Izabo und Kazim - Monika Geiger - E-Book

Izabo und Kazim E-Book

Monika Geiger

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Beschreibung

In der Bekannten Welt haben sich mehrere Völker mit Zugang zum Ostmeer zu einem Handelsverbund, der Ost-West-Hanse, zusammengeschlossen. Sie teilen die gleichen Werte, pflegen untereinander einen offenen, toleranten Umgang und fördern die Wissenschaften. Aus dem Nichts verübt König Malm, Oberhaupt Norrlands und kein Mitglied der Hanse, einen Überfall auf das Volk der Illaseer. Dessen König Thure hat die Hanse gegründet und ist deren anerkanntes Oberhaupt. Er und seine Gemahlin werden bei dem Überfall getötet und ihre Tochter, Prinzessin Izabo, folgt ihnen auf den Thron nach. Zusammen mit ihrem Geliebten Kazim versucht Izabo die verbündeten Völker zum Widerstand gegen König Malm zu bewegen. Kazim hat als Kind bei einem Überfall der Norrländer ebenfalls seine Eltern verloren und brennt auf Rache. Erschwert wird den beiden ihre Aufgabe durch die Tatsache, dass sie mit dem Fluch eines Drachen belegt wurden, der sie jeweils eine Hälfte des Tages in die Gestalt eines Tieres zwingt. Aber Izabo und Kazim sind würdige Erben ihrer, in der Bekannten Welt sehr geschätzten Königshäuser. Bei ihrer Mission, die Welt zu befrieden, erfahren sie die Unterstützung unterschiedlicher Menschen und Wesen, die ihnen wohlgesonnen sind. Wird es ihnen gelingen, die Werte der Hanse gegen den Imperialismus König Malms zu verteidigen und den ihnen auferlegten Fluch zu bannen? Mit großer Erzählfreude verknüpft die Autorin Elemente aus Fantasy, Liebesromanze, Parabel und östlicher Weisheit zu einem bunten Märchen, das all die Leser*innen begeistern wird, die in eine fantastische Welt eintauchen und deren Bewohner bei spannenden Abenteuern begleiten möchten. Und wer darin Parallelen zum aktuellen Weltgeschehen sehen möchte, liegt auch richtig.

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Für meine wundervollen Enkelkinder

Inhaltsverzeichnis

Bewohner der Bekannten Welt

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Bewohner der Bekannten Welt

Izabo: Kronprinzessin von Illas

Kazim: Kronprinz der Ugaren, Izabos große Liebe

Lama Kun-Yan-Than: Geistliches Oberhaupt der Ugaren, Mentor Kazims

Meister Dienschel: Ehemaliger Leiter der Trollschule, lebt nun als Eremit

Meister Vogelhändler: Einflussreicher Kaufmann, vertritt die Flumenaden im Hohen Rat

König Malm: Herrscher über Norrland

Osminog: Fürst der Kraken, Herr über das Ostmeer

Yongfur: Drache

Yara: Kazims jüngste Schwester

Premi: Freund Kazims aus Kindertagen

Meister Salzmann: Bürgermeister der Ryk-Siedler

Madame Kinkel: Hausmeisterin der Trollschule

Meister Lamprecht: Oberhaupt der Feldhasen

Arvid: Torwache auf Malmgrad

Jegor: Verwalter auf Malmgrad

König Erik: Herrscher über Eisland

Rotrock: Blutfink

Schwarzer Ritter: Vertrauter König Malms

Meister Olbrich: Anführer der Blakuller

Königin Siri: Königin der Flumenaden und Izabos Tante

Madame Tappert: Leiterin der Trollschule

Vorwort

Es war einmal in einer fernen Welt. Einer Welt, in der sich Menschen, Tiere und Fabelwesen tummelten. Alle konnten sich in der gleichen Sprache verständigen und lebten friedlich und einvernehmlich miteinander. Doch es kam, wie es kommen musste: Der Frieden wurde bedroht. Ihr fragt euch, was passiert ist? Nun, … dann lasst euch erzählen!

Kapitel 1

Auf der Flucht

Ruckartig zog Izabo ihren kleinen Falkenkopf unter dem Flügel hervor. Sie spähte angestrengt in den lichten Kiefernwald hinter sich, konnte aber außer einem schnürenden Fuchs nichts weiter entdecken. Der Fuchs hob kurz den Blick hinauf zu dem Ast, auf dem Izabo sanft vom Wind geschaukelt wurde. Missmutig trollte er sich über die mit weißen Flechten bewachsenen Dünen und bog in die dicht stehenden Heckenrosenbüsche mit ihren rot glänzenden Früchten ab, wo sich bald seine Spur im feinkörnigen Sand verlor. Das warnende Kollern des Eichelhähers hatte nicht nur Izabo unsanft geweckt. Auch dem Fuchs war die Jagd auf Kaninchen verdorben, die am frühen Morgen immer zwischen den Eingängen ihrer Bauten hin und her huschten und an den nur noch spärlich wachsenden Grashalmen mümmelten.

Izabo hob einen Fuß vom Ast, spannte ihren grau und weiß gebänderten Flügel darüber und streckte sich auf ihre ganze Länge. Zerstreut zupfte sie mit dem gelben Schnabel an den Spitzen der nahezu viereckigen Flügel, ehe ihr Blick auf den Ring fiel, der die äußerste rechte Fußkralle locker umspannte. Von kühl glänzendem Silber eingefasst, spiegelte ein Tautropfen das dunkle Grün der Kiefern wider. Wie jede weibliche Erbin der Flumenaden, den Herrscherinnen über die Flüsse, hatte sie diesen Ring schon bei ihrer Geburt von der Königin der Wassernymphen über den kleinen Finger der rechten Hand gestreift bekommen. Seit dieser Zeit warnte er sie zuverlässig vor drohenden Gefahren und daran hatte auch der Fluch nichts ändern können.

Der Fluch! Schlagartig war Izabo gänzlich im gegenwärtigen Moment angekommen und sie sah nach unten auf den spärlich mit Moos bewachsenen Waldboden, wo Kazim schlafend auf dem Rücken lag.

Aus dem tiefschwarzen Zopf, zu dem er sein hüftlanges Haar gebunden hatte und den er mit einem dunklen Riemen aus Hirschleder zusammenhielt, lösten sich ein paar Strähnen und rahmten sein ebenmäßiges Gesicht ein. Unter den dichten, sanft geschwungenen Brauen standen die Augen leicht schräg und verrieten seine Herkunft aus dem Osten der Bekannten Welt. Die schmale Nase beschrieb einen leichten Bogen, was an den Schnabel eines Falken, ähnlich dem ihren, erinnerte. Bei dem Gedanken lächelte Izabo in sich hinein und ihr Blick wanderte weiter zu den vollen, weinroten Lippen, die sie sich schon zu küssen wünschte, solang sie denken konnte.

Um seinen langen, schlanken Hals wand sich eine smaragdgrüne, aus Seide gedrehte Kordel, an der ein rundes, silbernes Amulett in Form einer Sonne, die einen Halbmond umfing, hing. Sie selbst hatte es ihm geschenkt, als er siebzehn geworden war und sie sich endlich eingestanden hatte, dass aus der kindlichen Zuneigung von Stiefgeschwistern längst eine tiefere Verbundenheit geworden war. Eine, die das Herz mit süßem, sonnenwarmem Nektar füllte bis an den Rand und in ihrem Bauch einen tausendflügeligen Schwarm schimmernder Schmetterlinge flattern ließ.

An seinem durch Kampfkunst gestählten Körper spannten sich unter der olivfarbenen Haut selbst im Schlaf die Muskeln und einmal mehr war Izabo fasziniert von seiner Schönheit und der eleganten Kraft, die er ausstrahlte. Ihr Blick glitt über seine nackte

breite Brust, die schmalen Hüften hinab zu den Oberschenkeln und weiter zu den Füßen, die in hellen Mokassins steckten. Das rechte Hosenbein seiner Hirschlederhose war über dem Unterschenkel aufgeschlitzt und gab den Blick auf eine tiefe Wunde frei, die sich vom Knie seitlich bis zum Knöchel zog und nur notdürftig mit Blättern des Spitzwegerichs abgedeckt war. Verkrustetes Blut färbte die Ränder tiefschwarz und eine Entzündung hatte das Bein erfasst.

„Wir müssen weiter“, dachte Izabo, „weiter weg von der Küste, wo die Norrländer auf ihren flinken Segelschiffen die Verfolgung aufgenommen haben.“

Sie breitete ihre Flügel aus, stieß sich ab und ließ sich die paar Meter hinunter auf Kazims Schultern sinken, sorgsam darauf bedacht, ihn nicht mit ihren spitzen Krallen zu verletzen. Aber so sacht sie auch aufsetzte, Kazim war ungeachtet seines gerade noch tiefen Schlafs und seiner Verletzung blitzschnell auf den Beinen und sie, völlig überrascht, kugelte in einem einzigen braungrau-beigem Federknäuel durch den weißen Sand bis an den Fuß der Düne. Ein paar Daunen lösten sich aus ihren Schwingen, tanzten wie Schneeflocken über den Gräsern, bis der scharfkantige Strandhafer sie mit seinen Ähren einfing.

„Izabo, Liebes …“, rief Kazim aus und noch ehe sie wieder ganz auf ihren Füßen stand, war er schon neben ihr und kniete sich in den für diese Jahreszeit noch ungewöhnlich warmen Sand.

„Oh je, es tut mir so leid, … ich hatte geträumt … und dann, … bist du in Ordnung?“

Izabo stieß einen krächzenden Laut aus, der so gar nichts mit dem würdevollen Rufen eines Wanderfalken zu tun hatte und plusterte ihr Federkleid auf. Die Sandkörnchen stoben in alle Richtungen davon, aber als sie in Kazims besorgtes Gesicht sah, musste sie lachen.

„Es hat auch Vorteile, ein Wanderfalke zu sein“, meinte sie und legte ihr Köpfchen schräg in den Nacken, um Kazim ins Gesicht sehen zu können.

Ihr Blick fing den seinen auf, versank in seinen Augen, schwarz und glänzend wie die Kohle, die an den Herdfeuern zurückblieb. Sie zählte in Gedanken die silbernen Sprenkel in seiner Iris, die wie kleine, am dunklen Nachthimmel eingeschlossene Sterne leuchteten und die nur jemand sehen konnte, der ihm so nahekommen durfte, wie sie es tat.

Sie rief ihre abschweifenden Gedanken zur Ordnung und war froh, dass ihr Falkengefieder nicht die verräterische Röte annehmen konnte, die ihre aufwallenden Gefühle verursachten.

„Wir sollten los, meinst du nicht auch?“, fragte sie betont ruhig und Kazim, dessen Ausdruck sich beim Gedanken an die Verfolger schlagartig verfinstert hatte, nickte zustimmend.

„Wir müssen noch weiter weg vom Meer sein, ehe die Nacht hereinbricht“, meinte er und dachte dabei sehnsuchtsvoll an die Abenddämmerung, die Izabo und ihm eine halbe Stunde gemeinsamer Zeit in Menschengestalt zurückgeben würde, ehe er sich zum Wolf wandeln und Izabo bis zum Morgengrauen ein menschliches Wesen, seine geliebte Gefährtin, sein würde.

Die Gefährtin, von der er schon nach fünf Jahren am Hof von König Thure wusste, dass sie für immer zu ihm gehören würde. Würde sich dieser Fluch jemals bannen lassen und vor allem, wie? Oder würden sie für immer dazu verdammt bleiben, durch die Lande zu streifen, voller schmerzhaftem Sehnen, immer nur für die kostbare Zeit der Morgen- und Abenddämmerung lebend?

Kazim wandte sich zu der Düne um, auf deren Kamm sie gerastet hatten und stapfte entschlossen, den brennenden Schmerz in seinem Bein ignorierend, durch den Sand nach oben, um seine Satteltasche und die Waffen zu holen, die er neben sich gelegt hatte. Er zog sich den mit vielfarbigen Ornamenten bestickten Gurt der Satteltasche über die Schultern und quer über den Oberkörper. Die linke Hand griff nach dem reich verzierten, geschnitzten Bogen aus Zedernholz und dem Köcher, in dem seine wertvollsten Pfeile steckten, von denen nur die Enden mit den Federn des rostroten Jagdfasan zu sehen waren. Die rechte Hand ergriff das kunstvoll geschmiedete Schwert. Die schon tief stehende Sonne warf ein helles Licht auf die Klinge, in die das Wappen seines Reitervolkes eingraviert war.

„Eines Volkes, dessen Namen nur noch der kalte Ostwind kennt und dessen letzter Erbe ich bin“, fuhr es ihm durch den Kopf.

Das silbergraue Wolfsfell, das mittig von langem, nachtschwarzem Deckhaar geteilt wurde, legte er sich um die Hüften und hakte für besseren Halt die schwere silberne Schließe ein. Sekunden später stand Kazim schon wieder neben Izabo und bückte sich, um sie auf seine Schulter zu heben. Sie hielt sich am Ledergurt seiner Satteltasche fest und bog die scharfen Krallen von seiner Haut weg, so gut es ging. Natürlich hätte sie auch neben Kazim herfliegen können, aber mit seinem verletzten Bein kam er nicht gut voran und außerdem genoss sie es, sich auf seiner Schulter wiegen zu lassen und ab und zu zärtlich an seiner Ohrmuschel zu zupfen.

Kazim schlug den Weg durch den Kiefernwald ein und achtete sorgsam darauf, keine am Boden liegenden Ästchen zu knicken oder anderweitige Spuren zu hinterlassen. Mehrmals sprang er über den sich durch den Wald windenden murmelnden Bach oder watete ein Stück in dessen Bett. Da in der letzten Nacht mehrmals das Gebell von den Fährtenhunden der Norrländer durch den wabernden Nebel gedrungen war, versuchte er so, die Verfolgung zu erschweren.

Kiefern machten bald mächtigen Buchen Platz, und nachdem sie eine Stunde schweigend ihren Gedanken nachgehangen hatten, erkannte Kazim hinter einer Lichtung die Umrisse von mehreren Kastanien.

„Wir sind bald da“, dachte er erleichtert und beschleunigte seine Schritte.

Im Kastanienwald war die Trollschule, das wusste er noch von früheren Lehrstunden, zu denen er und Izabo dort weilten, um die Runen und Schriften der Völker der Bekannten Welt zu erlernen. Der Meister der Schule war auch der Heilkräuter kundig und so würde er dort Hilfe für seine ernste Wunde finden und könnte sich ein bisschen ausruhen, um sich dann endlich dem verhassten Feind entgegenstellen zu können!

Kapitel 2

Vor drei Tagen

Izabo drückte die nackten Füße in die Flanken ihres stämmigen, kupferfarbenen Illas-Pferds. Sie hielt sich an der hellen Mähne fest und feuerte Cupra übermütig mit lauten Rufen und schnalzender Zunge an, schneller zu laufen. Aber gegen Kazims langbeinigen Nigros hatten sie keine Chance. Ihre Stute war ausdauernd und an die karge Pflanzenwelt der Insel Illas angepasst. Spritzige Schnelligkeit, mit der der Rappe windschnell über das offene Grasland hinter den Dünenwäldern galoppierte, war nicht Cupras Stärke.

Völlig außer Atem gab Izabo nun ihrem Pferd zu verstehen, dass es in gemütlichen Trab fallen durfte. Sie selbst lehnte sich ein bisschen zurück und fuhr mit den Händen durch ihr flachsblondes Haar, das der wilde Ritt völlig zerzaust hatte. Kazim hatte noch nicht bemerkt, dass sie zurückgefallen war. Aber als das Ufer des großen Molaren auftauchte, sah er sich um, bedeutete seinem Pferd, langsamer zu werden und am sandigen Seeufer zum Stehen zu kommen. Er stieg ab und band Nigros mit langer Leine an eine kleine Stieleiche.

Das Pferd verstand die Geste und begann unverzüglich zu weiden, wobei es mit seinen Nüstern sehr genau prüfte, ob die Blüten und Gräser nach seinem Geschmack und ihm zuträglich waren. Kazims Blick fiel auf die lila blühenden Herbstzeitlosen mit ihrem safrangelben Stempel, die als einzeln wachsende Pflanzen wie von einem königlichen Maler zwischen das noch satte Grün getupft schienen.

„Wie schnell der unbeschwerte Sommer doch vergangen ist“, dachte er und strich mit der Hand sanft über Nigros‘ schweißnasse Flanke.

Er riss ein paar Büschel trockenes Gras ab, das unter der Stieleiche wenig Regen für sich hatte speichern können und rieb Nigros damit trocken. Das Pferd schnaubte leise und zustimmend, vertiefte sich aber sofort wieder in sein begonnenes Festmahl.

Mittlerweile war auch Izabo am Seeufer angekommen und sprang behände von Cupras Rücken. Sie band ihr Pferd neben Nigros fest und die Stute nahm die Einladung zum Grasen sofort an. Izabo klopfte sich den Staub von ihrer Leinenbluse und den Beinkleidern aus gegerbtem Schafleder.

Sie richtete sich auf und schaute hinaus auf den glasklaren Molaren, dessen Oberfläche die über ihnen ziehenden Wolken und die am Ufer stehenden Bäume widerspiegelte. Kein Windhauch regte sich. Die Schwalben jagten hoch am Himmel nach Mücken und Izabo schloss daraus, dass in den nächsten Stunden kein Regen zu erwarten war.

„Wollen wir?“, fragte sie in Richtung Kazim, der ihrem Fingerzeig zum See gefolgt war und anstatt eine Antwort zu geben, entledigte er sich hastig seiner Kleidung und zog sie übermütig mit sich.

„Warte, warte …“, lachte sie und zog sich die Bluse über den Kopf.

Sie schlüpfte aus der Reithose und wie kleine Kinder rannten sie, sich an den Händen fassend, über den sanft abfallenden, schmalen Sandstrand. Das gerade noch reglos ausharrende Wasser

spritzte an ihren Schenkeln hoch und gab die entstandene Bewegung in kleinen und größer werdenden Kreisen bis an das gegenüberliegende Ufer weiter. Ein Sandregenpfeifer, der mit seinem kurzen, schwarz zugespitzten Schnabel den Strand eben noch nach kleinen Larven abgesucht hatte, flog erschreckt auf und suchte Deckung im Schilf. Zwischen den Rohrkolben schimpfte er lauthals auf die beiden Zweibeiner, die ihn an seinem Rastplatz auf dem Weg in die, bis jetzt nur den Zugvögeln bekannten Winterquartiere hinter den Schneebergen störten.

Izabo und Kazim nahmen keine Notiz von ihm, zu sehr waren sie in ihr übermütiges Spiel vertieft. Sie spritzten sich gegenseitig nass und liefen immer weiter ins Wasser, bis der Sandboden unter ihren Füßen nicht mehr zu spüren war. Und auch dann noch weiter, weiter, … bis auch die letzten Seerosenarme weit genug unter ihnen zurückblieben.

Izabos Atem beruhigte sich etwas und mit weit ausgreifenden Schwimmzügen glitt sie nun gleichmäßig durch das sich vor ihrer Brust teilende Nass. Sie drehte sich auf den Rücken und sah die Schwalben unter dem Himmelszelt hin und her schießen, um im Sturzflug, mit angelegten Flügeln, sich dann wieder mit ein paar schnellen Schlägen in die Höhe zu schwingen. Ein Fischadler ließ sich von den warmen Luftströmen in perfekt gerundeten Spiralen gemächlich nach oben tragen, bis er nur noch ein kleiner grauer Punkt auf dem unendlichen Himmelszelt war.

Wasser war ihr Element, war es immer schon gewesen. Nirgendwo sonst fühlte Izabo ein tieferes Gefühl der Verbundenheit. Wasser, Erde und Luft waren die Elemente, die alle Menschen, Tiere, Pflanzen, ja sogar die Steine in mehr oder weniger großen Kreisen und Linien verbanden.

Als Nachkömmling der Flumenaden war sie schon als Neugeborenes an das Wasser gewöhnt worden. Und wo andere ein unheimliches Gefühl beschlich, ob der in den Tiefen des Sees verborgenen fremdartigen Wesen, da wiegte sich ihre Seele mit den Wellen in absoluter Geborgenheit und vollkommener Einheit.

Sie wandte ihr Gesicht zu Kazim und beobachtete, wie er, mit dem Bauch nach unten, das Wasser mit kräftigen Bewegungen seiner muskulösen Oberarme teilte. Er konnte so schnell und ausdauernd schwimmen wie sie, natürlich verlieh ihm seine männliche Kraft hier einen Vorteil. Aber im Grunde entfaltete sich seine wahre Stärke eher an Land, nein, … eigentlich auf dem Rücken der Pferde, mit denen seine Ahnen im Sommer über die weiten Steppen gezogen waren und ihre Herden vor sich hergetrieben hatten.

Wie auch ihr waren schon vor seiner Geburt die jeweiligen Stärken und Weisheit der Vorfahren in Blut, Zellen, … in seinen ganzen Körper gelegt worden. Sonne und Mond, das waren ihrer beider Urahnen. Und so wie die beiden Himmelskörper in einem ewigen Reigen verbunden waren und das Leben aller Geschöpfe auf der Erde bestimmten, so waren auch sie und Kazim dazu bestimmt, in untrennbarem Miteinander die Geschicke ihrer Völker zu lenken. Das wusste sie schon von Beginn ihrer gemeinsamen Geschichte an.

Kapitel 3

Vor neun Jahren

Izabo saß mit den anderen Kindern auf den Holzpfosten, die den Hafen in der kleinen Lagune vor Thureshamn begrenzen sollten. Was eigentlich ein unmögliches Unterfangen war, weil der weiße Sand, der den felsigen Kern der Insel weitgehend säumte und unter Wasser kleine Inseln formte, seinen Verlauf ständig mit den Gezeiten änderte und das Anlegen eines Schiffes immer wieder neu eine Herausforderung war. Die Kalkinsel Illas lag im Delta des breiten Ryk-Stroms und ihre Bewohner hatten ihre Handelsbeziehungen fast ausschließlich auf dem Seeweg aufgebaut.

Allerdings gab es zu bestimmten Zeiten des Tages eine kleine felsige Landzunge, die von der Küste bis an den Strand vor Thureshamn reichte und nur bei Niedrigwasser passierbar war. Durch die günstige Lage im Ostmeer hatten die Illaseer bald eine vorherrschende Stellung unter den Reisenden und Kaufleuten der alten Welt erlangt. Ihr kluger Vater, König Thure, sorgte stets durch Aufrichtigkeit, Toleranz gegenüber anderen Kulturen und Großzügigkeit gegenüber dem eigenen Volk für eine Gemeinschaft, die sich auf den hohen Klippen von Illas sicher fühlte und deren Sicht auf die Welt friedlich, offen und wertschätzend war.

Das Handelsschiff mit der königlichen Flagge, ein silbergrauer Widder mit einem braunen Falken auf blauem Grund, kreuzte vor der Küste und wartete geduldig, bis die Flut es über die gefürchteten Sandbänke tragen würde.

Die anderen Kinder waren schon gelangweilt zurück in die Stadt gelaufen. Aber Izabo harrte aus, sie hatte einen Plan zu verfolgen.

Sie fingerte nach der Kupfermünze in ihrem kleinen Lederbeutel, den sie mit einer dünnen Kordel um die Hüfte gebunden hatte. Ihr gutmütiger Vater hatte sie ihr zugesteckt, damit sie dem Vogelhändler seine gesamte Ware abkaufen konnte. Einmal im Monat, so lange wie das Ostmeer eisfrei war, erwarb sie mit der Zeit eine stattliche Menge Fasane, Hühner und Singvögel, die für den Kochtopf oder zur Zierde in den kleinen Steinhäusern der Illaseer bestimmt waren. Natürlich ließ sie die Vögel im zur Midborg gehörenden Garten umgehend frei. Hier hatten sie nur Fuchs und Marder zu fürchten, aber so hatte das die Natur eben eingerichtet. Keines dieser bedauernswerten, in Käfigen aus Haselruten gehandelten Geschöpfe würde jedenfalls im großen Thronsaal der Midborg auf den Tisch kommen!

Izabo hielt wieder Ausschau nach der stolzen Confluenta, die nach ihrer Mutter benannt worden war. Aber der große Zweimaster mit den leuchtend weißen Segeln wurde noch immer zwischen den Untiefen festgehalten.

Sie dachte an die Geschichten, die ihre Mutter ihr abends vor dem Einschlafen erzählt hatte. Am liebsten ließ sie sich aus der Zeit berichten, in der ihr Vater blutjung zum König von Illas gekrönt worden war, weil sein eigener Vater von einer Robbenjagd im Eismeer nicht mehr nach Hause gekommen war.

Thure hegte zeit seines Lebens eine Abneigung gegen dieses blutige Handwerk und wollte den Bewohnern von Illas andere Möglichkeiten erschließen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. In seinen ersten Jahren als Regent reiste er viel zu Wasser und zu Land und brachte das Wissen über Salzgewinnung, Färbetechniken, Seilerei und anderes Handwerk mit zurück auf die Insel. Auf dem Festland eingefangene Wildschafe überließ Thure den Bauern zur Weiterzucht und bald entwickelte sich daraus eine robuste Rasse mit dichten Locken im seidenweichen, grauen Fell. Der junge König fand Gefallen an der Jagd mit Raubvögeln, wie sie auf dem Festland schon länger üblich war und begann mit der Ausbildung von in Gefangenschaft geborenen Jungtieren. Schon bald entsprach die Robbe als Wahrzeichen der Könige von Illas nicht mehr den Gegebenheiten der Neuzeit und Thure entschloss sich, fortan Widder und Falke im Wappen zu führen.

Er ließ die Midborg auf der Hochebene des Illasbergets mit einer Ringmauer aus Kalkquadern versehen, in die sechs Türme eingeschlossen waren und nach und nach siedelten sich immer mehr Menschen vom Festland um die Burg und bis zum Hafen hinunter an. Die Stadt Thureshamn war geboren und festigte mehr und mehr ihre Handelsbeziehungen zu den anderen Stämmen, die Zugang zum Ostmeer hatten.

Eines Tages machte er sich auf, um auf seinem Segelschiff den Ryk-Strom flussaufwärts zu erkunden. Während seine Berater am Hof noch darüber stritten, ob der Ryk eher ein tief in das Festland einschneidender Meeresarm oder doch eher ein Fluss war, hatte er schon herausgefunden, dass das Wasser immer weniger salzig wurde, je weiter man sich von der Küste entfernte und sich eine eigene Pflanzen- und Tierwelt an diese Bedingungen angepasst hatte.

Somit war der Ryk weder das eine noch das andere. Thure lernte daraus, dass die Dinge nicht immer in bekannte Kategorien passten und auch die schon erforschten Landstriche noch unzählige Geheimnisse bargen.

Immer weiter segelte er ins Landesinnere, und als der Fluss zu schmal und seicht wurde, gingen er und sein Gefolge an Land und setzten ihre Reise auf den mitgeführten Illas-Pferden fort.

Schließlich erreichte er die schneebedeckten Berge, die die Grenze zu einer unbekannten Welt bildeten. Zwei tosende Wasserfälle stürzten von meterhohen Felsen in ein tiefes Becken und vereinigten sich zum smaragdgrünen Ryk-Strom, der sich durch das Land schlängelte, dabei viele weitere Flüsse in sich aufnahm, um sich schließlich in einem gewaltigen Delta ins Ostmeer zu ergießen.

In einer mondhellen Nacht, als Thure noch beschäftigt war, gesammelte Pflanzen für die Trocknung vorzubereiten, hörte er durch die dünnen, pergamentenen Bahnen seines Zelts ein leises Raunen, das sich zu einem wohlklingenden Singen steigerte und schlussendlich sogar das Rauschen des Wasserfalls übertönte.

Der junge König trat vor das Zelt. Im Licht des Vollmonds sah er auf einem Felsen hinter den diamantfunkelnden Vorhängen des Wasserfalls eine Gruppe unbekannter Wesen sitzen, von denen der betörende Gesang ausging. Er näherte sich ebenso vorsichtig wie neugierig und sah, dass es sich um fünf junge Frauen handelte, deren Körper alle ab der Hüfte deutlich verschlankten und in einer breiten Fischflosse endeten. Die Unterkörper waren mit silbrigen Schuppen besetzt und glänzten im Mondlicht so hell, dass er geblendet den Blick abwenden musste.

Als sich eine Wolke teilweise vor den Mond schob, wagte er wieder hinzusehen, aber die jungen Frauen waren von ihrem Felsen ins Wasser geglitten und untergetaucht. Enttäuscht hielt er zwischen den Wellen nach ihnen Ausschau, als eine sanfte Stimme am gegenüberliegenden Ufer nach ihm rief. Er verstand die Worte nicht, aber da er kein Misstrauen gegenüber Fremden im Herzen trug, streifte er sogleich seine Kleidung ab und schwamm hinüber.

Eine der Schönheiten hatte sich dort wieder auf einen Stein gesetzt und winkte ihn zu sich. Eilig stieg Thure aus dem kalten Fluss und blickte in die schönsten Augen, die er jemals gesehen hatte. Wasserblau, mit nach außen immer dunkler werdender Iris und dem Funkeln von Sternen darin.

An dieser Stelle der Geschichte war ihre Mutter immer ins Stocken geraten und auch Izabos hartnäckige Fragen hatten sie nicht dazu bewegen können, mehr aus dieser Nacht zu erzählen.

Aber für Thure hatte Confluenta, wie sie nach ihrem Geburtsort in den zusammenfließenden Wassern genannt wurde, ihre Heimat und das Volk der Flumenaden verlassen und war ihm auf die Midborg gefolgt. Der Preis dafür war hoch: In wenigen Tagen verlor sie ihren Fischschwanz. Aber sie war bereit, ihn zu bezahlen, weil sie Thure liebte und sich sicher war, dass sie an jedem Ort mit ihm würde glücklich leben können.

Später, nachdem Izabo schon geboren war, stellte sie fest, dass sie in Vollmondnächten ans Meer gehen konnte und bei Berührung der Wellen wieder über ihren Fischschwanz verfügte. Sie schwamm mit den Ogunis, Mischwesen aus Menschen und Seehunden, um die Wette und manchmal kamen ihre Schwestern ihr in solchen Nächten bis ins Ryk-Delta entgegen und sie mischte sich für eine Nacht wieder unter ihresgleichen.

Obwohl Thure in diesen Nächten vor Sorge um sie fast krank wurde und, von Turm zu Turm wandernd, nach Seehundjägern Ausschau hielt, um sie notfalls vor ihnen beschützen zu können, hielt er sie nie zurück. Er wusste, dass nur eine Geliebte, die die Freiheit hat zu gehen, immer wieder zurückkehren würde.

Das Geräusch von Segeln, die im Hafen eingeholt wurden, riss Izabo aus ihren Tagträumen. Sie sprang von den Palisaden und lief leichtfüßig über den Sand, den von Bord gehenden Illaseern, Kaufleuten aus fernen Ländern sowie Gelehrten, die ihr Vater an den Hof eingeladen hatte, entgegen.

Der Vogelhändler

Als Erster stieg der Vogelhändler die, an die Bordwand gelehnten Planken herunter. Oben an Deck standen seine Gehilfen und reichten ihm zwei Käfige. Der Name Vogelhändler war nicht richtig. Sein Wohlstand beruhte vielmehr auf dem An- und Verkauf von Leinen, gewebt aus den Fasern des Flachses. Ein kleines störrisches Bergvolk, wohnhaft am Rande der Schneeberge, hatte im regenreichen Vorland Wald gerodet und baute nun die blau blühende Pflanze an. Bis aus dem Leinsamen allerdings das wegen seiner Haltbarkeit geschätzte Leinen wurde, waren viele Handgriffe nötig.

Der vorausschauende Vogelhändler unterstützte die Menschen von Blakullen, indem er des Hechelns und Webens kundige Meister als neue Siedler gewann und ihnen die fertigen Leinenballen abkaufte. Seit Thure die Verbindung mit der Kronprinzessin der Flumenaden eingegangen war, sicherten diese den Ryk für die Durchfahrt des Handelsschiffs aus Illas. In der Folge ließen sich nach und nach mehr Siedler am Flussufer bis hinunter zum Delta nieder und profitierten vom wachsenden Handel.

„Meister Vogelhändler!“, hörte er da schon die Stimme der kleinen flachsblonden Prinzessin von Illas durch das Stimmengewirr rufen und er freute sich schon darauf, ihr seinen heutigen Fang zu präsentieren. Schon war sie durch die Beine der Umstehenden geschlüpft und lachte ihm fröhlich entgegen.

„Prinzessin Izabo, schönen guten Tag“, grüßte er freundlich, stellte die beiden Käfige in den Sand und hob dann seinen grauen Filzhut andeutungsweise von den eisgrauen Stoppelhaaren.

Er war eine sonderbare Erscheinung, von kräftiger Statur und einen kugelrunden Bauch vor sich hertragend. Seine in Blattgrün eingefärbte Wolljacke passte nicht zu der sommerlichen Hitze auf Illas und entsprechend rannen ihm dicke Schweißperlen über die Stirn und die krebsroten Wangen. Er zog ein weißes Stück Leinen aus seiner Hose und wischte sich damit über das Gesicht.

„Prinzessin, seht her, was ich Euch heute mitgebracht habe“, sagte er nun freundlich zu Izabo und deutete auf einen der beiden Käfige, in dem drei kugelrunde, braun und weiß gesprenkelte Hennen im besten Legealter gackerten.

Aber Izabos Neugier war schon auf den zweiten Käfig gerichtet, in dem ein kleiner Vogel mit schwarzem Köpfchen saß und sie mit seinen kleinen Knopfaugen ausdruckslos ansah.

„Das ist ein Blutfink-Hähnchen“, erklärte der Vogelhändler, „nach seinem roten Gefieder an Brust und Bauch.“

Normalerweise brachte er immer ein Pärchen, weil er wusste, dass Izabo sich freute, wenn die, auf Illas angesiedelten Vögel Nachwuchs bekamen.

„Leider habe ich heute kein Weibchen für Euch dabei“, erriet er ihre Gedanken, „aber das nächste Mal bringe ich bestimmt eines mit. Bis dahin wird er sich unter die Stieglitze und Grünfinken mischen, die ich euch letzten Monat mitgebracht habe. Das wird ihn über seinen Kummer über eine fehlende Gefährtin hinwegtrösten.“

Izabo nickte und nahm schnell die kleine Münze aus dem Beutel, um zu bezahlen. Sie hatte es eilig, die Vögel in die Freiheit zu entlassen und griff schon nach den beiden Käfigen.

„Halt, halt, nicht so schnell!“, rief der Vogelhändler und steckte ihr noch ein zusammengelegtes Stück Stoff zu.

„Diese Wildkräuter-Samen mag er gerne, streut sie einfach in Euren Garten und bis sie nächstes Jahr blühen, wird er mit dem, was auf Illas wächst, zurechtkommen.“

Izabo dankte hastig und machte auf den Fersen kehrt, um den sandigen Pfad zum Haupttor der Stadt hinaufzulaufen.

„Untertänigste Grüße an den königlichen Herrn Vater“, rief der Vogelhändler noch hinterher, aber das hörte Izabo schon nicht mehr.

Der fremde Junge

Als sie den mit Pflastersteinen belegten Vorplatz der Midborg erreichte, hörte sie ein Schnauben und Wiehern und trat zur Seite, um dem Reiter und seinem Pferd Platz zu machen. Ein Rappe, glänzend schwarz und auf hohen, schlanken Beinen tänzelte anmutig an ihr vorbei.

„Was für ein wunderschöner Hengst“, sagte Izabo leise zu sich selbst und hielt den Atem an, so beeindruckt war sie von seinem Aussehen und seinem federleichten Gang.

Auf dem Rücken trug er einen hochgewachsenen Mann mit braunem Teint, leicht schräg geschnittenen Augen und kahlgeschorenem Kopf. Er war in eine leuchtend rote Seidenkutte gehüllt, was in denkbar größtem Gegensatz zu seinen nackten Füßen stand.

„Ein Lama“, flüsterte Izabo ehrfürchtig, „genau, wie die Kaufleute aus dem Osten die hohen Priester des großen Steppenvolks beschrieben haben!“

Vor sich hatte der ehrwürdige Mönch einen Jungen sitzen, dessen Seidenhemd und Hose die Farbe einer strahlenden Sommersonne hatten. Sein dickes schwarzes Haar fiel ihm offen bis auf die Schultern, um die er ein Fuchsfell, gehalten von einer silbernen Spange, gelegt hatte. Seine Füße steckten in ebenso fuchsroten Mokassins.

Ein forschender Blick aus seinen nachtschwarzen Mandelaugen streifte Izabo, aber sie wandte ihre Augen nicht ab, sondern hielt seinem Blick selbstbewusst stand. Der Lama lenkte das Pferd zu den beiden Torwachen und wechselte ein paar Worte mit ihnen.

Izabo war erstaunt, wie kantig ihre Sprache aus dem Mund des Priesters klang.

Die Soldaten berieten sich kurz, währenddessen der Mönch vom Pferd stieg und den Jungen herab hob. Er legte ihm die Zügel in die Hände und knotete die Bänder der Satteltasche auf. Dann legte er eine zusammengerollte, bunt gewebte Decke in die Arme des einen Soldaten und Izabo erhaschte einen Blick auf den glänzenden Knauf eines Schwerts.

Zügig schritten die Wachen mit dem Fremden zum Burgfried, wo die Gemächer der königlichen Familie und der große Thronsaal mit dem runden Eichentisch untergebracht waren.

Währenddessen blieb der Junge reglos mit dem immer noch aufgeregt tänzelnden Rappen im Burghof stehen. Obwohl ihm die Müdigkeit einer langen Reise anzusehen war, hielt er sich kerzengerade aufrecht und seine Augen schienen jedes noch so winzige Detail durchdringen zu wollen.

Izabos Neugier war ins Unermessliche gestiegen. Sie stellte die beiden Käfige ab und ging auf den Jungen zu.

„Heij-heij!“, grüßte sie möglichst beiläufig. Aber ihre Stimme geriet vor Aufregung zu hoch und klang eher wie das Piepsen eines aus dem Nest gefallenen Vogelkükens.

„Guten Abend“, kam freundlich seine Antwort und Izabos Herz frohlockte. Er schien aufgeschlossen zu sein!

„Sehr schönes Pferd“, meinte sie und ärgerte sich sofort über diese ziemlich einfallslose Einleitung. Aber der Junge deutete eine höfliche Verbeugung an und erklärte: „Das ist Nigros. Ich reite ihn seit zwei Jahren.“ Und leise fügte er hinzu: „Er und Lama Kun-Yan-Than sind meine besten Freunde. Meine einzigen.“

Er senkte den Blick und sah einen kurzen Moment auf seine Fußspitzen. Aber dann straffte er die Schultern urplötzlich und sah Izabo fragend ins Gesicht.

„Du bist die Tochter des Königs, nicht wahr? Ich habe vorhin im Hafen gehört, wie der Kaufmann dich ‚Prinzessin‘ nannte. Izabo, oder?“

Izabo konnte vor Überraschung nur stumm nicken. Aber bevor alle Fragen, die ihr durch den Kopf gingen, ungeordnet aus ihr herauspurzeln konnten, kamen die Torwachen zurück, übernahmen Nigros und bedeuteten dem Jungen, sie zum Burgfried zu begleiten.

„Kazim“, sagte der Junge und drehte sich nochmals nach Izabo um, „ich heiße Kazim. Wenn dein Vater dem Anliegen von Lama Kun-Yan-Than entspricht, werden wir uns morgen wiedersehen.“

Kapitel 4

Am Molaren

Als sie die kreisrunde Felsinsel Ankholmen fast erreicht hatten, drehte sich Izabo gewandt im Wasser und schwamm mit Kazim zum Ufer zurück, wo Nigros und Cupra genüsslich im Schatten der Stieleiche weideten. Im Flachwasser angekommen, spürten ihre Füße dem sandigen Untergrund nach und ihre Zehen ertasteten einzelne Muscheln, die sich an den wenigen rotbraunen Steinen festhielten.

Sie ließ sich auf den mehlfeinen, warmen Sand fallen und schirmte ihre Augen mit der Hand gegen die Mittagssonne ab. Im Gegenlicht sah sie Kazim aus dem Wasser kommen. Eine wohlige, flaumweiche Empfindung stieg von ihren Zehen über ihre Schenkel, über den straffen Bauch hinauf, bis sie sich in ihr Herz ergoss und es bis zum Überlaufen flutete.

Kazim legte sich neben sie und in stillem Einvernehmen betrachteten sie eine Weile das über ihnen gespannte lichtblaue Himmelszelt, während Izabo dem warmen Gefühl in ihrem Inneren nachspürte.

Endlich rollte sich Kazim auf die Seite und legte seine Hand sanft auf ihren Bauch. Izabo hielt den Atem an und konzentrierte sich ganz auf seine Berührung. Mit der freien Hand fasste Kazim sie unter den Schultern und zog sie zu sich heran bis ihr, noch von Wassertropfen glänzender Körper den seinen berührte.

Izabos Herz schlug schneller. Sie spürte das hämmernde Pochen bis über das Schlüsselbein in ihre Kehle wandern und war sicher, dass es wie Glas zerspringen würde, sollte Kazim sie jemals wieder loslassen. Sie schaute in sein ernstes Gesicht, versank bis auf den tiefsten Grund seiner nachtschwarzen Augen und ließ ihren Gefühlen freien Lauf.

Kapitel 5

In der Trollschule

Kazims Wunde pochte heftig und er fühlte sich erschöpft. Gerade als er überlegte, ob er sich für eine kurze Pause ins Moos setzen sollte, stieß Izabo einen spitzen Schrei aus und deutete mit ihrem Flügel auf ein weißes Rauchwölkchen, das zwischen den Farnen aufstieg.

„Kazim, sieh nur, wir sind da“, rief sie aufgeregt und trat auf seiner Schulter von einem Fuß auf den anderen.

Schließlich hielt sie es nicht mehr länger aus und flog das kurze Stück zur Trollschule voraus. Gerade als sie vor der dunklen Eichentür zur Landung ansetzte, bewegte diese sich quietschend in den Angeln und eine weißhaarige Trollfrau mit runzligem Gesicht trat heraus.

„Prinzessin Izabo, wie glücklich bin ich, Euch zu sehen“, rief sie und versuchte sich an einer Umarmung, was sich wegen Izabos Falkenkörper als schwierig erwies.

„Wir haben Euer Kommen schon erwartet“, fügte sie hinzu und gab nun auch Kazim die kleine Hand, die in seiner kräftigen gänzlich verschwand. Als sie das Erstaunen in Kazims Gesicht bemerkte, beeilte sie sich mit einer Erklärung:

„Nun … als Hausmeisterin der Schule bin ich natürlich immer bestens informiert“, sagte Madame Kinkel und lächelte verschmitzt.

„Zuerst machten die Laubfrösche im Schulteich verwirrende Aussagen über das Wetter in den nächsten Tagen. Von einem Eissturm und sogar einem Seebeben war die Rede. Dann kamen gestern die Kaninchen von ihren Botengängen zurück und brachten schreckliche Nachrichten von einem grausamen Überfall der Norrländer auf die Midborg. Sie berichteten, dass König Malm mit seiner Flotte über das Ostmeer gesegelt sei. Sofort hinter ihnen vereiste die Fahrrinne. Man kann sich das kaum vorstellen, bei diesen hochsommerlichen Temperaturen! Aber bis hin an die Klippen und Strände von Illas reichte angeblich die gläserne Decke. Für das Fußvolk und die bis an die Zähne bewaffneten Reiter muss es ein Leichtes gewesen sein, den Schiffen von König Malm nachzufolgen.“

Die Hausmeisterin verschnaufte kurz und fuhr dann, mit einem besorgten Blick auf Kazims verletztes Bein fort:

„Die Wachen König Thures, so hieß es, waren vollkommen überrumpelt und leisteten wenig Gegenwehr. Die, die es noch auf die Zinnen der Burgmauer geschafft hatten, um die Angreifer abzuwehren, wurden von einem feuerspeienden Drachen mit den Krallen gepackt und über die Klippen davongetragen. Ist das nicht entsetzlich?“

Izabo spürte, wie sich ihr Herz zusammenzog und schwer, wie ein Stein wurde. Die Sorge um ihre Eltern schnürte ihr die Kehle zu und sie hörte mit vor Angst geweiteten Augen stumm zu. Jetzt bedeckte Madame Kinkel ihre Augen mit einer Hand und ergänzte zutiefst betrübt:

„König Thure wurde noch im Thronsaal von den blutrünstigen Horden erdolcht und Ihre Frau Mutter, die Königin, stürzte sich daraufhin mit gebrochenem Herzen aus dem Fenster des Burgfrieds. Einzig und allein die Besatzung der Confluenta schaffte es, auf dem Ryk zu entkommen. Und das auch nur, weil die Flumenaden hinter dem Handelsschiff mit ihren Schwanzflossen mächtige Wellen auftürmten und so die Kriegsflotte der Norrländer an der Einfahrt in das Delta hinderten. Die Schiffe der Verfolger drehten ab und nahmen auf Geheiß des Drachens die Jagd auf Euch auf. Alle überlebenden Einwohner von Illas und der Midborg sind nun als Geiseln in der Hand von König Malm. Man munkelt, dass Lama Kun-Yan-Than es gerade noch an Bord der Confluenta geschafft habe. Er sei schwer verletzt. Aber da waren sich die Mäuse auf der Midborg, die es für die Kaninchen auskundschaften sollten, nicht sicher.“

Izabos Kopf sank auf ihre Brust und eine Träne rann aus ihren gelben Falkenaugen. Bis eben hatte sie die Hoffnung aufrechterhalten, dass ihre Eltern noch leben könnten und nun …?