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Ein Dichter ohne Bücher? Ein Autor, der nicht einen Brief schrieb? Ein gefeierter Dramatiker und Schauspieler, an den sich kurz nach seinem Tod schon niemand mehr erinnert? Das Leben eines gewissen William Shakespeare aus dem englischen Provinzort Stratford upon Avon gab dem amerikanischen Literaten und scharfzüngigem Beobachter Mark Twain zu denken. Er besah sich die Tatsachen und formulierte seine Antwort auf die drängendste Frage der englischen Literaturgeschichte: War William Shakespeare wirklich der Dichter, für den wir ihn halten? - Niemand hat sich seither diesem unerschöpflichen Thema amüsanter und pointierter genähert als Mark Twain. »Ist Shakespeare tot?« ist ein Glanzstück literarischer Satire.
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Die Originalausgabe erschien 1909 unter dem Titel»Is Shakespeare Dead ?« bei Harper & Brothers, New York.Die Zitate von William Shakespeare in Kapitel VII und Kapitel X sind der Übersetzung von August Wilhelm Schlegel entnommen.
Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Nikolaus HansenMit einem Vorwort von Leander Haußmann
ISBN 978-3-492-97407-3April 2016Deutschsprachige Ausgabe:© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016Covergestaltung und Illustration: Kornelia Rumberg,www.rumberdgedesign.deDatenkonvertierung: psb, BerlinSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.
Ich hatte »Tom Sawyer« zu Weihnachten geschenkt bekommen von meinem Vater. Da war ich acht, des Lesens kaum mächtig, doch sofort derart beglückt, dass ich mir innerhalb eines Jahres alle Romane von Mark Twain, derer ich habhaft werden konnte, in der Volksbibliothek auslieh. Shakespeare kam später, da war ich elf. Ich saß in der Proszeniumsloge des Deutschen Theaters in Berlin und sah, wie mein Vater ein Schwert über den Bühnenboden zog, dass die Funken sprühten – er gab den Laertes. Des alten Hamlet Geist sah damals noch aus, wie Geister auszusehen haben, weshalb er einen starken Abdruck auf meiner zarten Kinderseele hinterließ. Wenn mein Vater mir nicht versteckt verschwörerische Zeichen gegeben hätte (Augenzwinkern oder Finger hinterm Rücken verschränken), wäre ich vor Angst unter den Theatersessel gekrochen.
Früh entdeckte ich meine Leidenschaft für die monologisierenden, verkorksten Gestalten der Stücke, auf denen vorne »William Shakespeare« stand. Das ist so geblieben, bis heute. Shakespeare ist immer dabei, er gehört zu meiner Ausstattung wie die gute Flasche Wein, immer in Reichweite.
Als mein Großvater (Schauspieler) im Sterben lag, standen mein Vater (Schauspieler) und ich (Schauspieler) an seinem Bett, in Weimar im Heim für alternde Bühnenkünstler. Ich sehe meinen Großvater noch heute mit letzter Kraft lächeln und sagen, »Er wäre …«, dann kam er nicht weiter, und mein Vater half ihm, »er hätte …«, sagte er, und ich führte den Satz zu Ende, »Er hätte, wäre er hinaufgelangt, unfehlbar sich höchst königlich bewährt.« Shakespeare verleiht dem Moment seine nötige Größe.
Bei Mark Twain fand ich die Ironie, die mir half, in dieser harten, fordernden, mich hänselnden Umgebung meiner Kindheit zu überleben.
Für welchen heranwachsenden Jungen war der innere Ausruf Tom Sawyers angesichts eines zu streichenden, sich unendlich in die Länge ziehenden Lattenzauns, »Das Leben schien ihm öde, das Dasein eine Last«, nicht der immerwährende Begleiter in allen Lebenslagen, in denen er vor immer größeren und schwereren und Zeit fressenden Aufgaben stand wie Abwaschen, Mathematikprüfung oder Kohlen aus dem Keller holen und sechs Öfen heizen. Natürlich gab es Wichtigeres. Zum Beispiel mit dem Floß und Guido Kossack, meinem übergewichtigen besten Freund, auf der Erpe, unserem Mississippi von Hirschgarten, zu kentern und unter Einsatz unseres Lebens den Proviant ans rettende Ufer zu schaffen. Die Erpe war ein schmales, schlammiges Flüsschen (eigentlich ein Rinnsal), das die Abwässer der umliegenden Kleingärten im Müggelsee verteilte. Diese Reisen und das Gefühl absoluter Freiheit prägen meine Erinnerungen an eine nicht immer schnörkellose Kindheit. Wie auch der dreiarmige Kandelaber mit den flackernden Kerzen, deren Wachs fortwährend auf unsere Auslegeware tropfte: Wenn ich allein zu Hause war, zog ich die Vorhänge zu, zündete die Kerzen an und schwebte – ihn vor mein Gesicht haltend, mich mystisch von unten beleuchtend, nicht ohne Seitenblick in den Spiegel, die Wirkung überprüfend – die Treppe unserer Maisonettewohnung herunter und sprach den Monolog des Hamlet. Überhaupt bin ich mit diesem Text ganz gut durchgekommen. Bis heute übrigens. Zugegeben, meine Shakespeare-Leidenschaft war nicht immer seriöser Natur.
Da ich nicht Klavier oder Gitarre spielen konnte, weil mich von jeher die Aussicht, etwas nicht perfekt zu beherrschen, abschreckte, musste ich etwas anderes finden, um das weibliche Geschlecht davon zu überzeugen, dass es sich bei meiner Person um etwas ganz Außerordentliches handelt.
Ich stamme aus einer Zeit, wo jeder entweder Gitarre oder Klavier spielte, und wenn es auch nur zwei Akkorde waren, meist Blues oder Folk, wo wirklich jeder zumindest die Maultrommel gegen die Zähne klappern ließ, als Soundtrack unserer Suche nach Schönheit und Liebe, und geriet so unerwartet in Vorteil gegenüber dem klampfenden Fußvolk, wenn ich mich auf die Bänke stellte, die die Karl-Marx-Allee säumten, von einer zur anderen sprang und »… schlafen!« rief, »vielleicht auch träumen«, und mich vor die Füße der doch zumindest hoffnungsvoll irritierten Damen warf, um deren Beachtung ich kämpfte.
Wer einmal, aus welchen Gründen auch immer, angefangen hat zu fragen, wer Shakespeare war, und wer dieses profunde, heute noch immer alles überstrahlende Werk wohl geschrieben haben mag, hat schnell die paar Seiten mit den dürren Fakten zur Historie dieses Mannes aus Stratford-upon-Avon hinter sich gelassen und sieht sich einer Sekundärliteratur gegenüber, deren Buchrückenstraße sich weit bis in den Horizont verliert. Natürlich muss man sich fragen: Soll ich das jetzt alles lesen? Da kommt einem wieder dieser Satz in den Sinn: »Das Leben schien ihm öde, das Dasein eine Last.« Mir scheint, die Suche nach Shakespeare ist nichts anderes als die Suche nach Gott. Auch hier wiegt Glaube mehr als Wissen.
Gleich zur Eröffnung seiner Polemik brüllen sich der junge Mark Twain und der bibel- als auch Shakespeare-feste Oberlotse gegen den Lärm des sich durch das Wasser des Mississippis wühlenden Schaufelrades eines Dampfschiffes an. Wir sehen den Mann förmlich vor uns, wie er in stürmischer Nacht breitbeinig auf der Brücke des Dampfers steht und Shakespeare monologisierend Befehle erteilt. Die elisabethanische Versdichtung passt sich in dieser Szene der Seemanns-Prosa auf natürliche Weise an und liefert den Beweis, wie stark sich Shakespeare in das Volksbewusstsein gebrannt hat.
Später werden sich die beiden Männer ihre Theorien um die Ohren hauen. Hier der Stratfordianer und da der Baconist. Und schon sind wir drinnen im Disput, der sich über die Jahrhunderte hinzieht, bis heute ohne letzte Erkenntnis, ohne die große Entdeckung, auf einem Dachboden in Stratford vielleicht, die uns weiterbringen könnte – was am Ende bleibt, ist nichts als unsere Fantasie, die Stücke und ein paar magere Hinweise. So soll es bitte bleiben!
Aber eine Sache muss ich dann doch noch loswerden: Eines von Twains Argumenten ist die mögliche bildungsferne Herkunft des Mannes, von dem die Stratfordianer annehmen, er sei Shakespeare gewesen. Man könnte natürlich auch fragen, wieso Sir Francis Bacon, der den Namen Shakespeare als Tarnung benutzt haben soll und der ja nun aus der Upper Class stammt, so gut die Sprache der unterschiedlichsten, vor allem untersten (bildungsfernsten, asozialsten) Schichten beherrscht. Diese Antwort bleibt uns Mark Twain, der fanatische Baconist, schuldig. Schließlich ist auch Twain Autodidakt und nicht mit dem goldenen Löffel im Mund groß geworden. Gerade er müsste eigentlich dafür Verständnis haben, dass so etwas möglich ist.
Und was ist mit dem Porträt von Shakespeare auf dem Cover der ersten Folio Ausgabe? Sieht es nicht wirklich so aus, als würde uns eine Person narren, die eine Maske trägt von einem Mann mit Ohrring, der aussieht, als hätte man ihn erfunden. Ja, schauen Sie genau auf die Kinnpartie, die sich bis zum Ohr zieht wie ein grader Strich, wie die Kontur einer Maske.
Wer steckt dahinter? Jetzt könnte ich einer höchst subjektiven Wahrnehmung noch ein polemisches Sahnehäubchen aufsetzen und rufen, »hinter der Maske stecken wir«. So könnte ich stundenlang weitermachen, aber dazu braucht man einen Kamin und Enthusiasten, und es wäre schön, wenn Mark Twain auch dabei sein könnte, aber man kann nicht alles haben. Dafür gibt es jetzt dieses Büchlein. Und die gute Nachricht ist: Es macht Spaß, darin zu lesen.
Hier und da verteilt in den Stapeln unveröffentlichter Manuskripte, aus denen sich meine eindrucksvollen Lebenserinnerungen und Tagebücher zusammensetzen, wird in ferner Zukunft manch ein Kapitel auftauchen, in dem es um anmaßende Leute geht – um historisch berühmt-berüchtigte Anmaßende: Satan, anmaßend; das Goldene Kalb, anmaßend; der verschleierte Prophet von Khorasan, anmaßend; Ludwig ., anmaßend; William Shakespeare, anmaßend; Arthur Orton, anmaßend; Mary Baker G. Eddy, anmaßend – und all die anderen. Berühmte Anmaßende, erfolgreiche Anmaßende, unterlegene Anmaßende, fürstliche Anmaßende, plebejische Anmaßende, protzige Anmaßende, schäbige Anmaßende, geachtete Anmaßende, geächtete Anmaßende, sie alle blinzeln hier, da und dort sternengleich durch die Nebel der Geschichte und der Legende und der Tradition herab vom Firmament – und siehe da, die ganze geliebte Sippschaft ist gehüllt in Geheimnis und Romantik, und wir lesen mit größtem Interesse über sie und sprechen von ihnen, je nachdem, auf welche Seite wir uns schlagen, mit herzlicher Sympathie oder bitterem Groll. So war es schon immer mit dem Menschengeschlecht. Es gab niemals einen Anmaßenden, wie fadenscheinig oder offenkundig verlogen seine Sache auch gewesen sein mochte, der weder Gehör zu finden noch eine leidenschaftliche Gefolgschaft hinter sich zu versammeln in der Lage war. Arthur Ortons Anspruch, er sei der verschollene Baronet Tichborne und habe überlebt, war ebenso fadenscheinig wie Mrs Eddys Behauptung, ihr Hauptwerk sei ihr direkt von Gott in die Feder diktiert worden; doch verfügte Orton in England vor fast vierzig Jahren über eine gewaltige Gefolgschaft von unbeirrbaren Gläubigen, die auch dann noch stur auf ihrer Überzeugung beharrten, als ihr fettleibiger Gott längst des Betruges überführt war und wegen Meineids im Gefängnis saß, und die Anhängerschaft von Mrs Eddy ist bis heute nicht nur riesengroß, vielmehr wächst tagtäglich ihre Zahl und ihr Enthusiasmus. Unter Ortons Anhängern befanden sich zahlreiche kluge und gut ausgebildete Köpfe, und das Gleiche lässt sich von Anfang an über die Gefolgschaft von Mrs Eddy sagen. Ihre Kirche ist personell ebenso gut bestückt wie jede andere Kirche auch. Anmaßende können immer mit Gefolgschaft rechnen, ganz gleich, wer sie sind, was sie behaupten und ob sie irgendwelche Belege vorzuweisen haben oder nicht. Das war schon immer so. Wenn man genau hinhört, kann man da draußen, in den uralten Gefilden der tiefsten Vergangenheit, über den Abgründen der Jahrhunderte noch immer die Scharen der Gläubigen nach Perkin Warbeck und Lambert Simnel rufen hören.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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