Izabo und Kazim - Monika Geiger - E-Book

Izabo und Kazim E-Book

Monika Geiger

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Beschreibung

Das Königreich Illas kommt nicht zur Ruhe. Schon ein Jahr, nachdem Königin Izabo und ihr Gefährte Kazim Khan den Angriff König Malms von Norrland erfolgreich abgewehrt haben, sehen sie sich einer neuen finsteren Bedrohung ausgesetzt. Einer Bedrohung, die das junge Paar sogar um das Leben ihrer kleinen Tochter Priya bangen lässt. Werden der Handelsverbund der Ost-West-Hanse sowie seine Verbündeten wieder geschlossen hinter Izabo und Kazim stehen? Werden alle gemeinsam der drohenden Gefahr die Stirn bieten? Auch im zweiten Band der Ostmeer-Saga erzählt die Autorin eine spannende Geschichte mit fantastischen Wesen aus einer längst versunkenen Welt. Aber es geht ihr nicht allein darum, die kleinen Leser und Leserinnen zu unterhalten. Wie in einem klassischen Märchen webt sie kindgerecht Botschaften ein, die zu einem besseren Verständnis von eigenen Gefühlen, Werten und Normen beitragen können.

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Für mein Lieblingskleeblatt

Inhaltsverzeichnis

Weltenbewohner

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Über die Autorin

Weltenbewohner

Königin Izabo: Königin von Illas, Kazim Khans große Liebe

Kazim Khan: König von Illas und Herrscher der Ugaren

Priya: Kazims und Izabos Tochter, Kronprinzessin von Illas

Yara: Kazims Schwester, Kronprinzessin der Ugaren

Premi: Freund Kazims aus Kindertagen

Tamo: Premis Hund

Kapitän Johansson: Kommandant der Confluenta

Jan: Schiffsjunge auf der Confluenta

Lama Kun-Yan-Than: Geistliches Oberhaupt der Ugaren

Yongfur: Drache

Osminog: Fürst der Kraken, Herr über das Ostmeer

Rotrock: Blutfink

Königin Siri: Königin der Flumenaden, Izabos Tante

Grat-Skaeg: Oberhaupt der Ogunis

Solv-Pels: Grat-Skaegs Tochter

Gull: Anführer der Seemöwen

Meister Salzmann: Bürgermeister der Ryk-Siedler

Meister Olbrich: Anführer der Blakuller

Arvid: Großwesir von Norrland

König Erik: König von Eisland

Hervolt: Flottenkommandant König Eriks

Buba: Riesenschildkröte

Xymeron: König der Seeschlangen

Vorwort

Es war einmal in einer fernen Welt. Einer Welt, in der sich Menschen, Tiere und Fabelwesen tummelten. Alle konnten sich in der gleichen Sprache verständigen und lebten friedlich und einvernehmlich miteinander. Doch es kam, wie es kommen musste: Der Frieden wurde bedroht. Ihr fragt euch, was passiert ist? Nun, … dann lasst euch erzählen!

Kapitel 1

Auf der Midborg

Izabo stand auf dem Burgfried und ließ ihren Blick über das Ostmeer wandern. Sie hielt Ausschau nach der Confluenta, deren Einlaufen Yongfur für den späten Nachmittag angekündigt hatte. Der Drache hatte den stolzen Zweimaster auf seiner Überfahrt von Sarazan bis eine Tagesreise vor die Insel Illas begleitet und war dann vorausgeflogen, um Izabo die Ankunft rechtzeitig vor der Zusammenkunft des Hohen Rats zu bestätigen. Jetzt lag er zusammengeringelt neben ihr, ein tiefes Schnarchen drang aus seinem halb geöffneten Maul. Seine lange Zunge hing zwischen den scharfen Reißzähnen schlaff zu Boden, was ihn nicht sehr furchteinflößend aussehen ließ.

Izabo lächelte in sich hinein. Noch keine zwei Jahre war es her, dass das Urtier neben König Malm gegen die Ost-West-Hanse in den Blitzkrieg gezogen war. Dieser Begriff hatte sich im Sprachgebrauch der Menschen festgesetzt, beschrieb er doch zum einen gut den überraschenden Beginn der Aggression des damaligen Herrschers von Norrland, zum anderen aber auch das baldige Ende der Auseinandersetzung, welches allein der Geschlossenheit der Mitglieder des Handelsbunds zu verdanken war.

Nachdem sich Yongfur über die Bösartigkeit und Grausamkeit König Malms klar geworden war, hatte er sich auf die Seite Izabos, Kazims und deren Verbündeten geschlagen. Seitdem war er Izabo und ihrer kleinen Familie treu ergeben und hielt sich die meiste Zeit auf der Midborg auf. Nur manchmal besuchte er seinen Freund Osminog, den Fürsten der Kraken in dessen Palast im Korallenriff oder machte sich als Begleitschutz für die Handelsschiffe der Ost-West-Hanse nützlich.

Im Burghof war jetzt das fröhliche Rufen spielender Kinder zu hören, worauf Yongfur sofort ein Auge aufschlug und seine Ohrmuscheln aufmerksam aufstellte. Er hatte die Stimme der kleinen Prinzessin von Illas herausgehört, in die er seit ihrer Geburt vor knapp über einem Jahr vernarrt war. Priyas Schutz hatte er zu seiner Herzensangelegenheit gemacht. Izabo beugte sich weit über die Mauer, um hinunter zum Brunnen sehen zu können. So weit, dass Yongfur sich veranlasst sah, seinen Mittagsschlaf endgültig zu unterbrechen.

„Meine Königin, ich bitte Euch!“, mahnte er, „seid nicht so leichtsinnig! Kazim Khan würde es mir nie verzeihen, wenn Euch oder der kleinen Prinzessin in seiner Abwesenheit etwas passieren würde.“

„Schon gut, Yongfur“, beruhigte ihn Izabo lachend, „du machst dir einfach zu viele Sorgen.“

Aber sie ließ sich wieder auf die Fersen sinken und sah erneut hinaus auf das Meer. Priya war bei Greda gut aufgehoben, darauf konnte sie sich verlassen. Die Frau ihrer treuen Torwache Mads hatte selbst mit ihm vier Kinder, das jüngste war so alt wie die kleine Prinzessin. Als Priya geboren worden war, hatte sich Greda als Amme angeboten, was Izabo dankend ablehnte.

Sie wollte ihre Tochter entgegen den Traditionen an den Königshöfen selbst stillen. Izabos Eltern hatten auf der Midborg Neuerungen in vielen Bereichen eingeführt. Sie waren Vorreiter für eine gerechte und fortschrittliche Gesellschaft gewesen. Izabo wollte diesen modernen Weg weitergehen und ihrem Volk zusammen mit Kazim ein gutes Herrscherpaar sein. Das bedeutete viele Aufgaben. Deshalb hatte sie Greda zur Unterstützung eingestellt. Wenn auch nicht als Amme, sondern als Kindermädchen.

Das Ostmeer lag glatt wie ein Spiegel zu ihren Füßen. Ein Umstand, der Izabo unruhig werden ließ, weil sich Kazim dadurch eventuell verspäten würde. Heute Mittag schon waren die ersten Vertreter der Ost-West-Hanse über den zu dieser Zeit frei liegenden Felsendamm zwischen Illas und dem Festland gekommen: Bürgermeister Salzmann, der gewählte Vertreter der Ryk-Siedler und Meister Vogelhändler, der das eigenwillige, in den Hügeln vor den Schneebergen beheimatete Volk der Blakuller bei den Ratssitzungen vertrat. Deren Anführer war eigentlich der wortkarge Meister Olbrich. Der aber scheute offizielle Anlässe wie die Ratssitzung. Deshalb hatte der leutselige weitgereiste Vogelhändler die Aufgabe für ihn übernommen.

Izabo hatte die beiden begrüßt und sie vorab über den wichtigsten Tagesordnungspunkt informiert: König Erik von Eisland hatte sich im Frühjahr an Izabo und Kazim gewandt mit der Bitte, sich der Ost-West-Hanse anschließen zu dürfen. Das war in zweierlei Hinsicht eine große Überraschung gewesen. Zum einen, weil König Erik nach dem von König Malm ausgelösten Seebeben vor fast zwei Jahren für tot gehalten worden war. Zum anderen, weil der Herrscher von Eisland in den Jahren zuvor als Waffenbruder des grausamen Königs von Norrland an dessen Kriegszügen beteiligt gewesen war, bis er schließlich selbst Opfer von König Malms Intrigen wurde. Dass er das Seebeben und die Flutwelle mit ihren verheerenden Auswirkungen auf die Reichsstadt Eriksonsstad überlebt hatte, war, wie sich später herausstellen sollte, reiner Zufall gewesen. König Erik war nämlich mit dem Großteil seiner Schiffe zu diesem Zeitpunkt weit im Eismeer auf Robbenjagd gewesen. So blieben er und seine Männer unversehrt. Viele in der Stadt wohnenden Eisländer waren allerdings ums Leben gekommen. Die übrigen hatten ihre Häuser etwas weiter entfernt von der zerstörten Küstenlinie wieder aufgebaut.

Kazim hatte sich den Sinneswandel König Eriks damit erklärt, dass dieser in der Bekannten Welt nicht länger isoliert sein wollte. Schließlich war derzeit sogar Norrland nach dem Tod König Malms unter der Führung seiner einstigen Torwache Arvid auf dem Weg zu einem freiheitlichen Rechtsstaat und hatte damit den Weg bereitet für eine spätere Aufnahme in die Ost-West-Hanse.

Arvid war anfangs nur ein einfacher Soldat gewesen. Aber nach dem Blitzkrieg hatte er sich zu einem von den Norrländern geachteten Anführer entwickelt. Vorbild für die Neuausrichtung des Staates war ihm die Gesetzgebung der Ryk-Siedler gewesen, die die Grundrechte aller Bürger erstmalig in der Bekannten Welt festgelegt hatten. Genau wie seinerzeit Bürgermeister Salzmann konnte Arvid in der ersten freien Wahl Norrlands alle Stimmen auf sich vereinen und trug nun den neu geschaffenen Titel eines Großwesirs.

Diese Wendung war angesichts der unheilvollen Vorgeschichte Norrlands beachtlich. Kazim hoffte darauf, dass König Erik seinen Untertanen ebenfalls Bürgerrechte einräumen würde, wenn dies für ihn im Gegenzug die Teilhabe am Handelsbund bedeuten könnte. Gleichwohl wollten er und Izabo diese Entscheidung nicht alleine treffen, sondern in Abstimmung mit ihren Verbündeten. Deshalb hatten sie die Vertreter der Hanse zu einer außerordentlichen Versammlung eingeladen. All das ging Izabo durch den Kopf und so war es kein Wunder, dass sie sich eine kräftige Brise wünschte, die die Confluenta mit Kazim an Bord rechtzeitig nach Hause bringen würde.

„Musste er auch ausgerechnet jetzt seinen Besuch bei den Ugaren planen?“, sagte sie leise zu sich selbst, aber Yongfurs feinen Ohren entging nicht das kleinste Geräusch.

„Königliche Hoheit, Ihr wisst doch, wie wichtig Kazim Khan die Pferdezucht ist. Wenn er noch länger damit gewartet hätte, Premis Hengste nach Illas zu holen, wäre wieder ein ganzes Jahr vergangen, bis er seine Stuten hätte decken lassen können. Bei den Ryk-Siedlern stehen die Vollblüter Eures Herrn Gemahls gerade hoch im Kurs. Sie haben Freude am Reiten gefunden, … also, als Freizeitbeschäftigung meine ich. Da eignen sich Kazim Khans Pferde viel besser als die schwerfälligen Kaltblüter, die sie bisher für die Arbeit gezüchtet haben. Außerdem ist doch sehr verständlich, dass er bei den Ugaren nach dem Rechten sehen wollte. Immerhin ist er auch noch deren König. Der Wiederaufbau des Winterpalasts, dem Sitz seiner Ahnen liegt ihm sehr am Herzen.“

Izabo nickte: „Du hast ja recht, Yongfur. Aber König Erik wartet auf eine Entscheidung. Es wäre ausgesprochen wichtig, dass Kazim morgen bei der Versammlung dabei ist.“

Dass es noch einen völlig anderen Grund für ihre Ungeduld gab, behielt sie für sich: Sie vermisste Kazim. Noch nie waren sie auch nur einen Tag getrennt gewesen. Zuerst hatte sie ihn sogar mit Priya begleiten wollen. Aber Kazim hatte Zweifel, ob eine Seefahrt für die Kleine nicht zu beschwerlich wäre. Und alleine lassen wollte sie ihre Tochter nicht, … zumindest noch nicht. Also hatte sie Kazim schweren Herzens ziehen lassen und vom Moment seiner Abreise an dieses schmerzhafte Sehnen in ihrer Brust gefühlt.

Seit er als Waise an den Hof ihres später im Blitzkrieg ermordeten Vaters König Thure gekommen war, waren sie nahezu unzertrennlich. Waren sie zunächst wie Geschwister aufgewachsen, so hatte sich daraus bald eine tiefe Zuneigung entwickelt, bis schließlich Liebe daraus geworden war. Als Izabo nach dem gewaltsamen Tod ihrer Eltern schon sehr jung Königin von Illas geworden war, blieb er wie selbstverständlich an ihrer Seite und verzichtete damit auf eine Rückkehr zu seinem eigenen Volk, den Ugaren. Stattdessen plante er, seine kleine Schwester Yara nach ihrer Volljährigkeit zur Königin zu machen. Bis dahin würde sie von Lama Kun-Yan-Than angeleitet werden, der als geistiges Oberhaupt der Ugaren schon ihrem Vater Bod Rukaj Khan ein treuer Freund gewesen war. Der Mönch war es auch gewesen, der den kleinen Kazim aus den Trümmern des brennenden Winterpalasts gerettet und auf die Midborg gebracht hatte. Was die Illaseer anging, so hatten sie von der ersten Stunde an Kazim als ihren König akzeptiert. Es hatte dazu keinerlei Formalitäten bedurft. Kazim überzeugte allein durch seine Persönlichkeit, die Kraft, Intelligenz und Weitblick mit vielen anderen wertvollen Eigenschaften kombinierte.

„Nun, bald ist er ja wieder hier“, dachte Izabo jetzt und drückte die Schultern bestimmt nach hinten durch, „die nächste Seereise machen wir dann gemeinsam. Außerdem freue ich mich auf Premi.“ Schwungvoll warf sie ihr langes flachsblondes Haar in den Nacken.

Sie hatte Kazims Freund aus Kindertagen ins Herz geschlossen. Die beiden waren bei dem Überfall König Malms auf den Winterpalast getrennt worden. Ihrer inneren Verbundenheit hatte dies aber, wie sich Jahre später beim Wiedersehen als Erwachsene herausstellte, keinen Abbruch getan. Dass er mit nach Illas kommen wollte, um sich ein paar der genügsamen Illas-Schafe auszusuchen, hatte Izabo darüber hinweggetröstet, dass sie nicht mit in das Steppenland hatte reisen können.

Gerne hätte sie dort nämlich auch Lama Kun-Yan-Than und Yara wiedergesehen, die ihre Pflichten sehr ernst nahmen. Sie arbeiteten hart am Neuanfang der Ugaren, die sich nach jahrelanger Sklaverei in König Malms Erzminen erst wieder eine funktionierende Gemeinschaft aufbauen mussten.

„Was für eine große Aufgabe für die erst zwölfjährige Yara und ihren Mentor“, dachte Izabo voll aufrichtiger Bewunderung.

Unvermittelt riss ein scharfes Zischen sie aus ihren Gedanken. Sie wandte sich zu Yongfur um, der aber schüttelte nur verwundert den Kopf. Er hatte das Geräusch auch gehört und erhob sich schwerfällig, um der Ursache auf den Grund zu gehen.

Izabos Sinne waren augenblicklich geschärft. Sie warf einen Blick auf ihren Ring und ihre Augen weiteten sich vor Verwunderung: Der im Silber eingelassene Tautropfen spiegelte nur eine einzige Farbe wider: ein glänzendes changierendes Dunkelgrau. Mehr war nicht zu erkennen. Das war ungewöhnlich. Der Erbring ihrer Vorfahren, den Flumenaden, zeigte normalerweise sehr präzise eine mögliche Bedrohung an. „Nun gut, vielleicht gibt es ja keine“, versuchte sich Izabo zu beruhigen, aber ihr Bauchgefühl sagte etwas anderes.

„Yongfur, lass mich auf deinen Rücken steigen“, stieß sie hervor. Ihre Stimme klang vor Anspannung plötzlich rau. „Ich muss sehen, woher das kommt.“

Der Drache duckte sich und legte den gezackten Rückenkamm eng an. Behände stieg Izabo auf und wies Yongfur an, auf die Zinnen zu klettern. Yongfur wollte sich erst sträuben, eine Kletterpartie mit der Königin auf dem Rücken war ihm nicht geheuer. Aber er spürte ihre Besorgnis und zog sich deshalb gehorsam mit den Vorderpranken am Mauerwerk hoch.

Das unbekannte Geräusch war lauter geworden. Jetzt konnten sie auch zuordnen, woher es kam: aus dem Burghof, wo Greda Priya und ihre eigenen Kinder beaufsichtigte.

Izabo schlang ihre Arme um Yongfurs Hals und presste für besseren Halt ihre Oberschenkel fest an die schuppige Haut der Echse. Yongfur schob seinen massigen Körper auf die Zinnen, sorgsam darauf bedacht, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Mit seinen langen Krallen suchte er nach Halt in den Mauerritzen. Da ließ ihn ein angsterfüllter Schrei Izabos zusammenzucken und er musste seine Flügel zu Hilfe nehmen, um nicht ins Taumeln zu geraten.

„Yongfur, du musst mich nach unten bringen! Schnell!“, rief Izabo und drückte ihre Fersen in seine Flanken.

Ihre Augen waren vor Entsetzen geweitet, aus ihrem Gesicht alle Farbe gewichen. Yongfur folgte ihrem Blick nach unten. Was er im Burghof sah, erschütterte selbst ihn, den jahrhundertealten erfahrenen Drachen bis ins Mark: Aus dem Brunnen ragte der Kopf einer riesigen silbernen Schlange, die ihr Maul drohend aufgerissen hatte. Ihre geteilte Zunge zuckte nervös, Speichel tropfte von ihren langen Giftzähnen auf die gemauerte Brüstung.

Greda riss ihre beiden jüngsten Kinder in ihren linken Arm und versuchte, Priya mit der freien rechten Hand an sich zu ziehen. Aber die Schlange war schneller. Mit einem weiteren grauenvollen Zischlaut fuhr ihr Kopf auf die kleine Prinzessin nieder und packte sie an den Trägern ihres weißen Sommerkleidchens.

„Neeeein!“, gellte Izabos Schrei und hallte vom Mauerwerk der Burg mannigfach wider. Dann ging alles blitzschnell.

Die Schlange hob nur kurz den Kopf. Die rubinrot funkelnden Augen richteten sich drohend nach oben auf die Zinnen des Burgfrieds. Priya gab unterdessen keinen Laut von sich. Starr vor Schreck baumelte sie an den spitzen Zähnen des Reptils, ihr wollenes graues Spielzeugschaf hielt sie fest an sich gedrückt.

Gredas Versuch, das Mädchen an den Füßen zu fassen zu bekommen, war zum Scheitern verurteilt. Die Schlange richtete sich meterhoch auf und ließ sich dann mit der kleinen Prinzessin im Fang geschmeidig in den Brunnen zurückgleiten. Aus der Brust des Kindermädchens stieg ein verzweifelter langgezogener Seufzer auf, dann sank sie auf den steinernen Stufen in Ohnmacht.

„Los, Yongfur, worauf wartest du?“, herrschte Izabo den Drachen verzweifelt an.

Yongfur hatte große Zweifel, ob er seine Flügel zwischen den Burgmauern würde weit genug ausbreiten können, um sicher zu landen. Aber angesichts der schrecklichen Geschehnisse verwarf er alle Bedenken und ließ sich kopfüber über die Zinnen nach unten fallen. Nur mühsam fand er in die horizontale Lage. Seine scharfkantigen Flügelspitzen schrammten an den Wänden der Burgfrieds und der Stallungen entlang und hinterließen tiefe Furchen in den weichen Kalksteinen.

Rotrock, das Blutfinken-Männchen, das in einer Turmnische gerade seine frisch geschlüpften Küken füttern wollte, erschrak fast zu Tode. Schützend warf es sich über seine Jungen.

„Verflucht! Was soll das denn? Ist Yongfur jetzt völlig verrückt geworden?“, kreischte er empört.

Nachdem Rotrock sich vergewissert hatte, dass seine Kinder wohlauf waren, hüpfte er zurück auf den Rand des Nests. Er sah gerade noch, wie sich Yongfur, umgeben von einer Staubwolke, auf den Innenhof plumpsen ließ. Einem inneren Impuls folgend wollte er sofort nach unten fliege. Aber er besann sich darauf, zuerst die Rückkehr seiner Frau Schwarzköpfchen zum Nest abzuwarten.

Im Burghof war in der Zwischenzeit ein heilloses Durcheinander entstanden: Bauersfrauen ließen entsetzt ihre Körbe mit Waren aus den Händen fallen, Hühner stoben gackernd auseinander. Ein paar Schweine, die am Rand des wöchentlichen Markts nach Gemüseresten gesucht hatten, galoppierten in Panik durch das Haupttor hinaus auf den Vorplatz der Midborg und hinunter zum Hafen. Izabo schwang sich von Yongfurs Rücken und eilte zu Greda. Sie klopfte ihr mit der flachen Hand gegen die bleichen Wangen und tatsächlich: Das Kindermädchen schlug die Augen auf und sah sich verwirrt um.

Vom Häuschen des Pförtners kam Mads gelaufen, dicht gefolgt von der zweiten Torwache Owe und seinem ältesten Sohn Tork, der geistesgegenwärtig seinen Vater zur Hilfe gerufen hatte. Torks kleineren Geschwister waren in Tränen aufgelöst. Das Weinen ihrer Kinder gab Greda ihre Lebensgeister vollends zurück. Sie rappelte sich schwerfällig auf und zog die Kleinen tröstend an sich.

Als Izabo sah, dass alle unverletzt geblieben waren, eilte sie die wenigen Stufen zum Brunnen empor und beugte sich über die Brüstung. Ihre Augen verengten sich zu zwei schmalen Schlitzen. Aber so angestrengt sie auch nach unten spähte, in der Dunkelheit des engen Brunnenschachts konnte sie nichts erkennen.

„Ich brauche eine Fackel, schnell!“, rief sie, den Blick immer noch in die Tiefe gerichtet. Sie legte eine Hand an ihr Ohr, um besser hören zu können.

Aber kein Geräusch drang nach oben. Das grässliche Zischen war verstummt. Owe zögerte. Er brauchte immer ein bisschen länger, um eine schwierige Situation zu erfassen. Aber als ihm klar wurde, dass Mads sich dringend um seine verstörte Frau und die Kinder kümmern musste, rannte er los in Richtung Burgküche, um Izabo das Gewünschte zu bringen.

„Und Taue!“ Izabo war äußerlich wieder ruhig.

Mit fester Stimme erteilte sie ihre Befehle. Als Kind war sie zusammen mit Kazim von Lama Kun-Yan-Than in den verschiedensten Kampfkünsten unterrichtet worden. Das hatte ihr Selbstvertrauen und Mut gegeben. Sie wusste um ihre innere Stärke und ließ sich nicht so leicht einschüchtern.

„Tork, du weißt doch, wo sie in den Stallungen hängen. Lauf schnell und bring mir, so viele du nur tragen kannst!“, wandte sie sich eindringlich an Mads‘ Sohn.

Der Zehnjährige nickte eifrig. Er wollte nichts lieber, als seiner Königin ein treuer Untertan zu werden, so wie es sein Vater war. Sofort rannte er davon, um das Gewünschte zu beschaffen.

Mittlerweile war auch Rotrock auf Yongfurs Ohr gelandet und piepste beunruhigt: „Was habt Ihr vor, meine Königin?“

„Ich werde dort hinunterklettern“, gab Izabo kurz angebunden zurück.

Sie tastete nach dem Griff ihres Jagdmessers, das in einem ledernen Futteral an ihrem Gürtel baumelte. Es war ein Geschenk Kazims, das sie seit Beginn des Blitzkriegs immer bei sich trug. Als sie den glatten Knauf aus Holz in ihrer Faust spürte, atmete sie tief durch.

„Priya, ich lass‘ dich nicht allein“, dachte sie und laut fügte sie hinzu: „Die Schlange hatte ganz offensichtlich nicht vor, mein Kind zu verschlingen. Zumindest nicht sofort. Die Art, wie sie Priya an den Trägern ihres Rocks gefasst hat, … das sah eher nach einer geplanten Entführung aus. Aber warum nur?“ Sie schüttelte energisch den Kopf. Für solche Fragen war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Jetzt war schnelles Handeln entscheidend!

„Verlieren wir keine Zeit. Das Biest muss noch dort unten sein.

Ihr werdet mich an einem Seil hinunterlassen und ich werde Priya zurückholen.“

„Aber Königin Izabo“, widersprach Yongfur besorgt, „was wird Kazim Khan dazu sagen? Er wird furchtbar wütend sein, wenn ich Euch gehen lasse. Lasst mich hinuntersteigen.“

Izabo lächelte schwach. „Yongfur, ich weiß, dass du es nur gut meinst. Aber deine Landung hier auf dem Burghof war schwierig genug. Wie willst du in die enge Röhre des Brunnens passen? Außerdem können wir nicht auf den König warten. Wir wissen nicht, wie lange die Flaute auf dem Ostmeer noch anhält. Hier geht es vielleicht um Minuten.“

Der Drache senkte betrübt den Kopf. „Kazim Khan wird dir nicht böse sein, mein Freund“, flüsterte ihm Rotrock tröstend ins Ohr. „Er weiß, dass die Königin einen unbeschreiblichen Dickkopf hat und sich von einem einmal gefassten Entschluss durch niemanden abbringen lässt.“

Yongfur überlegte kurz und sagte dann zögernd: „Ich kann Euren Plan nicht gutheißen, meine Königin. Aber da Ihr offensichtlich fest entschlossen seid, …“

Er brach ab und machte nun eine für einen Drachen ziemlich hilflose Miene. Schließlich setzte er hinzu: „Mads und Owe können Euch beim Abstieg sichern. Ich hingegen werde Kazim Khan entgegenfliegen und ihn über die Geschehnisse unterrichten. Außerdem werde ich auch Osminog verständigen, damit wir zusammen die Confluenta zurück nach Illas ziehen können. Ohne ordentlichen Wind wird der Segler sonst nicht vorankommen.“

Izabo nickte zustimmend: „Das ist eine gute Idee, Yongfur. Ich bin sicher bald zurück. Aber falls nicht, muss Kazim die Suche nach Priya und mir so schnell wie möglich aufnehmen.“

Vom Wirtshaus kamen nun Bürgermeister Salzmann und, mit deutlichem Abstand, der schwer atmende Meister Vogelhändler angerannt.

Noch bevor sie die Situation erfassen konnten, rief Izabo ihnen schon entgegen: „Meister Salzmann, Meister Vogelhändler, gut, dass Ihr schon da seid! Falls weder Kazim noch ich morgen zurück sein werden, so bitte ich Euch, die Sitzung des Hohen Rats zu leiten. Sollte es zu einer Abstimmung kommen, könnt Ihr in unserem Namen für eine Mitgliedschaft König Eriks in der Hanse stimmen. Aber vermutlich sind morgen ganz andere Themen wichtig.“

Auch wenn Izabos Mutterherz vor Sorge um ihr Kind fast zu zerspringen drohte, so musste sie auch an die Menschen denken, die auf ihre und Kazims Führung vertrauten. Dass sie sich auf die beiden Angesprochenen verlassen konnte, darin war sie sich von Grund auf sicher. Schließlich waren sie schon ihrem Vater treue Freunde und Verbündete gewesen.

Mittlerweile war Tork zurückgekommen. Izabo begann, sich ein erstes Tau um die schmale Taille zu binden. Gekonnt wand sie eine feste Schlinge und knotete ein weiteres Seil daran. Das lange Ende drückte sie Mads in die Hände. Dann griff sie nach der brennenden Fackel, die Owe ihr zitternd entgegenhielt.

„Ich steige jetzt in den Brunnen und werde mich mit den Füßen von der Wand abstoßen. Ihr müsst dann immer mehr Seil nachgeben, wenn ich euch dazu auffordere“, erklärte sie bestimmt, einen Fuß schon auf der Brüstung. Die beiden Torwachen widersprachen nicht, aber man konnte ihnen deutlich ansehen, dass ihnen das Vorhaben der jungen Königin nicht geheuer war. Aber Izabo kletterte schon über den gemauerten Sims und leuchtete mit der Fackel nach unten.

„Im Moment kann ich noch nicht weit genug sehen“, stellte sie nüchtern fest und sah Mads dann noch einmal fest in die Augen. „Los geht’s. Ich zähle auf euch!“

Mit diesen Worten löste sie ihre Hand vom Brunnenrand und begann in die Tiefe zu klettern.

Kapitel 2

Auf dem Ostmeer

Träge schaukelte die Confluenta auf den sanften Wellen des Meeres, ihre Großsegel hingen schlaff an den beiden Masten. Kazim und Premi fütterten und tränkten die zwei pechschwarzen Vollblut-Hengste und eine ebenso dunkle Stute, die in einem kleinen Pferch im Heck standen.

Nachdem vor dem späten Nachmittag kein Auffrischen des Winds zu erwarten war, hatte sich Kapitän Johansson in seine Kajüte zurückgezogen. Die Mannschaft vertrieb sich unterdessen die Zeit mit fischen. Das ausgelegte Netz hob und senkte sich mit den Wellen, aber niemand rechnete mit einem größeren Fang.

Vor zwei Tagen waren sie aus dem kleinen Hafen in der Bucht Sarazan ausgelaufen. Als die Ugaren vor gut einem Jahr in ihre Heimat im Grasland zurückgekehrt waren, hatten sie begonnen, die Einkerbung in der Steilküste vor dem Winterpalast schiffbar zu machen. Die Menschen waren eigentlich keine traditionellen Seefahrer. Stattdessen waren sie seit Generationen als Reitervolk mit ihren Rentieren in den Steppen umhergezogen. Den Winterpalast hatten sie nur in der schneereichen kalten Jahreszeit aufgesucht.

Aber als Kazims jüngere Schwester Yara nach ihrer langen Gefangenschaft in König Malms Burg und einem Winter auf der Midborg mit ihrem Volk in den Osten der Bekannten Weltzurückgekehrt war, bestand die Kronprinzessin darauf, einen Hafen anzulegen. Außerdem sollte mindestens ein Segelschiff gebaut werden. Sie versprach sich über den Seeweg eine bessere Anbindung an die anderen Völker der Ost-West-Hanse. Insgeheim sah sie darin auch eine komfortable Möglichkeit, ihren Bruder und seine kleine Familie auf der im Ryk-Delta gelegenen Insel Illas besuchen zu können. Auf die scherzhafte Frage Kazims, wer von den stolzen Reitern wohl das Kommando über ein Segelschiff übernehmen könnte, hatte sie schnippisch gekontert, dass sie an der Lösung dieses Problems schon arbeite. „An Selbstbewusstsein mangelt es meiner kleinen Schwester nicht“, hatte Kazim amüsiert gedacht. „Nun, … sie wird es brauchen.“

Das Gerüst des Schiffs nach Vorbild der Confluenta hatte neben ein paar Fischerbooten am Steg gelegen. Kazim hatte sich ein Bild vom Fortschritt des Baus machen wollen und war überrascht gewesen, unter den Zimmermännern etliche Norrländer auszumachen. Premi hatte ihm erklärt, dass Arvid und ihm Gleichgesinnte damit ein wenig von der Schuld abtragen wollten, die König Malm durch den Angriff auf die Ugaren seinem Volk auf die Schultern gelegt hatte. Kazim war zufrieden: Je mehr die verschiedenen Völker durch Freundschaften, Handel und gemeinsame Ziele verwoben waren, desto stabiler würde seiner Meinung nach der Frieden sein. Die Bekannte Welt war auf einem guten Weg, davon war er fest überzeugt. Kurz vor dem Ablegen hatte er sich noch bei Yara erkundigt, wie das neue Schiff heißen solle und war gerührt von ihrer Antwort: Sie wolle den Zweimaster Anjuli Raanee nennen. Zu Ehren ihrer beider, von König Malm ermordeten Mutter.