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Als Island während der Wikingerzeit zum ersten Mal besiedelt wurde, brachten die nordischen Siedler nicht nur ihre weltlichen Besitztümer, sondern auch ihre Mythen mit sich auf die neuentdeckte Insel. So kam es, dass die isländische Landschaft bald nicht nur von den nordischen Landnehmern, sondern auch von den Wesen ihrer Mythenwelt bevölkert war: von Göttern und Geistern, Elfen und Zwergen, Drachen und Riesen, Zauberern und Sehern. Aus dem isländischen Mittelalter ist uns eine Vielzahl von Erzählungen über solche Wesen überliefert, die solche Themen teils direkt, teils indirekt mit ganz konkreten Orten in Island verbinden und der isländischen Landschaft damit immer wieder einen mythologischen Sinn einschreiben. So kann eine Reise durch Island noch heute leicht zu einer Reise in die Mythologie des nordischen Mittelalters werden. Ziel dieses Führers ist es, heutige Reisende ganz in diesem Sinne durch die isländische Landschaft zu begleiten: Anhand von vierzig ausgewählten Orten, die eine Reiseroute einmal rund um Island markieren, erschließt er die Welt der nordischen Mythologie von der Wikingerzeit bis ins Hochmittelalter. Mehrere Anhänge stellen zudem eine Auswahl der archäologischen Stätten und Museen Islands vor.
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Seitenzahl: 394
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Þórólfr gab der Landzunge zwischen dem Vigrafjord und Hofsvágr den Namen Þórsnes, „Thors Landzunge“. Auf dieser Landzunge befindet sich ein Berg; für diesen Berg hatte Þórólfr eine so große Verehrung, dass kein Mann ungewaschen seinen Blick dorthin richten sollte und man auf dem Berg nichts und niemanden töten sollte, weder Vieh noch Menschen, außer wenn es selbst wegginge. Diesen Berg nannte er Helgafell, den „heiligen Berg“, und glaubte, dass er dorthin gehen würde, wenn er stirbt, und ebenso alle seine Verwandten auf der Halbinsel.
Die Eyrbyggja saga über Þórólfr Mostr-Bart, den ersten Landnehmer auf Þórsnes auf der Halbinsel Snæfellsnes, und seinen heiligen Berg Helgafell.
Einleitung
Hintergründe
Namensformen und Aussprache
Reisepraktisches
Eine Reise durch die isländische Mythologie und Religionsgeschichte
Die Fährpassage nach Island: Von Göttern, Riesen und der Midgardschlange
Seyðisfjörður: Von Drachenschiffen, Invasoren und Landgeistern
Hrafnkelsdalur: Von Hrafnkell dem Freyr-Priester..
Drekagil: Von Drachen
Ásbyrgi: Von Felswänden, Pferden und dem Gott Loki
Raufarhöfn: Von einem Steinkreis und einer Weltenschau
Hraunhafnartangi: Von einer Eisbärenmahlzeit
Goðafoss und Bárðardalur: Von Götterbildern und Trollen
Akureyri: Von Heidentum und Christentum
Munkaþverá: Von einem Totschläger und dem Gott Freyr
Hvanndalur: Vom Land der Unsterblichkeit
Þingeyrar: Von den Zweikämpfen eines Skalden
Vatnsdalur: Von finnischen Sehern und einem nordischen Wiedergänger
Haukadalur: Von einem Schuh, einem Schiff und dem Schnee auf einem Grabhügel
Hringsdalur: Von der Jenseitshoffnung toter Krieger
16. Ásgarður: Von den Wohnstätten der Götter
Bjargtangar: Vom fernen Westen
Krosshólaborg und Hvammur: Von der zweifachen Bestattung einer Landnehmerin
Hjarðarholt: Von Óláfr Pfau und seiner Halle
Eiríksstaðir: Von klassischen Mythen und zauberkundigen Frauen
Flatey: Von einem Buch und der Göttin Freyja
Þórsnes: Von Hochsitzpfeilern und einem Tempel
Helgafell: Von einem heiligen Totenberg
Fróðá auf der Halbinsel Snæfellsnes: Von einigen berüchtigten „Wundern“
Reykholt: Von der Snorra-Edda
Surtshellir: Von Feuer, Riesen und dem Weltuntergang
Borgarnes: Vom Gott der Krieger und Dichter
Reykjavík: Von Landnahme, Handschriften und Götterstraßen
Þingvellir: Von der Volksversammlung des Jahres 999/1000
Laugarvatn: Von Warmtäufern
Vestmannaeyjar: Von irischen Sklaven, irischen Sagen und nordischen Mythen
Stöng und Þjóðveldisbær: Von Mythologie und Architektur
Oddi: Von der Lieder-Edda
Hlíðarendi: Von toten Helden und offenen Grabhügeln
Þórsmörk: Vom Wald des Donnergottes
Jökulsá: Von Magiern, Erdrutschen und Gletscherläufen
Hörgsland, Hörgslandskot, Hörgsdalur: Von der Religionsgeschichte einiger Ortsnamen
Dverghamrar: Von den Bewohnern der Lavaklippen
Hof am Álftafjord: Von Disen, Sehern und dem Glaubenswechsel
Papey: Von irischen Pilgern und der Hoffnung auf das Paradies
Anhänge
Einige Ruinenstätten und archäologische Fundplätze in Island
Museen und Ausstellungen von besonderem archäologischem, religionsgeschichtlichem oder allgemeinem mediävistischem Interesse
Musealisierte Grassodenhöfe und Grassodenkirchen
Verschiedenes
Weiterführende Literatur
Abbildungsnachweise
Danksagung
Die in diesem Führer behandelten Stätten im Überblick. Die Nummern entsprechen den Nummern der Abschnitte in Kapitel 2:
2. Seyðisfjörður;
3. Hrafnkelsdalur;
4. Drekagil;
5. Ásbyrgi;
6. Raufarhöfn;
7. Hraunhafnartangi;
8. Goðafoss;
9. Akureyri;
10. Munkaþverá;
11. Hvanndalur;
12. Þingeyrar;
13. Vatnsdalur;
14. Haukadalur;
15. Hringsdalur;
16. Ásgarður;
17. Bjargtangar;
18. Krosshólaborg und Hvammur;
19. Hjarðarholt;
20. Eiríksstaðir;
21. Flatey;
22. Þórsnes;
23. Helgafell;
24. Fróðá;
25. Reykholt;
26. Surtshellir;
27. Borgarnes;
28. Reykjavík;
29. Þingvellir;
30. Laugarvatn;
31. Vestmannaeyjar;
32. Stöng und Þjóðveldisbær;
33. Oddi;
34. Hlíðarendi;
35. Þórsmörk;
36. Jökulsá;
37. Hörgsland;
38. Dverghamrar;
39. Hof am Álftafjord;
40. Papey.
In der Karte nicht berücksichtigt ist das Anreisekapitel 1 („Die Fährpassage nach Island“).
Die Geschichte Islands beginnt mit einer Suche nach dem Paradies. Eine unserer ältesten Quellen zur isländischen Geschichte berichtet, dass es nicht skandinavische Auswanderer der Wikingerzeit waren, die als erste Menschen ihren Fuß auf isländischen Boden setzten, sondern frühmittelalterliche irische Mönche. Solche seefahrende Mönche sind auch aus irischen Quellen gut bekannt: Dort wird immer wieder geschildert, wie sich heilige Männer auf eine Pilgerfahrt in die Weiten des Ozeans begeben, um dort entlegene Inseln zu finden, wo sie das Himmelreich gewinnen können. Dabei wird immer wieder deutlich, dass diese Asketen nicht nur auf der Suche nach einem Ort der Stille und der Meditation waren. Mitunter befanden sie sich buchstäblich auf der Suche nach dem irdischen Paradies, demselben Paradies, das die Bibel als den Wohnort Adams und Evas vor dem Sündenfall beschreibt und das den Heiligen am Ende der Zeit versprochen ist.
Ganz am Anfang der Landnahme in Island steht somit, wenn man den Quellen glauben will, die Sehnsucht nach einem Gelobten Land. Island scheint schon ganz am Beginn seiner menschlichen Besiedlung ein Ort gewesen zu sein, dessen Landschaft nicht nur Fels und Erde und Wasser war, sondern über sich selbst hinausverwies auf jenseitige, anderweltliche Gefilde. Von Menschen wie den irischen Pilgermönchen, aber auch später von den nordischen Landnehmern in Island wurde der isländischen Landschaft immer wieder ein mythischer Sinn eingeschrieben und wurde diese Landschaft mit Erzählungen über übernatürliche Orte und Ereignisse verbunden.
Eine Reise durch Island kann so leicht zu einer Reise in die Mythologie des nordischen Mittelalters werden. Ziel des vorliegenden Führers ist es, den modernen Reisenden ganz in diesem Sinne durch die isländische Landschaft zu begleiten. Dabei wird erläutert, welche der Erzählungen der mittelalterlichen Mythologie Islands direkt oder indirekt mit Orten der isländischen Landschaft verbunden sind, und welche Erzählungen von Göttern und Helden, Zwergen und Riesen, Wiedergängern und Zauberern damit verknüpft wurden. Eine Reise durch Island führt zudem an vielen der Orte vorbei, an denen die Handschriften verfasst worden sind, in denen die nordische Mythologie überliefert ist. So ist eine Islandreise immer auch eine Reise in die Überlieferungsgeschichte der nordischen Mythenwelt. Anhand von vierzig ausgewählten Orten, die eine Reiseroute einmal rund um Island markieren, soll dieser Führer modernen Reisenden solche Themen erschließen und eine Einführung in die Religionsgeschichte und Mythologie des Nordens geben, von der Wikingerzeit über die Christianisierung Islands bis ins Hochmittelalter.
Die einzelnen Kapitel des Führers setzen keine Vorkenntnisse zum mittelalterlichen Norden voraus. Einige Rahmendaten sind vielleicht jedoch hilfreich, wenn man sich über das mittelalterliche Island einen Überblick verschaffen will.
Die ersten Siedler in Island sollen der nordischen Überlieferung nach irische Mönche gewesen sein, die sogenannten papar. (Ausführlich werden diese papar im Kapitel zu →Papey vorgestellt.) Wenn man der literarischen Überlieferung Glauben schenken darf, gelangten diese irischen Asketen bereits im 8. Jahrhundert nach Island, gaben die Insel mit dem Beginn der skandinavischen Landnahme jedoch wieder auf. Archäologische Beweise für diese frühe irische Präsenz in Island fehlen allerdings bislang.
Die Landnahme skandinavischer Siedler in Island begann den mittelalterlichen Schriftquellen zufolge etwa um das Jahr 870 n. Chr.; diese Landnahme ist die Landnahme der „Wikinger“. Dabei ist freilich zu bedenken, dass „Wikinger“ strenggenommen kein Volk sind, sondern nordische Seeräuber, die ihren nordischen Zeitgenossen mitunter ebenso viel Kopfzerbrechen bereiteten wie dem Rest Europas, das sie auf ihren Plünderzügen heimsuchten. Die isländischen Landnehmer waren im Grunde vor allem skandinavische Großbauern, die sich in Island als Fischer und Bauern ein neues Leben aufbauen wollten. Dies heißt freilich nicht, dass sich unter den Islandsiedlern nicht auch manch einer befunden hätte, der tatsächlich im eigentlichen Sinne ein „Wikinger“ war oder eine lange und blutige Karriere als Wikinger hinter sich hatte. Und noch weniger heißt dies, dass die frühen isländischen Siedler immer die friedliebendsten und umgänglichsten Zeitgenossen gewesen wären. Die mittelalterlichen Isländersagas sind zwar Erzählungen über die Geschichte großer Bauerngeschlechter, aber sie sind nichtsdestoweniger voll von blutigen Fehden. Wer nach Island auswanderte, tat dies nicht zuletzt, um im neuen Land sein eigener Herr zu sein. Der frühe isländische Staat hatte keine institutionalisierte Zentralgewalt; wer sein (gefühltes oder wirkliches) Recht durchsetzen wollte, der konnte dies nur tun, wenn er und seine Verbündeten selbst genug Macht besaßen, um sich mit Gewalt Recht verschaffen zu können. So konnten Konflikte zwischen den letztlich unabhängigen Familien schnell und drastisch eskalieren.
Ganz ohne staatliche Strukturen kam aber auch Island nicht lange aus. Bald nach der Landnahme – den mittelalterlichen Quellen zufolge im Jahre 930 – wurde eine gesamtisländische Volksversammlung geschaffen, die einmal jährlich in →Þingvellir im isländischen Südwesten tagte. Hier wurde jedes Jahr ein Drittel der isländischen Gesetze vorgetragen, so dass innerhalb von drei Jahren in Þingvellir das ganze Korpus der gültigen Gesetze einmal rezitiert wurde. Dies war die Aufgabe des „Gesetzessprechers“, der damit das wichtigste Amt des isländischen Freistaats innehatte. Ferner wurden in Þingvellir Rechtsstreitigkeiten entschieden, die sich auf lokaler Ebene nicht lösen ließen. Dass in Þingvellir rechtsverbindliche Urteile gefällt werden konnten, heißt aber nicht, dass es auch zur Ausbildung einer Exekutive kam: Selbst wenn man in Þingvellir vor Gericht Recht behielt, blieb es einem doch weiterhin selbst überlassen, das gefällte Urteil auch zu vollstrecken. Unter der allgemeinen Volksversammlung in Þingvellir standen institutionell die vier Viertelthinge, Versammlungen für die vier „Viertel“ Islands; und darunter wiederum standen dreizehn lokale Versammlungen. Zentrale Personen innerhalb dieses Systems waren die sogenannten „Goden“ (altnordisch goði), die Funktionen als lokale Anführer erfüllten und deren Amt in der einen oder anderen Weise ursprünglich wohl mit einer Rolle als Priester im heidnischen Kult verbunden war. Diese ursprüngliche priesterliche Funktion ist in den erhaltenen Quellen jedoch kaum noch konkret fassbar. In der mittelalterlichen Literatur, wie sie uns heute vorliegt, handeln die Goden vor allem als Häuptlinge und als eine weltliche Führungsschicht.
Einen zentralen Wendepunkt in der Religionsgeschichte Islands stellte die Volksversammlung dar, die im Jahre 999/1000 in Þingvellir abgehalten wurde: Auf dieser Volksversammlung wurde der Übertritt der gesamten Insel zum Christentum beschlossen. (Diese Ereignisse werden unten ausführlich unter →Þingvellir erzählt.) Diesem Beschluss folgten Massentaufen (→Laugarvatn) und der Aufbau einer kirchlichen Machtstruktur. Im Jahr 1056 wurde in Skálholt, nicht weit von Þingvellir entfernt, Islands erster Bischofssitz gegründet. Im Jahr 1106 wurde dem südisländischen Bischofssitz in Skálholt ein eigenes Bistum für Nordisland gegenübergestellt, dessen Bischof seinen Sitz in Hólar hatte. Diese Struktur, wonach Island zwei Bistümer besaß, blieb für viele Jahrhunderte erhalten; erst in den Jahren um 1800 trat ein einziges (nun evangelisch-lutherisches) Bistum in Reykjavík an die Stelle der beiden Bistümer von Hólar und Skálholt. Heute sind beide Orte Sitz von Weihbischöfen.
Teil der Etablierung kirchlicher Strukturen in Island war auch die Gründung einer Vielzahl von Klöstern. Die isländischen Klöster waren ein wichtiger Ort für die Abfassung mittelalterlicher Handschriften; damit spielten sie für die Kultur- und Literaturgeschichte Islands eine ganz zentrale Rolle. Wie auch in anderen protestantischen Ländern, kam das Klosterwesen jedoch auch in Island mit der Reformation um 1550 zu einem abrupten Ende. Die Reste isländischer Klöster sind an verschiedenen Orten archäologisch untersucht worden. Solche Ausgrabungen lassen sich heute etwa noch auf der Insel Viðey bei Reykjavík und vor allem im ostisländischen Skriðuklaustur besichtigen.
Die Niederschrift von Sagas im Kloster: Bleiglasfenster in der Stadtkirche von Akureyri.
Die große Zeit der isländischen Prosaliteratur, als die meisten der berühmten isländischen Sagas verfasst wurden, waren das 13. und 14. Jahrhundert – eben die Zeit, als Island sich dem Herrschaftsanspruch des norwegischen Königs unterwarf und damit seine Selbständigkeit verlor (1262). Die hochmittelalterlichen Sagas kommen trotz dieser späten Entstehungszeit immer wieder auch auf die Vorstellungswelt des isländischen Heidentums vor der Konversion zum Christentum zu sprechen. Neben den Isländersagas, wie der „Saga von Njáll“, der „Saga von Egill Skallagrímsson“ oder der „Saga von Grettir“, wurde in dieser Zeit zudem auch eine Vielzahl anderer Werke verfasst oder zumindest niedergeschrieben, die für unsere Kenntnis der nordischen Mythologie von zentraler Bedeutung sind; hier sind vor allem viele der Lieder der sogenannten Lieder-Edda (→Oddi) und die Werke des Historikers Snorri Sturluson zu nennen (geb. 1178/79, gest. 23.9.1241; →Reykholt). Alle diese Werke stammen erst aus dem Hochmittelalter, und auch wenn sie oft deutlich älteres Material verarbeiten, schafft ihre späte Niederschrift doch einige Probleme für ihre Verwendung als Zeugnisse für die Mythologie und Glaubenswelt der Wikingerzeit. Gerade auf diese Problematik wird bei den einzelnen Orten wiederholt zurückzukommen sein (besonders →Krosshólaborg).
Was nun die mythischen Erzählungen selbst betrifft, so stehen zwei Götterfamilien im Zentrum der nordischen Mythologie: die Asen und die Wanen. In der Urzeit führten diese beiden Götterfamilien einen Krieg gegeneinander, am Ende versöhnten sie sich jedoch und schlossen einen Bund, der durch den Austausch von Geiseln und Heiratsbande zwischen den zwei Familien besiegelt wurde. Seitdem leben sie gemeinsam in Asgard, dem Land der Götter.
Unter den Asen ist als erster der Gott Odin zu nennen; in der nordischen Mythologie des Mittelalters ist er der Göttervater, Götterkönig, Kriegsgott und Gott der Dichter. Seine Wohnung ist die Halle Walhall, in der er die toten Helden empfängt. Dort sitzt er auf seinem Thron, flankiert von zwei Wölfen und den zwei Raben Huginn und Muninn; diese Raben fliegen jeden Tag in die Welt hinaus und bringen ihm Kunde von allem, was sich ereignet. Sein Speer Gungnir verfehlt nie sein Ziel, und sein achtbeiniges Ross Sleipnir kann schnell wie der Wind in jedes Land laufen, sogar ins Land der Toten. (→Borgarnes; Ásbyrgi; Hringsdalur; u.ö.)
Thor ist ein Sohn Odins und der gewaltigste Kämpfer unter den Asen. Er ist der Donnergott, der regelmäßig zu Kriegszügen gegen die Riesen auszieht, gegen die er die Welt der Götter mit seinem Hammer Mjöllnir verteidigt. Er fährt auf einem Streitwagen dahin, der von zwei Ziegenböcken gezogen wird, gebietet über Sturm und Regen und steht den Männern bei, die zur See fahren. Thor scheint einer der Lieblingsgötter der isländischen Landnehmer gewesen zu sein. Viele von ihnen trugen einen Namen, der mit dem Namen des Gottes gebildet war (hierher gehören die vielen Namen, die mit Þor- oder Þór- beginnen), und vielfach ließen skandinavische Landnehmer den Gott Thor durch ein Orakel darüber entscheiden, wo sie sich in der neuen Heimat niederlassen sollten. (→Fährpassage; Ásbyrgi; Raufarhöfn; Akureyri; u.ö.)
Balder ist ein weiterer Sohn Odins. Er ist besonders schön und seine Richtsprüche sind besonders weise, aber in der Mythologie spielt er fast nur dadurch eine Rolle, dass er auf Anstiften Lokis hin ermordet wird. Dieser Mord innerhalb der Gemeinschaft der Götter ist eine unermessliche Tragödie, die auf den Weltuntergang hinführt. (→Ásbyrgi; Krosshólaborg; Surtshellir.)
Loki ist die ambivalenteste Gestalt unter den Asen: Er ist einerseits ein kluger Ratgeber, der in vielen brenzligen Situationen die rettende Lösung findet. Andererseits ist er jedoch auch ein boshafter Schelm, dessen Scherze ihren Opfern nicht immer unterhaltsam scheinen, und mitunter ist er sogar ein geradezu bösartiger Ränkeschmied. Im Lauf der Zeit wird die Kluft zwischen ihm und den anderen Göttern immer größer, und wenn einst das Weltende kommt, steht er nicht mehr auf Seiten der Asen und Wanen, sondern auf der Seite der Riesen, die die Welt vernichten werden. (→Ásbyrgi; Surtshellir.)
Tyr ist ein Ase, der in der erhaltenen Mythologie weitgehend in den Hintergrund tritt. Er spielt eine wichtige Rolle vor allem im Mythos von der Fesselung des Fenriswolfs, eines Ungeheuers, das eine zentrale und ungemein zerstörerische Rolle beim Weltuntergang spielt. Ansonsten tritt er jedoch kaum handelnd auf. (→Fährpassage; Surtshellir.)
Heimdall ist ein rätselhafter Gott, von dem nur wenige Mythen überliefert sind, und diese nur ganz fragmentarisch. Seine wichtigste Rolle im Gefüge der nordischen Mythologie scheint darin zu bestehen, dass er den Zugang nach Asgard bewacht, damit die Riesen die Götter nicht überraschen können. (→Ásgarður; Hjarðarholt; Surtshellir; Þórsmörk.)
Weitere Asen, die sich noch nennen ließen, wären Hoenir (der bei der Schöpfung der Menschen eine wichtige Rolle spielt), Bragi (ein Gott der Dichtkunst und wohl selbst ein vergöttlichter Dichter), Ullr (berühmt für seine Fähigkeiten beim Schlittschuhlauf und im Gebrauch von Skiern), Höðr (der unabsichtlich den Gott Balder tötet), Víðarr, Váli und Forseti. Was uns an nordischen Mythen aus Island überliefert ist, verrät uns leider jedoch vergleichsweise wenig über diese Götter.
Unter den Asinnen treten in der Mythologie vor allem drei hervor. Frigg ist die Götterkönigin, die Gemahlin Odins (→Ásbyrgi; Borgarnes), Idun behütet die goldenen Äpfel, deren Genuss den Göttern ihre Unsterblichkeit schenkt (→Ásbyrgi), und Sif ist die Gattin Thors, die zum Opfer eines der folgenreicheren Streiche Lokis wird (→Ásbyrgi). Viele andere Asinnen werden in den mythologischen Texten noch genannt, doch sind über sie kaum Mythen überliefert; selbst über die drei genannten Asinnen erfahren wir deutlich weniger, als wir das gerne hätten.
Wiederholt wirklich im Zentrum der Aufmerksamkeit steht in der nordischen Mythologie vor allem eine Göttin: die Wanin Freyja. Freyja erscheint als überaus schön und begehrenswert. Immer wieder werfen einzelne Riesen ein Auge auf sie und führen damit zu mehr oder weniger bedrohlichen Verwicklungen; für die fraglichen Riesen nehmen diese Verwicklungen aber immer ein böses Ende. Freyja ist dabei nicht nur selbst begehrenswert, sondern auch eine Göttin, die gerade über Liebesangelegenheiten gebietet und gut in Liebesfragen anzurufen ist. Und zugleich hat sie noch eine ganz andere, blutige Seite: Sie ist die Herrin einer Halle, in der die Hälfte der Gefallenen nach ihrem Tod wohnen, und sie reitet zur Schlacht aus, um sich diese ihre Hälfte unter den Toten zu wählen. (→Ásbyrgi; Eiríksstaðir; Hjarðarholt; Flatey; u.ö.)
Freyjas Bruder ist der Gott Freyr. Über sein Kultbild im schwedischen Uppsala überliefert ein mittelalterlicher Historiker, dass es ihn cum ingenti priapo dargestellt habe: „mit einem gewaltigen Phallus“. Freyr ist ein Gott der Fruchtbarkeit, der Frieden und Wohlstand und die Früchte der Erde schenkt, und mehrfach wird über isländische Landnehmer berichtet, dass sie gerade zu Freyr ein besonders enges Verhältnis hatten. (→Hrafnkelsdalur; Munkaþverá; Haukadalur; Ásgarður; Flatey.)
Der Vater von Freyja und Freyr ist der Gott Njörd, auch er ein Wane. Njörd ist ein Gott des Meeres, der den Wind und die See beherrscht. Den Fischern schenkt er einen reichen Fang, und wer ihn darum anruft, der erhält von ihm zudem reiche Ländereien und bewegliches Gut. Ebenso wie die anderen Wanen, ist auch Njörd ein Gott des Wohlstands und des Reichtums. (→Fährpassage; Ásgarður; Flatey.)
Neben diesen Göttern kennt die nordische Mythologie noch ein reiches und buntes Spektrum weiterer Akteure: Alben und Zwerge, Drachen und Riesen, Zauberer und Untote geben sich in den mythologischen Texten ein Stelldichein. Der Kosmos als ganzer wird dabei dreiteilig gedacht: Er besteht aus Midgard (der Welt der Menschen), Asgard (der Welt der Götter) und Utgard (der Welt der Riesen und Ungeheuer). Verbunden sind diese drei Welten durch den Weltbaum Yggdrasill. Yggdrasill bildet gewissermaßen die Weltachse, an der diese verschiedenen Welten angeordnet sind und die diese Welten zusammenhält. Eine Quelle sagt, dass unter einer der drei Wurzeln des Weltbaum die Menschenwelt liegt, unter einer zweiten das Land der Riesen und unter der dritten das Totenreich. Nach einem anderen Text erstrecken sich die drei Wurzeln zu den Göttern, zu den Riesen und zur Unterwelt, während die Zweige Yggdrasils über die ganze Welt ausgreifen und sogar noch über den Himmel hinausragen. Bei derjenigen Wurzel, die ins Land der Götter reicht, entspringt eine heilige Quelle, an der die Götter ihre Versammlungsstätte haben.
Viele der mythologischen Vorstellungen, die in die isländische Literatur des Mittelalters Eingang gefunden haben, dürften die isländischen Landnehmer aus ihrer alten Heimat in Skandinavien mitgebracht haben. Vieles hat aber auch auffallend isländisches Lokalkolorit. Wenn etwa die Menschen am Anfang der Welt gerade aus Treibholz geschaffen werden, dann dürfte dies eine Vorstellung sein, die sich in dieser Form erst in Island herausgebildet hat: Treibholz aus Sibirien, das an den isländischen Küsten in großen Mengen angeschwemmt wird, war im waldarmen Island eine der wichtigsten Quellen von Baumaterial; im waldreichen Skandinavien spielt es hingegen keine nennenswerte Rolle (→Raufarhöfn). Erst für einen Isländer konnte sich dieses Material als ein Stoff von solcher Bedeutung darstellen, dass es sogar zum Grundmaterial für die Schöpfung des Menschen wurde. Ähnlich ist die Entstehung von Erdbeben aus den Schmerzenswindungen des gefolterten Gottes Loki eine Vorstellung, die eher im erdbebengeplagten Island entstanden sein wird als im tektonisch deutlich ruhigeren Skandinavien (→Ásbyrgi). Und auch die lange Wanderzeit, die der Besiedlung Islands oft vorausging, hat ihre Spuren in der isländischen Mythologie hinterlassen. Viele Landnehmer kamen nicht auf direktem Wege von Skandinavien nach Island, sondern machten auf den Britischen Inseln Zwischenstation – manchmal für viele Jahre oder gar mehr als eine Generation. So gelangte auch manch ein mythisches Motiv aus Irland und Großbritannien nach Island (→Vestmannaeyjar; Bjargtangar). Wer auf den Spuren der isländischen Mythologie des Mittelalters durch Island reist, sollte sich also immer dessen bewusst bleiben, dass die Mythologie Islands etwas spezifisch Isländisches ist. Sie ist nicht eine allgemeine Mythologie der Wikingerzeit, sondern eben eine isländische Mythologie.
Die isländische Chronologie im Überblick
Wo für Gestalten der nordischen Mythologie etablierte deutsche Namensformen existieren, wurden im Folgenden grundsätzlich diese deutschen Formen verwendet. Also: Odin, nicht Óðinn; Thor, nicht Þórr; Heimdall, nicht Heimdallr; etc. Für weniger bekannte Gestalten und menschliche Personen wurde die altnordische Form als solche belassen. Also etwa: Eiríkr, nicht Erik; Óláfr, nicht Olaf. Bei der Bildung des Genitivs solcher Namen wurde im Deutschen berücksichtigt, dass die altnordische Nominativendung außerhalb des Nominativs wegfällt; also z.B.: „Eiríkr hatte eine Halle in Eiríksstaðir“, aber: „Eiríks Halle stand in Eiríksstaðir“.
Bei den Namen von Fjorden wurde das Hinterglied fjörður („Fjord“) durchgehend eingedeutscht; also etwa Þistilfjord, nicht Þistilfjörður. Dies wurde aber in den Fällen nicht getan, wo sich die Bezeichnung nicht auf den Fjord, sondern auf eine gleichnamige Siedlung bezieht. Ich spreche also z.B. von der Siedlung Seyðisfjörður, aber vom Fjord Seyðisfjord.
Bei geographischen Namen stellt sich oft die Frage, ob es sinnvoller ist, die mittelalterlichen Namensformen zu verwenden oder die modernen isländischen Namen. Eine wirklich konsequente Lösung gibt es für diese Frage nicht, und im vorliegenden Führer werden je nach Kontext bald mittelalterliche und bald moderne Namensformen verwendet, ganz abhängig davon, was im jeweiligen Zusammenhang sinnvoller schien. Ohnehin beschränken sich die Unterschiede meist auf Details der Orthographie. Am markantesten ist dabei die unterschiedliche Schreibung von Endungen auf -r: Wo im Altnordischen am Wortende ein einfaches -r erscheint, wird im Neuisländischen -ur geschrieben, also altnordisch fjörðr („Fjord“), aber neuisländisch fjörður; altnordisch dalr („Tal“), aber neuisländisch dalur.
Die wichtigsten Sonderzeichen des isländischen Alphabets sind Þ/þ (entsprechend einem englischen stimmlosen th) und ð (entsprechend einem englischen stimmhaften th). Altnordisch æ und oe entsprechen im Deutschen in etwa einem langen ä bzw. ö. Ein Akzent auf Vokalen (á, ó, ú, ý) bezeichnet im Altnordischen keine Betonung, sondern kennzeichnet einen Vokal als lang. Die Betonung liegt stets auf der ersten Silbe.
Wer Island flächendeckend bereisen will, braucht ein eigenes Fahrzeug. Eine Möglichkeit, dieses Problem zu lösen, bieten die vielen Autoverleihfirmen im Land. Deren Preise sind jedoch durchgehend horrend, so dass es bei einem längeren Islandaufenthalt durchaus der Überlegung wert ist, mit der Autofähre anzureisen und das eigene Fahrzeug von daheim mitzubringen. Derzeit gibt es nur eine Fähre, die zwischen Island und dem europäischen Kontinent verkehrt: die M/ S Norröna der Reederei Smyril Line (www.smyrilline.de). Die M/S Norröna pendelt zwischen dem dänischen Hafen Hirtshals, Tórshavn auf den Färöern und dem Hafen Seyðisfjörður in Ostisland. Der vorliegende Führer ist daher so angeordnet, dass er zunächst mit der Fährpassage nach Island beginnt (in deren Rahmen die Mythologie des Meeres behandelt wird, das Island umgibt) und nach der Ankunft an Land eine Rundreise durch Island vorschlägt, die von Seyðisfjörður ihren Ausgang nimmt und einmal gegen den Uhrzeigersinn rings um die Insel herumführt. Wer Island auf einem anderen Weg (und das heißt: über den Flughafen Keflavík bei Reykjavík) erreicht oder wer auf einer anderen Route reisen will, muss sich hiervon jedoch nicht abschrecken lassen. Die einzelnen Kapitel des Reiseführers können grundsätzlich in beliebiger Reihenfolge und beliebiger Auswahl gelesen werden.
Zur Orientierung in Island ist eine gute Straßenkarte unerlässlich; ein Satellitennavigationssystem ist in Anbetracht des vergleichsweise einfach gestrickten Straßennetzes hingegen entbehrlich. Eine der besten und praktischsten Islandkarten für den Autofahrer ist der Straßenatlas Ísland vegaatlas im Maßstab 1:200.000, herausgegeben von Ferðakort und in Island weithin erhältlich (z.B. im Fährterminal in Seyðisfjörður). Um das Auffinden der im Führer beschriebenen Orte zu erleichtern, wird für jeden Ort angegeben, wo er in diesem Straßenatlas zu finden ist. Diese Angaben folgen dabei dem Muster [Seitenzahl im Atlas] [Buchstabe des horizontalen Planquadrats][Nummer des vertikalen Planquadrats]. Für das Beispiel Reykjavík wird somit etwa angegeben „1 J11“. Zugrunde liegt diesen Angaben die 3. Auflage des Straßenatlasses von 2013. Zusätzlich werden knappe konventionelle Wegbeschreibungen gegeben.
In Island unterwegs: Wegmarkierungen aus der Zeit vor dem Bau der modernen Ringstraße. Die heutige, mittlerweile weitgehend asphaltierte Ringstraße ist links im Bild zu sehen.
Fast alle der im vorliegenden Führer behandelten Stätten sind mit einem normalen Straßenauto erreichbar. (Dies heißt freilich nicht, dass die Straßen immer im besten Zustand wären. Davon kann man in Island grundsätzlich nicht ausgehen, auch wenn das isländische Straßennetz mittlerweile deutlich besser ist als sein Ruf.) Da Island als Reiseland viele Besucher jedoch gerade durch das Hochland mit seinen berühmt-berüchtigten Pisten anzieht, wurden auch zwei Orte aufgenommen, die nur mit einem Geländewagen (oder alternativ: einem organisierten Ausflug) erreichbar sind: Drekagil im Kraterrand der Askja (Nr. 4) und Þórsmörk (Nr. 35). Zur Höhle Surtshellir (Nr. 26) gelangt man am einfachsten mit einem Geländewagen, aber vom letzten „straßenautotauglichen“ Parkplatz aus lässt sich der letzte Streckenabschnitt auch noch zu Fuß bewältigen. Das Tal Hvanndalur (Nr. 11) ist nicht ans Straßennetz angeschlossen und nur zu Fuß im Rahmen einer langen Wanderung zu erreichen; idealerweise sollte man dafür zwei Tage einplanen.
Unterwegs auf Nebenstraßen: im Nebel auf der Halbinsel Langanes.
Zwei Tage und zwei Nächte auf See dauert es heute, um mit der mehr als 160 Meter langen Fähre M/ S Norröna – der einzigen Island-Fähre – vom dänischen Hafen Hirtshals über die Färöer bis nach Island zu gelangen. Und schon während dieser zwei Tage in der Weite des Nordatlantiks bewegt man sich als Reisender durch ein Terrain, das mythologisch aufgeladen ist.
Ähnlich wie die griechische Mythologie, verbindet auch die Mythologie des Nordens mit der hohen See eine Vielzahl von göttlichen und dämonischen Figuren. Eine der wichtigsten Quellen zur nordischen Mythologie ist das Werk des Historikers und Mythographen Snorri Sturluson (geb. 1178/9, gest. 1241; →Reykholt). Ihm zufolge wurde die Rolle eines Meeresgottes im vorchristlichen Norden vom Gott Njörd übernommen. In Snorris Edda wird Njörd in folgender Weise charakterisiert:
Er wohnt im Himmel an dem Ort, der Nóatún („Schiffsplatz“) heißt. Er herrscht über die Bewegung des Winds und lenkt die See und das Feuer. Ihn soll man bei der Seefahrt und beim Fischfang anrufen. Er ist so reich und wohlhabend, dass er dem, der ihn darum anruft, Reichtum an Ländereien oder beweglichem Gut geben kann. Njörd gehört nicht zur Familie der Asen. Er wurde in Vanaheimar großgezogen, dem Land der Wanen, aber die Wanen gaben ihn als Geisel zu den Göttern, und im Gegenzug erhielten die Wanen von den Asen denjenigen als Geisel, der Hoenir heißt. Er wurde zum Unterpfand für den Frieden zwischen Göttern und Wanen.
Njörd erscheint hier als eine wohlwollende, freigebige Gottheit. Er ist allerdings kein Ase, sondern ein Wane. Die Mythologie des mittelalterlichen Nordens unterscheidet zwei Familien der Götter, die Asen einerseits und die Wanen andererseits. Diese beiden Familien gerieten in Urzeiten in Streit miteinander, aber der folgende Krieg zwischen ihnen wurde schließlich beendet und der neugewonnene Frieden durch einen Austausch von Geiseln besiegelt – wobei die jeweiligen „Geiseln“ auf beiden Seiten fast vollständig in ihr neues Umfeld integriert wurden. Die Wanen sind dabei durchgehend eng mit Vorstellungen von Wohlstand, Reichtum und Prosperität assoziiert. Im Fall Njörds besteht der Reichtum, den diese Götter spenden, nicht zuletzt auch in den Gaben des Meeres. Deshalb soll man ihn um Erfolg beim Fischfang bitten.
Unterwegs nach Island: Durchfahrt durch die Färöer.
Snorri zufolge führte Njörd eine wenig erfolgreiche Ehe mit der Riesin Skaði. Ein Mythos erzählt, wie es zu dieser Ehe kam: Skaðis Vater, der Riese Þjazi, unternimmt einen Versuch, die Göttin Idun zu entführen und den Göttern die Äpfel Iduns zu rauben. Diese Äpfel schenken den Göttern ihre ewige Jugend, und so wird Þjazi von den Göttern für dieses Verbrechen erschlagen (→Ásbyrgi). Skaði zieht daraufhin aus, um ihren Vater zu rächen. Um weitere Feindseligkeiten zwischen Göttern und Riesen zu verhindern, vereinbaren die Götter einen Ausgleich mit Skaði. Dieser Friedensschluss sieht u.a. vor, dass sie sich unter den Göttern einen Mann wählen darf – die einzige Bedingung ist, dass sie ihre Wahl nach den Füßen der Götter treffen muss und sonst von ihnen nichts sehen darf. Skaði wählt nun das schönste Paar Füße in der Annahme, dass diese Füße zum Gott Balder gehören werden. Es stellt sich jedoch heraus, dass es sich um Njörds Füße handelt. Skaði und Njörd heiraten zwar, doch wird bald deutlich, dass die beiden Eheleute wenig haben, was sie miteinander verbindet: Skaði ist ein Geschöpf der Berge, eine Skifahrerin, Bogenschützin und Jägerin, die die Wildnis des Gebirges liebt und „Skigöttin“ genannt wird. Njörd hingegen liebt die See, die Seevögel und die Küste. Als es an die Wahl einer gemeinsamen Wohnstatt geht, vereinbaren die beiden einen Kompromiss, wonach sie jeweils neun Nächte an der Küste und neun Nächte in den Bergen verbringen sollen. Hiermit ist jedoch keiner recht glücklich: Njörd hasst das Heulen der Wölfe, und Skaði kann beim Geschrei der Seevögel nicht schlafen. So kehrt Skaði bald in ihre Bergheimat zurück.
Über die Geschichte von seiner unglücklichen Ehe mit Skaði hinaus sind kaum Mythen über Njörd im Detail überliefert. Dennoch scheint er im Kult eine wichtige Gottheit gewesen zu sein: In Norwegen und Schweden ist eine große Zahl von Ortsnamen bezeugt, die auf lokale Kulte Njörds hindeuten, wie etwa Njarðarlög, „Njörds Bezirk, Njörds Kultplatz“, ein historischer Name für eine Insel in der Nähe von Bergen.
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Auf etwa halber Strecke zwischen Dänemark und Island legt die M/S Norröna auf den Färöern eine Zwischenstation ein; dort läuft sie den Hafen der färöischen Hauptstadt Tórshavn an. Auch beim Namen dieser Stadt handelt es sich um einen Ortsnamen, der – wie Njarðarlög – mit einem Götternamen gebildet ist: Tórshavn bedeutet nichts anderes als „Thors Hafen“. Thor ist einer der prominentesten Götter der nordischen Mythologie; sein wichtigstes Attribut ist der Hammer Mjöllnir. Das Stadtwappen von Tórshavn erinnert noch heute an den vorchristlichen Ursprung der Stadt und an ihre Verbindung mit dem Gott Thor: Es zeigt eine Hand, die einen Hammer hält, über einer Wasserfläche. Damit setzt es die beiden Elemente des Stadtnamens direkt ins Bild um: den Gott mit seinem Hammer und den Hafen.
Tórshavn („Thors Hafen“): die Hauptstadt der Färöer.
Der hochmittelalterliche Mythograph Snorri klassifizierte Njörd als den Gott der Seefahrt. Damit ordnete er sein Material in einem gewissen Umfang jedoch seinem eigenen Ordnungswillen unter; denn in der Wirklichkeit des religiösen Lebens hatte Njörd auf diesen Bereich der Welt kein Monopol. Dies zeigt sich schon in der Benennung des heute wichtigsten färöischen Hafens nach dem Gott Thor, und noch konkreter fassbar wird es in einer Notiz, die sich in der Landnámabók findet, dem „Landnahmebuch“. Das Landnahmebuch stellt ein außergewöhnliches historisches Dokument dar, in dem die erste Besiedlung Islands detailliert beschrieben wird; es enthält Notizen über buchstäblich Hunderte von Siedlern, ihre Siedlungsplätze und verschiedenste mit ihnen verbundene Anekdoten. Dabei ist das Landnahmebuch jedoch kein literarischer Monolith, sondern in verschiedenen Fassungen erhalten, die im 13. Jahrhundert einsetzten und bis in die frühe Neuzeit reichen. Die älteste erhaltene Fassung dieses Texts berichtet über einen gewissen „Helgi den Mageren“, dass dieser im christlichen Irland erzogen worden war und – wohl infolgedessen – „im Glauben sehr gemischt war; er glaubte an Christus, aber bei der Seefahrt und bei gefährlichen Unternehmungen rief er Thor an“. Im Fall Helgis war der Gott seines Vertrauens in Seefahrtsfragen somit nicht Njörd, wie Snorris Systematisierung dies vermuten lassen könnte, sondern der weithin beliebte Thor.
Mit der See verbunden ist Thor auch im Mythos von seinem Fischzug gegen die Midgardschlange. Die Midgardschlange ist ein urzeitliches Ungeheuer, das in der Tiefe des Meeres liegt. Ihrer Abstammung nach ist sie halb göttlicher und halb riesischer Natur, da sie die Tochter des Gottes Loki (→Ásbyrgi) und einer Riesin ist. Nachdem sie geboren worden war, erfuhren die Götter durch Prophezeiungen, dass großes Unheil von ihr ausgehen würde. Da warf der Allvater Odin sie in den Ozean, der die Welt umgürtet, und dort wuchs die Midgardschlange zu solcher Größe heran, dass ihre Windungen um die ganze Welt herumreichen und sie sich in den Schwanz beißt.
Der Mythos von Thors Fischzug ist in der schriftlichen Überlieferung in (geringfügig) verschiedenen Varianten bezeugt; daneben existieren ferner noch mehrere Bilddenkmäler, auf denen die zentrale Szene dieses Mythos dargestellt ist. Die ungewöhnlich große Zahl von Belegen dürfte darauf hindeuten, dass es sich hier um einen Mythos gehandelt hat, dem in der vorchristlichen Zeit eine besondere Bedeutung zukam. Eine seiner ausführlichsten literarischen Behandlungen hat er im eddischen Lied Hymiskviða erfahren. Dieses Lied stammt zwar erst aus dem 12. oder 13. Jahrhundert und ist damit grob zweihundert Jahre nach der Christianisierung Islands entstanden; Anspielungen in Gedichten und Bildzeugnissen der heidnischen Zeit deuten jedoch darauf hin, dass der Dichter der Hymiskviða nichtsdestoweniger authentisch heidnische Vorstellungen verarbeitet hat.
Die Hymiskviða, das „Lied vom Riesen Hymir“, beginnt damit, dass die Götter den Riesen Ägir aufsuchen und bei ihm ein Fest feiern wollen; denn Ägir ist für seine Braukunst berühmt. Das Ansinnen der Götter kommt für Ägir jedoch ungelegen: Ehe er für die Götter Bier brauen könnte, müssten sie ihm zunächst einen Kessel beschaffen, der dafür groß genug wäre. Nachdem ein entsprechend großer Kessel zunächst nirgendwo zu finden ist, rät der Gott Tyr schließlich dazu, seinen Vater aufzusuchen, den Riesen Hymir. So machen Thor und Tyr sich zusammen zu Hymirs Halle auf. Hymir ist bei ihrer Ankunft gerade nicht zuhause, und so werden sie von Tyrs Mutter empfangen; da Hymir nur ungern Besuch hat, versteckt diese die beiden Götter vorerst, um eine jähzornige Reaktion ihres Mannes zu verhindern. Als Hymir spät am Abend mit vereistem Bart von der Jagd nach Hause kommt, erzählt sie ihm von den Ankömmlingen; der Riese sieht die Säule, hinter der sie sich verstecken, daraufhin so wild an, dass sie zerspringt. Ungeachtet dieser wenig warmherzigen ersten Reaktion wird für die Gäste nun ein Festmahl bereitet – und Thor allein verspeist zwei ganze Ochsen. Hymirs Reaktion auf den Appetit seiner Gäste ist der Vorschlag, am folgenden Tag zum Fischen auszufahren, um die Vorräte wieder aufzufüllen. Als Hymir und Thor am nächsten Morgen zum Aufbruch bereit sind, sagt der Riese dem Gott, er solle sich selber um einen Köder für seine Angel kümmern. Daraufhin geht Thor zu Hymirs Rinderherde und reißt dort einem Stier den Kopf ab. Dass Hymir hierüber wenig erfreut ist, versteht sich von selbst. Nun rudern die beiden ungleichen Fischer los. Dabei zieht es Thor deutlich weiter auf das offene Meer hinaus als Hymir, und er rudert das Boot bis in eine Meeresregion weit jenseits von Hymirs gewöhnlichen Fanggründen. Als sie endlich mit dem eigentlichen Fischfang beginnen, zieht Hymir zwei Wale aus dem Wasser. Die Pläne Thors sind jedoch um einiges ehrgeiziger: Mit dem Stierkopf als Köder will er die Midgardschlange angeln – und dies gelingt ihm auch:
Der Töter des Wurms, der die Menschen beschützt,
hängte den Kopf eines Ochsen als Köder an den Haken;
der, den die Götter hassen, öffnet das Maul für den Haken,
von unten, der Gürtel aller Länder.
Verwegen zog der mutige Thor
den giftfarbenen Wurm zur Schiffsseite herauf;
mit dem Hammer schlug er des Haars Hochgebirge,
das abstoßende, von oben, des unzertrennlichen Bruders des Wolfs.
Des Rentiers Feinde heulten, Felsflächen hallten wieder,
es bebte die ganze alte Erde.
Darauf versank der Fisch im Meer.
Thor gelingt es somit, die Midgardschlange zu ködern, sie aus dem Wasser zu ziehen und ihr mit seinem Hammer Mjöllnir einen Hieb zu verpassen. (Ob dieser Hieb für die Midgardschlange tödlich ist oder ob sie noch immer in der Tiefe des Meeres weiterlebt, ist einer der Punkte, in denen sich die verschiedenen Überlieferungen zum Mythos von Thors Fischzug voneinander unterscheiden.) Hymir hingegen verschlägt es während der Begegnung mit der Weltschlange vor Angst die Sprache. Als sie wieder an Land zurückgekehrt sind, hat Hymir sich jedoch so weit von seinem Schrecken erholt, dass er Thor zu weiteren Kraftproben herausfordern kann. Keine von ihnen geht für den Riesen gut aus, und so bekommen Thor und Tyr schließlich Hymirs gewaltigen Kessel und bringen ihn zu Ägir. Ägir braut nun den Göttern Bier.
Das Hymir-Lied beginnt und endet mit der Gestalt des Riesen Ägir, der als ein berühmter Bierbrauer erscheint und für die Götter ein Festmahl ausrichtet. Ägirs Fähigkeiten als Brauer und die Feste, zu denen er die Götter einlädt, sind feststehende, häufig wiederkehrende Topoi der altnordischen Literatur; im Hymir-Lied tauchen sie ebenso auf wie in den eddischen Liedern Grímnismál und Lokasenna, in der Prosa-Edda des Snorri Sturluson und in den dichterischen Umschreibungen der Skaldendichtung (→Borgarnes). Ägirs Halle, in der diese Göttergelage abgehalten werden, wird von Snorri und in der Lieder-Edda als ein Ort unvorstellbarer Pracht beschrieben: Sein Haus wird nicht durch ein Feuer erhellt, sondern durch den Glanz leuchtenden Goldes, und Speis und Trank tragen sich von selbst auf. Wie die Midgardschlange ist dabei auch die Gestalt des Riesen Ägir eine zentrale Figur der Mythologie des Meeres. Snorris Edda zufolge wohnt er auf einer Insel, sein Name kann als eine Bezeichnung für das Meer verwendet werden, seine neun Töchter sind die Wellen des Meeres, und seine Frau Ran besitzt ein Netz, in dem sie jeden fängt, der auf See verloren geht. Ägir ist so der Riese des Meeres schlechthin, der Meerriese der nordischen Mythologie. Und wenn seine Frau auch die Ertrunkenen in ihrem Netz fängt, so macht dies seine Halle doch noch zu keinem Ort des Grauens: Ihre Pracht und ihre stete Assoziation mit großen Festmählern der Götter legt vielmehr nahe, dass Ägirs Haus zwar vielleicht ein Haus der Toten sein mag, aber dass die Toten beim Eintritt in seine Halle immerhin einem paradiesischen Schicksal entgegensehen.
1 Auf hoher See zwischen Hirtshals (Dänemark) und Seyðisfjörður (Island); Tórshavn auf den Färöern.
Schon die Ankunft in Island ist bei klarem Wetter ein Spektakel, das dem Reisenden einen Vorgeschmack dessen gibt, was ihn auf der Insel erwartet. Im Zwielicht des frühen Morgens schieben sich langsam die zackigen Gipfel der Berge an der ostisländischen Küste über den Horizont. Auf ihren Hängen harren einzelne Schneeflächen selbst noch im Hochsommer bis weit zum Meer hinab aus und machen so anschaulich, warum die frühen nordischen Siedler der Insel gerade den Namen Ísland gegeben haben: „Eisland“. Die Berge und Küstenklippen scheinen zwischen dem blauen Meer und dem blauen Himmel im Nichts zu schweben; es dauert lange, bis einige wenige winzige Flecken an der Küste als Häuser erkennbar werden und damit dem Beobachter erstmals einen Maßstab geben, um die Höhe des völlig baumlosen Küstengebirges abzuschätzen. Aus der Ferne wirken die Berge dieser Steilküste wie eine geschlossene Kette, doch während sich das Schiff dem Land nähert, öffnet sich schließlich die Mündung des Seyðisfjords, in den die Fähre eintaucht. Zwischen Wasserfällen und schneebedeckten Gipfeln führt die Schiffsfahrtsroute bis ganz ans Ende des Fjords in diesen hinein, zur gleichnamigen winzigen Siedlung Seyðisfjörður. Dort legt die Norröna im Hafen an.
Wie schon die See selbst, so wird auch die Ankunft an Land von der mittelalterlichen Literatur des Nordens mit farbenfrohen mythologischen Details verbunden. Ein einschlägiges Zeugnis findet sich im isländischen Landnahmebuch. Eine der verschiedenen Fassungen des Landnahmebuchs enthält folgende kurze Bemerkung über die nordischen „Drachenschiffe“ – die Ikone der Wikingerzeit schlechthin – und darüber, was bei der Einfahrt eines solchen Drachenschiffs in einen Hafen zu beachten ist:
Das war der Beginn der heidnischen Gesetze, dass die Leute kein Schiff mit einem Kopf auf offener See haben sollten, und wenn sie es hätten, dann sollten sie den Kopf abnehmen, ehe sie in Sichtweite des Landes kämen, und nicht mit gähnenden Köpfen oder gaffenden Mäulern auf das Land zu segeln, so dass die Landgeister erschreckt würden.
Diesem Text zufolge war es somit verboten, sich mit einem Tier- oder sonstigen Kopf am Steven des Schiffs der Küste zu nähern; die Drachenköpfe an den Steven der Drachenschiffe seien abzunehmen, ehe die Schiffe der Küste nahe genug kommen, um die „Landgeister“ zu verschrecken, von denen das Wohlergehen des Landes und seiner Menschen wesentlich abhängig gedacht wurde.
Inwieweit sich die Landgeister von einem grinsenden Kopf an einem Schiffssteven tatsächlich bedroht fühlten, sei allerdings dahingestellt – auch das Landnahmebuch wurde erst Jahrhunderte nach den dort beschriebenen Ereignissen abgefasst und mag mit seiner Schilderung der heidnischen Frühzeit Islands nicht immer Recht haben. Dezidiert schwer zu beeindrucken und ohne weiteres dazu fähig, sich zu behaupten, sind die Landgeister Islands jedenfalls einem anderen Text zufolge. Der isländische Historiker und Mythologe Snorri Sturluson verfasste im 13. Jahrhundert – wohl in den Jahren nach 1230 – eine umfangreiche Geschichte der norwegischen Könige: die Heimskringla. Dieses Werk enthält auch eine kurze Anekdote über den dänischen König Haraldr Gormsson. Dieser Dänenkönig war von den Isländern kollektiv verhöhnt worden, und als sich Haraldr eines Tages ohnehin mitten in einer Strafexpedition befindet, beschließt er, bei dieser Gelegenheit auch gleich seine Rechnung mit den Isländern zu begleichen – ein Vorhaben, das von den isländischen Landgeistern jedoch schon in seiner Planungsphase durchkreuzt wird:
Der erste Eindruck: Islands Küste bei Tagesanbruch.
Seyðisfjörður im sommerlichen Morgenlicht.
Haraldr Gormsson, der Dänenkönig, erfuhr, dass Jarl Hákon vom Christentum abgefallen war und das Land des Dänenkönigs an vielen Stellen verheert hatte. Da hob Haraldr der Dänenkönig ein Heer aus und fuhr danach nach Norwegen. Und als er in das Reich kam, das Jarl Hákon unter seiner Herrschaft hatte, da plünderte er dort und verwüstete das ganze Land, und das Kriegsvolk kam auf die Inseln, die Sólundir heißen. Nur fünf Höfe standen unverbrannt in Sogn im Læradalr, und die ganze Bevölkerung floh ins Gebirge und in die Wälder mit all dem, was sich mitnehmen ließ. Danach beabsichtigte der Dänenkönig, sein Kriegsvolk nach Island einzuschiffen und die Beleidigung zu rächen, mit der ihn alle Isländer verhöhnt hatten: Das war in Island als Gesetz verabschiedet worden, dass man für jeden Einwohner, der im Land war, eine Spottstrophe auf den Dänenkönig dichten sollte; und das war der Grund gewesen, dass ein Schiff, das sich im Besitz von Isländern befand, in Dänemark Schiffbruch erlitt, und die Dänen nahmen die gesamte Ladung und nannten sie Strandgut. Dafür war ein Vogt des Königs verantwortlich, der Birgir hieß. Eine Spottstrophe wurde auf sie beide gedichtet. Folgendermaßen heißt es in der Spottstrophe:
Da, als Haraldr, den man als Mörder kennt,
auf dem heidekrautbewachsenen Land des Penises
von Süden her in Pferdegestalt stampfte,
da wurde Vinðis Mörder zu bloßem Wachs;
und Birgir, der den Göttern der Bergsäle
im Land als unrein gilt,
der Schäbige – das sah die Welt –
in Stutengestalt davor.
König Haraldr gebot einem zauberkundigen Mann, eine Zauberreise nach Island zu unternehmen und herauszufinden, was er ihm sagen könne. Der unternahm die Reise in der Gestalt eines Wals. Und als er zum Land kam, da reiste er am nördlichen Teil des Landes entlang nach Westen. Er sah, dass alle Berge und Hügel voller Landgeister waren, manche groß und manche klein. Und als er auf die Höhe des Vápnafjords kam, da schwamm er in den Fjord hinein und wollte an Land gehen. Da fuhr ein großer Drache das Tal entlang herab, und ihm folgten viele Schlangen, Kröten und Nattern und spuckten Gift auf ihn. Und er wandte sich ab und gen Westen am Land entlang, den ganzen Weg, bis er auf Höhe des Eyjafjords war. Er schwamm in diesen Fjord hinein. Da fuhr ihm ein so großer Vogel entgegen, dass sich seine Flügel nach beiden Seiten zu den Bergen hin streckten, und eine große Zahl anderer Vögel, sowohl große als auch kleine. Er schwamm von da weg und nach Westen um das Land herum und so nach Süden zum Breiðafjord, und er steuerte da in den Fjord hinein. Da fuhr ihm ein großer Stier entgegen, und er watete auf die See hinaus und begann furchterregend zu brüllen. Eine große Zahl Landgeister folgte ihm. Weg schwamm er von da und nach Süden um Reykjanes, und er wollte bei Víkarsskeið an Land gehen. Da kam ihm ein Bergriese entgegen, und er hatte einen Eisenstab in der Hand, und er trug den Kopf höher als die Berge, und viele andere Riesen waren bei ihm. Von da schwamm er nach Osten, von einem Ende bis zum anderen am ganzen Land entlang. – „Da war nichts außer Sandebenen und hafenloser Einöde und schwerer Brandung draußen, und ein Meer so groß zwischen den Ländern,“ sagte er, „dass dort für Langschiffe keine sichere Überfahrt ist.“
Nachdem Haralds Zauberer dem König über die wehrhaften Landgeister und die unwirtlichen Küsten Islands Bericht erstattet hat, sieht der dänische König von einer Islandexpedition ab. Die großen Landgeister, die seine Angriffspläne im Keim erstickten, sind heute ein fester Bestandteil des isländischen Staatswappens: der Stier, der Vogel, der Drache und der Riese mit dem Stab fungieren dort als die Schildhalter, die den Schild mit dem weiß-roten Kreuz auf blauem Grund stützen.
Zwischen Meer und Wolken in Seyðisfjörður.
2 Ferðakort-Straßenatlas 9 AG6 / AH6.
Das Tal Hrafnkelsdalur ist heute einer der abgelegeneren Flecken Islands. Wenn man von Norden her kommt, lässt es sich jedoch immerhin erreichen, ohne dass man dafür mit dem Auto eine Furt durchqueren müsste. Um trockenen Fußes in dieses Tal zu gelangen, biegt man von der Ringstraße etwa 53 Kilometer westlich von Egilsstaðir nach Süden auf die Straße Nr. 923 ab. Dieser Straße folgt man darauf durch das Tal Jökuldalur („Gletschertal“). Nach 29 Kilometern kommt man zu einer Brücke über die Jökulsá á Dal. Mit der Überquerung dieser Brücke gelangt man ins Hrafnkelsdalur, und die Straße ändert ihren Namen in F910; man ist nun auf einer der „Bergstraßen“ angekommen („F“ steht für fjall, „Berg“), die im Grunde nur für geländegängige Fahrzeuge gedacht sind und deren Flussübergänge zumeist über keine Brücken verfügen. Für die nächsten 12 Kilometer bis nach Aðalból versperrt jedoch immerhin kein Fluss den Weg. In Aðalból befindet sich eine kleine Tankstelle, und auch Unterkunft und ein Imbiss ist dort zu bekommen – was allein in Anbetracht der Abgelegenheit von Aðalból für jeden Mittel- oder Westeuropäer einem kleinen Wunder gleichen muss. Kurz hinter Aðalból kreuzt die Straße den Fluss Hrafnkelá, den „Hrafnkellfluss“. Da die Straße diesen Fluss nicht auf einer Brücke, sondern in einer Furt überquert, macht die Hrafnkelá an diesem Punkt das Weiterkommen für alle normalen Straßenautos unmöglich.
Im Hrafnkelsdalur ist man stolz darauf, dass dieses Tal der Schauplatz einer der berühmtesten Isländersagas ist: der Hrafnkels saga Freysgoða, der „Saga von Hrafnkell dem Freyr-Priester“. Im Tal wurde sogar ein (etwas rudimentär beschilderter) Sagawanderpfad eingerichtet, und bei einem Grabhügel etwas nördlich von Aðalból soll es sich um das Grab des Helden der Saga handeln, des Hrafnkell Freysgoði („Freyr-Priester“).
Bei Regen im Hrafnkelsdalur, dem Tal Hrafnkels des Freyr-Priesters.
Die Hrafnkels saga ist eine der kürzesten und klarsten, zu gleich aber auch eine der verwirrendsten Isländersagas. Die Geschichte hebt damit an, dass Hrafnkels Vater Hallfreðr mit seiner Familie nach Island auswandert. Dort baut er sich zunächst einen Hof in einem Tal namens Geitdalr, hat aber eines Nachts einen Traum, in dem ein Mann zu ihm tritt und ihm sagt, dass sein Glück weiter im Westen auf ihn wartet und er umziehen soll. Hallfreðr tut dies sofort, und unmittelbar nach seinem Umzug geht ein Erdrutsch ab und zerstört seine vorherige Wohnstatt.