. Trevers mit einem Cocktail an Medikamenten experimentierte, um die chemischen Botenstoffe in seinem Gehirn zu regulieren. Die richtige Dosis der richtigen Medikamente, glaubte Dr. Trevers, würde die Nebenwirkungen des Schädelhirntraumas mindern und es Mike erlauben, ein normaleres Leben zu führen.

Nicht, dass er je normal sein würde. Dr. Trevers hatte klargestellt, dass die Medizin seine Symptome lindern, doch nie verändern könnte, zu wem Mike geworden war. Der Schaden war irreversibel. Dennoch würde die Behandlung ihm helfen, mehr als drei Stunden am Stück zu schlafen, ihm erlauben, seinen erschöpfenden Trainingsplan zu reduzieren, die Attacken der Synästhesie zu lindern und die unablässigen Muster und Gleichungen zu stoppen, durch die sein tägliches Leben zu einer solchen Herausforderung wurde. Kurz gesagt, es würde ihm erlauben, das Leben zu leben, das die Verletzung ihm gestohlen hatte.

Als Mike das erste Mal von der Behandlung gehört hatte, war er sprachlos gewesen. Die Möglichkeit, sein Gehirn zu kontrollieren, erfüllte ihn seitdem mit Hoffnung und Angst zugleich. Wenn Dr. Trevers eine solche Behandlung entwickelt hatte, würde Mike möglicherweise etwas bekommen, von dem er nie zu träumen wagte: eine Wahl zu haben. Er könnte wählen, der talentierteste Enträtsler der Welt zu sein, oder sich dafür entscheiden, ein normaler Mensch zu sein, der ein normales Leben lebte.

Mike rannte die Stufen des Krankenhauses hoch und schob sich in die Wärme der Empfangshalle, nahm den Fahrstuhl hoch zur Neurologie und trat in den Empfangsbereich von Dr. Trevers’ Praxis. Nach Jahren regelmäßiger Termine fühlte sich dieser Ort an wie sein zweites Zuhause – er war in dieser Praxis jedem nur denkbaren Test unterzogen worden, hatte seine wöchentlichen Untersuchungen bei Trevers gehabt, wusste, wo ihr MRT stand und wo die Nespresso-Maschine, und hatte sich mit April angefreundet, der Empfangsdame, einer Frau Mitte fünfzig, für die Mike auf sie zugeschnittene Rätsel entwickelte. Deshalb wusste Mike sofort, dass etwas nicht stimmte, als er den Empfangsbereich betrat.

April stand mit geschwollenen Augen im Wartebereich. »Haben Sie meine Nachrichten nicht erhalten?«

Mike durchfuhr ein Anflug von Panik. Ihre Nachrichten? Er hatte keinen Blick auf sein Telefon geworfen. Er schaute an ihr vorbei und sah drei Männer im Flur vor Dr. Trevers’ Büro stehen. Zwischen ihnen befand sich eine Bahre mit einem Leichensack.

Er schüttelte den Kopf und versuchte zu verstehen, was er sah. »Ich hatte in der U-Bahn keinen Empfang«, sagte er. »Was ist los?«

»Mike«, sagte April, trat näher und legte ihm in einer Geste des Trostes die Hand auf die Schulter. »Die Putzkolonne hat ihn heute Morgen gefunden.«

Connie wedelte aufgeregt mit dem Schwanz. Dr. Trevers hatte in seiner Schreibtischschublade stets eine Tüte Leckerli. Eine Reihe von Gefühlen durchflutete Mike – Verwirrung, Leugnung, ein wildes Rudern, um zu verstehen, was April meinte. Wovon, um alles in der Welt, redete sie da? »Ihn gefunden?«

»Er muss gestern Abend noch hergekommen sein, um ein paar Notizen in das System einzugeben. Ich weiß, das muss schwer für Sie sein. Es tut mir so leid.«

Mike betrachtete den Umriss des Körpers im Leichensack. Er war kurz, gedrungen und entsprach grob der Größe von Dr. Trevers. Plötzlich verstand er. Dr. Trevers war tot. Sein Körper fühlte sich mit einem Mal heiß an, dann wie betäubt. Er musste sich setzen.

»Komm hier herüber, mein Junge.« April nahm Mike am Arm und führte ihn zu einem Sofa. Er setzte sich, starrte sie an und versuchte, es zu begreifen. Ihm fiel auf, dass ihre Augen vom Weinen geschwollen waren. April hatte schon eine Weile gewusst, dass Dr. Trevers tot war, selbst als Mike noch mit der Linie Q fuhr.

»Was ist passiert?«, fragte er schließlich. Er brachte kaum ein Wort heraus. Es war, als hätte man ihm einen harten Schlag versetzt. Selbst das Atmen tat weh.

April seufzte. »Sie wissen es noch nicht. Die Tür zu seinem Büro war von innen verschlossen. Sie haben ihn an seinem Schreibtisch gefunden, über der Tastatur zusammengesackt. Der Gerichtsmediziner ist hier, und sie werden einen Bericht erstellen, aber für mich hört es sich nach einem Herzinfarkt an.«

»Wir hatten heute einen Termin«, sagte er, als würde das eine Rolle spielen. Er wusste, dass er nichts tun konnte, aber bekam nicht in den Kopf, was passiert war – der eine Mensch auf der Welt, der ihm helfen konnte, war tot.

April starrte ihn besorgt an. »Ich werde es ihnen mitteilen, sowie der Rechtsmediziner seine Arbeit beendet hat. Das könnte ein bis zwei Tage dauern.«

Er lehnte sich auf dem Sofa zurück und fühlte sich schwach. Dr. Trevers war sein Rettungsanker gewesen, der einzige Mensch, der ihn durch die verwirrende Natur seiner Störung geleitet hatte. Sein Mentor. Sein Freund. Nachdem sein Vater gestorben war, war Mike zu Dr. Trevers gegangen, um sich Unterstützung zu holen. Er hatte erst vor ein paar Tagen noch mit ihm gesprochen. Sie waren die Auswirkungen der Behandlung durchgegangen, wenn sie damit weitermachen würden. Mike hatte Dr. Trevers gesagt, er bräuchte Zeit, um darüber nachzudenken. Es war eine unerträgliche Situation. Er konnte sich gut fühlen und alles unter Kontrolle haben – oder er könnte sich schlecht fühlen und das Eine tun, was ihn zutiefst außergewöhnlich machte. »Ich bin verdammt, wenn ich es tue, und verdammt, wenn ich es nicht tue«, hatte er gesagt.

»Hören Sie«, sagte April und drückte Mikes Hand. »Ich hätte da drinnen vermutlich nichts anrühren dürfen, bevor der Gerichtsmediziner da war, aber ich habe das hier für Sie mitgenommen.« Sie gab ihm ein gerahmtes Foto von Dr. Trevers und Mike, wie sie auf der World Puzzle Championship 2018 nebeneinanderstanden. Für Brink war es ein großer Moment des Ruhms gewesen, den Dr. Trevers mit ihm teilte. Die beiden Männer standen Arm in Arm, Mike hielt eine Trophäe in die Kamera, und Trevers lächelte wie ein Vater, der stolz auf seinen genialen Sohn war.

8

Mike verließ das Krankenhaus wie benebelt, und eine Dreiviertelstunde später stand er schlotternd in der Upper West Side, vor Rachel Appels Apartmenthaus. Der Portier kannte Mike, nickte ihm zu, als er sich näherte, und gab ihm ein Paket, das an diesem Morgen für Rachel abgegeben worden war. Der Portier dachte vermutlich, sie seien ein Paar – Mike kam ein paarmal die Woche vorbei und stand auf der Liste der Besucher, die jederzeit willkommen waren. Jeder, der genauer hinsah, hätte dasselbe gedacht. Rachel war eine enge Freundin, jemand, der seine Geschichte kannte, medizinisch und persönlich, und einer der wenigen Menschen, denen er etwas so Ernstes wie das erzählen könnte, was an diesem Morgen geschehen war. Er musste unbedingt mit ihr reden und hoffte, sie wäre zu Hause.

Sie hatten sich vor knapp zwei Jahren kennengelernt. Rachel, eine Gelehrte von Weltrang, war Direktorin eines Instituts, in dem religiöse Manuskripte konserviert und gelagert wurden. Er hatte Hilfe dabei benötigt, die Komplexität eines Geheimcodes zu entschlüsseln, der von einem Mystiker des dreizehnten Jahrhunderts entwickelt worden war, und sie war seine Rettung gewesen.

Seitdem war Rachel zu einem festen Bestandteil seines Lebens geworden, zu einer Vertrauten und zu jemandem, der ihn niemals im Stich ließ. Sie sprachen beinahe täglich miteinander über alles Mögliche, von Rachels Forschung zu weiblichen Mysterienkulten bis hin zu Mikes Besessenheit, seinen eigenen Rekord im Guinness-Buch zu übertreffen, Nachkommastellen von Pi aufzusagen. Ihre Interessen hätten nicht gegensätzlicher sein können. Rachel war Historikerin uralter religiöser Texte, und ihre Arbeit über die Geschichte der Rolle von Frauen in mystischen Traditionen hatte sie in gewissen Kreisen berühmt gemacht – und umstritten. Mike hatte seinerseits kein Interesse an akademischen Studien, Mystik oder irgendetwas, das ihn länger als fünf Minuten in einer Bibliothek halten könnte.

Und doch waren sie eng befreundet. Zweimal die Woche aßen sie gemeinsam zu Abend. Für gewöhnlich tauchte sie bei Mikes Loft mit Take-out-Essen auf, und er schob dann seine Stapel Papier vom Küchentisch – seine Rätsel, an denen er gerade arbeitete, die alle von Hand mit seinem Bic-4-Farb-Kugelschreiber auf gelben Notizbögen gezeichnet waren –, sie aßen gemeinsam und unterhielten sich bis tief in die Nacht. Rachel war eine Verbündete, hatte Mitgefühl für sein fortwährendes, von seinen Fähigkeiten verursachtes Drama und war seine engste Freundin.

Mike wusste, dass Rachel sich für das Savant-Syndrom interessierte, und viele ihrer Gespräche drehten sich um ihre Theorien bezüglich seines kognitiven Gedächtnisses. Sie glaubte, dass seine Gabe mit gewissen Formen mystischer Erfahrungen in der Antike in Verbindung stand, und obwohl sie es nie offen ausgesprochen hatte, war Mike sich sicher, dass sie gern etwas über ihn schreiben würde.

Unmittelbar nachdem sie sich kennengelernt hatten, hatte Rachel ihren Forschungsbereich um Studien erweitert, die das erklären könnten, was sie seine »wundersame Gabe« nannte. Sie hatte eine Datenbank über alles aufgebaut, was Mikes kognitive Fähigkeiten irgendwie beleuchten könnte – religiöse Erfahrungen, Parapsychologie, meditative Grenzerfahrungen, bewusstseinserweiternde Praktiken, die zu ekstatischen Erfahrungen führten. Sie glaubte, seine erworbene Inselbegabung sei mehr als eine neurologische Störung, mehr als ein empirisches Phänomen. Sie hatte sein Gehirn mal als »Riss in der Wand zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen« genannt. Sein Zustand mache ihn, in ihren Worten, zu einer »Verbindung zu den Göttern«.

Mike entging nicht, dass Rachels Ansichten über sein Gehirn im absoluten Gegensatz zu den Theorien von Dr. Trevers standen, der glaubte, dass das, was Mike zugestoßen war, rein neurologischer Natur war. Mikes Gehirn war durch ein akutes Trauma verändert worden; um sich anzupassen, so Dr. Trevers, war das Gehirn in eine Phase intensiver Plastizität übergegangen, die ihm abnormale Eigenschaften verlieh. Ein fotografisches Gedächtnis, die Fähigkeit, hochkomplexe mathematische Probleme zu lösen, eine automatische Reaktion auf Muster und Rätsel aller Art. Ein außerordentlich seltenes, aber vollständig medizinisch erklärbares Phänomen. Ende der Geschichte.

»Vielleicht erklären die Gehirnverletzungen, wie