Heartless Hunter. Der rote Nachtfalter, Band 1 - Kristen Ciccarelli - E-Book

Heartless Hunter. Der rote Nachtfalter, Band 1 E-Book

Kristen Ciccarelli

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Bin ich dein Jäger oder deine Beute? Seit Hexen von der gefürchteten Blutwache gejagt werden, führt Rune ein gefährliches Doppelleben. Tagsüber spielt sie ein Mitglied der gesellschaftlichen Elite, nachts bringt sie unter dem Decknamen "Roter Nachtfalter" Hexen in Sicherheit – und muss ihre eigene Magie verbergen. Um an Informationen zu kommen, beginnt Rune, den berüchtigten Hexenjäger Gideon Sharpe um den Finger zu wickeln. Als Gideon sich auf das knisternde Spiel einlässt, ahnt Rune noch nicht, dass er sie längst durchschaut hat. Band 1 der prickelnden New-Adult-Romantasy-Reihe

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 562

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Cover for EPUB

Als Ravensburger E-Book erschienen 2025 Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag © 2025 Ravensburger Verlag

THE CRIMSON MOTH Copyright © 2024 by Kristen Ciccarelli Übersetzung: Sarah Heidelberger (www.sarah-heidelberger.de) Lektorat: Svenja Kopfmann Covergestaltung: Kerri Resnick, unter Verwendung einer Illustration von Sasha Vinogradova Karte: Cartographybird Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.

ISBN 978-3-473-51270-6

ravensburger.com/service

Für alle, die Angst haben, sie selbst zu sein

Kameraden! Einzig durch den Tod der alten Welt können wir die Wiederkehr des Bösen verhindern. Wir müssen die Hexen vernichten und ihre Magie auslöschen. Alles ist erlaubt, wenn es nur dem einen höheren Zwecke dient: uns von ihrem Joch zu befreien.

Möge ihr Blut auf ewig die Straßen beflecken.

Nicolas Creed, der gute Kommandant

Ouvertüre

Wenn die Soldaten der Blutwache ein Mädchen verdächtigten, eine Hexe zu sein, zogen sie es nackt aus und suchten seinen Körper nach Narben ab.

Während der Herrschaft der Königinnenschwestern hatten die Hexen ihre Spruchnarben voller Stolz zur Schau getragen. Sie waren Machtsymbole, ähnlich wie juwelenbesetzte Ringe und aufwendige Seidenkleider. Die Narben standen für Wohlstand und gesellschaftlichen Rang. Vor allem aber für Magie.

Nun waren sie das Kennzeichen der Gejagten.

Zwei Jahre war es jetzt her, dass Rune zuletzt die Narben einer Hexe zu Gesicht bekommen hatte. Damals, nachdem die Hexenköniginnen in ihren Betten ermordet worden waren und das Blut ihrer Ratsmitglieder durch die Straßen strömte.

Damals, als die Blutwache die Kontrolle an sich gerissen hatte und die Säuberungen begannen.

Bei Sonnenuntergang hatte sich im Zentrum der nebelgetränkten Stadt eine blutgierige Meute versammelt. Rune befand sich unter ihnen. Es gelang ihr nicht, den fiebrigen, hungrigen Glanz in den Augen der Umstehenden zu ignorieren. Die Menschen dürstete es nach Rache wie nach schwerem, rotem Wein.

Die Möwen kreischten über ihren Köpfen, als die alte Hexe die Stufen zum Podest hinaufstolperte. Anders als jene, die nach ihr kamen, vergoss die Greisin keine Träne und flehte auch nicht um Gnade, sondern stellte sich ihrem Schicksal mit stoischem, wenn auch stechendem Blick.

Ein Soldat der Blutwache riss einen Ärmel von ihrem Hemd ab. Darunter kam der Beweis ihrer Verbrechen zutage: musterförmige Narben, die wie zarte weiße Spitze auf ihrer goldenen Haut den linken Arm entlangflossen.

Rune konnte nicht anders, als ihre Schönheit zu bewundern. Die Narben, einst Symbol der Überlegenheit, waren unmöglich zu verbergen, wodurch die alte Frau leichte Beute für die Hexenjäger gewesen sein musste.

Dies war auch der Grund, aus dem Rune sich niemals schnitt.

Sie konnte es sich nicht leisten, dass jemand die Narben entdeckte.

Kapitel 1

RUNE

MIRAGE (m.): Die niederste und einfachste Form von Zauber.

Bei einem Mirage-Zauber handelt es sich um einfache, nur kurz währende Illusionen, die wenig Blut erfordern. Je frischer das Blut, desto stärker die Magie und desto leichter die Umsetzung.

Aus: Regeln der Magie von Königin Callidora der Kühnen

Blitze zuckten über den Himmel, als Rune Winters den nassen Wald durchquerte. Die Kiefern boten ihr kaum Schutz vor dem Regen. Das sanfte Licht ihrer Laterne fiel auf den Pfad voller knorriger Wurzeln und Pfützen, der sich vor ihr zwischen den Bäumen entlangschlängelte.

Die Nacht war denkbar ungeeignet, um einen Zauber zu wirken. Der Regen durchtränkte ihren Umhang und löste die Symbole auf, die sie sich mit Blut aufs Handgelenk gezeichnet hatte. Sie würde sie erneuern müssen, ehe der Regen sie und damit auch ihre magische Wirkung vollständig entfernt hatte.

Die Illusion, hinter der sich Rune verbarg, musste halten, bis sie sicher sein konnte, dass Seraphine sie nicht umbringen würde.

Seraphine Oakes war früher einmal die Beraterin der Königinnenschwestern gewesen. Entsprechend groß war ihre Hexenkraft. Zwei Jahre hatte es gedauert, bis Rune sie endlich aufgespürt hatte. Doch was würde sie wohl am Ende dieser bewaldeten Landspitze erwarten – Freundin oder Feindin?

Rune vergrub die Zähne in ihrer Unterlippe. Die letzten Worte ihrer Großmutter kamen ihr wieder in Sinn.

Liebes, du musst mir versprechen, Seraphine Oakes aufzusuchen. Sie wird dir alles erklären, wofür mir keine Zeit mehr bleibt.

Nachdem die Blutwache Nan aus dem Haus geschleift hatte, hatten die Männer mit Blut ein X quer über die Haustür geschmiert, sodass alle Welt sehen konnte, dass hinter diesen Mauern eine Feindin der Republik festgenommen worden war, die nun für ihre Sünden würde büßen müssen.

Die Erinnerung an jenen Tag vor zwei Jahren saß tief und schmerzte so sehr, als hätte jemand Rune ein Messer in die Eingeweide gerammt.

Auf ihrem Weg durch den Wald wurde sie von einem beklemmenden Rauschen in ihren Ohren begleitet, das gleich einer Ouvertüre mit jedem Schritt lauter und schneller wurde. Wenn Seraphine die Illusion durchschaute, in die sich Rune gehüllt hatte, ehe sie den Grund für ihren Besuch erklären konnte, würde sie Rune aus dem Haus werfen – oder sie sogar an Ort und Stelle töten.

Denn wo auch immer Rune Winters hinging, folgte ihr der Ruf, den sie sich so sorgsam erarbeitet hatte.

Der Ruf einer Informantin. Einer Hexenhasserin. Sie war ein Liebling der Neuen Republik. Das Mädchen, das seine eigene Großmutter verraten hatte.

Das war auch der Grund dafür, dass sie sich heute als alte Hausiererin maskiert hatte, die ein mit Waren beladenes Maultier durch die Nacht führte. Der Geruch von nassem Fell hing in der Luft, und die Töpfe und Pfannen klapperten bei jedem Schritt, den das Tier tat. Die Magie, die durch Runes Adern floss, hatte eine bis in die kleinsten Einzelheiten glaubwürdige Illusion ins Leben gerufen. Zusammengehalten wurde sie durch die Symbole, die sie sich aufs Handgelenk gemalt hatte, um den Zauber an sich zu binden.

Es handelte sich um einen Mirage, den niedersten aller Zauber, und doch hatte Rune all ihre Kraft aufwenden müssen, um ihn zu wirken. Seitdem wüteten stechende Kopfschmerzen hinter ihrer Stirn.

Die Zweige über ihr schwankten im Regen. Blitze durchfurchten den Nachthimmel und erleuchteten das winzige Cottage, das dort, wo der Wald endete, am Rande der Klippen kauerte. Durch die Fenster fiel warmes Lampenlicht, und Rune stieg der Duft des Holzrauchs in die Nase, der aus dem Schornstein aufstieg.

Ihre Blutzeichen waren inzwischen so verwaschen, dass die Illusion um sie herum flackerte. Doch der Zauber musste unbedingt noch ein wenig länger halten.

Sie stellte die Laterne ab, holte die Glasphiole hervor, die sie in ihrer Tasche bei sich trug, und entkorkte sie. Dann gab sie etwas Blut auf ihre Fingerspitze, hielt das Handgelenk ins Licht und zeichnete die Symbole nach, um ihre Wirkung zu verstärken. Eines veränderte ihr Aussehen – graues Haar, faltige Haut, gebeugte Schultern –, das andere diente dazu, den Muli an ihrer Seite zu manifestieren.

Kaum war sie fertig, dröhnte der Zauber wieder lauter in ihren Ohren, und auf ihrer Zunge breitete sich ein salziger Geschmack aus. Die Illusion klärte sich, die Verbindung zu Rune wurde gestärkt – und damit auch das Pochen hinter ihrer Stirn. Sie schluckte das stechende Aroma der Magie in ihrem Mund herunter, streifte sich die Kapuze über den Kopf und biss die Zähne zusammen, um den beißenden Kopfschmerz so gut es ging auszublenden. Dann griff sie nach ihrer Laterne und verließ den Wald auf dem Pfad Richtung Haus.

Immer wieder musste sie ihre Stiefel kraftvoll aus dem Matsch ziehen, und Regen peitschte ihr ins Gesicht. Ihr Herz schlug so heftig, als wollte es ihr aus der Brust springen. Was auch immer geschehen mochte, wenn sich die Tür vor ihr öffnete, lag nun einzig in den Händen der sieben Ehrwürdigen. Wenn Seraphine ihre Magie durchschaute und einen Todesspruch wirkte, bekäme Rune nur, was sie verdiente. Wenn sie aber Gnade walten ließ …

Rune biss sich auf die Lippe und versuchte, sich keine allzu großen Hoffnungen zu machen.

Auf dem Weg durch den Garten hörte sie das aufgeregte Wiehern eines Pferdes aus dem Stall dringen, der sich verschwommen im Dunkel abzeichnete. Vermutlich fürchtete es sich vor dem Gewitter. Als sie das Haus erreichte, stand die Haustür bereits offen, und ein Dreieck aus goldenem Licht fiel nach draußen.

Sie schloss die steifen Finger um den Messingring am Griff ihrer Laterne. Erwartete Seraphine sie bereits?

Manche Hexen waren dazu in der Lage, einen kurzen Blick in die Zukunft werfen. Doch inzwischen war diese Fähigkeiten selten und unzuverlässig geworden und hatte kaum mehr etwas gemeinsam mit den klarsichtigen Prophezeiungen der mächtigen Seherinnen aus vergangenen Zeiten. Ob Seraphine wohl eine von ihnen war?

Bei der Vorstellung straffte Rune die Schultern und zwang sich, ihren Weg fortzusetzen. Wenn Seraphine dieses Treffen vorhergesehen hatte, wusste sie, wer Rune war und dass sie kommen würde. Ein Grund mehr, es hinter sich zu bringen.

Sie ließ die Maultier-Illusion im Garten vor dem Haus stehen und trat ein. Doch niemand war dort, um sie zu empfangen. Im Herd erstarben rot glühend die letzten Kohlen eines Feuers, und auf dem Tisch stand ein Teller mit Essen. Die Bratensauce war bereits geronnen. Offenbar befand sich der Teller schon länger dort. Durch die offene Tür drang Regen herein und benetzte den Steinboden zu Runes Füßen.

Sie runzelte die Stirn. »Hallo?«

Stille.

»Seraphine?«

Beim Klang des Namens seiner Besitzerin ächzte das Haus auf. Die Deckenbalken knarrten, und die Wände bogen sich im Wind. Rune sah sich um, suchte nach einer Spur der Frau, die hier lebte. Das winzige Häuschen bestand aus nur einem einzigen Raum. In der einen Ecke befand sich die Küche, in der anderen ein kleiner Arbeitsbereich.

»Irgendwo hier musst du doch stecken …«

In der Raummitte führte eine grob gezimmerte Leiter auf den Dachboden. Rune kletterte empor, wo sie ein ungemachtes Bett und drei brennende Kerzen fand, von denen honigfarbenes Wachs auf die Bodendielen tropfte. Sie stieg wieder hinab und sah durch die Tür an der rückwärtigen Hauswand, die in einen leeren Garten führte.

Keine Spur von Seraphine.

Runes Haut prickelte vor Unbehagen.

Wo steckt sie?

Erneut schwebte das Wiehern des Pferds durch die Nacht.

Aber natürlich! Der Stall! Wenn sich das Tier erschreckt hatte, war Seraphine sicherlich nach draußen gegangen, um es zu beruhigen.

Mit hämmerndem Schädel und der Laterne in der Hand trat Rune wieder hinaus in den Regen. Sie ließ die Haustür offen stehen und nahm ihren Maulesel beim Strick. Regen prasselte auf ihr Handgelenk, und der Zauber geriet ins Schlingern, versuchte, sich an ihr festzuklammern. Sie war bereits auf halbem Weg zum Stall, als sie mit dem Stiefel an etwas Feuchtem hängen blieb. Bei Dunkelheit und Regen war es kaum zu erkennen, also ging sie in die Hocke und stellte ihre Lampe im Schlamm ab.

Ein Kleidungsstück.

Rune hob den tropfnassen Stoff auf und erhob sich wieder, um ihren Fund im Lampenlicht zu untersuchen. Es war ein einfaches, wollenes Arbeitskleid, wie es eine Dienerin tragen würde, während sie den Boden schrubbte.

Nur dass es jemand am Rücken aufgeschlitzt hatte.

Warum sollte jemand …

Sie sah sich um und entdeckte ein zweites Kleidungsstück auf dem Pfad. Es war ein Baumwollhemd. Schlammverschmiert. Sie bückte sich. Auch dieses war hinten aufgeschlitzt.

Nein, dachte Rune und zeichnete mit den Fingern die ausgefransten Ränder nach. Nicht geschnitten. Zerrissen.

Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen.

Sie achtete nicht mehr darauf, ihr Handgelenk vor den Elementen zu schützen, sodass der Regen das Mal vollständig abwusch und die Illusion verblasste. Mit ihr verschwand auch der Kopfschmerz. Aber ehe Rune die Symbole nachziehen konnte, heulte wütend wie ein Wolf ein Windstoß ums Haus.

WUMMS!

Die Haustür fiel zu.

Rune ließ das Wollkleid fallen und wirbelte herum. Ihr stockte der Atem. Denn nun, wo die Holztür geschlossen war, sah sie das blutige X, das von Ecke zu Ecke reichte.

Das Zeichen der Blutwache.

Seraphine war nicht in den Stall gegangen, um ihr Pferd zu beruhigen. Soldaten hatten sie aufgespürt, ihr die Kleider vom Leib gerissen und sie mitgenommen.

Nans älteste Freundin befand sich in den Händen der Blutwache – an dem gefährlichsten Ort, den es für eine Hexe geben konnte.

Kapitel 2

RUNE

Rune trieb Nans erschöpfte Stute Lady durch die nebelverhangenen Straßen der Hauptstadt – vorbei an den vielen, mittlerweile längst geschlossenen Geschäften, die den Weg säumten und in das weiße Licht der summenden elektrischen Straßenlaternen gehüllt waren. Ladys Hufgetrappel auf dem Kopfsteinpflaster hallte grell durch die Stille der Nacht.

Zwei Jahre waren vergangen, seit Hexenblut durch diese Straßen geflossen war und die Republik des Roten Friedens das Licht der Welt erblickt hatte. Zwei Jahre, die Rune mit der Suche nach Seraphine Oakes verbracht hatte, um den letzten Wunsch ihrer Großmutter zu erfüllen. Das Regime hatte alle Hexen hingerichtet, mit denen Nan befreundet gewesen war, und all ihre Besitztümer an sich genommen. Nur eine einzige von ihnen hatte die Säuberung überlebt: Seraphine. Und auch das nur, weil sie fast zwei Jahrzehnte zuvor von der ehemaligen Königin ins Exil geschickt worden war und sie seitdem niemand mehr zu Gesicht bekommen hatte.

Doch jetzt hatten die Hexenjäger sie aufgespürt. Ausgerechnet in jener Nacht, in der auch Rune sie endlich gefunden hatte.

Konnte das Zufall sein? Oder war jemand Rune auf den Fersen? Auf lange Sicht würde es sich wohl ohnehin nicht vermeiden lassen. Aber sie beschloss, von nun an besonders vorsichtig zu sein. Wenn innerhalb der Blutwache jemand einen Verdacht gegen sie hegte, musste sie ihn von sich ablenken.

Sie versuchte, nicht an das blutige X an der Tür und die zerrissene Kleidung im Matsch zu denken. Sie wusste genau, was Seraphine widerfahren war. Schließlich hatte sie es mit eigenen Augen gesehen, als die Blutwache gekommen war, um Nan zu holen.

Denn es war Rune selbst gewesen, die sie in ihr Haus geführt hatte.

Gleich nach dem Aufstand hatten die Soldaten alle bekannten Hexen zusammengetrieben und ausgelöscht. Die Armee der Neuen Republik hatte die Macht über die Häfen an sich gerissen und so dafür gesorgt, dass niemand die Insel verlassen konnte.

Nans Schiffe waren beschlagnahmt worden, und es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis die Hexenjäger auch nach Wintersea House kommen würden, um sie gefangen zu nehmen.

Aber Nan hatte einen Plan. Ihr ehemaliger Geschäftspartner besaß ein Fischerboot, mit dem er Hexen von der Insel schleuste. Das Boot würde um Mitternacht in der Bucht ablegen, die zu seinem Anwesen gehörte, und sollte es ihnen gelingen, rechtzeitig dort zu sein, wäre auf dem kleinen Gefährt noch Platz für Nan und Rune.

Rune war damals erst sechzehn gewesen und ihre Magie noch nicht erwacht. Und sie wäre auch nie auf den Gedanken gekommen, dass es eines Tages geschehen könnte, da ihre leiblichen Eltern beide keine magischen Fähigkeiten besessen hatten und nur Hexen Hexen zeugen konnten. Allerdings überging die Magie manchmal einzelne Kinder und sogar ganze Generationen, sodass schwer vorauszusehen war, wann sie sich zeigen würde. Runes Eltern waren bei einem Schiffsunglück ums Leben gekommen, als sie noch ein Baby gewesen war. Und da sie keine Familie hatte, die sie hätte aufnehmen können, war sie von Nan adoptiert worden.

Aber es spielte keine Rolle, dass Rune keine Hexe und auch nicht mit Nan blutsverwandt war. Unter dem Roten Frieden zählte einzig, dass Rune Nan nicht verraten hatte. Wenn die Blutwache kam, um ihre Großmutter zu holen, würde Rune zur Sympathisantin erklärt und an der Seite von Kestrel Winters hingerichtet werden, weil sie sich des Verbrechens schuldig gemacht hatte, eine Hexe nicht an die Blutwache ausgeliefert zu haben.

Dies war ihre einzige Chance zur Flucht.

Hastig packte Rune ihre Sachen, als sie eine Botschaft von ihrem ältesten Freund Alexander Sharpe erhielt.

Jemand hat euch betrogen, stand darin. Die Blutwache weiß von euren Plänen. Heute am frühen Abend haben Soldaten den Fischer festgenommen. Sie warten in seiner Bucht auf euch.

Doch das war längst nicht die schlimmste Nachricht, die Alex ihr überbrachte: Alle Straßen, die aus der Stadt führen, sind gesperrt, und es wird jeder festgenommen, der keine Reiseerlaubnis hat.

Was bedeutete, dass sämtliche Fluchtwege blockiert waren. Sie saßen in Wintersea House fest. Natürlich konnten sie sich auch verstecken – aber wie lange sollte das gut gehen?

Du musst sie melden, Rune. Solange du noch kannst.

Die Botschaft war eindeutig: Wenn Rune Nan nicht umgehend auslieferte, würde man sie beide hinrichten. Weigerte Rune sich, erwartete sie ein grausamer Tod. Aber Nan war ihre Großmutter. Der Mensch, den Rune auf dieser Welt am meisten liebte. Sie zu verraten war, als würde sie sich das Herz aus der Brust reißen und den Soldaten übergeben. Und so ging sie in dem festen Vertrauen, dass ihre Großmutter einen Ausweg wissen würde, mit der Botschaft zu Nan.

Sie erinnerte sich noch genau an den stählernen Ausdruck, der in Nans Augen getreten war, als sie die Nachricht las. Aber anstatt sich einen neuen Fluchtplan auszudenken, hatte sie gesagt: Er hat recht. Du musst mich auf der Stelle melden.

Entsetzt hatte Rune den Kopf geschüttelt. Nein,esmussnocheinen anderen Weg geben!

Nan hatte sie in ihre Arme gezogen und fest an sich gedrückt. Noch heute konnte sie das Lavendelöl riechen, das sich ihre Großmutter hinter die Ohren getupft hatte. Aber wenn du es nicht tust, bringen sie dich um, mein Liebes.

Rune war in Tränen ausgebrochen und hatte sich in ihrem Zimmer eingeschlossen.

Wenn du mich wirklich liebst, hatte Nan auf der anderen Seite der Tür gesagt, dann ersparst du mir den qualvollen Anblick, wie sie dich umbringen.

Tränen brannten in Runes Augen, und ihre Kehle war wie zugeschnürt, sodass sie nur stumm vor sich hinschluchzen konnte.

Bitte, Liebes. Tu es für mich.

In der Hoffnung, dass alles nur ein Albtraum war, kniff Rune die Augen zu. Doch sie erwachte nicht. Weil es kein Albtraum war. Und ihr blieben nur zwei Möglichkeiten. Entweder sie lieferte ihre Großmutter aus, oder sie starb mit ihr gemeinsam einen grausamen Tod.

Heiße Tränen rannen ihre Wangen hinab.

Sie öffnete die Tür und trat hindurch.

Nan drückte sie fest an sich und streichelte ihr das Haar, wie sie es früher immer getan hatte, als Rune noch klein gewesen war. »Du musst jetzt sehr klug vorgehen, Liebes. Klug und mutig.«

Mit Lizbeths Hilfe hatte Nan Rune auf ein Pferd verfrachtet und sie im Galopp hinausgeschickt in die Nacht.

Rune erinnerte sich an den peitschenden Regen und den beißenden Wind. Erinnerte sich, wie sie am ganzen Leib gezittert hatte. Es war eine eiskalte Nacht gewesen. Doch das war nichts im Vergleich zu der kalten Angst, die in ihrem Herzen herrschte.

Sie hätte sich weigern können. Hätte schnurstracks zu den Soldaten marschieren und nicht Nan, sondern sich selbst ausliefern können.

Doch das hatte sie nicht getan.

Weil tief in ihrem Inneren der Wunsch zu leben stärker war.

Weil sie tief in ihrem Inneren ein Feigling war.

Klitschnass und zitternd stolperte Rune ins Hauptquartier der Blutwache und sprach die Worte, mit denen sie ihre Großmutter verdammen würde. Den Menschen, den sie auf dieser Welt am meisten liebte.

Kestrel Winters ist eine Hexe und plant ihre Flucht. Ich kann euch zu ihr bringen. Aber wir müssen uns beeilen, sonst ist sie weg.

Sie hatte die Blutwache direkt nach Wintersea geführt. Die Männer hatten Nan festgenommen und schleiften die alte Frau aus dem Haus, während Rune still und starr zusah. Ihre Gefühle tief in sich verschloss.

Doch sobald die Soldaten fort waren, war sie weinend zusammengebrochen.

Die vergangenen zwei Jahre hatte Rune mit dem Versuch verbracht, jene Nacht wiedergutzumachen.

Aber Nan hatte recht: Durch ihren Verrat hatte Rune bewiesen, dass sie der Neuen Republik dieselbe Treue entgegenbrachte wie alle anderen, wenn nicht sogar mehr. Denn was für ein Mensch musste man sein, um seine eigene Großmutter auszuliefern? Ein Mensch, der Hexen aus tiefster Seele hasste.

Eine List, von der inzwischen das Leben unzähliger Hexen abhing.

Mit zitternden Händen zog Rune an Ladys Zügeln und sah sich in den nebligen Straßen der Hauptstadt um. Die Lederriemen schnitten durch die Hirschlederhandschuhe in ihre Haut. Mit etwas Glück würde die Blutwache Seraphine in einer Arrestzelle unterbringen und abwarten, bis sie noch ein paar weitere Hexen festgenommen hatten, um sie dann alle gemeinsam ins Palastgefängnis zu transportieren.

Hatte Rune allerdings kein Glück, dann …

Beim Gedanken an die Alternative – dass Seraphine nämlich bereits unter dem Palast eingekerkert war und dort auf ihre Hinrichtung wartete – wurde ihr flau im Magen.

Sie trieb Lady an, versuchte, vor ihrer Angst davonzulaufen.

Das war es, was sie heute Nacht herausfinden musste: ob Seraphine noch lebte, und falls ja, wo die Blutwache sie festhielt.

Als sie das Stadtzentrum erreichte, schälte sich ein gewaltiges Bauwerk mit Kuppeldach aus der Dunkelheit, das dem Palast an Größe kaum nachstand.

Das Opernhaus.

Im Inneren würde es nur so wimmeln von Hexenjägern, ganz zu schweigen von den Mitgliedern des Tribunals. Und einige von ihnen wussten mit Sicherheit, wo die Hexen derzeit festgehalten wurden.

Als Erstes tauchte der Pavillon mit seinem Kuppeldach aus Kupfer vor ihr auf. Dort setzten vor dem Eingang des Opernhauses die Kutschen ihre Fahrgäste ab. Fünf gewaltige Säulen, die so hoch wie fünf Etagen waren, trugen das Vordach.

Rune fand es jedes Mal wieder verwunderlich, dass der Gute Kommandant das Opernhaus nicht geschlossen hatte. Kurz nach der Revolution hatten Patrioten das Gebäude geplündert und des Großteils seiner einstigen Pracht beraubt. Gemälde, Statuen und anderes Dekor, das auf die Herrschaft der Hexen zurückging, waren zerschmettert, verbrannt oder im Meer versenkt worden. Doch das Innere mit seinen Sitzreihen aus Blattgold und rotem Samt war erhalten geblieben – eine grelle Erinnerung an die Dekadenz der Hexenköniginnen.

Unter dem Vordach bremste Lady zu einem leichten Trab ab, und ein älterer Stallbursche kam unter dem bogenförmigen Eingang hervor.

Rune saß ab. Als ihre flachen Seidenschuhe auf den Steinboden trafen, hätten ihre Beine fast nachgegeben. Nach dem wilden Ritt, der sie durch die Nacht zurück in die Stadt getragen hatte, schmerzte ihr jeder einzelne Knochen im Leib.

»Patriotin Winters. Sie sind mächtig spät heute Abend.«

Innerlich zuckte Rune beim Klang der vertrauten Stimme zusammen. Ihr waren die jüngeren Stallburschen lieber als der Alte hier. Die Jungen ließen sich noch von Runes Reichtum und ihren Verbindungen, vor allem aber ihrem Ruf als Heldin der Revolution beeindrucken. Carson Mercer dagegen begegnete Rune ohne jede Ehrfurcht, was sie jedes Mal aufs Neue beunruhigte. Hatte er Verdacht geschöpft oder war er einfach nur ein unglücklicher alter Mann?

»Die Oper ist bereits halb vorbei.«

Als Rune seinen missbilligen Tonfall registrierte, fand sie wieder in ihre Rolle zurück. Sie streifte die Kapuze ihres feinen Wollumhangs zurück und schüttelte ihr Haar zu einem Meer aus rotgoldenen Wellen aus. »Ich ziehe es vor, den ersten Akt zu verpassen, Mr Mercer. Er erscheint mir doch meist eher ermüdend. Letztlich zählt doch nur, wie die Geschichte endet, richtig? Wen schert schon der Rest?«

»Da mögen Sie recht haben«, entgegnete Carson und musterte sie scharf. »Man fragt sich glatt, weshalb Sie die Oper überhaupt besuchen.« Dann wandte er sich ab, um Lady zu den Stallungen zu führen.

Der scharfe Beiklang in seinem Tonfall missfiel ihr, also rief sie ihm nach: »Wegen des Tratsches natürlich!«

Kaum war er außer Sicht, tastete Rune nervös nach der Geheimtasche in ihrem Kleid, in der sie die blutgefüllte Phiole aufbewahrte. Zufrieden zwang sie sich, den griesgrämigen Stallburschen zu vergessen, und betrat das Opernhaus, in dem die Mitglieder der Blutwache mit Sicherheit gerade dabei waren, mit ihrem neusten Fang zu prahlen.

Rune brauchte heute Abend nur die Ohren zu spitzen und die richtigen Fragen zu stellen, um noch vor Ende der Aufführung die Informationen zu erhalten, die sie benötigte, um Seraphine zu retten.

Auf dem Weg zum Haupteingang kam sie an mehreren Kindern vorbei, die um Münzen und Essensreste bettelten. An den Narben, die ihnen in die Stirn geritzt worden waren, war zu erkennen, dass es sich um Büßer handelte – die Nachkommen von Hexensympathisanten. Was nichts weiter bedeutete, als dass sich jemand in ihrer Familie geweigert hatte, eine Hexe auszuliefern, oder eine Hexe vor den Hexenjägern versteckt hatte.

Anstatt die Nachkommen der Hexensympathisanten zu exekutieren oder einzusperren, ließ der Gute Kommandant ihnen das Büßersymbol in die Stirn ritzen, sodass jeder wusste, mit wem er es zu tun hatte. Es war eine Warnung und sollte andere davon abschrecken, Hexen zu helfen.

Rune juckte es in den Fingern, ihren Münzbeutel hervorzuholen und den Kindern etwas Geld hinzuwerfen. Aber es war verboten, Büßern direkt zu helfen. Und solange Carson in der Nähe war, wagte sie es nicht. Also lächelte sie nur kaum merklich. Das Lächeln, mit dem ihr die Kinder antworteten, zerriss ihr fast das Herz.

Im Inneren der Oper stellte sie fest, dass Carson recht hatte: Die Oper war bereits halb vorbei. Die prachtvolle Haupttreppe, bestehend aus zwei auseinander- und wieder zusammenlaufenden Aufgängen, war nahezu leer. Aber das Stimmengewirr, das aus dem großen Foyer weiter oben herabschwebte, verriet ihr unmissverständlich, dass die Pause bereits in vollem Gange war.

Rune legte die Hand auf die kühle Marmorbalustrade, verdrängte den Gedanken an die Büßerkinder und machte sich auf den Weg nach oben. Sie spürte die aufmerksamen Blicke der Männer auf sich ruhen, die ihr beim Aufstieg begegneten und ihr noch nachsahen, als sie längst vorübergegangen war. Blicke, die sie an das Gespräch erinnerten, das sie kürzlich mit ihrer Freundin Verity geführt hatte.

Meinst du nicht, es ist an der Zeit, dass du dich für einen von ihnen entscheidest?

Einen Verehrer, hatte Verity damit gemeint. Einen der vielen begehrten jungen Männer, die bei Bällen Schlange standen, um eines von Runes Tanzbändern zu ergattern, sie zu einem romantischen Abendessen einluden und sie auf ausgedehnte Kutschfahrten ausführten. Es war nicht Rune selbst, die sie begehrten. Selbstverständlich mochten einige unter ihnen sein, die sich aufrichtig für das hübsche Gesicht interessierten, das sie der Welt präsentierte. Doch den meisten von ihnen ging es um Nans Vermögen, ihre profitable Reederei und ihren beträchtlichen Grundbesitz. All das lag nun in Runes Händen – ein »Geschenk« der Neuen Republik für ihr heldenhaftes Verhalten während der Revolution.

Die Nützlichen unter ihnen hielt Rune nun bereits seit über einem Jahr hin. Sie alle stammten aus Familien mit sehr guten Beziehungen und Zugang zu geheimen Informationen, die für Rune wertvoll sein konnten. Informationen, die sie in dunklen Ecken und Winkeln aus ihnen hervorzulocken pflegte.

Aber so würde es nicht ewig weitergehen. Die Geduld ihrer Verehrer war begrenzt, und sie konnte es sich nicht leisten, sie sich zu Feinden zu machen.

Am Vormittag nach ihrem Gespräch hatte Verity eine Liste der nützlichsten Kandidaten erstellt und sie Rune aufs Kissen gelegt. Für einen von ihnen würde sie sich entscheiden müssen. Und zwar bald.

AbernichtheuteNacht,dachte sie, während sie die Treppe hinaufeilte. Heute Nacht würde sie sich unter die Söhne und Töchter der Revolution mischen und ihnen alle Geheimnisse stehlen, derer sie habhaft werden konnte.

Als Rune den oberen Absatz der verschlungenen Treppe erreichte, erstreckte sich vor ihr das Grand Foyer, in dem sich im Licht von einem Dutzend blitzender und blinkender Kristallleuchter Opernbesucher in edlen Anzügen und in Seide und Spitze gehüllte Damen mit cremefarbenen Perlen im Haar tummelten.

»Rune Winters«, sagte eine Stimme, die sie mitten in der Bewegung innehalten ließ. »Wieder einmal mit Verspätung. Unterwegs zu einem Stelldichein mit einem deiner Geliebten?«

Die Worte wurden von allseitigem, schockiertem Kichern begleitet.

Rune drehte sich um.

Verity de Wilde, ihre beste Freundin.

Mit in die Hüfte gestemmten Händen stand sie mitten im Licht. Auf ihren Lippen lag ein verspieltes Lächeln. Feine braune Löckchen fielen ihr um ihr schneeweißes Gesicht, und ihre Augen funkelten dunkel hinter ihrer Brille. Sie trug ein altes Kleid von Rune aus der vergangenen Saison. Es war sonnenblumengelb, hatte weiße Spitzenärmel und einen tief ausgeschnittenen Rücken und war einmal ärmelfrei gewesen. Aber da Ärmel inzwischen wieder in Mode waren, hatte Rune ihre Schneiderin beauftragt, welche anzubringen, ehe sie Verity das Kleid schenkte.

Um Verity herum stand ein Grüppchen ihrer eleganten Freunde, junge Leute, die schon Hunderte Male an Runes Tisch gegessen und in ihrem Ballsaal getanzt hatten, was sie auch heute wieder tun würden, auf dem kleinen Fest, das sie nach der Oper ausrichten würde.

Wobei Freunde vielleicht etwas zu großzügig formuliert war. Denn nicht einer von ihnen hätte auch nur eine Sekunde gezögert, Rune zu verraten, wenn herausgekommen wäre, was sie war.

»Aber vielleicht«, bemerkte eine andere Stimme, der nun alle Blicke folgten, »war Rune ja auch den ganzen Abend lang unterwegs, um Hexen zu retten. Oder heißt es nicht, der rote Nachtfalter arbeite ausschließlich im Schutz der Dunkelheit?«

Bei den Worten lief es Rune eiskalt den Rücken hinab. Es war Laila Creed, die sie ausgesprochen hatte, und sie musterte Rune mit stechendem Blick. Laila war mehr als eine Handbreit größer als sie, was ihr immer das Gefühl gab, sie würde sie von oben herab mustern.

Sie war wunderschön, hatte markante Wangenknochen und rabenschwarzes Haar, das ihren Kopf krönte. Und sie war Mitglied der Blutwache.

Rune erkannte ihr pfauenblaues Kleid mit der hohen Taille als einen Entwurf von Sebastian Khan wieder, eines angesagten Couturiers vom Festland. Wer eines seiner Kleider tragen wollte, musste mindestens ein Jahr warten, und wer es diese Saison geschafft hatte, eines seiner Modelle zu ergattern, wurde von allen aufs Äußerste beneidet. Wollte man eines seiner Kleider kaufen, musste man über beträchtlichen Wohlstand und noch bessere Verbindungen verfügen.

In Runes Schrank hingen zwei. Die Tatsache, dass Laila nicht ihre Uniform, sondern das heiß begehrte Kleid trug, bedeutete, dass sie heute Abend nicht im Dienst war. Vermutlich war sie also nicht unter den Hexenjägern gewesen, die Seraphine geholt hatten.

Beim Gedanken an Seraphines leeres Haus wurde Rune eiskalt. Die Soldaten der Blutwache hatten die Hexe nur kurz vor Runes Eintreffen gefunden. Falls sie ausspioniert wurde, konnte es sich bei der Spionin gut und gerne um Laila handeln, die Rune aus Gründen, über die sie nur spekulieren konnte, noch nie hatte leiden können.

Rune setzte die Maske auf, hinter der sie die wahre Rune Winters verbarg, und warf lachend den Kopf in den Nacken. »Nun stellt euch nur vor, wie ich nachts über diese verfluchte Insel mit ihrem scheußlichen Wetter und dem endlosen Schlamm und Regen herumziehe! Was würde da nur aus meinen Minews werden?«

Sie hob ihren Kleidersaum, um ihre handgefertigten Seidenschuhe zu zeigen. Die Couturière Evelyn Minew lebte am anderen Ende der Welt, und jeder ihrer Entwürfe war ein Unikat. Es hatte Rune ein halbes Jahr gekostet, sie zu erreichen, und ein weiteres, bis die Schuhe eingetroffen waren.

Nimm das, Laila Creed.

Unter erstaunten und neiderfüllten Blicken ließ Rune das Kleid wieder sinken und trat lächelnd an den Rand des Kreises, der sich um sie gebildet hatte, wobei sie darauf achtete, sich so zu stellen, dass sie Laila kaum merklich herausdrängte. Dann senkte sie die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. »Habt ihr es schon gehört? Die letzten Hexen, die sie gerettet hat, soll sie durch die Kanalisation aus der Stadt geschmuggelt haben. Die Kanalisation, stellt euch das mal vor!«

Alle Anwesenden rümpften angewidert die Nase.

Rune brauchte ihre Reaktion nicht zu spielen, denn bei der Erinnerung drehte sich ihr immer noch der Magen um: der faulige Abwassergestank in dem dunklen Tunnel, der ihr um die Knie schwappte, während sie die Zwillingsschwestern – beide gerade erst dreizehn geworden – Meile um Meile unter der Stadt entlangführte. Eine Hausangestellte hatte die Bettlaken gefunden, die die Mädchen unter den Bodendielen versteckt hatten. Die Blutflecke waren nicht rot, sondern schwarz, ein eindeutiges Zeichen dafür, dass sie Hexen waren, die mit Beginn ihrer ersten Blutung ihre Macht erlangten.

In jener Nacht hatte Alexander Sharpe – der Freund, der Rune gewarnt hatte, dass die Blutwache Nan im Visier hatte – am anderen Ende der Kanalisation mit frischer Kleidung und einem Pferd gewartet, das die Mädchen direkt zum Hafen bringen würde, wo eines von Runes beladenen Frachtschiffen kurz davor war, Segel zu setzen. Es war stets Alex, der irgendwo am anderen Ende auf sie wartete. Manchmal mit Pferden oder einer Kutsche, manchmal mit einem Boot. Bei all ihren Rettungsaktionen war er für den Transport zuständig, und er hatte sie noch nie enttäuscht.

Das Frachtschiff war zwei Tage zuvor im sicheren Hafen angekommen, und die Zwillinge hatten eine verschlüsselte Botschaft geschickt, dass sie das Festland unbeschadet erreicht hatten.

Rune wurde es unter ihrem Umhang warm, und sie löste die Kordeln an ihrem Hals. »Ich finde allein die Vorstellung, lieber durch anderer Leute Kacke zu waten, als in einem weichen, sauberen Bett zu schlafen, einfach nur abstoßend.«

Die anderen murmelten zustimmend – bis auf eine: Laila. »Aber ist das nicht genau, was der rote Nachtfalter behaupten würde?«

Runes Finger erstarrten, gerade als sie den Knoten gelöst hatte. Der Umhang glitt ihr von den nackten Schultern, aber ehe sie ihn festhalten konnte, fing jemand hinter ihr den feinen Wollstoff auf und legte ihn sich fein säuberlich über den Arm.

»Ich bitte dich«, sagte eine tröstliche Stimme dicht bei ihrem Ohr. »Wenn Rune der Nachtfalter wäre, hätte sie dann ihre Großmutter verraten?«

Alex Sharpe trat nun neben sie, und sie sah zu ihm auf. In Gegenwart ihres ältesten Freundes – der neben Verity auch ihr einzig echter war – entspannte sie sich augenblicklich.

Heute Abend erinnerte er mit seinem goldenen Haar, das im Licht der Kronleuchter schimmerte, an einen Löwen. Sein Blick ruhte warm und beständig auf ihr, doch seine Stirn runzelte sich dabei kaum merklich, was ihr verriet, dass er wusste, wo sie gewesen war, und dass er sich um sie gesorgt hatte.

Nun ergriff Noah Creed – Lailas Bruder und einer der wenigen jungen Männer, die es auf Veritys kurze Verehrerliste geschafft hatten – das Wort.

»Der rote Nachtfalter hat seit Wochen nicht mehr zugeschlagen«, sprang er Rune ebenfalls zur Seite. Um seine Theorie zu festigen, fügte er noch hinzu: »Ich habe gehört, dass sie heute Abend ohne Zwischenfälle eine neue Hexe festgenommen haben. Der Nachtfalter hat keinerlei Anstalten gemacht, sie zu retten.«

Nun war Noah Runes Aufmerksamkeit sicher.

Wo hast du das nur gehört?

Noah hatte die gleichen dunkelbraunen Augen und hohen Wangenknochen wie seine Schwester, und auch sein Teint war ockerbraun. In seinem taillierten schwarzen Gehrock mit dem hohen Seidenrevers war er nicht nur mehr als gut aussehend – zudem war er auch der Sohn des Guten Kommandanten, was bedeutete, dass er nahezu direkten Zugang zu Geheiminformationen besaß. Ja, Noah Creed war eindeutig ein vielversprechender Kandidat.

Aber wird er es bemerken, wenn seine Frau nachts aus dem Bett schlüpft? Oder wenn sie nach Tagesanbruch erschöpft und übersät mit blauen Flecken nach Hause zurückkehrt?

Rune wandte sich lächelnd zu Noah um. »Eine Hexe? Heute Nacht? Nun spann uns nicht so auf die Folter, Noah. Erzähl uns mehr!«

Noahs Pupillen weiteten sich, als er sich plötzlich im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit wiederfand. Dennoch hob er abwehrend die Hände. »Gideon Sharpe hat sie eingeliefert, mehr weiß ich selbst nicht.«

Gideon Sharpe.

Fast hätte Rune bei der Erwähnung des Namens von Alex’ älterem Bruder abfällig den Mund verzogen.

Gideon war ein treuer Anhänger der Neuen Republik und ein gnadenloser, blutdurstiger Hexenjäger, der mehr Mädchen und Frauen mit Runes Fähigkeiten vor den Scharfrichter geführt hatte als jedes andere Mitglied der Garde. Doch zu Ruhm gelangt war er durch seine Beteiligung an der Ermordung der Königinnenschwestern – ein Ereignis, das der Funke gewesen war, der die Revolution zu einem Großbrand ausgeweitet hatte.

Rune hasste ihn aus tiefster Seele.

Die beiden Sharpe-Brüder hätten unterschiedlicher nicht sein können.

Verity suchte Runes Blick und hob eine ihrer dunklen Brauen zu einer wortlosen Frage. Als Antwort schob sich Rune eine Haarsträhne hinters Ohr, sodass die Rubinohrringe ihrer Großmutter zum Vorschein kamen, die sie früher an diesem Abend angelegt hatte. Sie hingen ihr tropfenförmig von den Ohren wie Blut. Das war ihre Antwort: Misserfolg. Mehr brauchte ihre Komplizin über den Ausgang des Abends nicht zu wissen. Sie haben Seraphine erwischt. Entweder Verity reimte sich den Rest selbst zusammen, oder Rune würde ihr die Einzelheiten später am Abend erzählen, bevor sie ihren Gästen die Türen von Wintersea House öffnete.

Beim Anblick der Rubine legte sich ein verkniffener Zug um Veritys Lippen. Hastig wandte sie sich von Rune ab und räusperte sich. »Nun, ich für meinen Teil war immer schon der Überzeugung, dass die alte Blackwater der rote Nachtfalter ist«, sagte sie und lenkte die Aufmerksamkeit der Gruppe damit auf eine ältere Dame mit krisseligem Haar und perlenkettenumwickeltem Hals am anderen Ende des Foyers. Sie saß allein auf der Terrasse des Operncafés und redete mit sich selbst. »Könnt ihr euch vorstellen, wie sich die alte Schachtel seit Jahren ein nächtliches Katz-und-Maus-Spiel nach dem nächsten mit der Blutwache liefert? Was für eine perfekte Verkleidung!«

Bei ihren Worten brachen die anderen in schallendes Gelächter aus.

Während sie weiterrieten, wer der rote Nachtfalter sein könnte, nutzte Rune die Chance, die Verity ihr ermöglicht hatte, und mischte sich still und leise unter die Menge, um ihr neues Ziel zu verfolgen: Gideon Sharpe zu finden.

Kapitel 3

GIDEON

Die nächste Nacht, die nächste Hexe.

Gideon Sharpe presste die Fäuste gegen die Wandkacheln in der Dusche und ließ sich siedend heißes Wasser über den Rücken laufen. Blut rann ihm wie Tinte über die Haut und verschwand wirbelnd im Abfluss. Er hätte nicht mehr sagen können, ob das Blut echt war oder Einbildung. Seine Albträume beschränkten sich längst nicht mehr auf die Stunden, in denen er schlief – inzwischen schlugen sie immer wieder auch dann zu, wenn er wach war.

Aber das hier war kein Albtraum. Er wusste, wessen Blut an seinen Händen klebte.

Und es war so echt wie er selbst.

Ich hätte sie niemals mit ihr allein lassen dürfen.

Den Tasker-Brüdern bereitete es Freude, Befehle zu missachten. Und so sehr Gideon Hexen auch verachtete – unnötige Grausamkeiten waren ihm fast ebenso zuwider. Er hatte die Brüder bereits entlassen wollen, als sie das letzte Mal eine Hexe halb totgeprügelt hatten. Doch seine Vorgesetzten hatten ihm nur mitgeteilt, eine Hexe niederzuknüppeln sei nicht anders, als würde man eine kranke Ratte erschlagen.

Und so waren die Misshandlungen weitergegangen. Der heutige Abend war nur einer von vielen.

Und was willst du dagegen tun?

Gideon schloss die Augen und hielt sein Gesicht ins dampfende Wasser.

Ein Problem, das bis morgen warten kann.

Im Augenblick war er zu müde zum Denken. Zu müde, um auch nur einen Schritt zu tun. Fast ein Jahr hatte er gebraucht, um die bekannte Hexe aufzuspüren, die er heute Abend festgenommen hatte, und er war geritten, als wäre ihm der Teufel auf den Fersen, um sie zu erwischen.

Am liebsten hätte er sich mindestens eine Woche lang nicht mehr in den Sattel geschwungen. Aber er war heute noch mit Harrow, einer seiner Informantinnen, in der Oper verabredet. Sie war es gewesen, die ihm den entscheidenden Hinweis zu Seraphines Aufenthaltsort gegeben hatte. Und nun schien sie etwas Neues über den roten Nachtfalter herausgefunden zu haben – den ewigen Dorn in Gideons Fleisch. Er konnte es gar nicht abwarten, sich anzuhören, was ihm Harrow zu sagen hatte.

Der Gedanke verlieh ihm frische Motivation. Er rieb das Seifenstück zwischen den Händen und schäumte Stück für Stück seines müden Körpers ein, bis er zu dem Brandzeichen kam, das in seinen linken Brustmuskel gesengt worden war: eine Rose mit messerartigen Dornen in einer Mondsichel.

Ihr Brandzeichen.

Gideon schauderte trotz des heißen Wassers.

Die jüngste der Königinnenschwestern mochte tot sein, doch sie hatte ihn für immer gezeichnet. Er hatte schon oft darüber nachgedacht, die Narbe einfach aus seiner Haut zu schneiden. Noch die letzte verdammte Spur dieser verfluchten Bestie von seinem Körper zu entfernen. Doch die Erinnerungen würden bleiben. Ebenso wie die Albträume.

Und am Ende spielte es ohnehin keine Rolle. Denn jedes Mal, wenn er sein Messer zückte und die scharf geschliffene Spitze ansetzte, zitterte seine Hand zu heftig, um weiterzumachen. Also blieb das Brandzeichen vorerst, wo es war.

Beim Gedanken an sie fragte er sich, ob die Seelen besonders bösartiger Hexen wohl nach ihrem Tod weiterlebten und auf diese Erde zurückkehrten, um jene zu quälen, die sie bereits im Leben gemartert hatten. Noch im selben Moment wünschte er sich, er hätte den Gedanken nie gehabt. Er drehte das Wasser ab und sah sich im dampfenden Badezimmer um. Kalte Luft umfing ihn, und die Härchen auf seinen Armen und Beinen richteten sich auf.

Mach dich nicht lächerlich. Sie ist tot, und Geister gibt es nicht.

Nun ja, Cressida war vielleicht tot, aber dort draußen trieben sich noch jede Menge Hexen herum, die nicht weniger gefährlich waren. Drei Nächte war es jetzt her, dass sie, versteckt unter einer Brücke, wieder einen verstümmelten Leichnam geborgen hatten, ausgeblutet und mit aufgerissenem Brustkorb. Die Nachricht, dass es sich um einen Offizier der Blutwache handelte, hatte Gideon wenig überrascht, da dies bisher auf alle Opfer zugetroffen hatte.

Es war bereits der dritte Mord in diesem Monat gewesen.

Er konnte nicht beweisen, dass die Frau, die sie den roten Nachtfalter nannten, diese Grausamkeiten beging. Aber er war sich sehr sicher, dass dem so war, denn meistens ereigneten sich die Morde kurz, bevor sie zuschlug und eine der Hexen, die er festgenommen hatte, aus ihren Gefängniszellen befreite. Seine Sicherheitsvorkehrungen wurden immer umfangreicher, und doch war sie ihm bisher noch jedes Mal entkommen. Um das zu bewerkstelligen, musste der Nachtfalter Zauber wirken. Zauber, die wiederum Blut erforderten. Frisches Blut.

Wer von uns ist wohl als Nächstes dran?

Gideon rieb sich übers Gesicht, schüttelte sich das Wasser aus dem Haar und trocknete sich mit einem Handtuch ab. Er versuchte, an etwas anderes zu denken, egal, was.

Die Oper.

Ja, das war gut. Er würde in Gedanken den heutigen Abend durchgehen. Die Vorbereitungen würden die gespenstische Kälte aus seinem Badezimmer vertreiben.

Zunächst würde er seinen erschöpften Körper in seine Uniform hüllen. Dann würde er sich ins Opernhaus quälen. Dort würde er sich von Harrow berichten lassen, was sie über den Nachtfalter herausgefunden hatte, während auf der Bühne irgendeine nutzlose Geschichte nachgespielt wurde. Und am Ende würde Gideon nach Hause zurückkehren, auf dem Heimweg einen Plan ausarbeiten, wie es unter Berücksichtigung der neuen Informationen weitergehen sollte, und am Ende ins Bett fallen, wo er – so hoffte er zumindest – traumlos schlafen würde, um am nächsten Morgen bewaffnet mit neuem Wissen die Jagd auf seine Nemesis wiederaufzunehmen.

Und diesmal würde er sie erwischen.

Aber vorher musste er einen Abend in der Oper überleben, eine Aussicht, die er sogar noch unerträglicher fand, als sich auf Hexenjagd zu Pferd durch Schlamm und Regen zu quälen.

Aber es gab auch eine gute Neuigkeit: Zumindest würde er die erste Hälfte verpassen.

Kapitel 4

RUNE

Die Mitglieder der Blutwache stachen aus der Menschenmenge im Grand Foyer heraus wie rote Mohnblumen auf einer Wiese. Ihre Uniformen waren selbst hier, in dieser bunt gekleideten Schar, unmöglich zu übersehen. Doch bei keinem der Soldaten handelte es sich um Gideon.

Vielleicht ist er heute Abend ja gar nicht hier.

Wenn Alex’ älterer Bruder Seraphine tatsächlich eingekerkert hatte, war er vielleicht noch mit den Formalitäten beschäftigt, oder er hatte sich den restlichen Abend freigenommen.

Rune konnte nicht anders, als sich zu fragen, ob es Gideon gewesen war, der Seraphine das Kleid vom Leib gerissen und sie gezwungen hatte, nackt im Regen zu stehen, während seine Soldaten und er ihren Körper auf Narben absuchten. Bei der Vorstellung mahlte sie unwillkürlich mit den Kiefern.

Gideon Sharpe.

Wie sie ihn verabscheute.

Die Wut glomm in Rune wie glühende Kohlen. Nach außen hin schlängelte Rune sich gewandt durch die Menge, stets ein Lächeln und ein Kompliment über Kleider und Frisuren oder die Abendgesellschaften bei den Wohlhabenden der Neuen Republik, die sie in der vergangenen Woche besucht hatte, auf den Lippen. Nirgendwo hielt sie sich länger auf als unbedingt nötig, stets suchte sie mit dem Blick nach der nächsten purpurroten Uniform.

Es war die übliche Mischung: Angehörige der Blutwache, Söhne und Töchter von Mitgliedern des Tribunals – Personen, die nicht nur gute Verbindungen hatten, sondern auch gern mit diesen Verbindungen prahlten und dabei Informationen preisgaben, ohne es selbst zu bemerken. Ihre Unterhaltungen schwirrten durch die Luft wie von Pollen trunkene Bienen.

Die Kronleuchter erhellten die Decke, die einen blauschwarzen Sternenhimmel zeigte – eines der wenigen alten Werke, die die Revolution unversehrt überstanden hatten. Zu jeder Seite des Foyers gingen zwei Salons ab, und entlang der Wand hinter den Säulen, die den Raum säumten, befanden sich mehrere kleine Alkoven für … weniger gesellschaftsfähige Begegnungen.

Rune war gerade auf dem Weg zu dem Salon, in dem sich häufig die Mitglieder der Blutwache versammelten, als sie am Unterarm gepackt und weg von der Menge in einen der schummrigen Alkoven gezogen wurde. Als sie zu ihrem Gegenüber herumfuhr, sah sie in goldbraune Augen, die sie unter sandfarbenen Brauen heraus musterten. Alle Anspannung fiel von ihr ab.

Es war nur Alex.

»Rune.« Seine Fingerspitzen ruhten auf der empfindlichen Haut an ihrem Handgelenk, als er sie tiefer in die Dunkelheit zog. »Du siehst aus, als würdest du dich für einen Besuch in der Hölle wappnen.«

Ganz plötzlich überkam Rune das tiefe Bedürfnis, sich noch eine Weile bei ihm auszuruhen, hier, wo es sicher war, ehe sie sich der nächsten Gefahr aussetzte.

»Was ist heute Abend passiert?«, fragte er.

Rune schüttelte das Bedürfnis nach Ruhe und Sicherheit ab und rief sich wieder ins Gedächtnis, dass sie eine Mission hatte. »Hast du Noah nicht gehört? Dein Bruder ist passiert.« Schon der Gedanke verärgerte sie. »Gideon hat Seraphine kurz vor mir gefunden.«

Alex runzelte die Stirn. »Also hast du …«

Ganz in der Nähe hallte ein Chor von Stimmen durch den Saal. Eine dieser Stimmen war die von Laila Creed. Instinktiv zog Rune Alex in die hinterste Ecke des Alkovens, bis sich ihre Oberkörper beinahe berührten. Dass sie miteinander hier gesehen werden könnten, bereitete ihr keinerlei Sorge. Etwaige Beobachter würden einfach annehmen, dass sich zwischen ihnen gerade genau das abspielte, dessen Verity sie vorhin beschuldigt hatte: ein Stelldichein.

Was ihr Sorge bereitete, war etwas anderes: die Gefahr, belauscht zu werden.

Alex und sie verstummten und warteten ab, bis die Stimmen vorbeigezogen waren. Runes Nasenspitze war nur ein, zwei Zentimeter weit von Alex’ Kinn entfernt, und sein Duft nach Leder und Eiche erfüllte die Luft. Der ohnehin schon enge Raum schien um sie herum noch weiter zusammenzuschrumpfen, und kurz musste Rune an die Nacht denken, in der sie Nan ausgeliefert hatte. Alex war auf schnellstem Weg nach Wintersea gekommen und hatte sie bis zum Morgengrauen im Arm gehalten, während sie stundenlang bitterlich geweint hatte.

»Ich mache mir Sorgen um dich«, flüsterte er ganz dicht an ihrem Ohr. Sein Tonfall war liebevoll, weich. Als bestände Rune aus Glas und müsste mit größter Vorsicht behandelt werden. »Tag für Tag kümmerst du dich um andere, aber wer kümmert sich je um dich?«

»Du«, flüsterte sie gegen sein zweireihiges Revers. »Du und Verity. Und Lady.«

»Lady ist ein Pferd«, konterte er. »Und Verity begibt sich ebenso in Gefahr wie du.«

Er schien noch mehr sagen zu wollen, aber in diesem Moment läutete die Glocke das Ende der Pause ein. Rune löste sich aus seiner vertrauten, beständigen Nähe und warf einen Blick aus dem Alkoven. Zwar versperrte ihr eine Säule die Sicht, aber sie konnte gerade so beobachten, wie Lailas schwarzes Haar, das zu einer in dieser Saison angesagten Krone hochgesteckt war, hinter der Tür zum Opernsaal verschwand. Das Stimmengewirr nahm bereits ab. In einigen Minuten würden im Foyer Leere und Stille einkehren.

Dabei hatte Rune Gideon noch nicht gefunden.

Sie war nicht bereit, zuzulassen, dass sich der heutige Abend als Zeitverschwendung entpuppte. Sie musste herausfinden, wo Seraphine gefangen gehalten wurde.

»Ist dein Bruder auch hier?«, flüsterte sie und sah sich im leeren Foyer um wie ein Falke auf der Suche nach der dicksten Feldmaus.

»Das weiß ich nicht. Wir haben diese Woche noch gar nicht miteinander geredet. Wieso?«

Sie antwortete nicht, aber das war gar nicht nötig. Alex wusste auch so, was sie dachte.

»Rune, nein! Mein Bruder ist gefährlich.« Er fasste sie sanft an der nackten Schulter und drehte sie wieder zu sich um. »Und das gilt für niemanden mehr als für dich.«

»Dein Bruder ist eine Gefahr für jede Hexe in der Neuen Republik.« Sie schüttelte seine Hand ab. »Insbesondere für Seraphine. Wenn ich nicht herausfinde, wo er sie gefangen hält …«

Verstand Alex das denn nicht? Sie wusste nicht, wo sich Seraphine aufhielt und wann sie verlegt werden sollte. Und was, wenn sie schon längst auf dem Weg ins Palastgefängnis war? Sollte das wirklich der Fall sein, dann …

Dann wird es mir im Leben nicht gelingen, sie zu befreien, und sie bringen sie um, so wie sie Nan umgebracht haben.

Hatte die Blutwache eine Hexe erst einmal ins Palastgefängnis gesteckt, bestand für Rune keine Chance mehr, sie zu retten. Das Gefängnis war unbezwingbar.

Und wenn ich sie nicht retten kann, dann scheitere ich an Nans letzter Bitte an mich.

Was ganz und gar inakzeptabel war.

»Rune.«

»Ich habe keine andere Wahl.« Sie tat wieder einen Schritt auf ihn zu. »Du wirst ihn schließlich nicht fragen.«

So loyal Alex dem roten Nachtfalter, also ihr, gegenüber auch war – bei seinem Bruder zog er eine Grenze. Unter keinen Umständen wäre er bereit gewesen, Gideon so zu manipulieren, wie Rune, Verity und er es mit dem gesamten Rest ihres Freundeskreises taten. Ein einziges Mal hatte Rune ihn darum gebeten und mit ansehen müssen, wie seine leuchtend goldenen Augen matt und stumpf geworden waren. Seine ungewöhnlich scharfe Antwort –Aufkeinen Fall! – hatte ausgereicht, um ihr deutlich zu machen, dass sie diese Frage besser niemals wieder stellte.

Rune wusste, dass Alex dabei geholfen hatte, Cressida Roseblood zu ermorden, die jüngste der drei Königinnenschwestern. Er hatte nie wirklich darüber gesprochen, hatte nur preisgegeben, dass er es für Gideon getan hatte, und danach sofort das Thema gewechselt. Rune wusste bis heute nicht, was genau er damit hatte sagen wollen. Hatte Gideon ihn darum gebeten, Cressida zu töten? Oder hatte er ihn gezwungen? Oder hatte Alex es freiwillig getan, um seinen Bruder in irgendeiner Form zu retten? Wobei es Rune gewundert hätte, wenn Letzteres der Fall gewesen wäre, da eigentlich Gideon der Gewaltbereite von den beiden war – das geborene Raubtier.

Anders als sein älterer Bruder war Alex warmherzig und freundlich und fand die Morde an den Hexen widerwärtig. Ganz abgesehen von seiner tiefen Loyalität gegenüber Rune.

Das Problem war nur, dass er Gideon gegenüber genauso loyal war. Loyaler sogar, wie Rune manchmal befürchtete. Aber aus irgendeinem Grund vertraute sie ihm deswegen nicht weniger. Denn tief in ihrem Herzen wusste sie, dass Alex sie niemals hintergehen würde.

Nur würde er auch seinen Bruder niemals hintergehen.

Und das führte zwischen ihnen immer wieder zu Streitigkeiten.

Es hatte einmal Zeiten gegeben, da hätte Rune Alex’ Liebe zu seinem Bruder nachvollziehen können. Denn in den Jahren vor der Revolution hatte sie sich ebenfalls nach Gideons Anerkennung gesehnt. Auch damals schon war Alex ihr bester Freund gewesen. Gideon dagegen war Rune noch niemals begegnet. Aber sie hatte Geschichten über ihn gehört. Voreingenommene Geschichten, wie sie heute wusste, da es Alex gewesen war, der sie ihr erzählt hatte. Alex, der seinen älteren Bruder wie einen Helden verehrte.

Die junge, naive Rune hatte all die Geschichten geglaubt. Und je mehr Alex ihr erzählt hatte, desto stärker war ihr Gefühl geworden, Gideon eigentlich schon zu kennen. Schon bald hatte sie für ihn geschwärmt, und entsprechend wichtig war es ihr gewesen, bei ihrer ersten Begegnung einen guten Eindruck bei ihm zu hinterlassen.

Wie kindisch und absurd das alles rückblickend betrachtet gewesen war.

Als sie sich kennengelernt hatten, war Rune dreizehn und Gideon fünfzehn gewesen. Er hatte sich nicht nur geweigert, ihr die Hand zu schütteln, sondern sich auch beleidigend über das Kleid geäußert, das sie trug – ein Kleid, das sie mit dem einzigen Gedanken ausgewählt hatte, ihn zu beeindrucken. Als Alex seinen Bruder bat, sie zu entschuldigen, weigerte sich dieser.

Die Geschichten, die Alex ihr über seinen Bruder erzählt hatte, waren falsch, so falsch gewesen. An jenem Tag hatte sie begriffen, dass dies der eine Punkt war, in dem sie sich nicht auf ihn verlassen konnte: die realistische Einschätzung seines Bruders. Gideon war ein Scheusal, und Rune hatte seit diesem Tag niemals wieder versucht, seine Anerkennung zu erlangen.

»Ich wende einen Illusionszauber an«, sagte sie nun und strich dabei mit dem Finger über die verkorkte Phiole, die sie in ihrem Kleid verbarg. Das Blut darin hatte sie bei ihrer letzten Monatsblutung gesammelt. »Er wird gar nicht merken, dass ich es bin.«

Nur dass Rune nach dieser Phiole nur noch eine einzige weitere blieb. War sie verbraucht, würde sie bis zu Beginn ihres nächsten Zyklus mit leeren Händen dastehen. Und sie brauchte so viel Blut wie möglich, wenn sie Seraphine retten wollte.

Alex schüttelte den Kopf. »Er wird riechen, dass du Magie wirkst. Gideon ist keiner deiner liebesblinden Verehrer, Rune. Er ist …«

»Dann lade ich ihn eben auf mein kleines Fest nach der Oper ein.« Wo sie sein Glas mit verzaubertem Wein auffüllen und ihn mit unschuldigen Fragen löchern würde, die ihr am Ende doch die Antworten liefern würden, die sie benötigte.

»Er hasst solche Veranstaltungen.«

Rune hob in einer verzweifelten Geste die Hände und zischte: »Dann lasse ich mir eben etwas anderes einfallen.«

Brüsk drehte sie Alex den Rücken zu und war schon im Begriff, den Alkoven zu verlassen, als er ihr erstickt hinterherflüsterte: »Ich bin es so leid, mitansehen zu müssen, wie du dich in Gefahr begibst.«

Sie verharrte kurz und ließ seufzend ihren Blick durch das leere Foyer schweifen. »Dann sieh eben nicht hin«, murmelte sie schließlich.

Ohne seine Antwort abzuwarten, verließ sie den Alkoven – und prallte gegen eine Uniform der Blutwache.

Kapitel 5

RUNE

Sie stieß mit der Stirn gegen eine Brust, so fest und hart wie Zement.

Der Soldat, zu dem besagte Brust gehörte, hätte sie mit seinen kraftvollen Schritten vermutlich von den Füßen gerissen, hätte er sie nicht geistesgegenwärtig am Ellenbogen gepackt und ihr Halt gegeben. »Verzeihung …«

Rune sah auf in ein Augenpaar, so schwarz und kalt wie ein Meer von unendlicher Tiefe.

Gideon Sharpe.

Sein durchdringender Blick schien die Fassade des Mädchens, das zu sein sie vorgab, zu durchdringen wie eine scharfe Klinge. Als würde er die schützende Haut eines Apfels schälen, um an das weiche, verletzliche Fruchtfleisch darunter zu gelangen.

Rune wurde flau im Magen. Sie zerrte ihren Ellenbogen aus seinem Griff und stolperte mit heftig klopfendem Herzen rückwärts vor Gideon davon – dem Hauptmann der Blutwache, der mehr Hexen in den Tod geführt hatte als irgendein anderer Soldat. Er richtete sich auf, und sein erschrockener, überraschter Gesichtsausdruck wich etwas Dunklem, das sie nicht zu deuten wusste.

Rune hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt. Der rote Nachtfalter mochte einen Grund haben, sich vor diesem Monster zu fürchten. Aber doch nicht Rune Winters, die alberne, oberflächliche Tochter aus reichem Hause, die sie vor den anderen spielte!

Ehe sie neuen Mut fassen konnte, ließ Gideon seinen kalten Blick an ihr hinabgleiten. Seine Aufmerksamkeit übte eine ähnliche Kraft auf sie aus, als würde er mit einem Gewehr auf ihr Herz zielen. Ihr Puls raste, und ihr stockte der Atem. Rune war ein Reh und er der Jäger. Er schätzte sie ein, registrierte jedes Detail, jeden Makel. Wägte ab, ob sie die Jagd wohl wert war. Doch schon im nächsten Moment runzelte er die Stirn und sah weg.

Was wohl bedeutete, dass sie der Mühe nicht wert war.

»Verzeihen Sie mir, Patriotin Winters. Ich …« Gideons schneidender Blick wanderte an ihr vorbei zu seinem Bruder, der nun ebenfalls aus dem Alkoven trat. Als er Alex erkannte, entspannte er sich sichtlich. Gideon umrundete Rune, als wäre sie gar nicht da. Schien sie einfach zu vergessen. »Alex. Alles in Ordnung? Du wirkst etwas … durcheinander.«

»Was? Oh.« Alex schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Alles bestens. Muss an der fürchterlichen Beleuchtung hier drinnen liegen.« Er deutete auf die Gaslampen an den Wänden.

Gideon neigte den Kopf zur Seite, die Erklärung schien ihn nicht zu überzeugen.

Hastig wechselte Alex das Thema. »Seit wann bist du wieder da?«

»Seit heute Abend.«

Die beiden Brüder spiegelten einander, nur umgekehrt. Beide waren groß und gut aussehend, mit markantem Kinn und ausgeprägten Brauen. Aber wo an Alex alles golden und warm war wie ein Sommertag, erinnerte Gideon an einen dunklen, abgeschlossenen Raum ohne Fenster.

Ihre Eltern hatten das Sharpe Duet gebildet, ein Ehepaar, das während der Herrschaft der Hexen anfangs eine bescheidene Schneiderei betrieben hatte. Doch dann hatte ihre Arbeit die Aufmerksamkeit einer der Königinnenschwestern erregt, und so waren sie zu den Hofschneidern der Rosebloods erhoben worden und hatten dadurch kurzlebigen Ruhm erlangt. Denn beide starben noch im selben Jahr, kurz vor der Revolution.

Bis heute verfiel jeder, der sich auch nur ein wenig für Mode interessierte, in andächtiges Schweigen, sobald ihr Name fiel.

»Und?«, fragte Alex. Seine Stimme klang leicht belegt. »War deine Jagd erfolgreich?«

Gideon seufzte und fuhr sich ruppig mit der Hand durchs feuchte Haar. »Ja, wir konnten die Hexe in Gewahrsam nehmen. Auch wenn es dabei einen etwas unglücklichen Vorfall gab.«

Er spricht von Seraphine.

Rune spürte ihre Fassade noch ein wenig weiter verrutschen, als ihr die zerrissene Kleidung im Schlamm wieder einfiel. Ob er und die anderen Soldaten gelacht hatten, als sie der Frau ihr Kleid vom Leib rissen? Sie dachte an das rote X auf Seraphines Tür. Fraglos war es ihr Blut gewesen, das dafür geflossen war.

Wie ein Reh, das die lähmende Angst vor seinem Jäger abschüttelte, ergriff Rune das Wort, achtete aber darauf, jeden Anflug von Hass aus ihrer Stimme herauszufiltern, ehe sie sprach. »Was denn für ein unglücklicher Vorfall?«

Gideon warf ihr einen Blick zu, als wäre er überrascht, dass sie überhaupt noch da war. Dann hielt er kurz inne und musterte sie erneut gründlich.

Diesmal sah Rune ebenfalls genau hin, ließ ihren Blick über seinen Körper schweifen. Der Sitz seiner roten Uniform verriet ihr, dass sich darunter ein harter, effizienter Körper verbarg. Da war nichts Weiches, keine Wärme an ihm. Nur steinharte Muskeln und Kraft, einer unbezwingbaren Festung gleich.

Um seinen Mund lag ein starker, grausamer Zug, und sein schwarzes Haar war noch nass vom Regen, oder vielleicht auch vom Duschen. Und obwohl er nach der Jagd auf Seraphine ebenso zerrupft ausgesehen haben musste wie sie, stand er so sauber und gepflegt vor ihr, dass die Pistole an seiner Hüfte und die Messingschnallen an seinen Schuhen glänzten. Ob er das Blut mit derselben Präzision weggerieben hatte, mit der seine Eltern einst die prächtigen Gewänder der Königinnen genäht hatten?

Das einzig Unordentliche an ihm waren die Knöchel an seiner rechten Hand. Sie waren aufgeschürft und gerötet, als hätte er auf etwas eingeschlagen.

Auf etwas oder jemanden.

Runes Blut kochte. Aus Angst, dass er sonst den Zorn in ihren Augen lodern sehen würde, blickte sie betont scheu unter ihren Wimpern zu ihm auf. Sie wusste genau, welche Wirkung sie damit bei anderen jungen Männern erzielte. »Ich hoffe doch sehr, dass Sie bei diesem … diesem Vorfall nicht verletzt wurden?«

Er schien ihr gerade antworten zu wollen, da läutete die Glocke zum dritten und letzten Mal.

Sie sahen sich um. Das Grand Foyer lag mittlerweile verwaist da. In seiner Leere wirkte es geradezu gewaltig. Die Kronleuchter schienen mit einem Mal zu groß und zu hell zu sein, das Deckengemälde so pompös, dass man sich darunter bedeutungslos vorkam.

Die Platzanweiser löschten die Gaslampen und warfen genervte Blicke in ihre Richtung. Hinter den Türen des Opernsaals setzte bereits Orchestermusik ein.

Gideon erkannte die Zeichen der Zeit und lief rückwärts los. »Ich habe für morgen Abend den Ring reserviert. Bist du auf ein paar Runden dabei?«

Alex nickte. »Sicher, gern.«

Ehe Gideon sich umwandte, ließ er seinen Blick noch einmal von Alex zu Rune und weiter zu dem Alkoven wandern, aus dem sie gekommen waren. Seine Lippen teilten sich kaum merklich, und seinem Blick war anzusehen, dass ihm gerade ein Licht aufgegangen war. Doch welches, das behielt er für sich.

Dann war er weg.

Alex atmete tief durch.

Rune fluchte wortlos in sich hinein. Sie hatte zugelassen, dass er sie einschüchterte, und zu spät den nötigen Mut gefunden, sich mit ihm zu unterhalten. Ihre Chance, an Informationen über Seraphines Aufenthaltsort zu gelangen, war dahin. Sie ballte die Fäuste. Es musste eine Lösung her, und zwar schnell! Viel Zeit blieb ihr mit Sicherheit nicht mehr, bis Seraphine ins Palastgefängnis verlegt wurde. Sie strich ihr Kleid glatt, ersetzte ihre grimmige Miene durch ein liebenswürdiges Lächeln und machte sich bereit, wieder in die Rolle zu schlüpfen, die ihr in den vergangenen zwei Jahren zur zweiten Natur geworden war.

Als Alex erkannte, was sie vorhatte, versuchte er, sie aufzuhalten. »Rune, nicht …«

Sie wich ihm aus.

»Rune!«

Doch er folgte ihr nicht, als sie seinem Bruder hinterherlief.

Ihre Seidenschuhe bewegten sich kaum hörbar über den Mosaikboden des Foyers, sodass Gideon nicht ahnen konnte, dass sie ihm folgte. In diesem kurzen Moment hatten sie ihre Rollen vertauscht. Nun war Rune die Jägerin und er die Beute. Und sie kam näher und näher.