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Um ihr Volk zu retten, gibt die stolze Roa ihre Freiheit auf und heiratet den jungen Drachenkönig Dax. Obwohl sie einem anderen versprochen war. Und obwohl sie Dax für den Tod ihrer Zwillingsschwester Essie verantwortlich macht. Nur als Königin kann sie ihrem Volk Frieden bringen.
Doch dann entwickelt sie tatsächlich Gefühle für Dax. Bis sie von den Feinden des Drachenthrons ein unglaubliches Angebot erhält: das Leben ihrer Schwester für den Tod des Königs. Wie wird Roa sich entscheiden?
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Das Buch
Ohne Roas Mut und Klugheit und ihre Krieger aus dem Buschland hätte Dax, der Erbe des Drachenthrons, seinen grausamen Vater nie stürzen können. Um endgültigen Frieden zwischen den Völkern zu stiften, heiraten die beiden. Obwohl Roa einem anderen versprochen war und Dax scheinbar allen Mädchen hinterherschaut. Bereits auf dem gefährlichen Weg in die Hauptstadt Firgaard kommt es zum ersten Streit zwischen den beiden. Und auch von außen drohen Gefahren: Der junge König muss um das Leben seiner Schwester Asha, der geflüchteten Iskari, kämpfen. Und Feinde am Hof nehmen augenblicklich die fremde neue Königin ins Visier. Sie kennen dank Roas früherem Verlobten ihre Schwachstelle: ihre Zwillingsschwester Essie, deren Seele seit ihrem Tod in einem weißen Falken gefangen ist, der Roa überallhin begleitet.
Gerade als sich Roa Dax öffnet und sich in den charmanten Jungen mit den dunklen Locken verliebt, erhält sie ein ebenso unwiderstehliches wie lebensgefährliches Angebot: Wenn sie den jungen Drachenkönig tötet, kehrt Essie ins Leben zurück …
Die Autorin
Kristen Ciccarelli wuchs in einer großen kanadisch-slowenischen Familie auf. Die weitläufigen Wälder der Niagara-Halbinsel waren der Abenteuerspielplatz ihrer Kindheit. Heute erinnert sie sich in ihren Geschichten an die Wildnis der Natur und lässt ihre Helden gegen gefährliche Drachen kämpfen. ISKARI – DIEGEFANGENEKÖNIGIN ist der zweite Teil ihrer großen Fantasy-Trilogie, die sich auf Anhieb in elf Länder verkaufte.
Lieferbare Titel
Iskari – Der Sturm naht
Kristen Ciccarelli
ISKARI
Die gefangene Königin
Roman
Aus dem Amerikanischen von Astrid Finke
Die Originalausgabe erscheint unter dem Titel Iskari 2 – The Caged Queenbei HarperTeen, einem Imprint von HarperCollins PublishersDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Copyright © 2018 by Kristen Ciccarelli
Copyright © 2018 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle Rechte sind vorbehalten.
Redaktion: Dr. Uta Dahnke
Ornamente im Innenteil: © Shutterstock/Anna Poguliaeva
Umschlaggestaltung: © Das Illustrat GbR, München, unter Verwendung von Motiven von © www.ervinusman.co.uk /Getty Images und © Potapov Alexander/Shutterstock
Karte: © Elsa Kroese
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN 978-3-641-20807-3V001www.heyne-fliegt.de
Für Ferra’ol, Baldhina und Grace: drei helle Hoffnungsschimmer.
Verhaltensregeln für die Losgabe
Lösch alle Lichter.
Verriegle die Türen.
Wenn du weinen musst, such dir einen Quell fließenden Wassers, um das Geräusch zu übertönen.
Lass dein Brot verbrennen. Lass deinen Wein sauer werden. Vertausche Zucker und Salz.
Verlass das Haus nicht nach Sonnenuntergang.
Maskiere dein Gesicht, damit du nicht erkannt wirst.
Auch wenn du Angst haben magst, lass los.
Das Messer der Himmelsweberin
Es war einmal ein Mann namens Sunder, der sein Leben liebte. Jeden Tag stand er im Morgengrauen auf und lief auf seine Felder hinaus. Er bestaunte den Regen, der seine Feldfrüchte nährte, und die Sonne, die sie wachsen ließ. Er freute sich über die Kraft seiner eigenen zwei Hände. Die pflanzten und droschen und sein Haus bauten. Die sein Kind in den Schlaf wiegten.
Sunder liebte sein Leben so sehr, dass er sich versteckte, als der Tod ihn holen wollte.
Der Tod suchte in Sunders Haus und konnte ihn nicht finden.
Der Tod rief über die Felder, doch Sunder kam nicht.
Also gab der Tod auf und nahm an seiner statt jemand anderen.
Als Sunder aus seinem Versteck kroch, lachte er über seine eigene Schlauheit. Fröhlich pfeifend, spazierte er nach Hause. Doch als er sich seinem Haus näherte, erschreckte ihn ein Geräusch.
Jemand wehklagte.
Sunder öffnete die Tür und sah seine Frau auf dem Küchenboden knien, ihr Kind an die Brust gepresst. Als Sunder neben ihr auf die Knie fiel, stellte er fest, dass die Augen seiner kleinen Tochter leblos waren, ihr Körperchen kalt.
Sunder verfluchte seine Schläue. Er weinte und raufte sich die Haare.
Von jenem Tag an stand Sunder nicht mehr im Morgengrauen auf. Bestaunte nicht mehr den Regen oder die Sonne. Und wenn er sich in dem Haus umsah, das er gebaut hatte, sah er nur, was er verloren hatte.
Er flehte den Tod an, ihm seine Tochter zurückzugeben. Doch das konnte der Tod nicht. Ihre Seele war bei der Himmelsweberin.
Also brach Sunder auf, um es wiedergutzumachen.
Er fand die Göttin der Seelen an ihrem Webstuhl. Die Kette ihrer Webarbeit bestand aus den Träumen der Lebenden, der Schuss aus den Erinnerungen der Toten. Als sie hörte, wie Sunder sich näherte, verharrte das Schiffchen der Himmelsweberin. Sie ließ die Arbeit ruhen.
Sunder fiel auf die Knie, und er flehte sie an.
»Worum du mich bittest, hat einen Preis«, sagte sie.
»Was es auch sei, ich zahle ihn.«
Die Himmelsweberin erhob sich. »Deine Seele ist es, die du mir schuldest. Dein Tod, um den du mich betrogen hast.«
Sunder schloss die Augen und dachte an den Regen, der seine Feldfrüchte nährte, und an die Sonne, die sie wachsen ließ, und an die Kraft seiner eigenen zwei Hände.
»Ich kann die Seele deiner Tochter zurückgeben. Ich kann ihr Leben zurückgeben.« Die Himmelsweberin nahm ihr Messer. »Aber nur du kannst den Preis dafür zahlen.«
Sunder blickte zu der gesichtslosen Göttin auf und sagte: »Dann nimm sie.«
Also hob die Himmelsweberin ihr Messer – und durchtrennte die Verankerung seiner Seele.
Eins
Ihre Schwester hatte gesagt, es werde ein Jahr dauern, eine Armee aufzustellen, den Tyrannen zu stürzen und den neuen König zu heiraten.
Roa hatte es in nur drei Monaten geschafft.
Und nun saß sie hier an dem auf Hochglanz polierten Akazientisch im kleinsten Pavillon ihres Elternhauses. Die Luft roch rauchig süß vom Herdfeuer, und Essie hockte auf ihrer Schulter, krümmte und lockerte abwechselnd ihre Krallen, während Roa ungeduldig mit ihren nackten Füßen wippte.
Fünf Tage Friedensverhandlungen setzten beiden allmählich zu.
Die Waffen aller anwesenden Männer und Frauen – lange und kurze Dolche, elegant geschnitzte Streitkolben, schimmernde Säbel – türmten sich in der Mitte des Tischs, gerade so außer Reichweite, als Zeichen des Vertrauens. Nur drei Stühle waren leer. Sie gehörten den Vertretern des Hauses des Himmels, und sie waren schon die ganze Woche frei geblieben, worüber allerdings niemand sprach. Am wenigsten Roa.
Jetzt starrte sie den freien Stuhl zu ihrer Linken an und stellte sich den jungen Mann vor, dessen angestammter Platz das war. Kräftige Schultern. Weizengoldene Augen. Dunkelbraunes, aus dem attraktiven Gesicht zurückgenommenes Haar.
Theo, Erbe des Hauses des Himmels.
Roas ehemaliger Verlobter.
Er war schon immer stur. Essies Gedanken durchdrangen Roas Geist, während ihre Klauen sich in ihre Haut bohrten. Aber so stur noch nie.
Roa strich über den zarten Flügel des weißen Falken auf ihrer Schulter. Hell und warm spürte sie in ihrem Inneren das unsichtbare Band zwischen ihnen, das Essie das Summen nannte.
Ich habe ihn hintergangen, dachte Roa. Mich würde es nicht überraschen, wenn er nie wieder mit mir spricht.
Plötzlich wurde ihre stumme Unterhaltung von einem Schnarchen unterbrochen.
Die neue Königin und ihr Falke wandten sich abrupt von Theos Stuhl ab und dem jungen Mann neben Roa zu. Das goldene Nachmittagslicht strömte durch die Fenster herein und leuchtete auf seinen widerspenstigen braunen Locken. Er hatte den Ellbogen auf den Tisch und das Kinn auf die Faust gestützt, und die langen schwarzen Wimpern flatterten sacht auf seinen Wangen.
Das war der Drachenkönig. Eingeschlafen bei wichtigen Vertragsverhandlungen.
Dieser … Nichtsnutz war der Mensch, für den Roa alles aufgegeben hatte.
Beim Klang seines Schnarchens schnaubte sie innerlich vor Wut und betrachtete das um den Tisch versammelte Dutzend Männer und Frauen, allesamt Vertreter der Großen Häuser des Buschlands.
Sie betete, dass sie das Schnarchen nicht bemerkten.
Doch es war ein sinnloses Beten. Natürlich bemerkten sie es. Dax war schon die ganze Woche über bei den Vertragsverhandlungen eingeschlafen und hatte dadurch allen die Wahrheit enthüllt: Ihm war es egal, dass die Sanktionen seines Vaters noch nicht aufgehoben waren und dass Roas Volk immer noch Hunger litt.
Solche Dinge interessierten Dax nicht.
Weshalb Roa hier war. Sie hatte darauf bestanden, das Sandmeer zu durchqueren und persönlich ein offizielles Dokument aufzusetzen. Hätte er erst einen Vertrag unterzeichnet, könnte Dax seine Versprechen nicht einfach brechen. Jedenfalls nicht ohne Konsequenzen.
Weshalb sie alle hier waren, in Roas Elternhaus, die Köpfe über eine Schriftrolle gebeugt.
Roa sah an dem schlafenden König und an dem Waffenberg vorbei und stellte fest, dass ihr Vater sie musterte. Inzwischen, mit fast fünfzig, hatte er graue Strähnen im schwarzen lockigen Haar, und er wirkte dünner und müder als in ihrer Erinnerung. War das möglich? In den gerade einmal zwei Monaten ihrer Abwesenheit? Seine vorn am Halsausschnitt geschlitzte Baumwolltunika war mit dem Muster des Hauses der Lieder geschmückt. Sie glich Roas eigener Kleidung.
Eine richtige Drachenkönigin hätte einen Kaftan in einer kräftigen Farbe getragen, fein bestickte Pantoffeln und einen Goldreif auf dem Kopf. Doch Roa war zuallererst Buschländerin. Sie trug ein von ihrer Mutter genähtes ungefärbtes Leinenkleid und eine Kette aus hellblauen Beryllperlen.
Ihr Vater sah ihr in die Augen und dann kurz zu dem jungen Mann, der neben ihr schnarchte. Sein Gesichtsausdruck war unverkennbar.
Er bemitleidete sie.
Roas Magen zog sich so fest zusammen wie eine Faust.
Sie wollte sich nicht bemitleiden lassen. Ganz bestimmt nicht von ihrem eigenen Vater.
Unter dem Tisch rammte Roa ihrem neuen Ehemann den Ellbogen in die Rippen. Überrascht von der Bewegung, breitete Essie die Flügel aus, um das Gleichgewicht zu halten. Dax schreckte hoch, riss die Augen auf und stieß ein leises Uff! aus. Doch statt sich aufzusetzen und sich zu konzentrieren, statt irgendein Anzeichen von Reue zu zeigen, gähnte er laut und streckte sich, wodurch er erst recht alle darauf aufmerksam machte, dass er geschlafen hatte.
Als sollten alle wissen, wie wenig ihn das kümmerte.
Weitere Männer und Frauen am Tisch warfen Roa Blicke zu. Als sie von einem zum anderen sah, wandte ein jeder von ihnen das Gesicht ab. Als fühlten sie sich, stellvertretend für Roa, gedemütigt.
Dies waren die Leute, die ihr vertraut hatten, als sie um eine Armee bat, um Dax beim Sturz seines Vaters zu helfen. Und jetzt beobachteten sie Roa mit Scham in den Augen.
Tochter des Hauses der Lieder, konnte sie alle um sich herum denken hören, was hast du nur getan?
Ihre Blicke fühlten sich sengend heiß an, und Roa krallte die Finger in den Stoff ihres Leinenkleids. Sie konnte es kaum erwarten, dass diese Versammlung vorbei war. Noch war allerdings die Schriftrolle nicht von allen unterzeichnet.
Wieder gähnte Dax.
»Langweilen wir dich, mein König?« Sie bemühte sich nicht einmal, ihre Bitterkeit zu verbergen.
»Aber nicht doch.« Seine Aufmerksamkeit wurde von etwas auf der anderen Seite des Tisches angezogen. »Letzte Nacht hab ich nicht so viel geschlafen.«
Rastlos verlagerte Essie ihr Gewicht von einer Klaue auf die andere, während Roa Dax’ Blick folgte: zu der jungen Frau, die gerade den Pavillon betreten hatte. Es war Roas Cousine Sara mit einem Tablett, das sie auf der Hüfte abgestützt hatte. Ihr langes Haar war zu einem Knoten gedreht und mit einem Elfenbeinkamm befestigt. An den Handgelenken baumelten drei Armbänder aus schimmernden weißen Meeresschneckenhäusern.
Während Sara die Becher mit kaltem Tee abräumte, lächelte sie strahlend unter dem Blick des Königs.
Widerstrebend erinnerte Roa sich an den vergangenen Abend. Nach einer Trinkspiel-Runde mit ihrem Bruder und ihren Cousins hatte Dax unverhohlen den Frauen ihres Haushalts schöne Augen gemacht, unter ihnen Sara. Auch daran musste sie sich noch gewöhnen: Dax’ Flirterei.
Roa war ziemlich sicher, dass er selbst mit einem Drachen flirten würde, wenn er betrunken genug wäre.
Sie wandte sich vom König und ihrer Cousine ab. Das Lächeln, das die beiden einander zuwarfen, wollte sie nicht sehen. Sie wollte nicht sehen, wie weit das Spiel gegangen war.
Doch es gab nur zwei andere Stellen, auf die sie ihren Blick richten konnte: die peinlich berührten Mienen der Vertreter der anderen Häuser oder den leeren Stuhl.
Beides gleichermaßen unerträglich.
Letzten Endes entschied Roa sich für die Folge ihres gebrochenen Versprechens. Unverwandt starrte sie zu Theos Stuhl, als säße er darauf und erwiderte ihren Blick.
Manchmal gestattete sie sich, darüber nachzudenken, wie ihr Leben wäre, wenn sie ihr Versprechen gehalten hätte. Mit Sicherheit würde dann jetzt kein König im Hause ihres Vaters mit ihren Cousinen flirten und sie vor den Menschen, die sie am meisten liebte, demütigen.
Und niemand würde das Buschland beschützen, erklang Essies Stimme in ihrem Kopf. Liebevoll drückten ihre Krallen Roas Schulter. Dax’ Vater hätte uns ausgesaugt.
Natürlich hatte Essie recht.
Du hast getan, was du tun musstest, sagte Essie und strich mit ihrem gefiederten Kopf über Roas Wange. Das wissen alle hier.
Es stimmte, Roa hatte es für alle Buschländer getan, einschließlich Theo. Kein König Firgaards durfte sich jemals wieder von ihnen nehmen, was er wollte. Er hatte bereits genug genommen.
Roa sah Dax an und streichelte dabei Essies weiches Gefieder. Als dem König die Schriftrolle vorgelegt wurde, unterschrieb er, nahm eine Prise Sand aus der Schale vor sich und streute ihn über die feuchte Tinte. Dann blies er ihn fort, rollte den Vertrag zusammen und reichte ihn Roa.
Die Erleichterung im Raum war greifbar. Jetzt war der König an seine Versprechen gebunden. Sie waren endlich von Firgaards Tyrannei befreit.
Stimmen wurden laut. Nun, da es vorbei war, wurde ungezwungen geredet und gelacht.
Als ein Krug Wein gebracht wurde, runzelte Roa die Stirn. Es war Jahre her, dass ihr Vater seinen Gästen Wein aufgetischt hatte. Nur wenige Menschen im Buschland konnten ihn sich noch leisten. Sie fragte sich, worauf ihre Familie in diesem Monat verzichten würde, um diesen Luxus auszugleichen.
Selbstvergessen goss Dax den Wein in zwei rote Tonbecher und legte dann träge den Arm auf Roas Stuhllehne. Erschrocken flog Essie von ihrer Schulter auf.
Roa, die so an die Nähe ihrer in dieser Gestalt gefangenen Schwester gewöhnt war und deren Schultern nach acht Jahren des Kontakts mit den Krallen des weißen Falken von winzigen Narben gezeichnet waren, wurde sofort kalt.
Mit einem vollen Becher in der ausgestreckten Hand lehnte Dax sich zu ihr herüber.
»Auf den Frieden«, sagte er leise. Sein Pfefferminzgeruch hüllte sie ein.
Roa wagte nicht, ihn anzusehen. Sie kannte den Zauber, den diese warmen braunen Augen auf andere Menschen ausüben konnten. Die Verheißungen dieser geschwungenen Lippen. Sie hatte schon oft genug erlebt, wie Mädchen Dax’ Charme verfielen, um zu wissen, dass sie sich davor schützen musste.
Also blickte sie stattdessen auf seinen Hals, beobachtete das stetige Pochen seines Pulses. Sie nahm den Becher entgegen. »Auf Könige, die ihre Versprechen halten.«
Ihr Blick huschte zu seinen Augen. Einen winzigen Moment lang glaubte sie, Erheiterung darin zu erkennen. Doch dann war selbige fort, versteckt hinter einem kühlen Lächeln.
Sie hasste dieses Lächeln. Hasste die Wirkung, die es auf sie hatte.
Rasch stellte Roa den Becher ab und stand auf.
»Wenn wir hier fertig sind«, sagte sie und sah ihren Vater an, während sie in den Waffenhaufen griff, »musst du mich jetzt bitte entschuldigen. Ich muss weg.«
Ohne seine Antwort abzuwarten, nahm sie ihre Sichel vom Tisch, drehte sich um und verließ den Raum durch die offene Tür, sah nicht zurück.
Essie folgte ihr.
In vollem Galopp ritt Roa über die Grenze des Hauses der Lieder. Poppys Hufe trommelten auf die heiße, rissige Erde, trugen sie immer weiter von ihrem Elternhaus fort. Fort von dem Kind-König.
Es war, als wäre die weite Welt, die Roa einst gekannt hatte – so weit wie der Abendhimmel über ihr – , zu einem Gefängnis geworden. Es mochte ja sein, dass sie willentlich in dieses Gefängnis marschiert war, aber die Fesseln scheuerten dennoch.
Auf halbem Wege zu ihrem Ziel spürte Roa, wie das vertraute Summen in ihr aufflackerte. Instinktiv blickte sie auf und entdeckte den weißen Falken über ihrem Kopf.
Essie.
Selbst aus so großer Entfernung konnte Roa die Beklommenheit ihrer Schwester spüren.
Wo willst du hin?, rief ihre Schwester. Du verpasst noch dieNachlese.
Poppy wurde langsamer, als Roa sich im Sattel zurücklehnte. Roa hatte vergessen, dass heute die Nachlese stattfand. Einmal pro Woche kochte das Haus der Lieder für jene, die Firgaards Sanktionen am schwersten getroffen hatten. An diesen Abenden wimmelte das Haus immer von Leuten. Die Ärmsten durften essen und alles, was übrig blieb, mit nach Hause nehmen.
Du solltest dabei sein. Immer noch bemühte Essie sich, sie einzuholen. Du gibst ihnen Hoffnung, Roa.
Aber zurückzureiten hieße, Dax gegenüberzutreten. Es hieße, ihm dabei zuzusehen, wie er den Wein ihres Vaters trank und mit sämtlichen Mädchen im Haushalt flirtete.
Roa biss die Zähne zusammen.
Seit Tagen habe ich jetzt brav neben ihm gesessen. Ihre Gedanken brannten sich in den Geist ihrer Zwillingsschwester. Wenn ich noch eine Sekunde länger bei ihm sein muss, dann … Sie packte die Zügel fester. Dann mache ich alles rückgängig.
Das konnte sie. Die Ehe war bisher nicht vollzogen. Was bedeutete, sie konnte noch annulliert werden.
Und wer beschützt uns dann?, entgegnete Essie.
Genau darum ging es. Das war die Entscheidung, die sie getroffen hatte. Roa hatte für die Sicherheit ihres Volkes zu sorgen.
Sie hatte gedacht, es wäre leichter, ihre Freiheit im Gegenzug für den Schutz des Buschlands aufzugeben. Ihr war nicht klar gewesen, dass es sie so viel mehr als lediglich ihre Freiheit kosten würde.
Die Stimme ihrer Schwester wurde weich und leise: Roa, du musst vorsichtiger sein. Deine ständige Abwesenheit fällt langsam auf.
Seit ihrer Ankunft vor sechs Tagen war Roa jeden Abend weggeritten.
Und wenn schon, dachte sie und trieb Poppy wieder zum Galopp an.
Vor ihr wurde die rotbraune Erde von einem grünen Wäldchen abgelöst. Roa hielt direkt auf den versteckten Pfad durch die Akazien zu. Sie gelangten nun auf das Land des Hauses des Schattens, wo einst das fünfte Große Haus gestanden hatte und dann verfallen war.
Der Missmut ihrer Schwester durchfuhr sie wie ein scharfer Stich. Roa kümmerte sich nicht darum.
Roa. Essies Stimme klang abgehackt, weil sie mitzuhalten versuchte. Ihre eleganten weißen Flügel kämpften gegen den Wind, der sie immer wieder zurückwarf. Du kannst nicht einfach weglaufen!
Ich bin die Königin.Ich kann tun, was ich will.
Du benimmst dich nicht wie eine Königin. Immer schwächer wurden Essies Gedanken. Sondern wie ein … ängstliches … selbstsüchtiges Kind.
Das tat weh.
Zur Antwort sandte Roa ein kaltes Stechen zu der Vogelgestalt ihrer Schwester empor, und Essie erwiderte das Gefühl, nur heftiger.
Unmittelbar bevor Poppy zwischen die Bäume trat, kreischte der weiße Falke. Roa spürte ein schmerzhaftes Ziehen und zügelte stirnrunzelnd ihr Pferd. Sie sah über die Schulter zu Essie, einem weißen Punkt am karneolfarbenen Himmel, vom Wind geschüttelt.
Ein zweites, stärkeres Ziehen. Roa schnappte nach Luft. Sie umklammerte Poppys Zügel mit beiden Händen und schickte ihre Gedanken in den Kopf ihrer Schwester. Falls du mir wehtun willst: Es funktioniert.
Essie blieb stumm.
Roa hatte geglaubt, Essie würde sie verstehen. Sie wusste doch besser als jeder andere, wie es war, eingesperrt zu sein. Aber genau wie Roas Freundin Lirabel schien ihre Schwester inzwischen immer öfter für Dax Partei zu ergreifen. Als würde sein lächerlicher Charme auch bei ihnen verfangen.
Essie würde sie schon wiederfinden. Sie fand Roa immer. Das Summen war klar und stark und hielt ihre Verbindung aufrecht. Roa konnte ihre Schwester immer spüren, konnte die Gestalt, die ihre Seele barg, wahrnehmen. Selbst wenn eine Wüste zwischen ihnen lag.
Roa erreichte die Stelle im Wald, an der Jakarandabäume wuchsen. Ihre den Boden dicht bedeckenden violetten Blütenblätter waren schöner als jeder Palastteppich. Roa atmete ihren süßen Duft ein, während Poppy auf den Eingang des Hauses des Schattens zulief.
Verdorben nannte man diesen Ort. Ein Mann war hier gestorben, vor langer Zeit, und seine Angehörigen hatten nicht die entsprechenden Riten vollzogen. Sie hatten die Verbindung zwischen den Lebenden und dem Toten nicht zerschnitten. Und so war am Abend der Losgabe, der längsten Nacht des Jahres, die Seele des Mannes verdorben, und er hatte seinen gesamten Haushalt niedergemetzelt.
So zumindest lautete die Geschichte.
Verdorbene Seelen waren gefährlich. Eben deswegen mussten die Verhaltensregeln für die Losgabe eingehalten werden.
Doch selbst wenn die Geschichte stimmte, war die Seele des Mannes inzwischen längst fort.
Nachdem Roa abgestiegen war und Poppy an einem Ast angebunden hatte, betrat sie durch den zerbröckelten Eingang die Ruine. Sie dachte an den leeren Stuhl; es war eine unverhohlene Kränkung gewesen. Aber Theo war zuerst gekränkt worden. Das Haus des Himmels hatte als einziges dagegen gestimmt, dass Roa Dax bei seinem Aufstand half. Und im Buschland war ein einstimmiges Ergebnis erforderlich, sonst durfte niemand mit einer Armee durch das Sandmeer marschieren. Roa hatte Buschlandrecht gebrochen, um zu tun, was sie getan hatte.
Und dann hatte sie Theo das Herz gebrochen.
Roa sah in jedem der verfallenen Räume nach. Alle waren leer. Sie drehte noch eine Runde.
Er ist nicht gekommen. Ihr wurde schwer ums Herz.
Theo hatte nicht gewollt, dass sie Dax half. Er hatte ihr gesagt, wenn sie ginge, käme sie nie zurück.
Du hattest unrecht, dachte sie jetzt. Ich bin zurückgekommen.
Denn sie war doch hier, oder? Schon den fünften Abend in Folge wartete sie hier in der Ruine, ihrem früheren Treffpunkt, auf ihn.
Und den fünften Abend in Folge kam er nicht. Weil Roa Dax geheiratet hatte. Weil Roa nun Königin war.
Es war zu spät für sie und Theo.
Während der Wind in den Wipfeln rauschte, kletterte sie auf eine Fensterbank in einer halb eingestürzten Wand. Sie lehnte sich an den kühlen, staubigen Stein und schlug die Hände vors Gesicht.
Du bist jetzt Königin, sagte sie sich. Königinnen weinen nicht.
So etwas würde Essie sagen. Wenn sie hier wäre.
Während sie auf die Ankunft ihrer Schwester wartete, dachte Roa an die Scham im Blick ihres Vaters. In den Blicken aller.
Vielleicht war es besser so. Sie war nicht sicher, ob sie es ertragen könnte, sie auch in Theos Augen zu erkennen. Als einige Zeit verstrichen war und Essie sich immer noch nicht zeigte, sah Roa hinauf in die Baumkronen. Zu dem Fleckchen sich verdunkelnden Himmels darüber.
Instinktiv fand sie Essies zwei Lieblingssterne. Zwillingssterne nannte sie die gern. Die Geschichten, die sie besonders gern hörte, waren die über die Himmelsweberin, eine Göttin, die Seelen zu Sternen spann und in den Himmel einwebte.
Roa stellte sich vor, wie die Himmelsweberin Essies Seele zu einem Stern spann und ihn dort oben hinsetzte, ganz allein, ohne Roa.
Ein Gefühl der Kälte breitete sich in ihrem Bauch aus.
Warum brauchte ihre Schwester so lange?
Roa suchte in ihrem Inneren nach dem normalerweise klaren Summen. Selbst vor Essies Unfall war es immer da gewesen, warm und hell in ihnen beiden.
Dieses Mal allerdings empfand sie es nur als dumpf und kraftlos. Wie einen zu schwachen Puls.
Essie?
Keine Antwort.
Roa sprang von der Fensterbank und lief zurück.
»Essie?« Ihre Stimme hallte. »Wo bist du?«
Schweigen.
Roa beschleunigte ihren Schritt. Sie erinnerte sich daran, wie seltsam abgehackt die Gedanken ihrer Schwester gewesen waren. Wie weit entfernt sie gewirkt hatte.
Essie, wenn das ein Scherz sein soll, ist er nicht lustig.
Roa trat aus dem Eingang, band Poppy los, stieg hastig auf und lenkte sie zurück durch das Wäldchen. Als sie den Waldrand erreichten, war die Sonne längst untergegangen und der Himmel blauschwarz. Von einem weißen Vogel war nichts zu entdecken.
Roa legte die Hände seitlich an den Mund und rief: »Essie!«
Ihre Stimme hallte kurz wider und erstarb. Hinter ihr rauschte der Wind im Laub.
Es gab etwas, worüber die beiden Schwestern nie sprachen, als könnte es sonst dadurch erst wahr werden: Eine nicht hinübergegangene Seele konnte nicht für immer in der Welt der Lebenden bleiben. Früher oder später wurde der Ruf des Todes zu stark.
Essie widerstand seinem Ruf seit nunmehr acht Jahren.
Roa sah hinauf zu den Sternen und flüsterte: »Essie, wo bist du?«
Eine Geschichte von zwei Schwestern
Es waren einmal zwei Schwestern, geboren in der längsten Nacht des Jahres.
Dies war keine Nacht, um neues Leben zu feiern. Es war eine Nacht, um die Toten ziehen zu lassen – man nannte es die Losgabe.
Die Hebammen versuchten, die Schwestern früher zu holen. Als das nicht gelang, versuchten sie, ihre Geburt hinauszuschieben.
Doch die Mädchen, trotzig, kamen um Mitternacht.
Die meisten Neugeborenen weinen bei ihrer ersten Begegnung mit dem Leben. Die meisten kommen verängstigt auf die Welt und brauchen den Trost ihrer Mutter.
Die beiden Schwestern weinten nicht. Sie waren ganz still und hielten einander fest. Als bräuchten sie niemandes Trost – außer dem der jeweils anderen. Als gäbe es, solange sie zusammen waren, keinen Grund zur Angst.
Das aber war nicht das Seltsame.
Das Seltsame folgte später.
Ihre Mutter Desta war es, die es bemerkte: dass, wenn ein Mädchen weinte, das andere es tröstete. Und wenn beide weinten, gingen die Rosen im Garten ein. Desta war es, die bemerkte, dass, wenn ein Mädchen zornig wurde, das andere es beschwichtigte. Doch wenn beide Mädchen zornig wurden, sprangen die Fenster, und die Spiegel zerbarsten.
Als würde, wenn sie sich nur einig waren, die Welt sich ihrem Willen fügen und unterwerfen.
Wenn Desta die beiden Schwestern fragte, wer den Spiegel zerbrochen habe, antwortete die eine wie die andere: »Das waren nicht wir, Mama. Es war das Summen.«
»Das Summen?«, fragte Desta dann. »Was ist das?«
Die beiden Mädchen starrten ihre Mutter an.
»Das Warme, Helle, das einen wie eine Schnur verbindet. Habt ihr, du und Papa, keins?«
Nein. Sie und der Vater ihrer Töchter hatten keines. Doch als Desta ihrem Mann davon berichtete, tat er es als die blühende Fantasie von Kindern ab, die zu viel Zeit miteinander verbrachten. Denn die Schwestern spielten doch zusammen, lernten zusammen, schliefen zusammen, und es gab kaum einen Moment, in dem sie getrennt waren.
»Es wäre gut für sie, andere Freunde zu haben«, sagte er daher zu seiner Frau.
Desta stimmte ihm zu. Sie schrieb ihrer ältesten Freundin Amina, deren Sohn Dax im Unterricht mit jedem Jahr weiter zurückfiel. Seine Lehrer hatten ihn aufgegeben und ihn für ungelehrig und unbelehrbar erklärt, und Amina war krank vor Sorge. Desta bat ihre Freundin, ihn für den Sommer ins Haus der Lieder zu schicken.
Vielleicht wird das meine Töchter von diesem Summen befreien, dachte Desta, die es leid war, dass ihre Rosen eingingen.
Vielleicht müsste sie, wenn die beiden Mädchen andere Freunde hätten, nicht andauernd neue Spiegel kaufen.
Zwei
Niemand konnte die Verbindung zwischen Roa und Essie nachvollziehen. Vor dem Unfall fanden die Leute sie seltsam oder, schlimmer noch, beängstigend. Für Roa aber war dieses unsichtbare Band einfach immer da gewesen. Sie wusste nicht, wie sie ohne es sein sollte.
Essie war es gewesen, die es das Summen nannte, weil es sich so anfühlte: Etwas Starkes und Helles, beinahe wie ein Lied, vibrierte in ihrer beider Innerem.
Nach dem Unfall veränderte sich das Summen, und sie waren nicht mehr in der Lage, sich gegen die Gedanken, die Empfindungen und – ganz besonders – den Schmerz der jeweils anderen abzuschirmen.
Sie waren eins.
Seit mittlerweile acht Jahren war Essie in Roas Kopf und Roa in Essies.
Weshalb auch das Schweigen ihrer Schwester Roa so falsch vorkam.
Vielleicht ist sie nach Hause zurückgeflogen, dachte Roa, während Poppy in der Stille der Nacht schnaubte.
Sie richtete den Blick auf die schartige Bergkette, die sich in der Ferne erhob, ein Gipfel dunkler als der andere. Über ihr ging der Halbmond auf, flutete die Ebene mit silbrigem Licht und ließ den Schweiß auf Poppys Fell glänzen.
Hin und wieder huschten Schatten über ihren Kopf hinweg.
Drachen, das wusste Roa.
Früher einmal hatte es hier viele gegeben. Vor gar nicht allzu langer Zeit ritt Dax’ Volk auf den grimmigen Geschöpfen durch den Himmel. Doch unter der Herrschaft seiner Großmutter entzweiten sich Draksor und Drachen. Ehemalige Verbündete wurden zu erbitterten Feinden. Bis Asha, Dax’ Schwester, dem korrupten Regime ein Ende machte.
Seither kehrten die Drachen zurück.
Es war nach Mitternacht, als Roa und Poppy in den heimischen Stall trabten. Das leise Schnauben und Rascheln der anderen Pferde empfing sie. Am Ende des Tages war ausgemistet worden, und es roch nach getrocknetem Matsch und frischem Heu.
Hastig nahm Roa Poppy Sattel und Zaumzeug ab, dann lief sie zum Haus. Außer dem Feuer im Pavillon in der Mitte, das die ganze Nacht durch brannte, waren alle Lichter im Haus der Lieder gelöscht.
»Essie?«, rief sie und suchte erneut in sich nach dem normalerweise so deutlichen Summen.
Die Hunde – Nola und Nin – waren die Einzigen, die ihr antworteten, indem sie bellten, als sie sich näherte. Sobald sie Roa erkannten, sprangen sie auf sie zu und versuchten, sie zu Tode zu lecken. Roa schlüpfte an ihnen vorbei und zwischen den Warka-Bäumen hindurch ins Haus.
Drinnen war es dunkel. Roa strich mit der Hand über die staubigen Steinwände. Sie waren so anders als die weißen Mauern des Palasts in Firgaard. Roa zog die einfachen Lehmfußböden und grob gezimmerten Fenster ihres Elternhauses den aufwendigen Mosaikfliesen des Palasts vor. Sie zog den Geruch von Rauch und Akazien dem von Minze und Kalk vor.
Das hier war eine andere Welt. Es war ihre Welt. Die sie morgen würde verlassen müssen, zum zweiten und letzten Mal.
Wieder rief sie nach ihrer Schwester.
Wieder erhielt sie keine Antwort.
Essie flog nicht einfach weg, ohne Roa Bescheid zu geben. Sie waren unzertrennlich. Und morgen früh würde Roa mit dem Mann, für den sie keine Liebe empfand, durch die Wüste in eine Stadt reiten, die nicht ihre Heimat war. Sie konnte das nicht allein. Roa brauchte ihre Schwester bei sich.
Vor der Tür zu ihrem und Dax’ Zimmer bemühte sie sich, nicht in Panik zu geraten.
Sie ist nur wütend, weil ich weggelaufen bin, versuchte sie sich zu beruhigen. Sich einzureden, dass Essie am nächsten Morgen an ihrem üblichen Platz auf ihrem Kopfkissen sein würde.
Sie verdrängte ihr Unbehagen, trat ein und schloss die Tür hinter sich. Das Mondlicht fiel durch die Fenster aufs Bett.
Ein leeres Bett.
Das überraschte sie nicht. Roa mied Dax’ Bett wie eine Krankheit, und im Gegenzug suchte Dax die Betten anderer Frauen auf.
Ihre Familie wusste davon nichts. Sie kannte die in den Palastkorridoren Firgaards geflüsterten Gerüchte nicht: dass ihr Mann jede Nacht ein anderes Mädchen mit auf sein Zimmer nahm.
Normalerweise wäre es Roa egal gewesen, in wie vielen unterschiedlichen Betten Dax schlief, solange er sich von ihrem fernhielt. Das machte es leichter, mit ihm verheiratet zu sein.
Aber heute? Vielleicht lag es an der spürbaren Abwesenheit ihrer Schwester oder auch an den fünf Tagen der Demütigung durch ihn. Das leere Bett kam ihr vor wie eine Beleidigung.
Sie war hier zu Hause. Fast jedes Mädchen unter diesem Dach war mit ihr verwandt.
Am liebsten hätte Roa etwas gegen die Wand geschleudert, aber das hätte ihre Familie geweckt, die sich daraufhin erkundigt hätte, was los war. Also unterließ sie es und klappte stattdessen den mit Elfenbeineinlegearbeiten verzierten Deckel der Holztruhe am Fußende des Bettes, die ihre Mutter ihr geschenkt hatte, auf.
Rasch zog sie ihr Leinenkleid aus und ein Nachthemd an. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass das um ihre Wade geschnallte Messer – Essies Messer, das aufzubewahren Roa versprochen hatte - noch an Ort und Stelle war, begann sie, das Hemd zuzuknöpfen.
Das war der Moment, in dem sie die Stimmen im Flur hörte.
Sie waren gedämpft und leise, aber Roa erkannte, dass eine einem jungen Mann und die andere einer jungen Frau gehörte. Sie kicherten, als wären sie betrunken; dann mahnten sie einander, bloß leise zu sein, und auch wenn Roa nicht sagen konnte, wem genau die Stimmen gehörten, hatte sie so ihre Vermutung.
Sie näherten sich ihrem Zimmer.
Roa ballte die Fäuste. Fast wünschte sie sich, dass er diese Tür öffnen würde. Wünschte sich einen Grund, das Messer ihrer Schwester zu zücken und auf ihn zu warten. Doch zugleich verspürte sie, müde und unglücklich, wie sie war, den Impuls zu fliehen.
Und dem gehorchte sie.
Sie stieß das Fenster auf und kletterte auf das Sims, und ehe sie noch herausfinden konnte, mit wem Dax zusammen war, sprang sie in den Garten hinunter. Als die Tür geöffnet wurde, war sie bereits auf dem Weg zu Lirabels Zimmer.
Schon die ganze Woche schlief sie im Bett ihrer Freundin. Eine weitere Nacht spielte da auch keine Rolle mehr.
Nach Essies Unfall hatte sie sich angewöhnt, in Lirabels Bett zu steigen. Zu wissen, dass jemand neben ihr lag, dass ein anderes Herz neben ihrem schlug, tröstete Roa ein wenig.
Eines Tages würde Dax kommen, um sich zu holen, was sie ihm schuldete, das wusste Roa natürlich. Es war schwer zu verhindern. Ein König brauchte einen Thronfolger, und Roa war seine Königin. Es war ihre Pflicht, ihm einen zu schenken.
Aber nicht in dieser Nacht.
Drei
Was soll das heißen, du hast mein Zelt nicht eingepackt?«
Roa blaffte Jas an, der gerade seinem Pferd das Zaumzeug abnahm.
Am Ende des ersten Reisetages hing die Sonne tief am Himmel, und Hitzewellen stiegen aus dem goldenen Sand auf. Wegen einer in der Nähe entdeckten Drachenherde hatten sie früh Halt gemacht. Die meisten Leute sahen in der Rückkehr der Drachen zwar ein Anzeichen dafür, dass das Königreich langsam wieder gesundete, dennoch waren es gefährliche Raubtiere, denen man besser aus dem Weg ging.
»Es war kein Platz«, sagte Jas, nachdem er sein Pferd bei den anderen angebunden hatte. Zum Schutz vor der Sonne lag ein verblasstes braunes Sandtuch um Kopf und Schultern ihres Bruders, und um die Hüfte hatte er sich seine beiden Dolche geschlungen, in deren Klingen das Muster des Hauses der Lieder graviert war.
»Tut mir leid.« Er hob die Hände mit den Innenflächen nach oben. »Es ging nicht anders.«
»Und wo soll ich, bitte schön, schlafen?«
Jas wandte sich ab und betrachtete den Lagerplatz der Karawane. Roa folgte seinem Blick.
Von hier aus konnte sie Dax sehen, der gerade sein Zelt aufbaute, mit nacktem Oberkörper und allein. Der Schweiß glänzte auf seinem gebeugten Rücken, während er Pflöcke in die Erde schlug. Pflöcke, die nicht stark genug waren, um ein Zelt im Falle eines Sturms zu halten.
Darüber hatte Roa sich schon auf dem Hinweg ins Buschland mit ihm gestritten, und er hatte versprochen, vor ihrer Rückreise neue zu kaufen.
Noch ein gebrochenes Versprechen, dachte Roa jetzt. Er hatte keine neuen Zelte besorgt, genau wie er die Sanktionen gegen ihr Volk nicht aufgehoben und auch keine repräsentativere Ratsversammlung einberufen hatte.
Beides hatte er ihr vor dem Aufstand zugesagt.
Aber genau dazu ist der Vertrag da, dachte sie, um ihren Ärger zu verdrängen. Damit er sein Wort halten muss. Künftig war es nicht mehr eine reine Frage der Ehre, ob er seine Versprechen einlöste. Dafür würde sie, Roa, schon sorgen.
»Du kannst bei Dax im Zelt schlafen«, sagte Jas.
Roa wandte ihm ruckartig das Gesicht zu.
Es kam ihr wie eine List vor. Wie Verrat. Jas wusste genau, was Roa davon hielt, in Dax’ Zelt zu schlafen. Warum sagte er das?
»Ich verstehe nicht, wo das Problem liegt.« Jas’ Stimme klang gepresst. Schweißperlen bildeten sich an seinen schwarzen Locken. »Er ist doch dein Mann, oder? Solltest du nicht in seinem Zelt schlafen?« Und dann, etwas leiser, sagte er: »Es wird schon geredet.«
Roa warf ihm einen warnenden Blick zu, doch er kümmerte sich nicht darum und preschte weiter vor. »Du hast gestern Abend die Nachlese verpasst. Wo warst du?«
»Das geht dich gar nichts an.« Es war heiß unter ihrem Sandtuch. Roa wischte sich mit dem Handgelenk den Schweiß von der Stirn.
»Du bist mit dem König verheiratet, Roa. Du kannst nicht einfach abhauen und dich mit Theo treffen, wenn dir danach ist.«
Roa sah sich rasch um, aber sie waren weit weg von den anderen. Niemand hatte Jas gehört.
»Wenn du weißt, wo ich war«, brummte sie, »warum fragst du dann?«
Er gab keine Antwort. Sah nur starr geradeaus, wo Dax mittlerweile zu hämmern aufgehört hatte und aufstand, da Lirabel auf ihn zutrat. Die beiden entfernten sich ein paar Schritte von der Karawane und steckten die Köpfe zusammen.
»Außerdem ist es nicht, wie du denkst«, fuhr Roa fort. »Ich wollte mich zwar mit Theo treffen, aber er sich nicht mit mir.«
Jas’ Kopf fuhr zu ihr herum.
»Ich habe ihn seit Monaten nicht gesehen. Er beantwortet nicht mal meine Briefe.«
»Tja, ich kann es ihm nicht verdenken. Du hast ihm das Herz gebrochen.«
Roa wandte sich ab. Sie kam sich vor wie ein gescholtenes Kind.
Wieder wanderte sein Blick zu dem Mädchen, das sich mit dem König unterhielt. Roa sah sich ebenfalls zu Lirabel um. Das Bett ihrer Freundin war leer gewesen, als sie nach Mitternacht hineinkroch, und bei Sonnenaufgang war Roa immer noch allein darin gewesen.
Roa versuchte, nicht daran zu denken, warum.
Jetzt war Lirabels Haar mit einem blauen Sandtuch hochgebunden, nur ein paar schwarze Locken lugten hervor. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen. Sie wirkte irgendwie aufgewühlt. Mehr als ein Mal berührte Dax sie. Wie um sie zu trösten.
Roa schwieg und beobachtete ihren Bruder dabei, wie er Lirabel betrachtete. Sie dachte an die letzte Woche zurück und stellte fest, dass sie Jas und Lirabel nicht ein einziges Mal in einem Raum zusammen gesehen hatte. Vor ein paar Tagen, beim Abendessen, hatte Lirabel sogar abrupt das Zimmer verlassen, als Jas hereinkam. Roa hätte sich nichts dabei gedacht, wenn Lirabel nicht am nächsten Morgen beim Frühstück genauso reagiert hätte.
Es war seltsam, dass sie einander plötzlich so mieden. Sein ganzes Leben lang hatte man Jas immer in Lirabels Nähe gefunden. Er war ihr auf Schritt und Tritt gefolgt wie ein Welpe, und Lirabel hatte, da sie als Mündel in seinem Haus seinem Vater viel zu verdanken hatte, das Gefühl gehabt, ihn nicht daran hindern zu dürfen.
Jetzt, seit der Krönung, als Dax Lirabel zu seiner königlichen Gesandten ernannt hatte, war es Dax, mit dem sie all ihre Zeit verbrachte. Neben dem sie bei Konferenzen saß. Dessen Briefe sie ins Reine schrieb. Zu dem sie kam, wann immer er rief, und dessen Aufträge sie ausführte.
Und es war nicht nur Jas, zu dem Lirabel Abstand hielt. In letzter Zeit hatte sich auch eine Kluft zwischen ihr und Roa aufgetan. Eine, die breiter und breiter zu werden schien. Roa hatte keine Ahnung, wie sie entstanden war, und auch nicht, wie sie zu überbrücken war. Denn Lirabel war ständig entweder beim König oder im Buschland unterwegs. Als miede sie Roa.