Iskari - Die Himmelsweberin - Kristen Ciccarelli - E-Book

Iskari - Die Himmelsweberin E-Book

Kristen Ciccarelli

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Beschreibung

Zwei Frauen. Zwei Welten. Eine ewige Liebe. Und eine Legende, die sie alle verbindet. Die Soldatin Safira kennt ihre Aufgabe: Sie soll dem König von Firgaard helfen, den Frieden in ihrer unruhigen Nation zu wahren. Eris kennt solche Fesseln nicht. Ihre Fähigkeit, selbst den entschlossensten Verfolgern zu entkommen, hat der Diebin den Beinamen »Todestänzerin« eingebracht. Denn Eris kann sich zwischen den Welten bewegen. Doch hat man überhaupt ein Zuhause, wenn man ständig zwischen den Dimensionen wechselt? Kann es Liebe und Treue wirklich geben? Plötzlich stehen Safira und Eris – erklärte Feindinnen – vor einer gemeinsamen Mission: Sie müssen Asha, die letzte Namsara, finden. Ihre Reise führt sie von Darmoor zu den weit entfernten Sterneninseln, wo sich ihre Schicksale immer enger miteinander verweben, bis sie feststellen, dass in alten Legenden mehr Wahrheit steckt, als ihnen bewusst war. Und dass sie Welten überdauern. "Iskari - Die Himmelsweberin" ist der Abschluss der Iskari-Trilogie, kann jedoch auch als Einzelband gelesen werden.

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Seitenzahl: 454

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Kristen Ciccarelli

 

 

 

ISKARI

Die Himmelsweberin

 

 

 

 

 

Roman

 

Aus dem Englischen von Petra Huber

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Buch

Zwei Frauen. Zwei Welten. Eine ewige Liebe. Und eine Legende, die sie alle verbindet.

Die Soldatin Safira kennt ihre Aufgabe: Sie soll dem König von Firgaard helfen, den Frieden in ihrer unruhigen Nation zu wahren.

Eris kennt solche Fesseln nicht. Ihre Fähigkeit, selbst den entschlossensten Verfolgern zu entkommen, hat der Diebin den Beinamen »Todestänzerin« eingebracht. Denn Eris kann sich zwischen den Welten bewegen. Doch hat man überhaupt ein Zuhause, wenn man ständig zwischen den Dimensionen wechselt? Kann es Liebe und Treue wirklich geben?

Plötzlich stehen Safira und Eris – erklärte Feindinnen – vor einer gemeinsamen Mission: Sie müssen Asha, die letzte Namsara, finden.

Ihre Reise führt sie von Darmoor zu den weit entfernten Sterneninseln, wo sich ihre Schicksale immer enger miteinander verweben, bis sie feststellen, dass in alten Legenden mehr Wahrheit steckt, als ihnen bewusst war. Und dass sie Welten überdauern.

 

Die Autorin

Kristen Ciccarelli ist auf dem Weingut ihres Großvaters geboren und aufgewachsen. In ihrer Kindheit hat sie die Weinberge und nahe liegenden Wälder erkundet und dort jede Menge Abenteuer erlebt. Bevor sie Vollzeitautorin wurde, war Kristen Brotbäckerin, Indie-Buchhändlerin und Keramikkünstlerin. Ihr erster Roman »Iskari – Der Sturm naht« war ein internationaler Bestseller und wurde in zwölf Sprachen übersetzt. Inzwischen lebt sie in einer stürmischen Bucht auf einer nebligen Insel im Nordatlantik.

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

Iskari 3 – The Sky Weaver

bei Harper Teen, einem Imprint von HarperCollins Publishers

 

 

Alle Rechte, einschließlich des Rechts zur vollständigen oder auszugsweisen Wiedergabe in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Alle handelnden Personen sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

 

 

Copyright © 2019 by Kristen Ciccarelli

Copyright © der deutschen Ausgabe

by Second Chances Verlag, Inh. Jeannette Bauroth

Eisenbahnweg 5, 98587 Steinbach-Hallenberg

Redaktion: Dr. Uta Dahnke

Korrektorat: Anabelle Stehl

Ornamente im Innenteil: © Shutterstock/Anna Poguliaeva

Umschlaggestaltung: Das Illustrat GbR, München, unter Verwendung von Motiven von appearagain/depositphotos, Valentina Razumova/Shutterstock und skivi08/Shutterstock

Satz: Second Chances Verlag

 

 

ISBN: 978-3-948457-37-2

 

www.second-chances-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Titel

Über die Autorin

Impressum

Widmung

Achtzehn Jahre zuvor

1

2

3

Der Schatten und die Fischerstochter

4

5

6

7

Das Erwachen

8

9

Verlangen

10

Ein Ort für sie allein

11

12

13

Ein Lebewohl

14

15

16

17

Die Verwandlung

18

Sieben Jahre zuvor

19

20

21

22

23

Der Gott der Schatten

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

Eine gefährliche Liebschaft

38

Erinnerungen

39

40

Die Göttin der Gezeiten

41

42

Aufopferung

43

44

45

46

47

48

49

50

Sechs Wochen später

Zur selben Zeit an einem anderen Ort

Danksagung

Weitere Bücher aus dem Second Chances Verlag

Für Jordan Dejonge

Achtzehn Jahre zuvor

Skye war noch ein Kind, als sie zum ersten Mal beobachtete, wie sie einen Verräter bestraften. Sie sah, wie man ihm die Hände abhackte. Sah, wie sein dunkles Blut über den hellen Stein des Altars strömte, gleich einem über ein saphirblaues Meer hinwegfegenden Sturm, während der Soldat seine Klinge abwischte.

Skye erinnert sich, dass die abgehackten Hände wie sterbende Spinnen zuckten. Sie erinnert sich, wie der Feind seine Armstümpfe anglotzte, von denen das Blut zu den Ellenbogen hinablief.

Sie erinnert sich, wie er schrie.

Das ist viele Jahre her. Heute Nacht werden sie eine Verräterin bestrafen. Skye wartet in ihrer Zelle. Diesmal wird man nicht die Hände eines Feindes abhacken – diesmal werden es ihre sein. Und das hat sie nur sich selbst zuzuschreiben.

Sei ein braves Mädchen. Sei immer bescheiden. Immer gehorsam.

Mit diesen Worten war sie aufgewachsen. Diese Ermahnungen hatten sie von Geburt an begleitet.

Bis sie Crow kennenlernte. Einen Jungen aus den Schatten, der sie diese Ermahnungen vergessen ließ. Der sie alles vergessen ließ.

Crow – ein Name wie ein Dorn, der ihr Lippen, Zunge und Kehle zerkratzte.

Wie hatte sie nur so einfältig sein können?

Skye wird es euch erzählen. Sie wird einen Teppich für euch weben, solange sie es noch kann. Es wird ihr letztes Werk sein, denn sobald der Mond aufgeht und sie kommen, um sie zu holen, wird Skye nicht mehr weben.

Du kannst nicht weben ohne Hände.

1

Eris hatte noch jedes Schloss aufbekommen.

Im Licht ihrer Öllampe spähte sie durch das Schlüsselloch. Das weizenblonde Haar hatte sie unter einem gestohlenen Eisenhelm versteckt, der ihr ständig vor die Augen rutschte. Eris musste ihn immer wieder zurückschieben, um etwas sehen zu können.

Die Metallstifte im Inneren des Schlosses waren alt und offenbar das Werk eines Pfuschers. In jeder anderen Nacht hätte Eris sich nach einer größeren Herausforderung gesehnt. Heute dankte sie den Sternen, denn jeden Augenblick konnte eine Wache um die Ecke biegen. Bis dahin musste Eris sich auf der anderen Seite dieser Tür befinden.

Klickend öffnete sich das Schloss. Ohne aufzuatmen, steckte Eris die Nadel zurück in ihr Haar unter dem Helm, stand auf und drehte mit ihren schlanken Fingern behutsam den Messingknauf der Tür.

Sie sah sich um. Im Gang war niemand zu sehen. Also schob sie die Tür auf und trat in den Raum.

Im orangefarbenen Lichtschein der Öllampe erblickte sie einen schlichten Schreibtisch aus dunklem, verschrammtem Holz. Darauf waren ein Tintenfass, ein Stapel weißes Pergament und ein Siegelmesser fein säuberlich aufgereiht.

Leise schloss sie die Tür hinter sich. Ihr Blick glitt vom Schreibtisch zu der Wand dahinter, zu dem überwiegend aus blauen und violetten Fäden gewobenen Wandteppich. Allein seinetwegen war sie hier.

Eris kannte den Wandteppich in- und auswendig. Er zeigte eine gesichtslose Frau an einem Webstuhl. In der einen Hand hielt sie ein silbernes Messer, das leuchtete wie der Mond, in der anderen eine Spindel. Ihren Kopf zierte eine Krone aus Sternen.

Die Himmelsweberin.

Göttin der Seelen.

Aber nicht nur das Bild war Eris zutiefst vertraut. Sondern auch die Fäden, aus denen es gewebt war. Das unvergleichliche Blau. Die Stärke und Dichte der Wolle. Die unverkennbare Webart.

Als Eris vor zwei Tagen vom Gang aus einen Blick darauf erhascht hatte, wäre sie vor Überraschung beinahe gestolpert. Zu ebendiesem Wandteppich hatte sie jahrelang jeden Morgen aufgeblickt. Er hing, flankiert von den heiligen Webstühlen, an der steinernen Stirnwand im Tempel der Himmelsweberin, dem Skrin.

Wieso nur hing er jetzt im Palast des Drachenkönigs jenseits des Meeres?

Jemand muss ihn gestohlen haben, dachte sie.

Also beschloss Eris, ihn zurückzuholen, indem sie ihn ihrerseits stahl.

Zeit dazu hatte sie ja genug. Ihr Kapitän, ein herzloser Mann namens Jemsin, traf sich gerade mit der Kaiserin der Sterneninseln. Daher hatte er Eris hierhergeschickt mit dem Auftrag, einen überaus kostbaren Edelstein aus der Schatzkammer des Drachenkönigs zu stehlen. Nicht, weil er das Geld brauchte. Nein. Sondern weil er Eris nicht dabeihaben wollte, wenn sich die Kaiserin und ihre Spürhunde auf seinem Schiff aufhielten – um Eris’ und auch um seinetwillen. Wenn jemals herauskäme, dass Jemsin ausgerechnet die Verbrecherin bei sich aufgenommen hatte, welche die Kaiserin seit nunmehr sieben Jahren vergeblich jagte, wäre damit nicht nur Eris’, sondern auch sein Leben verwirkt.

Aber Eris war es bereits gelungen, den Rubin des Königs zu stehlen. Und sie hatte noch einen Tag, bevor sie sich bei Jemsins Ziehsohn melden musste. Zeit, die sie zu nutzen gedachte.

Und genau das tat sie jetzt.

Eris stieß sich von der Tür ab und stellte die Öllampe auf das dunkle Holz des Schreibtischs. In dem Moment, als sie den Blick zu der Himmelsweberin hob, verspürte sie dieselbe Erschütterung wie vor zwei Tagen. Erinnerungen an Wärme, Freundschaft und Zugehörigkeit stiegen in ihr auf … rasch abgelöst von Entsetzen, Kummer und dem Gefühl, betrogen worden zu sein.

Sie kniff die Augen zusammen.

»Das tue ich nicht für Euch«, sagte sie zu der Göttin und machte sich daran, den Teppich abzuhängen. »Für mich seid Ihr eine Verräterin und Betrügerin.« Sie sprach leise, da man seit dem Diebstahl des Rubins des Königs am vorvorigen Abend die Wachen verdoppelt hatte. »Ich tue es für die, die Ihr hintergangen habt.«

Eris glaubte nicht mehr an die Himmelsweberin, Göttin der Seelen. Aber derjenige, der diesen Teppich angefertigt hatte, hatte an sie geglaubt – und es hatte ihn das Leben gekostet. Eris nahm den Teppich von der Wand, rollte ihn fest zusammen und klemmte ihn sich behutsam unter den Arm. Dann zog sie eine graue Felsdistel aus der Tasche der gestohlenen Uniform. Sorgsam darauf bedacht, die zahlreichen giftigen Stacheln nicht zu berühren, legte sie die Distel auf den Schreibtisch – ihr Symbol, das sie mehr für sich selbst hinterließ als für die, von denen sie stahl. Um sich zu beweisen, dass sie wirklich existierte. Auch wenn sie im Verborgenen lebte, war sie immer noch hier. Noch am Leben.

Die Felsdistel war der Beweis.

Den Teppich unter den Arm geklemmt und mit ihrem Zeichen dort auf dem Schreibtisch der Kommandantin, griff Eris nach der Spindel. Es war höchste Zeit, von hier zu verschwinden. Den Wandteppich würde sie zusammen mit dem Rest ihrer Beute verstauen, sich dann zur Herrin der Meere begeben und dort warten, bis sie gerufen wurde.

Doch bevor sie die Spindel aus dem Beutel fischen konnte, durchbrach hinter ihr eine Stimme die Stille.

»Wer hat dich hier reingelassen?«

Die Stimme war tief und schroff und ließ Eris erstarren – nur ihre rechte Hand bewegte sich weiter, umfasste das glatte Holz der Spindel und zog diese langsam aus dem Beutel.

»Ich habe dir eine einfache Frage gestellt, Soldat.«

Soldat.

Eris hatte ganz vergessen, dass sie eine Verkleidung trug. Aufgrund der verschärften Sicherheitsvorkehrungen war es einfacher, sich in der Uniform eines Wachsoldaten durch den Palast zu bewegen.

Also drehte Eris sich um. Ein Soldat stand im Türrahmen. Überrascht über ihre Anwesenheit, hatte er den Raum nicht betreten. Er trug die gleiche Uniform wie sie: einen Eisenhelm auf dem Kopf, dazu ein Wams, auf dem das Wappen des Drachenkönigs prangte. Nur hing an seiner Hüfte ein Säbel, wohingegen an ihrer ein gewebter Beutel baumelte.

Eris hasste Soldaten.

»Ich hatte Befehl, dieses zerschlissene alte Ding zu entfernen«, sagte sie und wies mit dem Kinn auf den zusammengerollten Wandteppich unter ihrem Arm. Augenzwinkernd fügte sie hinzu: »Unsere Kommandantin scheint ja nicht gerade fromm zu sein.«

Das Augenzwinkern zeigte Wirkung, der Soldat entspannte sich sichtlich. Lächelnd lehnte er sich gegen den Türrahmen und schien zu einer Bemerkung über die – wie auch immer geartete – Frömmigkeit der Kommandantin anzusetzen, als sein Blick an etwas auf dem Schreibtisch hängen blieb.

Seine Züge erstarrten, dann blitzte Erkenntnis in seinen Augen auf. Eris folgte seinem Blick und verfluchte sich im Stillen.

Die Felsdistel.

»Du … du bist der Todestänzer.«

Ohne ihre Reaktion abzuwarten, zog er die Klinge.

Höchste Zeit, zu verschwinden.

Eris umfasste die Spindel fester und ging in die Hocke. Während der Soldat in den Raum stolperte, drückte sie die Spitze auf den Mosaikboden und zog eine gerade Linie.

Diese schimmerte silbrig. Dunst wallte auf.

Laut nach den anderen Wachen rufend, sprang der Soldat auf sie zu.

Aber noch ehe er den Schreibtisch umrundet hatte, trat Eris in den Dunst, machte den Schritt hinüber.

Als der Soldat sie zu packen versuchte, war Eris bereits verschwunden.

 

***

 

Als der Dunst sich ein paar Herzschläge später lichtete, sah Eris, dass sie am falschen Ort gelandet war.

Statt von den Sternen und der Dunkelheit des Dazwischen war sie von Wänden umgeben. Vor ihr erstreckte sich ein dunkler, nur alle paar Schritte von flackernden Fackeln erhellter Gang. Der Boden war mit Mosaikfliesen belegt, genau wie in dem Raum, den sie gerade verlassen hatte. Es roch nach Minze und Kalk.

Sie befand sich noch immer im Palast.

Verärgert knirschte Eris mit den Zähnen.

Das passierte manchmal. Wenn sie ihre Gedanken zu sehr auf den Ort richtete, den sie verlassen wollte, statt auf ihr Ziel, missverstand die Spindel ihre Absicht und verpatzte den Schritt hinüber.

Eris wollte gerade dieses von der Göttin verlassene Stück Holz verfluchen, als jemand sie von hinten rammte, sodass sie ins Taumeln geriet und die Spindel fallen ließ.

»Bei Kozus stinkendem Atem!«

Eris fuhr herum und sah, wie die Spindel auf zwei schwarze Lederstiefel mit glänzenden Silberschnallen zurollte. Eine Hand griff danach und hob sie auf. Eris’ Blick folgte der Bewegung.

Vor ihr stand eine junge Frau in der Uniform einer Palastwache. Anstelle des königlichen Wappens zierte eine flammengleiche Blume ihr Wams. Sie trug keinen Helm, und in ihrem Gürtel steckten fünf Wurfmesser.

»Verzeih, Soldatin.« Ihre Stimme klang hart und schneidend wie die von jemandem, der es gewohnt war, Befehle zu geben – und dass diese befolgt wurden. »Ich hatte dich nicht gesehen.«

Eris’ Blick glitt zu den kalt funkelnden saphirblauen Augen der jungen Frau. Der Fackelschein beleuchtete ihre ausgeprägten Wangenknochen und das tintenschwarze Haar, das sie zu einem strengen Zopf geflochten trug.

Eris wusste genau, wer das war.

Die Kommandantin.

Diese junge Frau vor ihr war nicht nur die Cousine des Königs – und somit ein Mitglied der königlichen Familie –, sondern sie befehligte obendrein sein Heer mit eiserner Faust.

Eine dunkle Erinnerung an eine andere unerbittliche Kommandantin blitzte in Eris auf. Angst machte sich in ihren Eingeweiden breit.

Sie schüttelte die Erinnerung ab, trat einen Schritt zurück. Doch in ihrer Brust blieb ein Stachel, der ihr ins Gedächtnis rief, wer sie war. Und dass sie von hier verschwinden musste.

Sofort.

Nur befand sich ihre Spindel noch immer in der Hand der Kommandantin.

Die junge Frau hatte nur einen flüchtigen Blick für Eris übrig. Eris versteifte sich. Eigentlich hätte sie froh sein müssen, dass die Kommandantin sich nicht für sie interessierte. Eris wollte – ja musste – unsichtbar bleiben.

Doch aus irgendeinem Grund ärgerte sie sich über diese Gleichgültigkeit.

Die Kommandantin öffnete den Mund, um etwas zu sagen, als weiter hinten im Gang ein Schrei erscholl, woraufhin sie sich beide umdrehten.

Weitere Stimmen kamen hinzu. Der Soldat, den Eris gerade zurückgelassen hatte, schlug Alarm.

Machte den ganzen Palast auf die Anwesenheit der Diebin in ihrer Mitte aufmerksam.

Eris rechnete damit, dass die Kommandantin sie nun, wie eben der Soldat, erkennen würde. Aber die Kommandantin blickte noch immer stirnrunzelnd in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war.

»Dieser Todestänzer«, sagte sie, und dabei blitzten ihre Augen zornig. »Wenn der glaubt, dass er den König bestehlen kann, ohne dafür zu bezahlen, hat er die Rechnung ohne mich gemacht.«

Eris hätte den Mund halten sollen. Schließlich hielt die Kommandantin immer noch die Spindel in der Hand. Eris’ einzigen Ausweg.

Doch sie konnte nicht an sich halten. »Woher wisst Ihr, dass es ein Mann ist?«

Jetzt sah die Kommandantin sie an. Eris erschauerte unter ihrem kalten Blick. Wie dumm von mir, dachte sie und starrte geradewegs in die Augen des Mädchens. Warum konnte ich nur den Mund nicht halten?

Die Kommandantin musterte sie geistesabwesend, während der Tumult in der Ferne lauter wurde. Widerstreitende Gefühle spiegelten sich auf ihrem Gesicht. Das Bedürfnis, dem Alarmruf zu folgen, kämpfte mit … ja, womit? Misstrauen? Argwohn?

Gleich wird ihr aufgehen, wer ich bin. Sie wird eine ihrer Waffen ziehen und mich festnehmen.

Doch die Kommandantin tat nichts dergleichen. Vielmehr hielt sie Eris die Spindel hin und sah sie an, als würde sie Eris erstmals richtig wahrnehmen. »Das hast du fallen lassen«, sagte sie.

Eris schluckte und starrte die zarte Spindel auf der schwieligen Hand an.

Ist das eine Falle?

Aber sobald Eris die Spindel an sich genommen hatte, senkte die Kommandantin die Hand und wandte sich ab. »Komm mit. Mal sehen, was der dreiste Mistkerl diesmal angestellt hat.« Und schon eilte sie den Gang hinunter, in Richtung des Tumults, ohne zu bemerken, dass Eris ihr nicht folgte.

Sogleich ging Eris in die Hocke und setzte die Spitze der Spindel auf den Boden.

Dreist?, dachte sie aufgebracht und machte sich daran, die silbern schimmernde Linie zu ziehen.

Es fühlte sich an wie eine Herausforderung.

Sie schüttelte den Kopf. Diesmal durfte sie sich nicht ablenken lassen. Sie musste ihre gesamte Konzentration auf ihr Ziel richten.

Als sie fertig war, wurde die Luft dicht und feucht. Der Dunst stieg in Schwaden auf. Doch das Geräusch der sich entfernenden Schritte zog ihre Aufmerksamkeit noch einmal auf sich. Eris hielt inne und sah der Kommandantin nach, bis diese um die Ecke gebogen und ihren Blicken entschwunden war.

Erst dann stand sie auf. Bevor sie alle Gedanken an Firgaard und den Palast und die Kommandantin beiseiteschob, dachte sie: Ich werd ihr schon zeigen, wie dreist ich sein kann.

Dann machte sie den Schritt hinüber.

2

Seit man die Tür zur Schatzkammer des Königs offen vorgefunden und das Fehlen eines hellroten Rubins festgestellt hatte, konnte Safira nicht mehr schlafen.

Jemand war durch ihren Palast geschlichen, an sämtlichen ihrer Wachen vorbei, hatte eine verschlossene Tür geöffnet und den Rubin gestohlen, den König Dax den Buschländern morgen hatte schenken wollen, damit er verkauft und mit dem Erlös die Hungersnot gelindert würde, die durch die sogenannten »weißen Ernten« ausgelöst war. Vor einigen Jahren hatte sich eine Fäule mit rasender Geschwindigkeit im Buschland verbreitet und sämtliche Feldfrüchte und somit die wichtigsten Nahrungsgrundlagen zerstört. Jedes Frühjahr säten die Bauern wieder aus, doch die Fäule befiel auch die neue Ernte, und der Hunger wurde immer bedrohlicher.

Safira wusste von der wachsenden Not der Buschländer, aber erst nachdem Königin Roa von ihrem Besuch in ihrer alten Heimat zurückgekehrt war, wurde ihr klar, wie schlimm die Lage tatsächlich war. Roas Vater war mittlerweile bettlägerig. Ohne das Wissen seiner Familie hatte er aufgehört, Nahrung zu sich zu nehmen, damit die Bedürftigeren etwas zu essen hatten. Aber nicht nur ihr Vater, sondern auch Roas beste Freundin Lirabel litt aufgrund ihrer Schwangerschaft unter chronischer Mangelernährung. Der Arzt hatte Roa gewarnt, dass Lirabel das Kind verlieren würde, bekäme sie nicht bald ausreichend zu essen.

Selbst Safira war es nicht entgangen, wie angeschlagen und erschöpft Roa bei ihrer Rückkehr nach Firgaard wirkte. Dax musterte seine Frau besorgt, wenn sie wieder einmal das Essen verweigerte – wie konnte sie schlemmen, wenn ihre Liebsten zu Hause zu verhungern drohten?

Es musste eine dauerhafte Lösung gefunden werden, und zwar schnell.

Dax hatte beabsichtigt, den Rubin, der einst seiner Urgroßmutter gehört hatte, zu verkaufen und mit dem Erlös Fleisch, Gemüse und Getreide zu erstehen, um die Nahrungsmittellieferungen zu ergänzen, die Firgaard dem Buschland bereits allwöchentlich schickte, um dem Hunger Einhalt zu gebieten.

Die Tatsache, dass jemand den Rubin einfach so gestohlen hatte, war unerträglich. Unverzeihlich.

Es brachte Safira zur Weißglut.

Einen einzigen Hinweis hatte der Täter hinterlassen: eine hässliche graue Distel.

Noch nie hatte Safira so etwas gesehen – der Stängel war mit Dornen übersät, manche davon so lang wie ihr kleiner Finger und fast halb so dick. Also hatte sie die Distel dem Palastarzt gezeigt.

Das ist eine Felsdistel, hatte er ihr erklärt. Sie wächst auf den Felsklippen der Sterneninseln. Das Gift eines einzigen Stachels reicht aus, um einen Menschen in einen tagelangen Schlaf zu versetzen.

Aber in erster Linie war es das Symbol eines Verbrechers. Eines Diebes, der unter dem Namen Todestänzer bekannt war, da er durch Wände gehen konnte, nicht zu fassen war und dem Tod ständig durch die Finger schlüpfte. Seit Jahren suchte er die Paläste – und Schatzkammern – von Baronen und Königen heim.

Nun gut, hatte Safira am Tag des Diebstahls gedacht, mir wird er jedenfalls nicht entkommen. Also hatte sie die Wachen verdoppelt und patrouillierte seither höchstpersönlich die Gänge des Palasts.

Und nun, zwei Tage später, stand sie da und starrte auf eine weitere Distel hinab, die diesmal auf ihrem eigenen Schreibtisch lag, in ihrem ursprünglich gut abgeschlossenen Arbeitszimmer.

Während um sie herum die Soldaten miteinander tuschelten, die Augen auf ihre Kommandantin gerichtet, glitt Safiras Blick zur Wand hinter dem Schreibtisch.

Noch an diesem Morgen hatte sich dort ein Wandteppich befunden. Ein Geschenk ihrer Cousine Asha. Jetzt war da nur noch die nackte Wand.

Die Distel auf dem Schreibtisch bewies, dass der Todestänzer dahintersteckte.

Aber warum?

Safira kniff die Augen zusammen. Der Diebstahl des Rubins leuchtete ihr ein. Der Edelstein war ein Vermögen wert. Aber ein verschlissener Wandteppich? Welchen Wert konnte der schon haben?

Außer, dachte sie, dieser Dieb versucht, mich zu verhöhnen.

Und plötzlich hörte sie im Geiste die melodische Stimme der jungen Soldatin.

Woher wisst Ihr, dass es ein Mann ist?

Safiras Magen zog sich zusammen.

Sie war so sehr in Eile gewesen, dass ihr der Helm der jungen Frau nicht weiter aufgefallen war. Im Nachhinein wurde ihr klar, dass dieser viel zu groß gewesen war und ihr halbes Gesicht verdeckt hatte.

Und das war nicht das einzig Merkwürdige.

Die Soldatin hatte keine Waffe getragen und mit einem fremden Akzent gesprochen. Noch nie hatte Safira einen so melodischen Tonfall gehört. Fast als … sänge sie.

Ganz abgesehen von dem zusammengerollten Bündel unter dem Arm der Unbekannten.

Safira erstarrte. Das verschlissene Gewebe. Die beträchtliche Länge. Ein Wandteppich!

Ihr Wandteppich.

Der, den Asha ihr geschenkt hatte.

Safira ließ sich auf ihren Stuhl sinken. »Dieses Miststück von einer Diebin.«

 

***

 

Safira verdreifachte die Wachen. Sie verließ den Palast nicht mehr und patrouillierte die Gänge nun auch des Nachts. Doch trotz aller Wachsamkeit verschwand am nächsten Tag das königliche Siegel aus Safiras Schreibtischschublade. Am Tag darauf musste sie feststellen, dass während ihrer Abwesenheit ihre sämtlichen Uniformen abhandengekommen waren. Stattdessen lag dort je eine Felsdistel.

Es war zum Verrücktwerden.

In einem Glasgefäß auf dem Fensterbrett in ihrem Schlafzimmer steckte mittlerweile ein ganzer Distelstrauß. Wenn Safira besonders trübsinnig gestimmt war, schloss sie sich dort ein, starrte stundenlang auf die Disteln und grübelte über eine Lösung für dieses ärgerliche Problem nach.

»Ich glaube nicht, dass sie gefährlich ist«, sagte Asha und entfernte einen Stein, der sich in Kozus Klaue festgesetzt hatte. Der Erste Drache ragte über ihr auf wie ein schwarzer Schatten. Safira lag neben den beiden im Gras und blickte hinauf in den indigoblauen Himmel.

Sie befanden sich auf dem mit Büschen durchsetzten, waldgesäumten Feld, in das die ehemaligen Jagdpfade mündeten. Zwischen ihnen und dem großen Rundzelt, das nördlich von ihnen aufgeschlagen war, bewegten sich mehrere Drachen mit ihren hoffnungsvollen Reitern. Safira konnte die geschnalzten Befehle hören.

Hier, auf dem Drachenfeld, beabsichtigte Asha eine Schule zu errichten, um die alten Geschichten zu bewahren und die einst enge Beziehung zwischen Draksor und Drachen von Neuem entstehen zu lassen.

»Du hältst eine Diebin, die sich wie ein Geist durch den Palast bewegt, für ungefährlich?«, fragte Safira, den Kopf auf die gefalteten Hände gelegt.

Asha setzte Kozus Fuß ab, dachte kurz nach, dann nickte sie. »Ja, diese hier schon.«

Safira setzte sich auf und legte die Beine übereinander. »Das musst du mir erklären.«

Kozu, ein riesiger schwarzer Drache mit einer Narbe quer durch ein Auge, stupste Asha mit der Schnauze gegen die Hüfte, als wolle er ihr etwas mitteilen. Aber für Safira blieb es ein Geheimnis, was genau zwischen den beiden vorging.

»Ich glaube, ihr ist … langweilig«, meinte Asha und rieb dem Ersten Drachen den schuppigen Hals. »Vielleicht hat sie es ja satt, immer die Schlaueste zu sein. Vielleicht provoziert sie dich ja, damit du sie vor eine Herausforderung stellst?«

Nachdenklich runzelte Safira die Stirn. »Du meinst, ich sollte ihr eine Nuss zu knacken geben?«

Asha setzte sich neben sie ins Gras und sah Safira mit ihren schwarzen Augen an. »Könntest du das überhaupt? Sie scheint dir doch immer drei Schritte voraus zu sein.«

Aufgebracht funkelte Safira sie an.

Asha, der das nicht entging, beugte sich zu ihr. »Es würde schon reichen, ihr einen Schritt voraus zu sein.«

Safira stützte den Ellbogen aufs Knie und das Kinn auf die Faust. »Und wie soll ich das deiner Meinung nach anstellen?«

Es war noch heißer geworden. Asha machte sich daran, die Messingknöpfe ihrer purpurroten Flugjacke aufzuknöpfen. Dax hatte sie eigens für Asha, seine Namsara, anfertigen lassen. Als Asha die Jacke ablegte, gleißten die Knöpfe in der Sonne. Safira kniff die Augen zusammen und sah, dass in jede der Messingscheiben eine flammengleiche siebenblättrige Blume eingraviert war – die Namsara, von der Asha ihren Titel hatte.

»Folgendes weißt du über sie«, sagte Asha. Sie legte ihre neue Jacke auf den Boden neben sich und zählte Punkt für Punkt an den Fingern ihrer vernarbten Hand ab. »Sie ist verwegen, denn sie scheut vor keinem der Räume des Palasts zurück. Sie stiehlt wertvolle Gegenstände wie den Rubin oder Dax’ Siegel. Und sie stiehlt Dinge, die nur dir wichtig sind, wie den Wandteppich, den ich dir geschenkt habe, und deine Uniformen.«

Asha lehnte sich zurück, die Hände aufs Gras gestützt. »Was also ist«, fragte sie versonnen, den Blick auf das Drachenfeld gerichtet, »das Verwegenste und Wertvollste, das sie der Kommandantin des Königs stehlen könnte?«

Nachdenklich schwiegen sie.

Safira besaß nichts Wertvolles – außer vielleicht die Wurfmesser, die Asha ihr geschenkt hatte. Auch wenn königliches Blut in ihren Adern floss, war sie jahrelang nicht wie ein Mitglied des Königshauses behandelt worden. Safira dachte nur ungern an die Zeit vor dem Aufstand zurück, als sie abseits von den anderen aufgewachsen war, ihren Cousin und ihre Cousine nicht hatte berühren, sich ihnen nicht hatte nähern dürfen, verschmäht und misshandelt, während die Bediensteten des Palasts wegsahen.

Safira schüttelte die Erinnerungen ab, als vertraute Geräusche vom anderen Ende des Felds an ihr Ohr drangen – eine Reihe leiser, unruhiger Schnalzlaute. Safira und Asha blickten auf.

Abseits vom Getriebe der Drachen und ihrer Reiter kam ein hochgewachsener, dünner junger Mann mit kupferrotem Haar und sommersprossenübersätem Gesicht über die grasbewachsene Ebene auf sie zu.

Torwin.

Im Abstand von ein paar Schritten folgte ihm ein elfenbeinfarbener Drache. Eines seiner Hörner war abgebrochen, und er setzte nur zögerlich einen Fuß vor den anderen. Dabei blickte er sich argwöhnisch um, als würde er bei der ersten überraschenden Bewegung davonlaufen. Safira kannte den Drachen, sein Name lautete »Kummer«.

Vor ein paar Wochen hatten Asha und Torwin in Firefall, einer Stadt westlich von Darmoor, alte Geschichten gesammelt. Dabei waren sie auf dieses halbverhungerte Geschöpf gestoßen, im Innenhof eines prächtigen Hauses angekettet, die Schnauze in einen eisernen Maulkorb gezwängt. Die dort lebenden Kinder, die ihn als eine Art Haustier hielten, hatten ihn schwer misshandelt.

Deshalb ließ Kummer kaum jemanden an sich heran. Er hielt sich tief im Rift verborgen, fernab der Stadt. Asha vermutete, dass er wohl nie einen Reiter finden würde, da er den Menschen so sehr misstraute. Ein paar hatten es versucht, aber das Band, das für gewöhnlich beim ersten Flug entstand, hatte sich nie gebildet.

Als Torwin die beiden jungen Frauen erreicht hatte, setzte er sich neben sie auf die Erde. Kummer kroch auf Kozu zu, der zusammengerollt in der Sonne lag. Das Elfenbeinweiß von Kummers Schuppen hob sich scharf von Kozus mächtigem tiefschwarzem Leib ab.

»Alles ist fertig gepackt«, sagte Torwin. In den Händen hielt er ein großes Messer in einer silbernen Scheide, in die ein Sternenmuster geprägt war. »Wenn wir im Morgengrauen aufbrechen, sollten wir vor Sonnenuntergang dort ankommen.«

Obwohl Asha und Torwin gerade erst aus Firefall zurückgekehrt waren, wollten sie schon am morgigen Tag zu den Sterneninseln fliegen. Der Grund für ihre Reise befand sich in Torwins Händen: das Messer der Himmelsweberin.

Vor ein paar Wochen hatte es Roas Schwester gerettet, und auf Wunsch Roas sollte es nun an seinen Ursprungsort zurückgebracht werden. Roas Ansicht nach hatte ein so gefährliches Artefakt nichts in Firgaard zu suchen. Daher waren Asha und Torwin die Geschäftsbücher seines letzten Besitzers, eines der reichsten Barone Firgaards, durchgegangen und hatten herausgefunden, dass es von einem Ort namens Skrin stammte.

»Wenn Roa sich nicht etwas anderes in den Kopf gesetzt hätte, würde ich es einfach ins Meer werfen«, erklärte Torwin und zog das Messer aus der Scheide, sodass ein Stück der silbrig glänzenden Klinge zum Vorschein kam. Ein Schauer überlief ihn. Dann sah er auf und blinzelte gegen die Sonne an. »Willst du wirklich nicht mitkommen, Safira?«

»Mitkommen? Zu einer Inselgruppe, die für ihre Ungeheuer, Stürme und gefährlichen Felsen berüchtigt ist?« Safira zog die Nase kraus bei dem Gedanken an die trügerischen Gewässer des Silbermeers. »Nein danke. Außerdem werden euch Roa und Dax in ein paar Tagen dorthin folgen.«

Leandra, die furchteinflößende Kaiserin der Inseln, die im Ruf stand, eine Unsterbliche zu sein, wollte dem neuen Drachenkönig und seiner Gemahlin ein Geschenk überreichen. Eines, das – so Leandras Hoffnung – helfen könnte, die bittere Not im Buschland zu lindern. Als Dax’ Namsara hatte auch Asha eine Einladung in die Zitadelle der Kaiserin erhalten, diese Einladung jedoch ausgeschlagen.

Ich habe keine Zeit oder Lust, irgendwelchen fremden Herrschern schönzutun, hatte Asha zu Safira gesagt, als die Einladung eingetroffen war. Das ist Dax’ Aufgabe.

»Irgendjemand muss ja hier die Verantwortung übernehmen«, sagte Safira jetzt. »Und aufpassen, dass in unserer Stadt nicht alles drunter und drüber geht.«

Das war der offizielle Grund, warum sie in der Hauptstadt bleiben wollte. Aber ihre Gedanken galten nur der Diebin, die durch den Palast schlich, als wäre es ihr persönlicher Spielplatz.

Niemals würde Safira Firgaard den Launen der Todestänzerin überlassen.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, fragte Torwin: »Hast du diese Diebin schon erwischt?«

Seufzend ließ Safira sich aufs Gras zurücksinken. »Nein.«

Genau aus diesem Grund war sie jetzt hier auf dem Drachenfeld. Die Kommandantin des Königs floh vor ihrer eigenen Unfähigkeit. Statt in einer Zelle eingesperrt zu sein, wie Safira es sich erhofft hatte, lief die Diebin immer noch frei herum.

Bisweilen war es Safira, als spürte sie … jemandes Anwesenheit. Das konnte mitten am Tag oder in der Nacht sein. Im Palast oder auf der Straße. Ihr war, als beobachtete sie jemand. Verfolgte sie. Aber wenn sie sich mit gezücktem Messer umdrehte, waren da nur Schatten. Wenn sie einen Raum betrat, befiel sie bisweilen das Gefühl, dass die Diebin gerade erst dort gewesen war. Es fühlte sich an, als ob sie Katz und Maus spielten.

Nur dass Safira nicht wusste, wer von ihnen beiden die Katze war und wer die Maus.

Sie musste der Todestänzerin unbedingt das Handwerk legen. Sie wollte den Ausdruck in ihren Augen sehen, wenn sie sie endgültig dingfest machte.

Dann erst könnte sie wieder in Ruhe schlafen.

»Safira glaubt allmählich, dass die Gerüchte wahr sind«, sagte Asha.

Torwin sah sie erstaunt an. »Welche Gerüchte?«

»Dass die Todestänzerin nicht zu fassen ist«, antwortete Asha. »Dass sie halb Göttin, halb Schattenwesen ist.«

Safira schloss die Augen, ließ die Sonnenstrahlen ihr Gesicht wärmen und sich Ashas Einfall durch den Kopf gehen. Sie musste der Diebin einen Schritt voraus sein. Ihr eine Falle stellen. Aber womit wäre sie am besten zu ködern?

»Nun, wenn irgendjemand sie erwischen kann …«, meinte Torwin und verstummte.

Mit geschlossenen Augen wartete Safira darauf, dass er fortfuhr, aber er schwieg. Da spürte sie es: Ein kühler Schatten legte sich auf ihr Gesicht. Es roch nach Moschus und Rauch.

Sie öffnete die Augen.

Kummer stand über sie gebeugt. Sie sah seine elfenbeinfarbenen Schuppen. Das beschädigte Horn. Die schwarzen Augen, aus denen er auf sie herunterstarrte.

Immer wieder aufs Neue war sie erstaunt, wie viel Traurigkeit in ihnen lag.

Normalerweise hätte sie instinktiv nach einem ihrer Messer gegriffen. Doch sie wusste, wie es sich anfühlte, der Brutalität anderer hilflos ausgeliefert zu sein. Sie wusste, welche Grausamkeiten man diesem Geschöpf angetan hatte und wie tief verängstigt es war.

Also blieb sie liegen und versuchte, sich zu entspannen.

Torwin und Asha neben ihr schwiegen angespannt.

Die beiden ahnten nicht, dass Safira nachts, wenn der Schlaf sie floh, den Jagdpfaden in den Rift hinauffolgte. Meistens kam sie dann hierher, auf das Drachenfeld, das verwaist unter den Sternen lag – ohne die Reiter und ohne die Drachen, die irgendwo zwischen den Hügeln schliefen. Außer einem: Kummer.

In der Einsamkeit des Rifts erzählte Safira dem Drachen Geschichten. Allerdings nicht die alten Geschichten, die Mythen von Göttern und Helden, die Asha so gut zu erzählen verstand und welche die Drachen am liebsten mochten. Safira kannte kaum eine dieser Geschichten. Stattdessen erzählte sie Kummer von dem, was ihr nachts den Schlaf raubte.

Sie erzählte ihm, dass sie selbst einer unrechtmäßigen Beziehung entstammte und daher als Unberührbare aufgewachsen war. Dass sie eine der Anführerinnen eines Aufstands war, die ihren Cousin Dax auf den Thron brachte. Dass dieser Cousin sie eines Tages zu seiner Kommandantin ernannte.

Am Ende jeder dieser Geschichten spielten sie ein Spiel. Safira näherte sich ihm so weit wie möglich, und Kummer hielt still, bis er es nicht mehr aushielt.

Jedes Mal ergriff er die Flucht, bevor sie ihn berühren konnte.

Deshalb erwartete Safira auch jetzt, als sie die Hand behutsam nach seiner elfenbeinfarbenen Schnauze ausstreckte, dass er zurückzucken würde.

Nur war Safira ihrerseits, als sie vorhin die Augen aufgeschlagen hatte, nicht zusammengezuckt. Ihrem Instinkt zum Trotz hatte sie nicht nach dem Messer gegriffen. All das hatte Kummer gespürt und tat es ihr nun nach.

Aus Angst vor der Berührung bebte der Drache am ganzen Leib, doch er lief nicht weg.

Als Safiras Fingerspitzen Kummers warme Schnauze berührten, kribbelte ihre Haut. Sie konnte spüren, welche Anstrengung es den Drachen kostete, nicht zurückzuweichen. Mit angehaltenem Atem berührte sie immer mehr seiner Schuppen. Schon bald umfing ihre Hand sein Maul, und sie spürte seinen feuchtwarmen Atem auf ihrer Handfläche.

Mein Lieber, dachte sie, wie kann man dir nur wehtun wollen?

Doch dann, unvermittelt, zuckte Kummer zurück. Safira erstarrte, aber der Drache hob nur den Kopf und hielt die Schnauze in den Wind. Er spürte oder roch oder hörte etwas, was Safira entging. Sie setzte sich auf und blickte in dieselbe Richtung.

Jetzt spürte Safira es auch – und bekam dasselbe Gefühl, das sie im Palast auf Schritt und Tritt begleitete. Ein Prickeln, als beobachtete jemand sie.

Flirrendes Sonnenlicht fiel durch das dunkle Grün der sich im Wind bewegenden Bäume.

»Was ist?«, flüsterte Asha.

Safira stand auf und ging auf den Waldrand zu, die Gedanken auf die Todestänzerin gerichtet.

Sie wollte gerade zwischen den Kiefern verschwinden, da ließ Ashas merkwürdig schrille Stimme sie innehalten. »Saf!«

Safira drehte sich um und sah, dass Torwin und Asha sie besorgt anstarrten. Nur Kummers Blick war immer noch auf den Waldrand gerichtet. »Was ist?«

»Du solltest für ein paar Wochen woanders hingehen«, sagte Asha. »Bestimmt sind deine Soldaten gut genug ausgebildet, um zu verhindern, dass in Firgaard nicht alles drunter und drüber geht.«

Safira wollte schon antworten, dass sie drei innerhalb kürzester Zeit einen Aufstand angezettelt, die Stadtmauern Firgaards überwunden und den König gestürzt hatten, da mischte sich Torwin ein. »Saf, gib dir einen Ruck«, meinte er und kam auf sie zu. »Seit Dax dich zu seiner Kommandantin gemacht hat, hast du dir keine Ruhe mehr gegönnt.«

Safira hatte sich auch lange vorher schon keine Ruhe gegönnt. Das konnte sie sich nicht leisten.

»Komm mit uns«, sagte Torwin ermunternd, legte ihr den Arm um die Schultern und lächelte sein schiefes Lächeln. »Hab Vertrauen in deine Soldaten. Sollen doch sie diese Todestänzerin fangen, solange du mit uns auf den Sterneninseln bist. Bestimmt wartet sie bei unserer Rückkehr schon in einer Gefängniszelle auf dich.«

Das wohl kaum, dachte Safira und tippte mit den Fingern nacheinander auf die Griffe ihrer fünf Wurfmesser. Das Bewusstsein, sie an der Hüfte zu tragen, beruhigte sie ein wenig. Im Geiste hörte sie Ashas Frage. Was ist das Verwegenste und Wertvollste, das sie der Kommandantin des Königs stehlen könnte?

Und mit einem Mal wusste sie, was der perfekte Köder für die Todestänzerin war.

»Ich sollte in die Stadt zurückkehren«, erklärte Safira, während sie bereits einen Plan schmiedete. Mit einem hörbaren Seufzer ließ Torwin sie los. Safira blickte von ihm zu ihrer Cousine. »Passt bitte gut auf euch auf und fliegt nicht bei schlechtem Wetter.«

Asha nickte und zog sie an sich. Safira erwiderte die Umarmung.

Nachdem Asha sie wieder losgelassen hatte, drehte Safira sich zu Kummer um. »Sei brav«, ermahnte sie ihn.

Der Drache legte nur den Kopf schief und sah Safira mit seinen traurigen Augen an.

»Viel Glück mit deiner Diebin!«, rief Torwin ihr nach.

Safira nickte und winkte zum Abschied. Über trockene Kiefernnadeln ging sie zum Jagdpfad. Auf ihrem Weg durch den Rift hinunter zum Stadttor von Firgaard wurde sie das dumpfe Gefühl nicht los, dass ihr jemand auf den Fersen war.

Aber immer, wenn Safira sich umdrehte, waren da nur Schatten.

3

Geh nach Firgaard. Stiehl den Rubin des Königs. Erstatte Kor in drei Tagen Bericht.

So lauteten Eris’ Befehle. Ihren Auftrag hatte sie längst ausgeführt. Trotzdem hatte sie sich noch nicht bei Jemsins Ziehsohn zurückgemeldet, dem Piraten Kor, der ein eigenes Schiff kommandierte und die Verantwortung für Eris trug, während Jemsin sich mit der Kaiserin traf.

Es war töricht von ihr und ausgesprochen riskant, aber nach vier Tagen des Katz-und-Maus-Spiels mit der Kommandantin war Eris noch nicht bereit aufzugeben. Heute war ihr ein Rabe durch die Straßen Firgaards gefolgt. Bei seinem Anblick hatte Panik sie ergriffen, bis ihr auffiel, dass er schwarze Augen hatte, keine roten. Dass er nicht Jemsins Häscher war, sondern ein ganz gewöhnlicher Vogel.

Dennoch hatte der Anblick Eris erschreckt und sie daran erinnert, dass es Zeit war, von hier zu verschwinden.

Aber vorher musste sie noch etwas erledigen, denn die Kommandantin hatte recht: Eris war ein dreistes Miststück. Und größer als Eris’ Triumph darüber, dass Safira sie nicht zu fassen bekam, war ihr Spaß daran, sie zur Weißglut zu treiben.

Jedes Mal, wenn Safira über die Todestänzerin sprach, zeigte sich ihr Ärger.

Jedes Mal, wenn sie auch nur an sie dachte.

Dieses Wissen bereitete Eris ein geradezu übermäßiges Vergnügen.

Jetzt stand Eris hinter den Vorhängen zur Terrasse in Safiras Schlafzimmer verborgen und lächelte in sich hinein. Sie kannte den Tagesablauf der Kommandantin mittlerweile genau. Es wäre dumm von ihr gewesen, durch den Palast zu schleichen, ohne sich jede Bewegung der Frau einzuprägen, die hier für die Sicherheit verantwortlich war. Eris wusste, wann Safira sich abends in ihr Zimmer zurückzog. Jetzt wartete sie auf sie.

Doch während sie über den Stängel der Distel in ihrer Hand strich, die Dornen betastete, kamen ihr Zweifel. Was hatte sie hier noch zu suchen? Sie hätte sich gleich, nachdem es ihr gelungen war, den Rubin zu stehlen, aufs Meer begeben sollen. Sie sollte jetzt dorthin unterwegs sein.

Vor vier Tagen schon hätte sie sich auf Kors Schiff, der Herrin der Meere, zurückmelden sollen. Wenn sie noch länger hierblieb, würde sie den Zorn des Kapitäns auf sich ziehen.

Vergiss das Messer, sagte eine Stimme in ihrem Kopf. Wechsle hinüber, und geh dann auf die Herrin der Meere.

Aber irgendein Gefühl, stärker als die Angst vor Jemsin, ließ Eris wie angewurzelt hinter dem Vorhang stehen bleiben. Vielleicht war es ja nichts als Leichtsinn, doch Eris war entschlossen, zu bleiben, bis sie ihr Vorhaben in die Tat umgesetzt hatte.

Früher einmal hatte sie, als sie Jemsins Misshandlungen leid war, zu fliehen versucht. Bevor sie eines Besseren belehrt wurde. Beim ersten Versuch schaffte sie es bis Firefall, einer Stadt am Südrand des Silbermeers, ehe der Häscher sie erwischte und zurück auf die Hyazinthe, Jemsins Schiff, brachte. Wo sie mehrere Peitschenhiebe und eine Woche ohne Nahrung und Tageslicht erwarteten.

Danach hatte sie es noch zweimal versucht. Beide Male war sie erwischt und jedes Mal härter bestraft worden. An ihren Handgelenken und Fußknöcheln und auf dem Rücken waren die Narben bis heute zu sehen.

Irgendwann hatte Eris aufgegeben.

Schließlich könnte alles noch viel schlimmer sein.

Jesmin war ein Scheusal, aber sie verdankte ihm ihr Leben. Er hatte sie schon früher vor der Kaiserin beschützt und würde das auch weiterhin tun. Das war keine Kleinigkeit.

Plötzlich hörte sie ein Klicken von der Tür her, die nur einen Spalt weit aufging.

Mit angehaltenem Atem lauschte Eris auf die zwei Stimmen, die ins Zimmer drangen. Die der Kommandantin und eine andere, ihr unbekannte. Eris warf einen Blick zum Fenster hinaus auf den Sternenhimmel, der sich über Firgaard spannte. Mitternacht war schon längst vorbei.

Wen würde die Kommandantin wohl in ihr Zimmer führen?

Einen Liebhaber? Bei dem Gedanken drehte sich Eris der Magen um.

Als Safira dann aber hereintrat, war sie allein.

Sofort fiel alle Härte von ihr ab. Die Schultern sanken nach vorn. Mit einem Mal war sie nicht mehr die Kommandantin. Nicht mehr die stolze Cousine des Königs.

Nur noch ein erschöpftes Mädchen.

Durch die Spitzenborte des Vorhangs sah Eris, wie Safira eine Lampe entzündete und dann im Zimmer umherging. Zuerst nahm sie ihre Waffen ab – den Säbel und den Gürtel mit den Wurfmessern – und legte sie auf einen Tisch an einem Bogenfenster. Danach zog sie Stiefel und Uniform aus und schlüpfte in eine hellblaue Tunika, die ihr fast bis zu den Knien reichte. Bevor sie sich endgültig zu Bett begab, zog Safira ein schmales, verziertes Wurfmesser aus dem Haarknoten in ihrem Nacken. Dieses schob sie unter ihr Kissen und blies die Lampe aus.

Wegen dieses Messers war Eris hier.

Sie hörte das Rascheln der Bettdecke. Das Knarzen von Holz. Dann breitete sich Stille aus.

Reglos verharrte Eris in den Schatten. Ihre Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit, während sie auf den richtigen Moment wartete, um zur Tat zu schreiten. Schon bald hörte sie, wie der Atem der Kommandantin sich veränderte, tiefer und ruhiger wurde.

Erst als Eris keinen Zweifel mehr hegte, dass Safira fest schlief, trat sie aus ihrem Versteck hervor.

Dieses Zimmer war weit schlichter als die Schlafgemächer des Königs und seiner Gemahlin, durch die Eris sich aus reiner Neugierde geschlichen hatte. Safira kam in der Thronfolge gleich nach dem König und seiner Schwester. Deshalb hatte Eris prächtiges Mobiliar und seidene Bettwäsche erwartet. Doch Safiras Zimmer war klein und ihr Bett schmal – nicht einmal breit genug für eine weitere Person.

In Schatten gehüllt, schlich Eris durch das vom Silberblau der Nacht erhellte Zimmer. Lautlos trat sie an den Bettrand. Nun hätte sie nach dem Messer unter dem Kopfkissen greifen sollen. Es wäre das Werk eines Augenblicks gewesen. Schnell und einfach. Aber beim Anblick der Schlafenden … zögerte Eris.

Im Schlaf sah die Kommandantin so anders aus. Ihr tintenschwarzes Haar lag auf dem Kissen ausgebreitet. Ihre Haut war viel heller als die von Asha und Dax, die zartbraunen Finger ruhten entspannt an ihrer Wange. Nichts erinnerte mehr an die furchteinflößende Soldatin, die in barschem Ton Befehle gab. Wie jung sie doch schien. Zu jung. Wie ein Setzling, der noch nicht richtig Wurzeln geschlagen hatte.

Eris sog den Anblick in sich auf.

Erst als die Schlafende sich bewegte, besann Eris sich wieder. Sie legte die Felsdistel auf den Nachttisch und schob ihre Hand – sachte, ganz langsam – unter das Kissen.

Bald berührte sie mit den Fingerspitzen den kalten Stahl der Klinge. Eris wusste, dass es sich um Safiras Lieblingsmesser handelte, da sie ihr die letzten Wochen wie ein Schatten gefolgt war.

Wenn man jemandem so nahe kam, entging einem kaum etwas.

Behutsam zog Eris das Messer unter dem Kissen hervor. Ein paar Herzschläge lang betastete sie lächelnd die geprägte Scheide. Doch als sie sich zum Gehen wandte, spürte sie, wie sich etwas um ihren Fußknöchel zusammenzog.

Sie blickte nach unten. Erst nach einigen Herzschlägen konnte sie erkennen, worum es sich handelte.

Eine Seilschlinge. Aus zusammengedrehten Seidenlaken, die offenbar unter dem Bett verschwanden.

Vor Schreck erstarrte Eris. Hatte sich das Seil die ganze Zeit schon dort befunden? Bevor Safira hereingekommen war?

Hatte Safira erwartet, dass Eris heute Nacht hier auftauchen würde?

»Wer bist du?«, erklang die Stimme der Kommandantin hinter ihr. Eine kalte Messerspitze ritzte ihr die Haut am Nacken auf.

Dann spürte sie einen Ruck an der seidenen Schlinge und wusste, dass die Kommandantin das andere Ende des Seils fest in der Hand hielt.

Eris war in eine Falle getappt, die ihr die Kommandantin gestellt hatte.

Widerstreitende Gefühle stiegen in Eris auf. Wäre sie nicht schon so spät damit dran gewesen, sich bei Jemsin zurückzumelden, hätte sie sich womöglich geschmeichelt gefühlt.

Doch sie war spät dran. Auch wenn es sich bei dem Raben, der ihr heute in Firgaard gefolgt war, nicht um den Häscher gehandelt hatte, würde es nicht mehr lange dauern, bis dieser hier auftauchte.

Leise Panik ergriff von ihr Besitz. Sie musste schleunigst von hier verschwinden.

»Wer ich bin?«, fragte Eris, ohne sich umzudrehen, und hob die Hände zum Zeichen ihrer Friedfertigkeit, während sie herauszufinden versuchte, wie weit Safira von ihr entfernt stand. »Ich bin nur eine unbedeutende Diebin.«

Leise und bedrohlich fragte Safira: »Wie bist du hier hereingekommen?«

Würde Safira es als Provokation empfinden, wenn Eris jetzt nach der Spindel griff? Eris schluckte und sah sich in dem vom Mondlicht erhellten Zimmer um. Wie könnte sie genügend Abstand zwischen sich und Safira bringen, um eine Tür ins Dazwischen zu öffnen?

Sie beschloss, auf Zeit zu spielen.

»Wie bin ich in den Palast gekommen? Oder in Euer Schlafzimmer?« Bei der zweiten Frage verlieh Eris ihrer Stimme einen zweideutigen Unterton, um Safira aus der Reserve zu locken.

Die Schlinge um ihren Knöchel zog sich fester, gleichzeitig grub sich die Messerspitze in ihren Nacken, sodass das Blut warm hervorquoll. Eris zuckte vor Schmerz zusammen.

»Beides!«, knurrte Safira. Eris’ Spielchen offenbar überdrüssig, sagte sie in befehlendem Ton: »Lass das Messer fallen. Dreh dich um und beantworte meine Frage.«

Eris kaute auf ihrer Unterlippe. Seit jener Nacht, in der sie im Gang zusammengestoßen waren – gleich nachdem Eris den Wandteppich aus Safiras Arbeitszimmer gestohlen hatte –, hatten sie einander nicht mehr von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden. Bei der Erinnerung an den gleichgültigen Blick der blauen Augen wappnete sich Eris. Sie ließ das Messer auf die Fliesen fallen, dann drehte sie sich langsam um.

Safira stand vor ihr in nichts als der kurzen Tunika. Eris’ Blick glitt hoch zu den schmalen Schultern, die von den schwarzen Haaren umspielt wurden. In einer Hand hielt die Kommandantin das Messer, dessen Spitze jetzt auf Eris’ Kehle zeigte, in der anderen das Ende der improvisierten Fessel.

Als Eris ihr in die Augen blickte, sah sie zu ihrer Überraschung, wie darin – wenn auch hinter Wut und Abscheu verborgen – Bewunderung aufblitzte.

Sofort wurde Eris von dem Wunsch gepackt, etwas Verwegenes zu tun.

Etwas Leichtsinniges.

»Beantworte meine Frage«, sagte Safira und sah sie streng an. »Wie bist du hier hereingekommen?«

Bei dem Gedanken an die Gerüchte, die im Palast über sie kursierten, musste Eris lächeln. Als wollte sie Safira ein Geheimnis anvertrauen, beugte sie sich zu ihr und flüsterte: »Habt Ihr nicht gehört, dass die Todestänzerin durch Wände gehen kann?«

Wachsam machte Safira einen Schritt auf Eris zu, wie ein Raubtier, das sich vorsichtig seiner Beute nähert. »Du hältst dich wohl für besonders schlau?«, fragte sie und sah ihr dabei unverwandt in die Augen. »Willst wohl Eindruck bei mir schinden?«

Eris verging das Lächeln.

»Verbrecher wie dich gibt es zuhauf. Ich habe tagtäglich mit ihnen zu tun.« Die saphirblauen Augen wurden schmal. »Glaub mir, Todestänzerin. Du bist nur eine gewöhnliche Diebin, die nichts Besseres zu tun hat, als anderen Menschen das Leben schwer zu machen.«

Safira kam noch einen Schritt auf sie zu, war jetzt so nah, dass Eris die Wärme ihres Körpers zu spüren glaubte. »Und weißt du, was mit Leuten wie dir passiert?«, raunte sie und fuhr mit der Messerspitze sanft über Eris’ Haut, an den Schlüsselbeinen entlang. Dann wurde ihre Stimme ausdruckslos. »Sie verrotten, von allen vergessen, in einem Kerker. Und genau dahin werde ich dich jetzt bringen.«

Vielleicht lag es an Safiras selbstgewissem Tonfall, der verriet, dass sie es gewohnt war, die Oberhand zu haben, und auch jetzt davon überzeugt war. Vielleicht lag es auch an der Drohung, Eris für immer wegzusperren und sie dort dem Vergessen anheim zu geben. Als wäre sie nichts wert.

Egal, woran es lag – Eris hatte nicht vor, sich das gefallen zu lassen.

»Lieber verrecke ich in einer Zelle voller ehrlicher Verbrecher, als mich unter Euch und Euresgleichen frei zu bewegen«, gab sie zurück, während sie die Hand zur Faust ballte.

Safira starrte Eris an, als wäre sie übergeschnappt. »Diebe und Mörder sind deiner Meinung nach ehrlich?« Sie schüttelte den Kopf. »Du leidest unter Wahnvorstellungen.«

Aber Eris war noch nicht fertig. »Ihr habt Dax geholfen, den Thron an sich zu reißen. Hat er Euch nicht genau deshalb zu seiner Kommandantin ernannt?« Bei diesen Worten verzog sie höhnisch das Gesicht. »Und Eure Cousine – die Namsara –, hat sie nicht ihren eigenen Vater getötet, um ihren Bruder zum König zu machen? Wenn das keine Verbrechen sind. Trotzdem schlaft ihr jetzt alle in seidenen Betten, esst von silbernen Tellern und maßt Euch an, alle zu verurteilen, außer Euch selbst.«

Jetzt war das Messer wieder an ihrer Kehle, bohrte sich in ihre Haut. Die Berührung ließ Eris’ Wut verebben und brachte sie wieder zu sich.

Je länger du dich hier mit diesem Mädchen streitest, umso schlimmer wird Jemsin dich bestrafen.

Beim Gedanken an Jemsin blitzte die Erinnerung an eine seiner Lektionen in Eris auf, die er ihr ganz am Anfang erteilt hatte, als er sie in seine Mannschaft aufgenommen hatte – und sie noch zu jung gewesen war, um zu erkennen, was für ein Scheusal er war.

Ein abgewinkelter Ellbogen hat eine Spitze, siehst du? Er führte es ihr bei seinem eigenen Arm vor. Die passt bestens in die Magengrube eines Feindes.

»Der ehemalige König war ein Tyrann«, sagte Safira jetzt mit warnendem Unterton. Als wäre es bereits ein Verbrechen, etwas gegen die Kommandantin und ihren Cousin oder ihre Cousine zu sagen.

Kämpfe niemals fair, hörte Eris in Gedanken die Stimme des Kapitäns, wenn du überleben willst. Schreib dir das hinter die Ohren.