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Eine Frage des Glaubens Das gesamte County Galway steht unter Schock: In verschiedenen Kirchen der Umgebung werden kurz hintereinander Morde begangen und die Opfer als öffentliches Statement abgelegt. Und das ausgerechnet in der Vorweihnachtszeit! Der vierte Fall für Grace O'Malley von der Mordkommission im westirischen Galway und ihrem Kollegen Rory Coyne ist besonders knifflig. Will sich jemand an den Geistlichen rächen? Eine heiße Spur führt nach Nordirland –und mitten hinein in einen nach wie vor schwelenden Glaubenskonflikt.
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Seitenzahl: 473
Hannah O’Brien
Irisches Erbe
Kriminalroman
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Für Kitty, Padraic, Aisling und Carol
Der Wind wehte hier oben auch im Sommer heftig. Gerade rissen die Nebelwolken auf und gaben den Blick auf die majestätische Bucht unter ihnen frei. Graugrüne Wellen hatten sich weiße Manschetten aufgesteckt.
»Schau, das Meer!«
Die kleine Graínne klatschte in die Hände und zog ihren Bruder mit sich, näher zum Rand der Klippe hin.
»Seid vorsichtig, der Wind ist stark«, warnte Shaun seine Kinder und packte das Picknick aus: Brote, Äpfel und Tee.
Überall um sie herum kauerten Menschen, es waren Hunderte. Sie strömten aus der weißen Kapelle und hatten sich auf den Steinen niedergelassen. Die Kinder drängten durch die Menge. Aber niemand beschwerte sich.
Dann setzte Regen ein und Shaun rief sie zurück. Er reichte jedem der beiden ein Brot.
»Sie bluten.« Graínne Ni Mháille sah ihrem Vater fest in die Augen. »Ganz viele bluten an den Füßen.«
»Die Steine auf dem Weg sind grob und spitz, das habt ihr selbst gesehen«, antwortete er. »Und wenn man barfuß hochklettert, kann man sich schnell die Füße aufreißen.«
Graínne überlegte. Lachen wehte wie die Regentropfen zu ihnen herüber. Es klang nach Erleichterung und Stolz.
»Sie zeigen sich ihre Füße. Sie zeigen sich gegenseitig das Blut. Warum tun sie das?«
Shaun schaute in den Himmel und Dara folgte seinem Blick. Dann wandte er sich wieder seiner Tochter zu.
»Damit sie später sagen können, sie hätten sich gequält, um hier auf den Heiligen Berg zu steigen.«
»Warum wollen sie sich quälen? Wir sind einfach nur hochgestiegen. Es hat uns Spaß gemacht. Warum wollen sich die Menschen quälen, Schmerzen haben und bluten? Dara, hast du dich gequält?«
Dara schüttelte den Kopf und biss ins Brot.
»Das Blut macht ihnen Freude. Sie wollen es dem heiligen Patrick gleichtun, der vor vielen Jahren hier hochkam, um Gott näher zu sein.«
»Und der freut sich, wenn sie sich quälen und bluten?«
Shaun schwieg sehr lange, bevor er der kleinen Graínne antwortete.
»Sie glauben es, Graínne, sie glauben es. Das genügt.«
»Marilyn?«
Die Stimme des Priesters hallte nur wenig in der kleinen Kapelle, zu niedrig waren die Deckenwölbung und die gekalkten Wände, die von kühler Feuchtigkeit durchdrungen schienen. Er tastete im Dunkeln zögernd nach dem Lichtschalter, den er rechts von sich in Erinnerung hatte. Doch stattdessen griffen seine Finger nur in das Weihwasserbecken. Erschrocken zog er sie blitzschnell zurück, als hätte er in siedendes Öl gefasst.
Er hielt die Fingerspitzen kurz an seine Lippen, um lindernd auf sie zu pusten, bis er begriff, dass es nur laues Wasser gewesen war. Die Dunkelheit machte ihn nervös und orientierungslos. Sie weckte düstere Erinnerungen an die schlimmste Zeit seines Lebens.
Er war stehen geblieben und schaute sich hilflos um. Der Altar aus hellem Stein mit dem Kreuz musste direkt vor ihm liegen. Zögerlich schlug er diese Richtung ein und machte ein paar Schritte. Dann blieb er wieder stehen. Die Stille des Raumes umfing ihn wie ein dickes Cape, das ihn erdrückte, statt ihn zu schützen. Schließlich räusperte er sich.
»Marilyn? Sind Sie hier?«
Erwartete er wirklich eine Antwort darauf?
Es war stockdunkel um halb fünf Uhr nachmittags. Besonders wenn es wie heute den ganzen Tag trüb und nass gewesen war, als hätte die Sonne schon mittags ihre Sachen zusammengepackt und das Weite gesucht, weil sie sich an diesem Nachmittag an der irischen Westküste keinen vernünftigen Einsatz mehr vorstellen konnte.
Wer würde im Stockdunkeln auf einer der wenigen Bänke sitzen und auf die Ankunft des Priesters warten, der heute Abend hier eine Totenmesse lesen sollte?
Man hatte ihm im Pfarrhaus ausdrücklich versichert, dass Marylin Madden hier sei und alles sorgfältig vorbereiten würde. Mit Sicherheit war sie bereits damit fertig und ohne nochmals Bescheid zu geben nach Hause gegangen. Leere Kirchen, auch wenn sie wie diese recht klein ausfielen, waren nicht unbedingt gemütliche Aufenthaltsorte.
Erst recht nicht im Winter. Leere Kirchen ließen einen frösteln, nicht nur wegen der Temperaturen. Das hatte Father Duffy schon immer so empfunden. Volle Kirchen dagegen waren eine Pracht und schraubten seinen Adrenalinspiegel bisweilen in schwindelnde Höhen.
Warum drehte er nicht einfach um und tastete sich zurück zur Tür? Es wären zehn Schritte, vielleicht fünfzehn.
Der Priester überlegte. Noch war der Eingang leicht und trotz der Schwärze vor seinen Augen schnell zu erreichen. Seine rechte Hand glitt dorthin, wo er die Lehne der Holzbank vermutete, und stieß sofort auf das Gesuchte. Er krallte sich daran fest und zog sich behutsam vorbei, weiter nach vorn, in Richtung Altar. Es schien ihm, als folgte er nicht seinem eigenen Willen, sondern eher einer inneren Stimme, die ihn weiterdrängte. Die glatt polierten gedrechselten Seitenlehnen, die sich schneckengleich wanden, dienten ihm zur Orientierung und als Stütze.
Etwas stimmte hier nicht. Schreckliche Erinnerungen stiegen in ihm hoch. Der schwerverletzte Mann und das ganze Blut, seine Hilflosigkeit, seine Angst. Die Helferin, die er letzte Woche tot in der Kirche in Moycullen vorgefunden hatte. Father Duffy schauderte.
»Marilyn?«
Er musste endlich aufhören, ihren Namen wie ein Gebet auszustoßen. Es war lächerlich und er wusste es. Sie würde es ja nicht mehr hören.
Plötzlich hielt er in seiner Bewegung inne und drehte den Kopf nach hinten. Was war das für ein Geräusch gewesen? War es das Klacken der Eichentür, wenn sie nach einer winzigen Verzögerung im Sprungscharnier endlich zuschnappte? War es ein Tier gewesen, das in dem geheiligten Raum Zuflucht und Schutz suchte?
Father Duffy kniff eine Sekunde lang die Augen zusammen, vielleicht in der Hoffnung, dadurch mehr erkennen zu können. Zwar hatten sich seine Augen nun allmählich an die Dunkelheit gewöhnt, doch mehr als vage Umrisse vermochte er um sich herum nicht auszumachen.
Er blieb stehen und atmete hörbar aus. Sein Atem kam stockend. Ahnte er, dass er hier in der Kapelle St. Bridget, am westlichen Rand von Galway, nicht allein war? Wusste er es?
Father Duffy schüttelte den Kopf, wie um eine lästige Frage loszuwerden. Warum hatte er den Lichtschalter nicht so lange gesucht, bis er der Dunkelheit ein Ende bereiten konnte? Das war dumm von ihm gewesen.
Seine rechte Hand strich tastend über das glatte Holz der nächsten Bank vor ihm. Und mit einem Mal durchfuhr es ihn wie ein Schlag – er hatte in etwas wie eine Strickjacke gegriffen, in der ein warmer Körper steckte. Er erbebte, als er merkte, dass er einem Menschen die Hand auf die Schulter gelegt hatte.
Er drückte nur leicht. Konnte er eine Reaktion erwarten? Mit zitternder Hand, wie er selbst bemerkte, erkundete er das Haar des Menschen, ein kleines Stück höher. Es fühlte sich feucht und verklebt an.
»Marilyn«, flüsterte er und beugte sich entsetzt hinunter. Keine Antwort. Nun tätschelte er zaghaft den Hinterkopf des Menschen, der stumm auf der Gebetsbank ausharrte. Niemals tätschelte er sonst die Menschen, die zu ihm kamen, wenn sie Zuwendung und Fürsprache brauchten. Selbst die Kinder nicht. Er fand tätschelnde Priester ekelhaft, herablassend und übergriffig. Zuwendung wollte er den Menschen, so gut er es vermochte, geben, aber seine Hände behielt er bei sich, außer wenn er jemandem besänftigend die Hand auf die Schulter oder den Oberarm legte. Das war die große Ausnahme, wenn die Verzweiflung, der er immer wieder begegnete, immens zu sein schien. Und er tat es auch nur ganz leicht, einer Feder ähnlich, die dem Hilfesuchenden auf den Arm geschwebt war.
Doch dies hier war anders, und er wusste es genau. Mit seiner linken Hand griff er mit einem Ruck unter seine schwarze Soutane, um an die Gesäßtasche seiner Jeans zu kommen. Er zog sein Handy hervor, schaltete die Taschenlampenfunktion ein und richtete den hellen Strahl auf den Kopf vor ihm. Warum hatte er nicht schon früher an das Handy gedacht!
Man konnte es nicht sofort sehen. Erst als er den Körper der Frau leicht zur Seite drehte, erkannte er das Blut, das vom Kopf auf ihre Schulter getropft war. Er leuchtete ihr auf die Augen und den Mund. Dann ließ er sie los und trat einen Schritt zurück in den Mittelgang. Kaltes Grauen erfasste ihn.
Sie war tot.
Father Duffy überlegte blitzschnell, ob er draußen Hilfe holen oder gleich von hier aus Garda anrufen sollte. Doch die Entscheidung wurde ihm abgenommen, als die Tür zur Kapelle plötzlich aufgerissen wurde und jemand nach ein paar hastigen Schritten das Licht anschaltete.
Entsetzen spiegelte sich in den Gesichtern der beiden Neuankömmlinge wider.
Der Priester starrte sie geblendet an.
»Es ist Marilyn!«, rief er, und seine Stimme erstarb noch vor der letzten Silbe.
»Marilyn?«, rief einer der beiden ungläubig zurück.
Grace O’Malley kniete neben der Gerichtsmedizinerin Aisling O’Grady, die Marilyn Maddens Leiche in der Kapelle untersuchte. O’Grady leuchtete gerade hochkonzentriert auf die Augäpfel der Toten.
»Glaubst du, dass sie hier ermordet wurde?«, stieß die Kommissarin leise hervor. In der winzigen Kirche wimmelte es von Gardai. Kollegen der Spurensicherung rutschten in ihren weißen Overalls auf dem Boden umher und untersuchten jeden Zentimeter. Es herrschte eine geschäftige Stille an diesem geheiligten Ort.
Grace, die das Morddezernat in Galway leitete, hatte sofort nach ihrer Ankunft den Priester und die beiden Helfer in das Pfarrhaus nebenan verbannt, wo sie auf sie warten sollten. Sie hatte ihnen klargemacht, dass die für sieben Uhr anberaumte Totenmesse entweder auf eine andere Kirche verlegt oder komplett verschoben werden müsse.
Father Duffy, der die Messe lesen sollte, hatte verständnisvoll genickt. Die Gemeindesekretärin hatte nur mit den Augen gerollt und einen Flunsch gezogen.
»Ich denke, schon«, antwortete Aisling O’Grady. »Schau mal, Graínne.« Sie deutete auf den Fleck auf der Bank neben der Toten. »Ich vermute, dass man ihr mit einem Gegenstand von hinten den Schädel zertrümmert hat. Und ich denke, sie saß dabei genau hier. Aber …«
»Aber du willst dich vor der Obduktion nicht festlegen, stimmt’s?«
Die rothaarige junge Frau mit den Sommersprossen hob den Kopf und blinzelte Grace zustimmend zu.
»Dann wäre nämlich Blut auf die Bank getropft und hätte sich genau an dieser Stelle hier sammeln müssen. – Wann kommt Rory? Habt ihr ihn schon benachrichtigt?«
Die Medizinerin hatte bei der Frage nicht einmal zu ihr aufgeschaut, als wäre es für sie völlig klar, dass Graces geschätzter Kollege Kommissar Rory Coyne jeden Moment hier auftauchen würde.
»Rory kommt heute nicht. Er hat sich bis morgen Urlaub genommen, was jetzt ziemlich blöd ist, aber nicht zu ändern.«
»Im Dezember, nach dem Vorfall letzte Woche und so kurz vor Weihnachten? Wieso das denn?« Aisling hielt in ihrer Untersuchung inne und richtete sich überrascht auf.
Grace schob sich die lockigen Haare aus der Stirn. »Er und Kitty sind in Belfast. Molly, ihre Älteste, studiert dort und hat heute wohl eine wichtige Präsentation. Dafür wollten sie hinfahren. Wer konnte denn ahnen, dass …?«
»Was studiert sie denn? Ich meine, was präsentiert sie?«
Aisling O’Grady hatte in der Kälte der Kapelle, die kaum beheizt schien, ihren giftgrünen gesteppten Anorak an und auch die bunte Bommelmütze aufbehalten. Sie wischte sich mit dem Ärmel über die Nase. Die Hände steckten in weißen Plastikhandschuhen.
Grace zuckte mit den Schultern. Auch sie trug ihren flauschigen roten Wollmantel und schwarze flache Stiefel, über die sie Schutzfolien gezogen hatte.
»Keine Ahnung. Sie studiert Kunst und Design, und Rory erzählte irgendwas von einer Sonderausstellung, bei der sie teilgenommen hat und ausgezeichnet wurde.«
»Und was ist mit Kevin?«
Der Name des ungeliebten Kollegen rief zwar nicht mehr die gleiche Abwehrreaktion bei Grace hervor wie in den ersten Monaten nach ihrem Amtsantritt in Galway, aber er löste auch keine große Begeisterung aus. Sie betrachtete Kommissar Kevin Day nach wie vor skeptisch, der seine Ablehnung ihr gegenüber noch nicht einmal zu vertuschen versuchte. Er hasste sie dafür, dass sie ihm die Traumstelle weggeschnappt hatte, und hatte ihr das von Anfang an unverblümt gezeigt.
»Der ermittelt in der Geiselnahme bei dem Bankraub in Loughrea. Damit ist er vollauf beschäftigt.«
Aisling schaute sie amüsiert an. »Du hast gegrinst, ich hab’s gesehen.«
Grace fühlte sich nicht ertappt. Aber sie war froh, dass die Kollegin, die erst vor wenigen Wochen ihre Mutter verloren hatte, sich offenbar wieder gefangen hatte. Durch den Todesfall hatte Aisling auch eine neue Familie bekommen, die sie nun sehr in Anspruch nahm.
»Wie geht es Tessa?«
Aisling lächelte spitzbübisch. »Danke. Dad, Julian und ich begleiten sie auf ein Konzert am dritten Advent in Westport.«
Sie ging wieder in die Knie und fischte etwas aus ihrem Besteckkasten, den sie neben sich gestellt hatte. Doch plötzlich stockte sie und schaute von unten in Graces Gesicht.
»Das heißt, wenn nicht am Dritten schon wieder ein Mord passiert …«
»Quatsch!« Grace bereute ihre heftige Reaktion sofort.
Aisling murmelte etwas und Grace entfernte sich. Sie streifte die Handschuhe und den Schuhschutz ab und verließ die Kapelle, um den Priester zu vernehmen, der die Leiche gefunden hatte.
Aisling hatte da etwas ausgesprochen, was auch ihr selbst, seit sie St. Bridget betreten hatte, nicht mehr aus dem Kopf gegangen war: Vor genau einer Woche, am Samstag vor dem ersten Advent, hatte Father Duffy in einer anderen Kirche, in Moycullen, bereits eine Leiche gefunden. Die beiden Fälle ähnelten sich stark.
Die Tür war nicht verschlossen und Grace empfand den warmen Empfangsraum des kleinen Gemeindehauses als angenehm, geradezu heimelig nach der Kälte in der Kapelle. Im Kamin loderte ein großes Holzfeuer. Man hatte ihr zwar gesagt, dass St. Bridget nicht mehr regelmäßig benutzt werde und auch deshalb über keine gute Heizung verfüge, aber die Kälte im Gotteshaus hatte sie trotzdem überrascht.
»Father Duffy erwartet Sie.«
Die Gemeindesekretärin wies mit dem Kopf zur hinteren Tür. Die Spur eines Lächelns lag auf ihrem Gesicht und sie schien nicht mehr so entnervt wie bei der Ankunft von Garda.
»Wir sprechen uns direkt danach, Ms …?«
»Mary O’Shea. Sehr wohl, Superintendent. Möchten Sie einen Tee?«
Grace nickte dankbar, klopfte und trat kurz darauf in die Dienststube. Der Priester saß in einem Ledersessel vor einem Torffeuer und hatte offenbar auf sie gewartet. Er erhob sich kurz, gab ihr die Hand und wies auf den Sessel gegenüber.
Father Duffy mochte um die fünfzig sein, er hatte scharf geschnittene Züge in seinem langen, schmalen Gesicht, kurzes, grau meliertes Haar und eine randlose Brille. Der Geistliche wirkte wie ein Intellektueller, der im Priesterseminar Irlands, in Maynooth, glatt als Experte für mittelalterliche Folianten durchgegangen wäre.
Grace begrüßte ihn. Er hatte die Finger beider Hände so zusammengelegt, dass sie ein spitzes Dreieck bildeten, und starrte trübselig ins Feuer.
»Tja.« Mehr äußerte er nicht.
Grace schwieg und wartete. Der Torf knisterte und feine Funken sprühten auf das Aschegitter.
»Ich bin entsetzt, Superintendent. Ich kann es nicht fassen«, murmelte er schließlich.
Grace musterte den Geistlichen. »Vielleicht sagen Sie mir einfach, was im Einzelnen geschehen ist. Sie betreuen auch St. Bridget, Father? Warum haben Sie uns das letzte Woche nicht erzählt?«
Erstaunt schaute er auf. »Nein, ich bin hier nur zu Gast. Eigentlich ist Moycullen meine Gemeinde, hier komme ich nur selten her.«
Grace beugte sich zu ihm hin. »Wie soll ich das verstehen? Erklären Sie es mir bitte.«
In dem Moment flog die schwere Tür auf und Mary O’Shea bahnte sich mit einem riesigen Tablett den Weg ins Zimmer. Der Priester stand auf, nahm es ihr ab und stellte es auf das Tischchen, das er zwischen sich und Grace geschoben hatte.
»Danke, Mary.«
Sie verließ den Raum und Grace fuhr durch den Kopf, dass ihr genussfreudiger Kollege Rory dieses Verhör sicher gern geführt hätte. Die Keksauswahl war beeindruckend.
»Bitte.« Duffy schenkte ihnen beiden Tee ein und machte eine einladende Handbewegung zum Keksteller hin. »Ich betreue die Gemeinde in Moycullen nur vorübergehend, aber dieses Provisorium dauert nun schon eineinhalb Jahre«, fuhr er dann fort. »Ich bin zurzeit der zuständige Priester dort. Hier in St. Bridget bin ich nur für die Messe heute Abend kurzfristig eingesprungen. Mein Kollege, Father Griffin, hat sich den Fuß gebrochen und liegt im Krankenhaus. Das hier fällt normalerweise nicht in die Zuständigkeit meiner Gemeinde.« Er betonte es, als sei es definitiv nicht seine Baustelle.
»Hmm.«
Grace schien in Gedanken versunken. »Und wie erklären Sie sich diesen Fall?«
Sie beobachtete den Priester genau. Er fuhr sich durch die kurzen Haare, die, wie sie fand, einer Bürste aus grauweißen Dachshaaren glichen.
Er seufzte und antwortete: »Ich kann es mir überhaupt nicht erklären. Ich bin geschockt. Vor allem, weil …« Er brach abrupt ab und warf ihr einen hilflosen Blick zu.
Grace lächelte ihn aufmunternd an. »Weil?«
Er wich ihrem Blick aus und richtete seine Augen wieder auf das Feuer im Kamin. »Weil es so scheint, als wären beide Morde haargenau gleich abgelaufen.«
Grace nickte langsam. Sie nahm einen Schluck Tee und beugte sich näher zu ihm. Er wirkte wie ein verstörtes Tier, das man in einer engen Falle gefangen hatte.
»Vor genau einer Woche sind Sie in der von Ihnen betreuten Gemeinde Sacred Heart in Moycullen auf die Leiche von Beth Kerrigan gestoßen.«
Grace machte eine Pause. Father Duffy nickte und Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn.
»Beth hat an jenem Nachmittag die Kirche geschmückt und wurde laut Obduktion mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen. Es gibt weder eine Spur vom Täter noch ein Motiv. Leider sind wir mit unseren Ermittlungen in der vergangenen Woche noch nicht viel weiter gekommen. Im Augenblick verfolgen wir ein paar Spuren im unmittelbaren Umfeld des Opfers.«
Sie behielt für sich, dass es bisher so gut wie keine Spuren gab und dass ihre Ermittlungen derart stagnierten, dass sie sich nicht einmal dazu veranlasst gesehen hatte, Rorys bereits vor Wochen genehmigten Urlaub zurückzunehmen.
Father Duffy war in sich zusammengesunken und hatte die Arme auf seinen Oberschenkeln verschränkt.
»Der erste Mord ist am ersten Adventswochenende geschehen.« Seine Stimme klang dumpf. »Und der zweite heute, am zweiten Advent.«
Grace entgegnete nichts darauf. Father Duffy war ein Verdächtiger. Spätestens seit heute war er für sie zum Verdächtigen geworden. Und Verdächtige ließ sie gern reden und ihre Gedanken entwickeln, ihnen gegenüber gab man nichts preis.
»Es ist derselbe Täter, nicht wahr?«
Grace hustete kurz. »Das wissen wir nicht. Die Umstände, die zu den beiden Morden führten, erscheinen vergleichbar. Aber wir müssen abwarten, was unsere Untersuchungen ergeben.«
Der Priester hob langsam den Kopf und drehte sein Gesicht zu ihr. Es war gerötet. Er wirkte wie ein kleiner Junge, den im Sitzen der Schlaf übermannt hatte und der nach dem Erwachen versuchte, wieder im Hier und Jetzt anzukommen.
»Das muss ein Serienmörder sein. Beth und Marilyn sind von einem Serienmörder umgebracht worden.«
Der Priester hatte es ausgesprochen. Das war, was die Rechtsmedizinerin vorhin angedeutet hatte und was auch Grace, als sie die Leiche vor einer Stunde sah, sofort dachte, aber nicht wahrhaben wollte.
Grace hasste Serienmörder. Andere Mörder boten Knotenpunkte, psychologische Wegmarkierungen oder ökonomische Fußabdrücke, denen man folgen konnte. Sie bargen Dreh- und Angelpunkte, die meist vernünftig, schlüssig und sogar nachvollziehbar erschienen, auch wenn man sie vom moralischen Standpunkt her verwerfen musste.
Serienmörder dagegen waren glatt wie nasse Seife, fand Grace. Ihre Opfer waren für sie unpersönlich, sie wählten sie völlig willkürlich, und in dieser Zufälligkeit waren sie noch mehr Opfer als andere Opfer.
Serienmörder trieben ein unaufgeregtes, gefährliches Lotteriespiel. Ihre Morde wollten als Statements und nicht als Rätsel begriffen werden. Grace verabscheute solche gnadenlosen Wichtigtuer.
Father Duffy rieb sich mit dem Mittelfinger die Stirn. »Was genau möchten Sie wissen, Superintendent?«
Er versuchte entspannt auszusehen, was ihm nicht gelang.
Grace holte ihr Aufnahmegerät heraus und warf ihm einen prüfenden Blick zu. »Genau das Gleiche wie vor einer Woche, Father.«
Mary O’Sheas Alter war schwer zu schätzen, fand Grace. Ihr Gesicht wirkte noch frisch wie mit Anfang, Mitte vierzig, ihre Augen dagegen kamen ihr mindestens zehn Jahre älter vor. Sie waren ruhig, fast statisch, und schienen nur zu registrieren. Die Sekretärin räumte gerade ihren Schreibtisch auf, als Grace das Gemeindebüro betrat.
»Mrs O’Shea, hätten Sie jetzt Zeit, mir ein paar Fragen zu beantworten?«
Die Frau schaute auf und lächelte. »Sicher, Guard. Ich bin sofort bei Ihnen.«
Sie fuhr den Computer herunter und stülpte ihm dann ein hellblaues Flanellsäckchen mit rosa Elefantenmuster über, das sie wie bei einem Säugling, den man für die Nacht in einen Pyjama steckte, liebevoll herunterrollte.
Grace starrte den PC-Pyjama entgeistert an. Mary O’Shea bemerkte ihre Verblüffung und zupfte noch ein wenig an der gestrickten Hülle herum.
»So was haben Sie noch nie gesehen, nicht wahr?«
Grace schüttelte den Kopf, während sie sich auf die Lippen biss. »In der Tat. Noch nie. Setzen wir uns.«
Sie behielt ihr Aufnahmegerät in der Hand und ließ sich auf einem der drei Sessel am Kamin nieder. Mary wählte den Sessel neben ihr, nicht den, der ihrem genau gegenüberstand.
»Man kann sie nirgends kaufen. Ich stricke sie selbst, andere nähe ich. Für meine eigenen Computer, und ich verschenke sie auch. Sie werden sehr gern genommen, Guard. Sehr gern.«
Grace versicherte ihr, dass sie das sofort glaube.
»Mrs O’Shea …«
»Ms O’Shea«, korrigierte sie leise.
»Bitte schildern Sie mir die Ereignisse des heutigen Nachmittags. Vom Eintreffen von Marilyn Madden bis der Organist und Sie Father Duffy und Marilyns Leiche in der Kapelle fanden. Ich bin sicher, dass Sie sich noch gut erinnern können.« Davon war sie tatsächlich überzeugt. Dieser Frau entging sicher nur wenig.
Mary O’Shea lächelte selbstsicher und rückte ihre Brille mit dem schwarzen Rahmen zurecht. Gleichzeitig kreuzte sie ihre Füße, die in fellgefütterten modischen Stiefeletten steckten.
»Also, Marilyn tauchte wie abgesprochen ziemlich genau um halb vier hier auf. Sie nahm noch eine Tasse Tee, den ich kurz zuvor für uns aufgebrüht hatte, und verschwand dann in der Kapelle. Die Blumen für die Dekoration waren schon vorher geliefert worden, und zwar direkt in die Kirche.«
Grace hatte das Aufnahmegerät wieder eingeschaltet. Sie schaute die Gemeindesekretärin auffordernd an.
»Was genau war Marilyns Aufgabe?«
Mary O’Shea runzelte die Stirn. »Na, sie sollte das Gotteshaus für die Totenmesse heute Abend herrichten. Was alles so anfällt: Blumenschmuck, Gebetsbücher, Weihwasser nachfüllen, Kerzen überprüfen. Mit dem Sarg und dem dazugehörenden Schmuck hatte sie nichts zu tun, dafür ist das Bestattungsunternehmen zuständig, wenn es Sie interessiert.«
»Wie lange braucht man normalerweise für das Herrichten dieser kleinen Kirche?«
»Höchstens eine Stunde, ja, das kommt hin, wenn man nicht abgelenkt wird.«
»Was meinen Sie damit?«
Mary blickte sie verständnislos an. »Na ja, es kommen schon mal Nachbarn auf ein Schwätzchen vorbei, wenn sie sehen, dass jemand in der Kirche ist. Oder es gibt ein Tier, um das man sich kümmern muss. Das nimmt natürlich Zeit in Anspruch.«
»Ein Tier?« Grace schaute skeptisch.
Die Gemeindesekretärin lächelte. »Nichts Ekliges, Superintendent. Aber wir sind ja fast auf dem Land hier und St. Bridget wird nicht mehr regelmäßig benutzt. Da verirrt sich in der kalten Jahreszeit schon mal ein Igelchen oder ein Waschbär in den heiligen Raum. Vor Kurzem hatten wir einen Dachs hier und letztes Jahr sogar einen Moorhasen. Das sind die mit den langen Löffeln.«
Sie strich sich den Tweedrock glatt.
»Haben Sie Mrs Madden danach noch einmal gesehen?« Die Kommissarin versuchte den Blick der anderen aufzufangen, doch deren Augen blieben eigentümlich starr.
Mary O’Shea führte ihre zur Faust geballte Hand zum Mund und runzelte die Stirn, als müsste sie vor ihrer Antwort etwas abwägen. »Ich bin mal kurz rübergesprungen, als sie jemand am Telefon verlangt hat, aber ich hab sie nicht gesehen und dachte, dass sie wohl im Schuppen hinter der Kapelle zu tun hat. Da bewahren wir spezielle Dinge auf, die für bestimmte Messen verwendet werden und von denen sie das ein oder andere vermutlich holen musste. Als ich sie nicht finden konnte, bin ich wieder zurückgegangen.«
»Wann war das?«
Die Frau zuckte vage mit den Schultern. »Gegen vier vielleicht?«
»Haben Sie sie gerufen?«
O’Shea starrte sie an. »Nein.«
»Warum nicht?« Grace fand das Desinteresse der Zeugin und ihre fehlende Beteiligung am Geschehen bemerkenswert.
»Sie war nicht in der Kapelle, also ging ich wieder. Ich dachte, sie würde schon noch auftauchen.«
»Es beunruhigte Sie offenbar in keiner Weise, dass vor genau einer Woche unweit von hier, in Moycullen, eine Frau unter bisher ungeklärten Umständen ermordet wurde, die ebenfalls allein eine Kirche geschmückt hatte, und dass wir den Täter bisher noch nicht fassen konnten. Das kam Ihnen nicht in den Sinn?«
In diesem Moment schlug Mary O’Shea beide Hände vors Gesicht. »Jesus, Maria und Joseph«, presste sie hervor.
Es erschien einstudiert und ziemlich emotionslos.
»Wer hat da angerufen und nach Marilyn gefragt?«, fuhr die Kommissarin ungerührt fort.
»Habe ich das nicht erwähnt? Es war Anne. Anne Madden, Marilyns Tochter. Sie ließ ausrichten, dass sie ihre Mutter in der nächsten halben Stunde mit dem Wagen abholen würde. Deshalb habe ich mich auch nicht gewundert, dass Marilyn später nicht noch mal zu mir hereinkam. Ich ging davon aus, dass sie sofort in den Wagen gestiegen und nach Hause gefahren ist.«
Grace schlug die Beine übereinander. Warum misstraute sie dieser Zeugin? Was genau missfiel ihr an der Gemeindesekretärin?
Sie fragte nach der Telefonnummer der Tochter, um Kontakt mit ihr aufzunehmen.
»Gibt es auch einen Mr Madden?«
Mary nickte. »Ja, er ist Farmer. Ein netter Mann. Oh Gott, das wird ja furchtbar für die Familie, so kurz vor Weihnachten.«
»Waren Sie die ganze Zeit hier im Büro, während Mrs Madden die Kapelle schmückte?«
Die Frau schaute Grace unsicher an. »Natürlich. Außer als ich, wie ich eben schon sagte, mal kurz rübergesprungen bin, um Marilyn ans Telefon zu holen.«
»Gibt es dafür Zeugen, Ms O’Shea?«
»Zeugen? Warum?«
Grace betrachtete sie einen Augenblick lang schweigend. Diese Frau war intelligent und durchaus in der Lage, zwei und zwei zusammenzuzählen. Sie lächelte die Sekretärin an, was die andere leicht zu irritieren schien.
»Es gibt dafür keine Zeugen. Aber ich habe am Computer gearbeitet und war auch online. Das kann man sicher nachprüfen. Kurz vor halb fünf erschien dann Father Duffy.«
»Father Duffy sagte aus, dass in der Kirche kein Licht brannte, als er sie betrat. Es wurde heute schon kurz nach vier Uhr so dämmrig, dass man in der Kapelle eigentlich eine Beleuchtung gebraucht hätte. Haben Sie von hier aus sehen können, wann das Licht ausgeschaltet wurde?«
»Nein.«
Diese Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. Grace stand auf, durchquerte mit schnellem Schritt den Raum und setzte sich auf Marys Arbeitsstuhl vor dem Computer im Pyjama. Die Sekretärin verfolgte ihre Bewegungen misstrauisch.
»Sitzen Sie hier genau so wie ich jetzt, wenn Sie am PC arbeiten?«
Die Frau bestätigte das. Draußen war es dunkel, aber da die Spurensicherung immer noch in der Kapelle zu tun hatte, war sie hell erleuchtet. Das konnte man von hier aus sehr gut erkennen. Grace wies Mary O’Shea darauf hin, die nur unbeteiligt mit den Schultern zuckte.
»Ich habe wirklich nicht darauf geachtet, Guard. Ich war beschäftigt.«
Grace trat ans Fenster und schaute wieder nach drüben zur Kapelle.
»Wann genau kam der Organist für die Totenmesse? Ich hörte, dass er schon relativ früh hier war. Die Messe war erst für gut zwei Stunden später angekündigt, oder?«
»Das stimmt. Liam kam auch um halb fünf, kurz nach Father Duffy. Er kommt gern etwas früher, um sich vorzubereiten. Aber er wollte vor der Messe noch schnell nach Galway rein, zum Zahnarzt, sagte er. Es war ein Notfall und der Arzt hatte ihm ausnahmsweise einen Samstagstermin gegeben. Liam wohnt in Roundstone, und wenn er hier spielt, nimmt er gern die Gelegenheit wahr, ein paar Dinge in der Stadt zu erledigen. Er wird sicher gleich wieder zurück sein.«
Grace runzelte die Stirn. »Er ist nicht hiergeblieben?«
»Sollte er das? Er musste ja zum Zahnarzt und sagte, er käme danach sofort wieder zurück.«
»Gut.« Sie war etwas verärgert über die eigenmächtige Entscheidung des Zeugen, ihre Anweisung zu missachten, ließ es sich aber nicht anmerken. Die Kommissarin begann, im Zimmer auf und ab zu gehen.
»Was wollten Sie beide drüben bei Father Duffy?«
Mary biss sich auf die Lippen, als suchte sie schnell nach einer passenden Antwort, die sich aber nicht einstellen wollte.
»Es war Liams Vorschlag, rüberzugehen«, erinnerte sie sich. »Ich glaube, er wollte ihn etwas wegen der Musik fragen.« Sie hörte sich vage an und blickte auf ihre Stiefeletten.
»Und da sind Sie vorsichtshalber mitgegangen, damit ihm die Frage nicht abhandenkäme?«
Mary O’Shea sah sie perplex an. Nach zwei, drei Sekunden sagte sie leise: »Ich wollte nur schauen, wie weit Marilyn war.«
Grace kniff die Augen zusammen. »Ach, eben sagten Sie noch, Sie wären davon ausgegangen, dass ihre Tochter sie abgeholt hätte, oder? Sie widersprechen sich.«
Ihre Stimme klang jetzt durchaus scharf. Mary schaute sie zum ersten Mal nicht mehr unbeteiligt, sondern eher betroffen an. Sie schien auf ihrem Sessel um einiges geschrumpft zu sein. Grace beugte sich leicht zu Mary hinunter.
»Father Duffy ist hier offenbar kurzfristig für einen Kollegen eingesprungen, der einen Unfall hatte. Wann ist das entschieden worden und von wem?«
Die Gemeindesekretärin blieb stumm. Grace trat noch einen Schritt näher.
»Das wird in der Diözese entschieden. Direkt in Galway. Von wem, weiß ich nicht. Es gibt einen Notplan für solche Fälle.«
Grace richtete sich wieder auf, schaltete das Aufnahmegerät ab und packte ihre Tasche.
»Ich muss gehen. Bitte richten Sie Ihrem Organisten aus, er soll sich umgehend mit mir in Verbindung setzen. Hier ist meine Karte.« Sie reichte sie ihr. »Wie heißt er noch mal?«
»Liam. Liam O’Flaherty. Er ist eigentlich Buchhändler in Roundstone. Ich war froh, dass wir ihn für die Orgel bekommen haben. Liam spielt sehr gut. Da gibt es ganz andere.«
Sie verzog ihr Gesicht ein wenig. Dann stand sie ebenfalls auf und versuchte ein Lächeln. »Wenn ich Ihnen sonst irgendwie behilflich sein kann, geben Sie Bescheid, Superintendent.«
Grace zögerte einen Moment. »Sie sprachen vorhin von Ihren Computern, denen sie so ein nützliches kleines Hemdchen als Schutz vor den Unbilden der Nacht verpassen …«
Mary nickte bestätigend und schien die Ironie nicht zu bemerken.
»Darf ich fragen, wie viele Computer das sind?«
Mary schien zu überlegen und sie im Geiste zu zählen. Schließlich strahlte sie Grace an. »Genau fünf.«
»Fünf? Das ist eine ganze Menge.«
»Ja, es sind natürlich alles Dienstcomputer, Superintendent. Einer im Gemeindehaus von Moycullen, einer hier, einer in Salthill, einer in der Claddagh und einer in St. Joseph’s im Zentrum. Macht insgesamt fünf.«
Als Grace ihr einen überraschten Blick zuwarf, begann sie zu erklären. »Diese Gemeinden, die ja alle im Westen von Galway liegen, können sich keine Vollzeitkraft für die anfallende Arbeit leisten. Deshalb teilen meine Kollegin Christine und ich uns als festangestellte Sekretärinnen die Arbeit in diesen fünf Gemeinden. St. Bridget hier zählt eigentlich nicht, weil es so klein ist. Im Grunde handelt es sich also nur um vier Gemeinden. Anfangs dachten wir, das würde nicht funktionieren, aber das hat sich als Irrtum herausgestellt. Es funktioniert sogar fabelhaft. Es ist eben alles eine Frage der Organisation.«
Sie machte sich nun am Kamin zu schaffen, stocherte darin herum und stellte schließlich das Schutzgitter davor. Dann knipste sie die große Stehlampe aus.
Grace war mitten im Zimmer stehen geblieben und dachte nach.
»Verstehe. Und für wie viele dieser vier Gemeinden ist Father Duffy zuständig – dauerhaft zuständig, meine ich?«
»Father Duffy?« Sie hatte sich umgedreht und sah Grace erstaunt an. »Für drei.«
»Moycullen eingeschlossen?«
»Nein, Sie betonten ja dauerhaft. Moycullen ist nach wie vor ein Provisorium.«
Sie ging zur Tür und legte ihre Hand auf den Lichtschalter. Es schien in ihr zu arbeiten. Plötzlich entfuhr ihr ein unkontrolliertes »Oh!«.
Grace musterte sie. »Was haben Sie, Mary? Ist Ihnen noch etwas eingefallen?«
Aber sie war sich sicher, die Antwort bereits zu kennen. Auch sie hatte nachgerechnet.
»Jetzt haben wir das Wochenende des zweiten Advents. Dann gibt es noch den dritten und den vierten Advent«, sagte O’Shea stockend.
Grace nickte. »So war es bisher immer.«
»Und am Ende kommt Weihnachten …«
»Stimmt«, erwiderte Grace düster. »Noch genau drei Festtage.«
»Das ist ein wunderbarer Rinderbraten, der zergeht auf der Zunge. Ein Gedicht!«
Elizabeth Wilson lächelte verschämt, errötete leicht und schien sich über das Lob zu freuen.
»Mum ist schließlich Profiköchin in der Victoria-Gesamtschule in Westbelfast«, erklärte ihr Sohn George stolz und schob ein Stück Kruste des Yorkshire Puddings auf seinen Gabelrücken, von wo er es gekonnt in den Mund balancierte.
»Mürbe und zart, obwohl er das Gegenteil von englisch ist!« Rory säbelte mit einem scharfen Messer ein appetitliches Stück ab und tunkte es genüsslich in die dunkle Soße.
George lachte und hob sein Glas. »Das Wortspiel verstehe ich nicht, Rory.«
Molly neben ihm legte ihre Hand kurz auf seinen Arm. »Im Deutschunterricht habe ich gelernt, dass man ein gebratenes Fleischstück, wenn es innen noch blutig ist, dort als ›englisch‹ bezeichnet. Das fand Dad unglaublich komisch.«
George schaute sie überrascht an und lachte dann wieder.
»Kein Brite isst sein Fleisch halbroh oder gar blutig, sondern grundsätzlich komplett durchgegart.«
»Sag ich doch.« Rory beeilte sich, ihm mit leerem Mund zuzustimmen.
»Da sieht man wieder einmal, wie viel Unsinn verzapft wird und welche Dinge man sich über andere Nationen erzählt, die gar nicht stimmen, aber felsenfest geglaubt werden. Umso besser, dass wir uns endlich alle persönlich kennenlernen.«
George wurde einen Moment ernst und Rory hob sein Rotweinglas. »Herzlichen Dank, liebe Elizabeth, lieber Bill, für eure Einladung, die von Herzen kommt und uns im Herzen berührt! Sláinte!«
Alle stießen miteinander an: Rory, seine Frau Kitty, ihre älteste Tochter Molly, die neben ihrer großen Liebe George saß, und Elizabeth und Bill, die Eltern von George.
»Auf Irland! Nord und Süd! Auf unsere ganze schöne Insel!«
Georges Vater hatte schon ein paar Gläser intus und strahlte mit gerötetem Gesicht seine irischen Gäste aus der Republik an, während er ihnen zuprostete.
»Hast du nicht noch einen jüngeren Bruder, George?«, erkundigte sich Kitty und legte ihr Besteck zusammen.
Schlagartig war das Lachen auf den Gesichtern aller drei Wilsons verschwunden. Molly schaute George immer noch liebevoll an. Doch der drehte sich weg.
Nun ergriff seine Mutter das Wort. »Billy junior ist leider verhindert. Er ist im Schullandheim oben bei Londonderry.«
»In Derry, im Dezember? So kurz vor Weihnachten?«, fragte Rory verwundert.
Die Stimmung hatte plötzlich einen Stich ins Unangenehme genommen und Rory fragte sich, was genau das ausgelöst hatte.
Es war nicht ihr erster Besuch in Belfast bei ihrer Tochter Molly, die hier im zweiten Jahr studierte, aber sie waren tatsächlich noch nie bei einer nordirischen Familie eingeladen gewesen. Die ernsthafte Verbindung ihrer Ältesten mit George Wilson hatte zu diesem Abend geführt. George war angehender Polizist im gehobenen Dienst und studierte an der hiesigen Polizeihochschule. Rory und er hatten sofort einen Draht zueinander gehabt, als Molly ihn ihren Eltern vor ein paar Monaten im Crown Pub vorgestellt hatte. Dass die Wilsons in der Nähe der Shankill Road wohnten, mitten in der Hochburg des militanten protestantischen Lagers der irischen Unionisten, hatte Rory nicht geahnt. Seine Tochter hatte die Eltern mit keinem Deut vorgewarnt.
Als er mit Kitty und Molly vor zwei Stunden mit dem Taxi und einer Flasche exzellenten Rotweins, geschmückt mit einer republikgrünen Schleife und dem irischen Kleeblatt, vorgefahren war, konnte er sein Erstaunen darüber kaum verbergen.
An der nächsten Ecke prangte eines der berühmten Shankill-Graffiti an der Hauswand. Grelle, krude Heldenverehrung des späten zwanzigsten Jahrhunderts in Neonfarben. Im Gegensatz dazu waren Kitty die scheinbar individuellen Wohnzimmerfenster-Dekorationen in den schmucken Reihenhäusern aufgefallen. Fast alles war in Schwarz und Silber gehalten, egal ob es sich um künstliche Blumen oder Vogelskulpturen handelte.
Sie wunderten sich. Und gleichzeitig wussten sie, dass in den achtziger und neunziger Jahren ein solcher Besuch nicht nur unmöglich, sondern potenziell auch gefährlich gewesen wäre, und zwar für alle Beteiligten. Aber heute, zwanzig Jahre nach dem Karfreitagsabkommen, das den Friedensprozess einläutete, war es zu einer Annäherung der einst verfeindeten Bevölkerungsgruppen gekommen oder zumindest zu größerer Toleranz. Es war eine, wie Rory sich wünschte, unumkehrbare Normalität eingetreten, die der Provinz Ulster, wie man Nordirland in der Republik meist nannte, Stabilität und auch neue Möglichkeiten beschert hatte.
Rory warf seiner Tochter einen Blick zu. Molly hatte die Augen gesenkt, doch es war nicht zu übersehen, dass sich über ihr ebenmäßiges, ovales Gesicht, das von einer dichten roten Haarmähne eingerahmt war, eine zarte Röte ausgebreitet hatte. Molly Coyne wusste etwas, was hier am Tisch offenbar nicht erörtert werden sollte.
Elizabeth Wilson war aufgestanden und begann nun hektisch das Geschirr abzuräumen. Sofort sprang Rory ebenfalls auf, um ihr zu helfen.
Sie lächelte. »Bitte, Rory, ihr seid unsere Gäste.«
Der Kommissar setzte sich brav wieder hin, als sich plötzlich sein Handy meldete. Er hatte eine SMS erhalten und überprüfte sie diskret.
»Auch das noch!«, entfuhr es ihm.
Kitty drehte sich zu ihm. »Etwas Unangenehmes?«
Rory starrte immer noch auf das Display. Er nickte.
»Kann man wohl sagen. Ich glaube, ich muss sofort zurück.« Auf seinem Gesicht bildeten sich rote Flecken.
»Ihr fahrt doch sowieso morgen früh, Dad«, rief Molly ungläubig und schaute hilflos zu ihrer Mutter hinüber.
Kitty reagierte sofort. »Molly hat recht. Morgen früh war der Plan. Es bringt überhaupt nichts, wenn wir diesen schönen Abend hier bei den Wilsons abbrechen und uns mitten in der Nacht ins Auto setzen, um vier, fünf Stunden runter nach Galway zu hetzen. Hat Grace dich zurückbeordert?«
Rory wand sich. »Nein, hat sie nicht. Aber wir haben wieder eine Leiche in einer Kirche und alles ist wie letzte Woche, sag ich doch. Sie braucht mich.«
»Wie letzte Woche?«
Molly starrte ihren Vater an, doch ihr Freund kam Rory zuvor.
»Es gab wohl einen Mord an einer ehrenamtlichen Kirchenhelferin in der Nähe von Galway. Ein Priester hat sie gefunden, die BBC hat’s auch gebracht.«
Molly seufzte. »Stimmt, Father Duffy hat sie gefunden, ich erinnere mich. Der hat mich firmiert.«
In dem Moment krachte das Tablett mit den Tellern und dem Besteck auf den geblümten Teppichboden. Elizabeth hatte es fallen gelassen. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich Entsetzen.
»Lizzy, oh Gott, was ist denn los?« Bill fasste sie kurz an den Schultern und kniete sich hin, um vorsichtig die Scherben aufzusammeln.
George rutschte auf allen vieren herum und half ihm. Rory blickte sich verwundert um und kratzte sich an der lichten Stelle an seinem Hinterkopf. Was war das gerade gewesen? Die Wilsons wussten doch, dass die Coynes katholisch waren.
Kitty nutzte die momentane Verwirrung. Sie war neben ihn getreten und flüsterte ihm ins Ohr.
»Schlag dir das mit der Abreise aus dem Kopf, Rory Coyne. Wir fahren wie geplant morgen nach dem Frühstück.«
Rory setzte zu einem Protest an, doch Kitty blitzte ihn aus ihren grünen Augen an.
»Du hast getrunken und ich auch. Oder wolltest du einen Chauffeur für uns engagieren? Vielleicht Georges Vater Bill? Der ist zwar Taxifahrer, aber er hat auch getrunken.«
Betrübt schüttelte Rory den Kopf und setzte sich wieder. Seine Tochter schenkte ihrer Mutter ein erleichtertes Lächeln und kraulte den Vater wie einen liebgewonnenen Hund im Nacken.
»Sei nicht traurig, Dad. Ab morgen Mittag kannst du wieder mit Grace Verbrecher fangen. Und hier gibt’s jetzt einen Grund zu großer Freude: Lizzys Trifle ist legendär! Zumindest in der protestantischen Community von Belfast.«
Rory schmunzelte versöhnt und schaute Molly schief an. Er liebte Trifle, diesen traditionell britischen Nachtisch, der aus zahlreichen bunten süßen Schichten bestand. Aber fast noch mehr gefiel ihm, dass seine Älteste nicht nur seinen Hang zum Genuss, sondern auch seinen Humor geerbt hatte.
»Ich will sie sehen!« Die Lippen der jungen Frau bebten, während sie Grace O’Malley an diesem frühen Sonntagmorgen gegenüberstand.
»Selbstverständlich, Ms Madden. Wir gehen zusammen in die Forensik. Meine Kollegin wartet dort schon auf uns. Ihr Vater hat Ihre Mutter gestern Abend noch identifiziert. Wir konnten Sie ja leider nicht erreichen. Kommen Sie!«
Anne Madden war schätzungsweise Mitte zwanzig. Grace ging mit ihr durch den heute menschenleeren Korridor der Garda-Zentrale mitten in Galway. Als sie den Parkplatz davor erreicht hatten, blieben die beiden Frauen stehen und Grace ergriff wieder das Wort.
»Es tut mir sehr leid für Sie und Ihre Familie, dass Ihre Mutter unter solch brutalen Umständen ihr Leben verlieren musste. Ich versichere Ihnen, wir von Gardai tun alles, was in unserer Macht steht, um den Täter schnell zu fassen.«
Anne Madden blickte sie zornig an. »Mit dem Mord im Sacred Heart in Moycullen vor einer Woche sind Sie ja wohl noch keinen Schritt weitergekommen, oder?«
Graces Augen wurden schmal und das mitfühlende Lächeln verschwand von ihrem Gesicht.
»Wir stecken mitten in den Ermittlungen. Ich bitte bei allem Verständnis für Ihre Gefühlslage um etwas Geduld.«
»Hören Sie, Superintendent, ich bin Journalistin hier in Galway bei RTÉ, und wenn Gardai an irgendetwas Konkretem dran wäre, dann wüsste ich das.«
»Tatsächlich?«
Grace verzog ihren Mund zu dem schiefen, leicht ironischen Lächeln, das Peter Burke, ihren alter Freund aus Kinderzeiten und seit Kurzem ihr neuer Geliebter, immens irritierte.
»Darf ich Sie etwas fragen?«
Grace setzte sich wieder in Bewegung und die junge Frau in dem beigen Trenchcoat und mit dem dicken karierten Schal, den sie um ihren Kopf geschlungen hatte, versuchte mit der Kommissarin Schritt zu halten.
»Stimmt es, dass Sie Ihre Mutter gestern Nachmittag mit dem Wagen abholen wollten?«
»Ja, ich rief so gegen vier im Pfarrbüro an und bat Mary, meiner Mutter Bescheid zu sagen, dass ich in der nächsten halben Stunde vorbeikommen würde.«
Grace blieb stehen. »Hatte Ihre Mutter kein Handy?«
Anne runzelte die Stirn. »Doch, aber sie hatte es fast nie dabei. Man konnte sie eigentlich nur über andere erwischen.«
Grace kannte dieses Phänomen bei älteren Menschen.
»Und Sie sind sicher, dass Sie Ms O’Shea nicht baten, Ihre Mutter ans Telefon zu holen?«
Anne schaute sie perplex an. »Todsicher. Warum hätte ich das tun sollen? Ich wollte ja nichts von meiner Mutter wissen. Ich wollte ihr nur durchgeben, dass ich bald kommen würde. Warum hätte ich sie dann hin und her kommandieren sollen? Das macht doch keinen Sinn.«
Annes Gesichtsausdruck zeigte deutlich, dass sie Graces Frage merkwürdig fand.
»War Ihre Mutter nicht beunruhigt oder äußerte sie Bedenken, dass sie die Kapelle ganz allein schmücken sollte? Oder waren Sie vielleicht deshalb alarmiert?«
Grace strich ihre langen dunklen Haare zurück und beobachtete die junge Frau genau. Die Journalistin überlegte einen Moment, bevor sie antwortete.
»Nein, ich glaube nicht, dass Mommy Angst hatte, dass man sie wie Beth Kerrigan ermorden würde. Darauf spielen Sie doch an, oder?«
»Genau. Schließlich haben wir, wie Sie selbst ja eben schon sagten, den Täter bisher nicht gefasst.«
Anne Madden schaute nun in den grauen Himmel, der sich, seit es heute hell geworden war, von seiner harmlosen trübtrockenen Seite zeigte.
»Ich hatte auch keine Angst um sie, wenn ich ehrlich bin. Wir haben sogar noch darüber gesprochen, nachdem sie den Anruf erhielt, ob sie St. Bridget kurzfristig für die Messe schmücken könne.«
»Von wem kam diese Anfrage? Und wann?«
»Von wem? Von der Diözese, vermute ich. Mein Vater hat den Anruf entgegengenommen. Die Anfrage kam erst am Freitagnachmittag, also einen Tag vorher. Da war wohl was schiefgelaufen. Father Griffin, der zuständige Priester, hatte einen Unfall und musste ins Krankenhaus. Und wer die Kapelle ursprünglich schmücken sollte, das weiß ich gar nicht. Mommy ist jedenfalls eingesprungen.«
Das war neu für Grace. Hätte es sonst etwa einen anderen getroffen? Sie musste unbedingt jemanden in der Diözese kontaktieren, um sich darüber Klarheit zu verschaffen. Aber an einem Sonntag war dort sicher niemand in der Verwaltung zu erreichen.
Sie waren weitergelaufen und hatten die Straße vor dem Gardai-Parkplatz überquert. Kein Auto war heute Morgen zu sehen. Grace hielt der jungen Frau die Tür zu dem Gebäude auf, in dem sich die Räumlichkeiten der Gerichtsmedizin befanden.
Anne Madden schlüpfte hinter ihr herein und blieb dann wie angewurzelt stehen.
»Superintendent?«
Grace drehte sich erstaunt zu ihr um.
»Warum fragen Sie das eigentlich? Ich meine, ob meine Mutter oder ich uns Sogen gemacht hätten, was ihre Sicherheit betraf? Glauben Sie etwa, dass diese beiden Fälle zusammenhängen? Glauben Sie, dass akute Gefahr besteht, weil irgendjemand …?« Sie stockte.
Grace wusste im selben Moment, dass sie einen Fehler begangen hatte. Ausgerechnet einer Journalistin diese Frage zu stellen! Das war dumm von ihr gewesen. Sie versuchte abzuwiegeln.
»Das war nur eine Routinefrage. Nein, warum sollten Sie sich ängstigen? – Hier entlang, bitte.«
Noch ein paar Schritte und sie hatte die Gerichtsmedizin erreicht. Sie musste schnell auf ein anderes Terrain ausweichen.
»Wenn Sie Ihre Mutter gestern gegen halb fünf abholen wollten – warum sind Sie dann eigentlich dort nicht erschienen?« Grace atmete tief durch.
»Es kam etwas dazwischen«, sagte Anne. »Ich bin zu einem Zwischenfall im Eyre Square Shopping Centre gerufen worden. Dort hatte jemand sämtliche Einnahmen der Weihnachtstombola gestohlen und eine Massenschlägerei war ausgebrochen. Ich hatte Bereitschaftsdienst und musste drehen. Da war ich erst mal ein paar Stunden beschäftigt. Deshalb haben Sie mich auch später nicht erreichen können.«
Anne versuchte ein versöhnliches Lächeln.
Bereitschaftsdienst gab es also nicht nur bei Polizisten und Ärzten, sondern auch bei Reportern, dachte Grace. Das würde sich leicht überprüfen lassen, obwohl sie die Tochter nicht verdächtigte, etwas mit dem Tod ihrer Mutter zu tun zu haben. Trotzdem waren die Umstände nicht ganz schlüssig und teilweise widersprüchlich zu dem, was O’Shea ausgesagt hatte.
Die Kommissarin klopfte laut an die Metalltür der Gerichtsmedizin und betrat den kühlen Raum.
Da zupfte sie die junge Frau am Jackenärmel.
»Man kann doch davon ausgehen, dass es irgendeine Verbindung zwischen dem Täter und dem Opfer gab. Habe ich recht?«
Grace schaute sie abwartend an, verschränkte die Arme und nickte dann kaum merklich.
»So muss es auch bei der armen Beth Kerrigan gewesen sein, dachte sich meine Mutter. Wir konnten uns zwar nicht vorstellen, warum sie umgebracht worden war, aber es muss doch einen, für uns Außenstehende vielleicht nicht nachvollziehbaren Grund gegeben haben.«
»Aisling! Wir sind da. Können wir reinkommen?«
Grace bat Anne Madden hinter sich herein. Erleichtert stellte sie fest, dass die rothaarige Medizinerin tatsächlich im Nebenraum am Computer saß und ihnen sofort winkte, näher zu kommen.
»Warten Sie, bitte. Ich bin noch nicht fertig.« Anne Madden blieb hartnäckig. Das hatte man ihnen wahrscheinlich auf der Journalistenschule beigebracht. »Wenn Sie mich fragen, ob meine Mutter und ich besorgt waren, weil sie dort allein in der Kapelle war, kann das doch nur bedeuten, dass Garda die Opfer für Zufallsopfer hält und dass der Mörder nach einem genauen Muster vorgeht. Und das gibt es nur bei einer Art von Mördern: Es geht hier offenbar um einen Serienkiller.«
Graces Augen verengten sich zu Schlitzen. Sie ärgerte sich über ihre eigene Unvorsichtigkeit und gleichzeitig beeindruckte sie die glasklare Wachsamkeit der jungen Frau, die trotz allem nicht in ihrer Trauer versank.
»Der Täter muss von hinten gekommen sein, als Marilyn sich kurz hingesetzt hatte. Vielleicht weil sie von dort aus ihre Arbeit, die offenbar abgeschlossen war, überprüfen wollte. Ob alles komplett war, am rechten Ort stand, so etwas.«
Grace reichte Rory einen Packen Fotos, die sie aufgenommen hatte und die bereits vergrößert worden waren.
»Alles so ähnlich wie im Fall Beth Kerrigan. Auch die Tatwaffe könnte identisch sein, meint Aisling.«
Rory Coyne war vor einer halben Stunde nach Galway zurückgekehrt und, nachdem er seine Frau Kitty zu Hause abgesetzt hatte, sofort zur Garda-Zentrale in der Altstadt gefahren.
»Ich wollte schon gestern Abend aufbrechen, als ich deine Nachricht erhielt, aber Mrs Coyne meinte, das sei blanker Aktionismus und daher unsinnig.«
Er ging die Fotos durch und schaute nicht auf, als sie ihm antwortete.
»Ich schließe mich Mrs Coyne in dieser Einschätzung vollkommen an. Du wärst sicher nicht vor Mitternacht hier eingetroffen, und da lagen wir alle schon in den Betten.«
Rory nickte. »Hätte es auch eine Frau sein können, oder ist das auszuschließen?«
»Du meinst, was den Kraftaufwand betrifft?«
Wieder nickte Rory.
»Ja, ohne Weiteres.« Sie zeigte auf die Wunde am Hinterkopf des Opfers.
»Aisling ist noch nicht fertig, aber sie ist überzeugt davon, dass der Schlag mit einem stumpfen Gegenstand auf den Schädel des Opfers tödlich war – wie bei Beth Kerrigan letzte Woche. Der Hinterkopf wurde komplett zertrümmert. Das kann man auf dem nächsten Bild noch besser erkennen.«
Die klaffende Wunde war auf der Vergrößerung deutlich zu sehen, ein Brei aus Blut, Haaren und Gehirnmasse.
Rory schaute seine Chefin an. »Das Opfer saß auf der Kirchenbank. Ist es nicht umgekippt?«
Grace schüttelte den Kopf. Da meldete sich ihr Handy mit einer Jig. Rory hob überrascht die Augenbrauen und lächelte. Sie hatte den Trommelwirbel einer irischen Bodhran vor Kurzem gegen diese eingängige Melodie ausgewechselt, da sie den Eindruck gewonnen hatte, dass es Menschen erschreckte, wenn auf einmal aus dem Nichts getrommelt wurde. Grace sah auf dem Display, dass es ihr Chef Robin Byrne war, und beschloss, den Anruf nicht anzunehmen. Sie würde ihn später zurückrufen.
»Hätte der Mörder auch von vorn kommen können?«
Grace überlegte. »Sicher, dann aber ohne direkte Mordabsicht. Vielleicht hatte er den Gegenstand schon in der Hand. Aisling könnte sich einen Hammer oder einen Stein vorstellen. Es kann auch ein ganz normaler Gegenstand gewesen sein, der in einer Kirche nicht fehl am Platz war.«
»Wie was zum Beispiel?«
Grace dachte scharf nach. Ihr wollte nichts einfallen. Vielleicht weil sie schon lange nicht mehr in einer Kirche gewesen war.
»Ein Kreuz vielleicht?« Sie klang unsicher.
Rory verzog entsetzt das Gesicht. »Das wäre schon sehr zynisch, finde ich.«
»Ist Mord nicht, neben allem anderen, immer zynisch? Und Serienmord noch einmal mehr? Falls es sich überhaupt um einen Serienmörder handelt.«
Sie ließ sich in ihren Sessel fallen. Rory legte die Fotos auf den Tisch zurück und setzte sich auf den Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtischs.
»Ich denke, beide Opfer könnten ihren Mörder oder ihre Mörderin gekannt haben. Er macht sich genau wie unsere Helferin in der Kirche zu schaffen, niemand denkt sich etwas dabei und irgendwann geht er dann nach hinten, und als er hinter ihr steht, ist der Moment gekommen. Das Opfer ist bis zum Schluss ahnungslos. Der Mörder oder die Mörderin könnte sich sogar noch freundlich plaudernd hinter sie gesetzt haben, oder? Father Duffy, zum Beispiel.« Rory sah seine Chefin fragend an.
»Du hast recht. Ich glaube auch nicht an den großen Unbekannten, der sich in die Sakristei schleicht und bös herummordet. Aber ausschließen können wir es trotzdem nicht.«
»Sag ich doch. Was haben wir bis jetzt an Gemeinsamkeiten bei beiden Fällen?«
Grace reichte ihm ihr Pad. »Ich habe mal eine Aufstellung gemacht und kann sie dir mailen. Es ist nicht sehr viel. Da ist zum einen der Schauplatz, eine Kirche. Sacred Heart in Moycullen und jetzt St. Bridget. Diese kleine Kapelle wird nur noch selten benutzt. Dann, dass beide Opfer ehrenamtliche Helferinnen waren. Beth Kerrigan war eine von zwei Frauen, die diese Kirche regelmäßig betreuen, Marilyn Madden dagegen ist offenbar kurzfristig eingesprungen. Wir müssen morgen mal im Büro der Diözese nachfragen, wer dort die Einteilung für die Messen vornimmt und alles koordiniert. Das würde ich übernehmen.«
Rory nickte zustimmend.
»Apropos katholische Kirche – wie war denn Belfast?«
Er zuckte kaum merklich zusammen. »Schön! Eine wirklich schöne Stadt, wenn du mich fragst. Hat Flair und die Menschen sind auch in Ordnung. Und wenn du es genauer wissen willst und auch nicht weitererzählst, verrate ich dir sogar, dass ich Belfast fast angenehmer als Dublin finde. Es ist kompakter und das gefällt mir.«
»Ach was?« Grace verschränkte ihre Arme. »Zu meiner Zeit fuhr man noch nicht nach Belfast. Ich kenne es leider gar nicht. Muss ich unbedingt ändern.«
»Zu deiner Zeit? Granny Grace …« Rory schmunzelte. »Ich weiß, was du meinst. Dabei bist du gerade mal Mitte dreißig. Aber du und Belfast, ihr könntet glatt noch ein Paar werden.«
»Willst du mich loswerden?« Grace lächelte ihn an.
Rory warf theatralisch beide Arme in die Luft. »Gott bewahre! Ein Glück, dass du hier in der allerschönsten irischen Stadt gelandet bist. Ich glaube, das Risiko ist gering, dass du uns abhandenkommst. Aber lass uns weiter überlegen. Was haben wir noch an Schnittmengen?«
Grace runzelte die Stirn. »Father Duffy natürlich.«
»Father Duffy? Der ist doch für Sacred Heart zuständig, oder?«
»Stimmt. In St. Bridget sollte eigentlich ein anderer Priester die Totenmesse halten.« Sie warf einen Blick auf ihr Pad und scrollte kurz nach unten. »Father Griffin. Aber der hat sich den Arm oder das Bein gebrochen und liegt jetzt im Krankenhaus. Father Duffy ist kurzfristig für ihn eingesprungen.«
»Genau wie Marilyn Madden. War sonst noch jemand dort?«
Grace konsultierte wieder ihr Pad. »Ja, da gibt es noch einen Kantor, oder wie nennt man den, der die Orgel spielt? Also, einen Organisten namens Liam O’Flaherty. Den muss ich noch verhören. Ich wollte nachher zu ihm rausfahren.«
»Liam aus Roundstone? Der mit den Büchern?«
Grace nickte. Sie hatte ihr Pad in die Hülle gesteckt und war aufgestanden.
Rory erhob sich ebenfalls. »Ich war mit seinem jüngeren Bruder Fintan in derselben Schule. Gehst du zu Liam in den Laden?«
Die Kommissarin nickte und zog sich ihren roten flauschigen Mantel an.
»Toller Laden, der ist wie Kennys hier in Galway früher. Kleiner, klar, aber das gleiche Tohuwabohu. Tausende von Büchern, und keiner wusste, was wo zu finden ist, außer Kenny und seine Frau.«
Rory versank einen Augenblick verzückt in Erinnerungen an einen der originellsten Buchläden, der weit über Irland hinaus bekannt war. Er gehörte wie so vieles der Vergangenheit an.
Dann hielt Rory seiner Chefin die Tür auf. »Und was ist mit Father Duffy? Ist der interessant für uns?«
Grace klang unsicher. »Keine Ahnung, Rory. Ich möchte, dass du ihn noch mal verhörst, am besten bei ihm zu Hause.«
»Gut, dann kann ich ihn gleich mal fragen, wer unter seinem Namen in Belfast sein Unwesen treibt. Und zwar so heftig, dass er Mollys protestantische Schwiegereltern in spe in Angst und Schrecken versetzt …« Rory gluckste.
Grace starrte ihn ungläubig an. Dann erzählte er ihr schmunzelnd, wie Georges Mutter das Tablett mit dem Sonntagsporzellan beim Namen »Father Duffy« auf den Teppich gekippt war. Reiner Zufall natürlich, aber lustig – bis auf den bedauerlichen Verlust des Geschirrs.
»Molly ist mit einem militanten Protestanten zusammen?«
Rory schüttelte vehement den Kopf. »Nein, George stammt zwar aus einer pro-britischen Familie, aber wer ist das nicht in der Shankill?«
»In der Shankill?«
Ihre dunkle Stimme klang unnatürlich hoch. Grace hielt Rory zwar für einen liberalen Menschen, der sich nicht viel um Politik scherte, aber so viel Toleranz hätte sie dennoch nicht erwartet.
»Keine Sorge, George und seine Eltern haben ganz vernünftige Ansichten, die auf der Höhe unserer Zeit sind, und eine Diskussion über die spätmittelalterlichen Glaubenskriege ist nicht ihr Ding. Das mit dem kleinen Bruder war ihnen richtig unangenehm. Wirklich nette Leute waren das und sehr vernünftiges Essen für Briten.«
Inzwischen waren sie auf dem Parkplatz angelangt. Ein Bindfadenregen hatte eingesetzt. Rory hielt seine Hand zum Gruß an die Stirn und Grace wollte schon zu ihrem Wagen rennen, um sich auf den Weg nach Roundstone zu machen, als sie noch einmal kurz innehielt.
»Was war denn mit dem kleinen Bruder?«
Rory verdrehte die Augen. »Ach, nichts Besonderes, es ist immer der kleine Bruder, nicht wahr? Eigentlich nichts Ungewöhnliches, wenn man weiß, wo es herkommt. Molly hat es uns später gebeichtet, als Kitty sie in die Mangel nahm. Billy junior, er muss um die siebzehn sein, schwieriges Alter, wie man weiß … Er wollte einfach nicht mit uns am Tisch sitzen, weil wir katholische Iren aus der Republik sind.«
»Und das hat euch nicht verletzt?«
Rory schaute überrascht. »Och nein, Grace. So was schnappen die Jugendlichen eben manchmal noch auf und machen ein großes Ding draus. Immer weniger, Gott sei Dank. Seine Eltern und vor allem der große Bruder leben ihm was anderes vor und irgendwann wird Billy schon merken, wie viel Lebensfreude man auch ohne den Glauben der Vorväter haben kann.«
Grace schaute ihn nachdenklich an. »Von welchem Glauben sprichst du?«
Rory zögerte einen Moment und wurde dann ernst. »Dass das, was uns trennt, stärker und wichtiger ist als das, was uns eint, zum Beispiel. Und dass man dafür töten muss. Von diesem Glauben oder besser Irrglauben rede ich. Aber wenn man schon etwas glauben will, dann doch besser, dass das nicht Gottes Wille sein kann, egal ob man nun katholisch oder protestantisch ist. Gott riecht nur nach sich selbst, sag ich doch. – Ich fahre jetzt zur Kirche und schau mir den Tatort an.«
Liam O’Flahertys winzige Buchhandlung lag neben einem altmodischen Friseur ganz oben in der einzigen Straße von Roundstone, die vom Hafen hoch auf die Klippen führte. Grace rannte im strömenden Regen zum Laden und riss die Tür auf.
Der Buchhändler schaute nur kurz von seinem kleinen Schreibtisch in der hintersten Ecke des vollgepackten Ladens auf, als Grace die Tür hinter sich schloss und da- mit eine winzige silberne Glocke zum Läuten brachte. Das kleine Ding war mit einer interessanten Konstruktion aus verschiedenen Fäden, die an der Decke verliefen, über der Tür angebracht.
Grace lächelte über den hellen Klang und ließ ihren Blick über die Regale aus warmem Nussbaumholz gleiten, die bis zur Decke reichten und unzählige Bücher enthielten. Auf dem Boden lagen alte, an manchen Stellen abgewetzte Teppiche, die einmal von guter Qualität gewesen sein mussten, da sie immer noch trotz der Fadenscheinigkeit zu leuchten vermochten. Der Raum wurde durch einzelne Pfeiler unterteilt, an denen Stiche und gemalte Bilder hingen. Hinter dem Schreibtisch war eine schwarz gelackte Tür mit einem silbernen Knauf. Der Buchladen wirkte wie ein Bazar aus Tausendundeiner Nacht, nur nicht mit kostbaren Stoffen und Materialien, sondern wie eine Schatzkiste für Büchersammler und Kunstfreunde. Grace musste sofort an ihren Bruder Dara denken, dem es hier sicher gefallen hätte.
»Mr O’Flaherty?«
Der Raum hatte einen ganz besonderen Geruch, stellte sie fest, und sie reckte die Nase, um zu schnuppern. Leder, Staub und noch etwas anderes.
Grace merkte, dass sie beobachtet wurde, und ging langsam in den hinteren Teil des Ladens, der nur von einer altmodischen Tischlampe mit farbigen Metallschirmen in Form von Tüten aus den fünfziger Jahren erhellt wurde. Hier saß der Buchhändler an seinem Schreibtisch.