Izzy Sparrow (2). Die verschwundene Tür - Jennifer Bell - E-Book

Izzy Sparrow (2). Die verschwundene Tür E-Book

Jennifer Bell

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Beschreibung

Die Dinge flüstern, ich hör sie klagen! Darf ich wagen, nachzufragen? Izzy und Seb sind zurück in Lundinor! Auch bei ihrem zweiten Besuch auf dem ungewöhnlichen Markt werden die Geschwister und ihr Freund Valian wieder mit den Schattenwanderern konfrontiert. Und diesmal steht nichts Geringeres als das Schicksal der Menschheit auf dem Spiel. Die böse Gilde hat es auf das Glas der Schatten abgesehen, in dem alle Alpträume der Welt gefangen sind. Wird es geöffnet, ist das Leben aller in Gefahr. Doch wo ist es versteckt? Ein Tagebuch mit einem mysteriösen Symbol darauf stellt Izzy zusätzlich vor Rätsel: gehört es den Schattenwanderern oder ist es der Schlüssel für die Suche nach dem Glas? Izzy, Seb und Valian müssen das Glas vor den Schattenwanderern finden, doch langsam wird die Zeit knapp…

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Seitenzahl: 416

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Jennifer Bell

Izzy Sparrow

Die verschwundene Tür

Aus dem Englischen von Jan Möller

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Jennifer Belllebt in London und arbeitete als Buchhändlerin, bevor sie anfing, selbst Bücher zu schreiben. Die Idee für »Izzy Sparrow. Die Geheimnisse von Lundinor« kam ihr, als sie für den Urlaub packte und sich wünschte, einfach in ihren Koffer zu kriechen und an ihrem Urlaubsort wieder herauszukommen. Mit dem Schreiben von Kinderbüchern kann sie sich in fremde Welten hineinträumen und muss nie erwachsen werden, ganz so wie Peter Pan, dessen Geschichten sie am liebsten liest. www.jennifer-bell-author.com

 

 

 

1. Auflage 2017 Für die deutsche Ausgabe: © Arena Verlag GmbH, Würzburg 2017 Alle Rechte vorbehalten Titel der englischen Originalausgabe: »The Uncommoners – The Smoking Hourglass« Copyright © Jennifer Bell, 2017 erschienen bei: Corgi Books, London 2017 Aus dem Englischen von Jan Möller Umschlagillustration: Timo Grubing ISBN 978-3-401-80738-6

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Für Beks, Nichol und Tara.Ungewöhnliche Freunde.

1

Izzy sauste mit dem Kopf voran durch die Dunkelheit. Ihre braunen Locken wehten ihr ins Gesicht, während um sie herum die Wände des Leinensacks laut flatterten. »Seb!«, rief sie. »Bist du noch da?«

Ein Lichtspalt tauchte in der Ferne auf.

Na endlich.

Sie wurde langsamer, als der Spalt sich zu einer Öffnung vergrößerte, und dann zwängte sie sich aus dem Sack heraus und ihr Körper dehnte sich wieder auf seine normale Größe aus wie ein Ballon, der sich mit Wasser füllte.

Sie fand sich in einem kleinen, prunkvoll eingerichteten Zimmer wieder. Mondlicht schien durch das einzige runde Fenster und beleuchtete einen Schreibtisch aus polierter Eiche, einen Lehnsessel aus Leder und einen flauschigen Teppich. An einer Wand lehnte ein Junge. Er hatte blasse Haut, wirres blondes Haar und die gleichen grünen Augen wie sie.

»Seb, wo sind wir hier?«

Die Wangen ihres Bruders wirkten merkwürdig aufgebläht. »Kann jetzt nicht sprechen … Versuch grad, nicht zu kotzen.«

»Wir sind auf einem Schiff«, antwortete eine zittrige Stimme hinter ihr. »Und wir sind nicht alleine.«

Izzy drehte sich um und erblickte ihren Freund Valian. Ein äußerst besorgter Ausdruck lag auf seinem kantigen, braun gebrannten Gesicht. Er kniete neben einem Mann in schwarzer Uniform, der ausgestreckt auf dem Boden lag. Einer seiner Arme befand sich über seinem Kopf, der andere war unter seinem Körper eingeklemmt. Er war in etwa im gleichen Alter wie Sebs und Izzys Eltern – Mitte vierzig – und hatte einen welligen blonden Bart. Seine linke Augenbraue war durchsetzt von einem weißen Strich.

»Schläft er?«, fragte Izzy und kroch näher heran. Die Augen des Mannes waren geschlossen. Sie stupste ihn leicht gegen die Schulter, aber er reagierte nicht.

Valian beugte sich vor, hielt sein Ohr an die Lippen des Mannes und befühlte dessen Hals. »Er atmet nicht.«

»Wir müssen ihm helfen.«

»Ich glaube nicht, dass wir das können.« Valian nahm seine Finger vom Hals des Mannes und schluckte. »Er hat keinen Pulsschlag.«

Izzy erstarrte. »Du meinst …?«

»Er ist tot«, sagte Valian mit düsterer Miene. »Sein Körper ist noch warm. Es kann erst vor Kurzem passiert sein …«

Seb schlug sich eine Hand vor den Mund, stürmte hastig an ihnen vorbei und verschwand mit lautem Gepolter hinter einer Tür. Durch den Türspalt konnte Izzy ein Badezimmer aus weißem Marmor erkennen. »Vielleicht ist der Mann ja über den Teppich gestolpert und gestürzt«, überlegte sie. Als sie aufstand, schwankte der Boden. Auf einem Tablett in der Ecke klirrten ein paar Whiskygläser.

Valian runzelte die Stirn. »Das glaube ich nicht. Er hat keine Beule am Kopf und hier ist auch nirgendwo Blut von einer Wunde.« Er richtete sich auf und sah sich in der Kabine um. Inmitten der juwelenbesetzten Lampen und vergoldeten Spiegel wirkten seine strähnigen schwarzen Haare, die engen, aufgerissenen Jeans und seine verdreckten roten Basketballschuhe vollkommen fehl am Platz. »Wir müssen herausfinden, auf welchem Schiff wir sind.«

»Da ist ein Schild an seiner Uniformjacke«, bemerkte Izzy. Unter einem Logo waren ein paar Wörter aufgedruckt. »Erster Offizier«, las sie vor. »MS Outlander.«

Nebenan war eine Toilettenspülung zu hören und die Tür zum Badezimmer ging wieder auf. Seb wischte sich mit dem Ärmel seines Kapuzenpullovers den Mund ab. »Tut mir leid – ich konnte es nicht länger zurückhalten.«

Izzy rümpfte die Nase, als sie auf ihn zustapfte und dann das Handy aus seiner Jeanstasche fischte, um es ihm in die Hand zu drücken. »Kannst du vielleicht auch mal was Nützliches tun?«, fragte sie. »Du bist doch schuld daran, dass wir uns kopfüber und ohne einen richtigen Plan in diese Aktion gestürzt haben.«

Seb starrte gereizt auf sie herab. »Das war ein Experiment – ich wollte einfach mal die Initiative ergreifen. Ich wusste doch nicht, dass wir hier auf einen Toten stoßen würden.« Er war breitschultrig und groß und hatte die muskulösen Arme eines Schlagzeugers, der – sehr zu Izzys Leidwesen – jeden Abend eine Stunde lang probte. Sie hatte keine Ahnung, wie es sein konnte, dass sie Geschwister waren. Sie war so klein und schmächtig im Vergleich zu ihm.

Valian schaute Seb über die Schulter. »Kann dieses Ding dir sagen, wo wir sind?«

Izzy fand es immer noch seltsam, dass Valian so gut wie gar nichts von gewöhnlicher Technik verstand.

»Hmmm.« Seb wischte ein paar Mal mit dem Finger über das Handy-Display. »Das GPS funktioniert, aber ich bin hier im Netz eines anderen Anbieters, also müssen wir uns wohl irgendwo im Ausland befinden.« Er machte große Augen. »Oha. So wie es aussieht, sind wir kurz vor der Küste von Norwegen!«

»Norwegen?« Valian griff nach dem Leinensack, aus dem Izzy eben erst herausgekrochen war, und warf einen Blick auf das Papierschild, das an seinem oberen Ende hing. Dann las er es gleich noch mal. »Ich habe es auf jeden Fall richtig beschriftet – da steht Selena Grimes –, aber was sollte sie in Norwegen wollen?«

Seb hob ruckartig den Kopf. »Ähm, Eltern entführen? Erpressung? Folter? Die Schattenwanderer treiben ihr Unwesen doch wahrscheinlich auf der ganzen Welt.«

Izzy lief ein Schauer über den Rücken. Die Schattenwanderer waren ein Geheimbund, dessen Mitglieder so böse waren, dass allein die Erwähnung ihres Namens sie schon frösteln ließ. »Wir wissen noch nicht mit Sicherheit, dass sie hier ist. Es ist möglich, dass das Schild nicht richtig funktioniert.« Insgeheim hoffte sie, dass es so war. Selena Grimes war gefährlich. Das letzte Mal, als sich ihre Wege gekreuzt hatten, war Izzy beinahe von Selenas Wolf gefressen worden. »Vielleicht kann uns der Sack nicht direkt zu einer Person befördern, nur zu einem bestimmten Ort, wie alle anderen ungewöhnlichen Gepäckstücke?«

»Dieser Sack ist anders«, widersprach Valian. »Das weißt du doch. Die Großen Ungewöhnlichen Güter sind die fünf mächtigsten ungewöhnlichen Gegenstände, die es gibt – ich sag’s euch, das Teil kann mehr, als wir wissen.«

Izzy betrachtete den schäbigen alten Kartoffelsack. Es war schon seltsam, wenn sie daran dachte, dass etwas so gewöhnlich Aussehendes die Macht hatte, jemanden innerhalb weniger Sekunden Tausende Kilometer weit zu transportieren. Aber so war das mit allen ungewöhnlichen Objekten – selbst der normalste, alltäglichste Gegenstand konnte insgeheim eine außergewöhnliche Fähigkeit besitzen.

Seb warf einen vorsichtigen Blick auf den Ersten Offizier. »Was ist das da in seiner Hand?«

Izzy wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Toten zu. Da glitzerte etwas in seiner Faust. Dankbar dafür, dass sie Handschuhe trug, zog sie behutsam seine Finger beiseite und entdeckte eine winzige Silbermünze in seiner Handfläche. Sie war in der Mitte gekrümmt und eine Aufschrift war in ihren Rand eingeprägt.

»Ein krummer Sixpence«, stieß sie hervor und wich zurück. Diese Münze würde sie jederzeit wiedererkennen – es war das Markenzeichen der Schattenwanderer.

»Er ist von einem Schattenwanderer ermordet worden«, sagte Valian mit finsterer Miene. »Das Schild an dem Sack muss funktioniert haben, sonst wäre es wirklich ein zu großer Zufall. Selena hat ihn ermordet.«

Seb warf einen raschen Blick zu der Tür, die aus dem Zimmer und zum Rest des Schiffs führte. »Selena muss die Kabine kurz vor unserer Ankunft verlassen haben. Was bedeutet, dass sie irgendwo an Bord ist, womöglich in Gesellschaft anderer Schattenwanderer.« Er griff nach dem Großen Ungewöhnlichen Sack und hob ihn vom Boden auf. »Du hattest recht. Wir haben das alles nicht durchdacht. Lasst uns von hier verschwinden.«

Izzy wollte schon den Alarm auslösen, um die Schiffsbesatzung zu warnen, als ihr ein bitterer chemischer Geruch in die Nase stieg und sie blinzeln ließ. »Igitt – wo kommt denn dieser Gestank her?«

Valian schnupperte und richtete seinen Blick dann auf den krummen Sixpence in der Hand des Ersten Offiziers. »Zungwurz«, knurrte er. »Den Gestank würde ich jederzeit wiedererkennen – die Schattenwanderer haben es auch bei meinen Eltern angewandt. Es ist ein Gift, das einen zwingt, die Wahrheit zu sagen, bevor man stirbt. Die Münze ist damit überzogen. Es muss dem Mann bei der Berührung in die Haut gedrungen sein.«

Izzy bekam ein schlechtes Gewissen, als sie an Valians Mum und Dad dachte. »Wir können noch nicht gehen«, erklärte sie Seb. »Wenn es uns gelingt herauszufinden, warum Selena diesen Mann umgebracht hat und was sie hier tut, dann könnte uns das helfen zu verstehen, was die Schattenwanderer planen – vielleicht können wir sie aufhalten.«

»Izzy, das ist zu gefährlich!«, protestierte Seb. »Selena hat bereits diesen Kerl hier ermordet! Wenn sie uns sieht, bringt sie uns auch um.«

Izzy wollte ihrem Bruder eigentlich sagen, dass er daran mal vorher hätte denken sollen, aber sie hatten keine Zeit, um sich zu streiten. »Wir wissen nicht, wie lange Selena an Bord sein wird, deshalb müssen wir die Gelegenheit jetzt nutzen.«

»Ich habe etwas, das uns helfen wird«, sagte Valian. »Ich meine, um nicht gesehen zu werden. Kannst du auf deinem Gerät einen Plan von diesem Schiff suchen, Seb? Es heißt MS Outlander.«

Mit einem unwilligen Brummen stopfte Seb sich den Großen Ungewöhnlichen Sack in die Tasche seines Kapuzenpullis und nahm wieder sein Telefon zur Hand. »MS Outlander – da haben wir’s ja schon. Es handelt sich um einen Frachter, der zwischen Norwegen und London verkehrt. Er hat drei Ebenen und einen Maschinenraum, außerdem einen großen Kran auf dem Deck, wo die Container gelagert werden.«

Izzy fragte sich, warum die Schattenwanderer an einem gewöhnlichen Schiff wie der MS Outlander interessiert waren. »Lasst uns nach oben an Deck gehen«, schlug sie vor. »Wir können uns die Container ansehen. Vielleicht gibt uns die Fracht einen Hinweis darauf, warum die Schattenwanderer hier sind.«

»Guter Plan.« Valian steckte eine Hand in seine Lederjacke und holte ein Parfümfläschchen aus Kristallglas hervor. Es war ausgestattet mit einem kunstvoll verzierten Messingzerstäuber und enthielt eine kleine Menge dunkler Flüssigkeit. »Auf einem so großen Schiff wimmelt es sicher nur so vor Besatzungsmitgliedern. Wir werden das hier benutzen müssen, um nicht entdeckt zu werden.« Er schüttelte das Fläschchen, um sich zu versichern, dass noch genug von der Flüssigkeit übrig war.

»Was ist das für ein Zeug?«, fragte Izzy und beugte sich näher heran.

Valian zielte mit der Zerstäuberdüse auf sie. »Streng genommen ist es bloß Brunnenwasser in einer ungewöhnlichen Parfümflasche, aber die meisten Ungewöhnlichen nennen es Flüssiger Schatten. Es erlaubt den Benutzern, mit jedem Schatten zu verschmelzen, den sie berühren. Es wird uns nicht komplett unsichtbar machen, aber auf Schatten achten die Leute viel weniger als auf richtige Menschen.«

Izzy schnupperte, als der dunkle Sprühnebel in kleinen Tröpfchen auf ihr Haar und die Schultern ihres blauen Mantels niederging. Es roch ein bisschen nach Rauch.

»Wir haben eine Stunde Zeit, bevor es sich verflüchtigt und der Effekt nachlässt«, warnte Valian, während er das Zeug erst auf Seb verspritzte und dann auf sich selbst. »Los geht’s.«

Sie ließen den Ersten Offizier dort in der Kabine liegen und schlossen die Tür hinter sich. Der Gang draußen hatte gewölbte, von Nieten überzogene Metallwände und einen grau glänzenden Lackanstrich. Er wirkte wie ein Tunnel aus der fernen Zukunft. Die unnatürliche Beleuchtung warf überall Schatten und Izzy ging auf den erstbesten zu und trat hinein.

»Das gibt es ja nicht!«, flüsterte Seb, der genau in ihre Richtung starrte. »Izzy, du bist verschwunden.«

Sie streckte ihre Hand aus, aber konnte diese nicht entdecken. Sie blickte an sich hinunter. Da waren kein Rock, keine fusselige Wollstrumpfhose und auch keine ausgetretenen weißen Turnschuhe zu sehen. Sie schienen sich in der Dunkelheit aufgelöst zu haben. Probeweise hielt sie ihren Fuß ins Licht und ein schuhförmiger Schatten tauchte auf dem Boden auf.

Valian gab ihnen ein Zeichen, sich zu beeilen. »Los, kommt weiter.«

Sie hasteten durch den Korridor auf die Treppe zu. Das Innere des Schiffsrumpfes war trostlos und beengend und seltsame Geräusche hallten von den Wänden wider. Izzy versuchte, nicht über die Warnschilder nachzudenken, die überall hingen – FEUERVENTIL (HAUPTBEREICH), EXPLOSIONSGEFAHR, RETTUNGSRING, BRANDTÜR.

Gerade, als sie nach dem Geländer am Fuß der Treppe griff, ertönte über ihr das Stapfen schwerer Arbeitsstiefel. Valian sprang in die Dunkelheit unter der Treppe und zog Izzy und Seb mit sich. Izzy presste sich gegen die Wand und atmete schwer, als eine Gruppe Matrosen in marineblauen Uniformen die Treppe heruntergepoltert kam.

Unglaublich. Der Flüssige Schatten hatte funktioniert.

Seemänner riefen Befehle in einer fremden Sprache, während sie durch eine schwere Tür in den nächsten Gang eilten. Als sie außer Sicht waren, lösten sich Izzy, Seb und Valian aus den Schatten und schlichen die Stufen hinauf.

Draußen war die Nacht erfüllt vom Krachen und Donnern der See. Das Schiff schwankte und Izzy stellte sich mit gespreizten Beinen auf, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ihre Haut kribbelte in der Kälte. Eine elektrische Lichterkette klapperte im Wind und beleuchtete die riesigen Metallcontainer, die über das Deck verteilt standen. Sie waren in Reihen angeordnet, mit genügend Platz dazwischen, dass jemand zwischen ihnen hindurchgehen konnte, aber alles wirkte auf unheimliche Art leer und verlassen. Valian zeigte auf das obere Ende eines großen Krans, der inmitten der Container stand, und sie steuerten auf ihn zu.

Als sie in die Schatten traten, verschwanden Valian und Seb. Izzy wusste, dass sie noch irgendwo da waren, aber weil sie sie nicht mehr sehen konnte, fühlte sie sich allein.

Die gewaltigen Container waren in hellen Farben gestrichen, ihre Türen mit dicken Stahlriegeln gesichert und auf ihre Vorderseiten waren Seriennummern gestanzt. Izzy inspizierte sorgfältig jeden Container, an dem sie vorbeikam, aber fand keinen Hinweis darauf, was sie enthalten könnten.

Sie schlich gerade an einem roten Container entlang, da hörte sie ein lautes Scheppern und erstarrte. Es klang, als würde sich dadrinnen etwas bewegen. Blitzschnell wich Izzy zurück, als zwei dunkle Gestalten geradewegs durch die geriffelte Containerwand glitten. Sie schlug sich eine Hand vor den Mund, um nicht hörbar nach Luft zu schnappen. Es gab nur eine Art von Wesen, die einfach so durch feste Materie gehen konnten: Die ungewöhnlichen Toten.

Es war nicht hell genug, um die beiden Gestalten deutlich zu erkennen, aber eine war sehr groß, mit einem seltsam geformten Kopf, und die andere hatte sich in einen langen Kapuzenmantel gehüllt, der von weißem Fell gesäumt war. Izzy gab keinen Laut von sich und vergewisserte sich, dass sie immer noch mit den Schatten verschmolzen war. Die Gestalt mit dem langen Mantel schwebte ins Mondlicht und schlug ihre Kapuze zurück. Ein dunkel glänzender, geflochtener Zopf fiel ihr bis zur Hüfte.

Selena Grimes.

Izzy zuckte erschrocken zusammen. Der Ghul sah immer noch aus wie ein Filmstar, genauso wie in ihrer Erinnerung: strahlend schöne Haut, hohe Wangenknochen und knallrote Lippen. Selenas dunkles Haar umrahmte ihr zartes Gesicht und brachte ihre stechenden blauen Augen umso stärker zur Geltung.

»Selbst mit dem Zungwurz hat uns dieser Esel nichts Nützliches verraten«, schimpfte sie. Ihre eiskalte Stimme jagte Izzy einen Schauer über den Rücken. »Ich hätte ihn schon früher töten sollen. Bist du sicher, dass das Glas der Schatten an Bord ist?«

»Das Aufspürserum, das ich benutzt habe, um seinen Aufenthaltsort zu bestimmen, ist äußerst genau«, säuselte Selenas Begleiter. Seine Stimme klang, als ob er durch eine Panflöte spräche. »Das Glas befindet sich eindeutig auf diesem Schiff. Andernfalls hätte ich mich nicht mit dir in Verbindung gesetzt.«

Der Sprecher trat aus den Schatten. Er sah aus wie ein menschengroßes Insekt, genauer gesagt, wie eine Gottesanbeterin mit glatter grüner Haut, einem flachen, dreieckigen Kopf und zwei leuchtenden gelben Augen in der Größe von Salatschüsseln. Sein Unterkiefer bestand aus zwei scharfkantigen Mundwerkzeugen und Izzy zählte sechs stockdünne Gliedmaßen, die aus seinem maßgeschneiderten smaragdgrünen Wollanzug hervorragten: Zwei davon nutzte er als Beine, die anderen vier stellten Arme mit dornenartigen Krallen an den Händen dar. Über den Schulterblättern war der Ansatz seidiger grüner Flügel auf seinem Rücken zu sehen.

Vor lauter Grauen schrak Izzy zurück. Sie hatte keine Ahnung, welcher Gruppe der Toten er angehörte. Aber ganz sicher war er kein Ghul wie Selena.

»Ich werde weiter die Fracht durchsuchen, bis das Schiff im Hafen anlegt«, versprach er. »Laut Plan soll es in den frühen Morgenstunden London erreichen.«

»London?« Selena zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Das trifft sich ja ausgezeichnet. Morgen wird Lundinor seine Tore für den Frühjahrsmarkt öffnen. Wahrscheinlich will jemand das Glas dorthin bringen.« Sie grinste. »Und hat keinen blassen Schimmer, dass der Gegenstand die Macht der Pandora besitzt. Warte, bis das Schiff seine Fracht entlädt, und spüre das Glas dann in Lundinor auf. Und beeile dich.«

Der Insektenmann neigte den Kopf vor ihr. »Wie du wünschst, Wolfsbane.«

Izzy schauderte. Wolfsbane war Selenas Codename. Die anderen Mitglieder der Schattenwanderer – Ragwort, Blackclaw, Nightshade, Hemlock und Monkshood – waren ebenfalls nach Giftarten benannt.

»Und sag mir gleich Bescheid, wenn es irgendwelche Neuigkeiten gibt«, fuhr Selena fort. »Es ist von äußerster Wichtigkeit, dass ich das Glas so schnell wie möglich in die Hände bekomme. Wir dürfen keine Zeit verlieren.« Sie zog einen ihrer schwarzen Satinhandschuhe aus und betrachtete ihre Finger. Die Haut an ihrer Hand war mit Schorf überzogen und faulte, gelber Eiter quoll aus den Wunden. Izzy wandte angewidert den Blick ab. »Die Ära der Schattenwanderer naht.« Selena schnippte eine Made von ihren Fingerknöcheln. »Bald kommen wir wieder ans Licht und die Ordinären werden auch mal erfahren, was es heißt, immer im Dunkeln leben zu müssen.«

Izzy war sich nicht sicher, was Selena Grimes damit meinte, aber es war bestimmt nichts Gutes. »Ordinäre« war ein grässlich herablassender Ausdruck für Gewöhnliche – ganz normale Menschen, die nichts von der verborgenen Welt der Ungewöhnlichen erfahren sollten.

Plötzlich spürte sie etwas am Arm und schrie vor Schreck auf. Seb stand neben ihr, Valian etwas weiter dahinter. Ein wütendes Zischen erfüllte die Luft und Izzys Nackenhaare sträubten sich.

»Spione«, knurrte der Insektenmann und klickte mit seinen Fühlern.

Die Wirkung des Flüssigen Schattens hatte nachgelassen.

»Ergreif sie!«, schrie Selena.

Mit einem gewaltigen Wusch! breitete der Insektenmann seine Flügel aus und stieg in die Luft, während Selena auf Izzy zugeschossen kam.

Izzys Füße polterten über das Deck, als sie davonrannte. Vor ihr sprintete Valian um die Ecke in den nächstgelegenen Gang. Izzy eilte ihm nach und stieß beinahe mit Seb zusammen.

»Lauf weiter!«, schrie er, während er mit den Armen Schwung holte. »Dieser Insektenfreak ist direkt hinter uns.«

Über sich konnten sie das unheilvolle Surren der Flügel hören. Seb zog den Großen Ungewöhnlichen Sack aus seinem Kapuzenpulli und flüsterte etwas in seine Öffnung.

»Wirf ihn hier rüber!«, rief Valian.

Seb gehorchte und Valian fing den Sack mit einer Hand auf, bevor er schlitternd an der Schiffsreling zum Stehen kam. Das Meer dahinter war pechschwarz. »Wir müssen springen«, erklärte er, ganz außer Atem. »Vertraut mir.« Er stützte sich mit einer Hand am Geländer ab, schwang sich darüber und verschwand in der Dunkelheit.

Seb schob Izzy vorwärts. »Los, Izzy – spring!«

Während sie auf die Reling kletterte, warf sie einen flüchtigen Blick zurück über die Schulter. Selena Grimes und der Insektenmann hatten sie schon fast eingeholt. Izzy nahm einen tiefen Atemzug und sprang auf die Wellen zu.

Ihre Arme und Beine ruderten in der Luft. Vor sich sah sie den Großen Ungewöhnlichen Sack flattern. Er war noch ein Stück weit von ihr entfernt. Sie konnte gerade die Sohlen von Valians roten Basketballschuhen darin verschwinden sehen.

»Izzyyyyyy!«, rief Seb, der hinter ihr durch die Luft fiel.

Wind heulte in ihren Ohren, als sie die Arme ausstreckte und die Öffnung des Sacks anvisierte, dann tauchte sie kopfüber hinein.

2

Izzy drehte die Schreibtischlampe, um die Wunde auf Sebs Stirn deutlicher sehen zu können. Die Schramme war nicht sehr tief, aber die Haut um sie herum war dick und gerötet. »Der Insektenmann muss dich im Fall erwischt haben, kurz bevor du im Sack verschwunden bist«, sagte sie, während sie die Abschürfung mit feuchter Watte betupfte. »Meint ihr, er ist Selenas neuer Handlanger?«

Seb zuckte vor Schmerz zusammen und krallte sich in die Schreibtischkante. »Muss wohl so sein. Ihren Grimmwolf habe ich jedenfalls nicht bei ihr gesehen.« Seine Stimme hallte bis an die hohe Decke vom Büro ihres Vaters im Victoria & Albert Museum. Das Zimmer war mit mehr Lesestoff vollgestopft als eine kleine Bibliothek: Verschnürte Bündel aus Fachzeitschriften stapelten sich auf den Fensterbänken und Enzyklopädien in endlos vielen Bänden füllten die Regale. Auf einem Schreibtisch in der Ecke stand ein altes Mikroskop und auf einem Tisch in der Raummitte glänzte ein Messingschild mit der Aufschrift

EMMET SPARROW, FORSCHUNGSABTEILUNG

»Sorg dafür, dass die Wunde sauber ist«, riet Valian, der an der Tür Schmiere stand. Der Gang dahinter war dunkel. »So eine Totenart wie den habe ich noch nie gesehen, also kann ich nicht sagen, ob der Typ giftige Haut hatte oder nicht.«

Seb machte ein bestürztes Gesicht. »Wie bitte … giftige Haut?«

Izzy klebte ein Pflaster über die Wunde, warf den gebrauchten Wattebausch in einen Papierkorb und schloss den Verbandskasten. Als sie ihn an seinen Platz auf dem Fensterbrett zurückbrachte, rumpelte draußen auf der nächtlichen Straße gerade ein einsames schwarzes Taxi durch die Pfützen. Nur anderthalb Stunden waren vergangen, seit sie um elf Uhr im Großen Ungewöhnlichen Sack aufgebrochen waren. In London war alles ruhig.

Izzy setzte sich auf den Bürostuhl ihres Vaters. Sein Pullover lag noch über der Lehne. Das Bild des toten Schiffsoffiziers kam ihr wieder in den Sinn und sie zog den Pulli auf ihren Schoß, um ihn fest an sich zu drücken. Sie wünschte, ihr Dad wäre jetzt bei ihr.

Valian wich hastig von der Tür zurück. »Schnell – duckt euch!«

Auf dem Gang flackerte ein Licht auf. Seb warf sich flach auf den Boden und Izzy rutschte unter den Tisch, als der Schein einer Taschenlampe den Raum erhellte. Er glitt langsam über die Wände und dann, nach ein paar Sekunden, verschwand er wieder – zusammen mit dem Geräusch sich entfernender Schritte.

»Wir können nicht hierbleiben«, flüsterte Izzy, während sie sich wieder auf den Stuhl hochzog. »Wenn uns jemand vom Sicherheitsdienst entdeckt, wie sollen wir dann erklären, wie wir hier reingekommen sind?«

Seb hob den Kopf. »Der einzige Grund, warum ich dem Sack befohlen habe, uns hierherzubringen, ist, weil Dads Bücher uns vielleicht helfen können zu verstehen, was Selena gesagt hat. Ihr wisst schon – über das Glas der Schatten.« Er wandte sich an Valian. »Sagt dir der Name irgendwas?«

»Nein, aber ich habe da so eine Idee, was es sein könnte.« Valians Miene verfinsterte sich. »Ein Name wie Glas der Schatten lässt darauf schließen, dass es sich um einen einzigartigen Gegenstand handelt, und wir wissen ja von fünf einzigartigen Gegenständen, an denen die Schattenwanderer interessiert sind.«

Eine Schweißperle lief Seb über die Stirn, als er den Großen Ungewöhnlichen Sack in die Mitte des Tisches schob. »Soll das heißen, du glaubst, dass das Glas der Schatten so wie der hier ist, eins von den Großen Ungewöhnlichen Gütern?«

Izzy rutschte unruhig im Sessel herum. Wenn die Schattenwanderer jemals eines der Großen Ungewöhnlichen Güter in die Hände bekämen, dann wären alle Menschen in Gefahr – ob sie nun Ungewöhnliche waren oder nicht. »Was machen denn ungewöhnliche Gläser normalerweise?«, fragte sie Valian.

»Sie bewahren Ängste auf«, erklärte er mit einem Zittern in der Stimme. »Wenn man in ein ungewöhnliches Einmachglas hineinschreit, dann wird man seine größte Furcht los und sie bleibt in dem Glas eingeschlossen, bis es wieder geöffnet wird. Ungewöhnliche nutzen sie, um ihre Phobien loszuwerden. Je mächtiger ein Glas ist, desto mehr Ängste kann man darin aufbewahren.«

»Okay … aber warum sollten die Schattenwanderer so eins haben wollen?«, fragte Seb. »Die wirken auf mich nicht gerade, als ob sie leicht zu ängstigen wären.«

»Vielleicht nicht«, antwortete Valian. »Aber ich habe mal erlebt, wie ein Gewöhnlicher aus Versehen so ein Glas zerbrochen hat. Es muss wohl jemandem gehört haben, der Angst vor einem Fall in die Tiefe hatte, denn als es zersprungen ist, hat sich ein riesiger Abgrund im Boden aufgetan und der Mann ist geradewegs hineingestürzt.«

Izzy bekam ein flaues Gefühl im Magen. »Du meinst also, die Schattenwanderer wollen überhaupt keine Angst aufbewahren – sie wollen eine freilassen …« Sie trommelte mit ihren Fingern auf der Tischplatte. »Vielleicht auch nicht bloß eine … Wenn das Glas der Schatten tatsächlich eins der Großen Ungewöhnlichen Güter ist, dann muss eine ziemlich große Menge von Ängsten darin gespeichert sein. Hat Selena nicht gesagt, dass das Glas die Macht der Pandora besitze?«

»Ja, aber ich habe bisher nur von einer Pandora gehört«, sagte Seb. »Und die hatte eine Büchse.«

Izzy erinnerte sich dunkel daran, dass ihr Dad ihr die Geschichte Pandoras erzählt hatte. Sie stammte aus der griechischen Mythologie. Sie suchte die Regale ab, bis sie einen Band mit dem Titel Die griechischen Sagen entdeckte, schlug das Buch auf dem Tisch auf und ging das Inhaltsverzeichnis durch, dann blätterte sie sich bis zum gesuchten Kapitel vor. »Da haben wir’s ja – Zeus erschuf die erste Frau auf der Erde und nannte sie Pandora. Er gab ihr eine Büchse, und als sie diese öffnete, wurde alles Schlechte in der Welt freigelassen.«

»Tolles Geschenk, Zeus«, brummte Seb trocken. »Steht da irgendetwas über die Macht der Pandora?«

Als Izzy weiterlas, lief es ihr eiskalt den Rücken hinunter. »Nein, aber diesem Buch zufolge ist die Sage Tausende Jahre lang falsch übersetzt worden. In der ursprünglichen Geschichte erhält Pandora gar keine Büchse …« Ihre Hand fing an zu zittern. Sie sah zu Seb und Valian auf. »Sondern ein Glas. Das Glas der Schatten und die Büchse der Pandora sind ein und dasselbe!« Sie fuhr mit einem Finger über den Text. »Als Pandora das Glas öffnete, entwichen daraus eine todbringende Seuche und unzählige andere Plagen.«

Seb lächelte bitter. »Klingt nach einem Riesenspaß.«

»Es hört sich ganz so an, als ob das Glas der Schatten alle Ängste der Welt enthält«, sagte Valian. »Wir müssen verhindern, dass die Schattenwanderer es in die Hände bekommen.«

»Na toll«, schnaubte Seb. »Ist ja wieder mal typisch, dass das Glas ausgerechnet zur gleichen Zeit nach Lundinor kommt wie wir. Wie lautet unser Plan?«

Der Name Lundinor driftete durch Izzys Gedanken wie ein geheimes Passwort. Es fühlte sich an, als wäre es erst gestern gewesen, als Seb und sie durch die gepflasterten Straßen des riesigen Untergrundmarktes spaziert waren und mit großen Augen all die ungewöhnlichen Gegenstände bestaunt hatten, die dort zum Verkauf angeboten wurden. »Valian, sollen wir dich dort treffen?«

Er nickte. »Ich werde mal sehen, was ich vorher noch in Erfahrung bringen kann. Wenn ich herausfinde, wer das Glas importieren lässt, können wir unsere Suche in Lundinor eingrenzen. Es gibt bestimmt nicht viele Händler, die die MS Outlander benutzen. Ich werde den Großen Ungewöhnlichen Sack zur Versammlung der Finder in Edinburgh bringen – dort treffen sich alle Finder des Vereinten Königreichs. Dort wird er am besten aufgehoben sein. Ihr solltet in der Zwischenzeit vermeiden, Selena über den Weg zu laufen.«

Izzy spürte den eisigen Hauch der Gefahr im Nacken. »Ich frage mich, warum sie uns noch nicht hierhergefolgt ist.«

»Das Risiko wäre zu hoch«, sagte Valian mit Überzeugung. »Seb, erinnerst du dich noch, was du mir vor ein paar Tagen erzählt hast?«

Während der vergangenen Monate, in denen sie wieder zur Schule gegangen waren, hatten Seb und Izzy sich über die Federleichtpost mit Valian ausgetauscht.

»Du meinst, dass das neue Album von The Ripz jetzt draußen ist?«

Valian starrte ihn mit ausdruckloser Miene an. »Nein. Das andere – dass du auf dem Schulweg einen Untergardisten gesehen hast.«

»Oh.« Seb grinste verlegen. »Ja – ich fand, seine Uniform sah nach der Untergarde aus. Ich habe versucht, ihm zu folgen, aber er ist verschwunden.«

Izzy hatte auch einen gesehen. Jedenfalls glaubte sie das. Wenn Untergardisten in der Welt der Gewöhnlichen auftauchten, waren das meist schlechte Nachrichten.

»Ich vermute mal, seit ihr Lundinor letzten Winter verlassen habt, haben die Untergardisten euch überwacht«, erklärte Valian. »Es macht schon Sinn, dass sie euch im Auge behalten wollten. Nehmt’s mir nicht übel, aber vor dem Hintergrund eurer Familiengeschichte …«

Seb seufzte. »Schon gut. Unser Urgroßvater war einer der Schattenwanderer. Das können wir nicht einfach verdrängen.«

»Und unser Großonkel auch«, fügte Izzy zaghaft hinzu. Sie wünschte, sie könnte es verdrängen, oder besser noch, dass es gar nicht wahr wäre. Es war alles andere als leicht, mit dem Wissen zu leben, dass Blackclaw und Ragwort mit ihr verwandt waren.

»Die Sache ist die«, fuhr Valian fort. »Selena wird es nicht riskieren, euch persönlich zu verfolgen. Nicht, wenn eine derart große Gefahr besteht, dass die Untergarde sie dabei entdeckt und ihr Fragen stellt.«

»Und was sollen wir machen, wenn wir wieder in Lundinor sind?«, fragte Seb. »Ich meine, außer uns nicht von Selena Grimes und ihrer Riesenheuschrecke umbringen zu lassen.«

»Haltet Augen und Ohren offen«, antwortete Valian, »achtet auf alles, das uns nützlich sein könnte. Wir müssen dieses Glas finden.«

»Wenn wir es finden, können wir es nicht einfach zerstören«, erklärte Izzy ihnen. »Dadurch würden nur die Ängste darin freigelassen. Wir müssen uns etwas anderes überlegen.«

»Na super«, stöhnte Seb. »Geringe Erfolgsaussichten, hohes Risiko für Leib und Leben. Einen besseren Plan kann man sich ja gar nicht wünschen.«

»Aber erst muss ich noch einen kleinen Ausflug unternehmen«, sagte Valian und seine dunklen Augen glänzten. »Jetzt, wo wir wissen, dass der Sack uns auch zu einer bestimmten Person bringen kann, habe ich mir gedacht …«

Rosie, kam es Izzy sofort in den Sinn. Valian wollte herausfinden, ob der Sack seine verschwundene kleine Schwester aufspüren konnte, so wie er auch Selena Grimes gefunden hatte. »Viel Glück«, wünschte sie mit einem hoffnungsvollen Lächeln.

»Danke.« Valian holte ein paar kurze braune Federn aus seiner Jackentasche. »Hier – nehmt ein paar von denen, falls ihr mich mal erreichen müsst. Wenn ihr nach Lundinor kommt, dann haltet euch nur in den belebten Gebieten auf und zieht nicht auf eigene Faust alleine los. Selena wird darauf warten, dass ihr einen Fehler begeht. Gebt ihr keine Gelegenheit.«

3

»Bist du dir wirklich sicher, Grandma?«, fragte Seb, während er an den Riemen seines Rucksacks zog. »Sieht mir nicht so aus, als ob hier ein Eingang nach Lundinor verborgen wäre.«

Izzy sah sich in der ruhigen Wohnstraße um, zu der Grandma Sylvie sie geführt hatte, nur zehn Minuten mit der Bahn von ihrer Londoner Wohnung entfernt. Die Straße wirkte vollkommen normal: eine Reihe Backsteinhäuser mit Kieseinfahrten und auf der gegenüberliegenden Seite ein langer Holzzaun. Da dahinter keine Gebäude zu sehen waren, ging Izzy davon aus, dass er an Bahnschienen oder ungenutztes Land grenzte.

Grandma Sylvies Absätze klackerten auf dem Bürgersteig. »Ich finde es ja auch nicht besonders wahrscheinlich.« Sie hatte ihr langes silbriges Haar zu einem Knoten hochgesteckt und trug eine auf sie zugeschnittene Samtjacke und eine weite Palazzo-Hose. Sie sah eleganter aus als sonst, als wäre sie auf dem Weg zu einem Vorstellungsgespräch. »Allerdings habe ich Ethel gebeten, die Anweisungen dreimal zu wiederholen, und wir sind eindeutig am richtigen Ort. Etwas weiter da vorn sollte sich ein Tor befinden.«

Als Izzy hörte, dass die Information von Ethel Dread stammte, konnte sie sich schon etwas mehr entspannen. Grandma Sylvies nach langer Zeit wiedergefundene beste Freundin war die Besitzerin des Hauses der Glocken in Lundinor und sie war taffer und gewiefter als alle anderen Händler, denen Izzy begegnet war. »Hat Ethel dir erklärt, warum wir nicht einfach durch einen Koffer reisen können wie beim letzten Mal?«

Grandma Sylvie war merklich angespannt. »Anscheinend gibt es in dieser Saison Einreisebeschränkungen in Lundinor. Man braucht eine Sondergenehmigung, um ungewöhnliche Gepäckstücke zur Anreise nutzen zu dürfen. Wer keine hat, muss durch einen Eingang wie diesen kommen.«

Einreisebeschränkungen …? Izzy studierte den Gesichtsausdruck ihrer Großmutter, um herauszufinden, ob sie vielleicht mehr wusste, als sie zugab, aber Grandma Sylvies verkniffener Mund und ihr unruhiger Blick verrieten bloß, dass sie nervös war. Izzy konnte das gut nachvollziehen. Solange ihre dunkle Familiengeschichte wie ein Schatten auf ihr lastete, würde es nie leicht für sie sein, nach Lundinor zurückzukehren.

Grandma Sylvie blieb vor einem unverschlossenen Tor im Holzzaun stehen. »Das hier muss es sein.« Vorsichtig schob sie das Tor auf und die drei schlüpften hindurch. Dahinter war eine riesige Anlage verwilderter Gärten, benetzt vom Tau und geplättet vom Regen der letzten Nacht. Frisch umgegrabenes Land lag neben Beeten mit grünem Blumenkohl und roten Kohlköpfen. Wilde Glockenblumen wuchsen zwischen dem Unkraut am Rand und wiegten sich im Wind.

Seb stieg über einen umgekippten Blumentopf. »Vielleicht ist der Eingang getarnt, damit er nicht von Gewöhnlichen entdeckt wird.«

Izzy rümpfte die Nase – die Luft stank nach Kompost. Sie ließ den Blick über das Land schweifen. Es gab ein paar Leute hier und da, die sich um die Pflanzen kümmerten oder den Boden umgruben, aber der Ort wirkte äußerst still. »Entweder das oder die Untergardisten löschen ständig das Gedächtnis der Gewöhnlichen, damit diese vergessen, was sie hier gesehen haben«, überlegte sie. Sie musste plötzlich daran denken, wie ihren Eltern mit ungewöhnlichem Pfeifen die Erinnerung an Lundinor gelöscht worden war, und sie schüttelte ihren Kopf, um dieses unschöne Bild wieder loszuwerden. Zum Glück waren die beiden diese Woche zusammen verreist, um ihren Hochzeitstag zu feiern. So würden wenigstens sie diesmal in Sicherheit sein.

»Warum hat die Untergarde dich überhaupt zurück nach Lundinor bestellt?«, fragte Seb Grandma Sylvie.

Sie straffte ihre Schultern. »Da ich nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand das einzige Mitglied der Wrench-Familie bin, das noch am Leben ist, habe ich wohl das gesamte Familienanwesen geerbt. Die Untergarde hat mir mitgeteilt, dass ich dabei sein muss, wenn sie alles auflisten, bevor ich das Erbe offiziell antreten kann.«

»Klingt ja langweilig«, kommentierte Seb und warf einen flüchtigen Blick zu Izzy. »Werden wir dich denn öfters zu sehen bekommen, während wir dort sind, oder wirst du zu beschäftigt damit sein, diese Sache zu klären?«

Grandma Sylvie rückte mit zittrigen Fingern ihre Handtasche zurecht. »Ich weiß nicht. Ich habe noch keinen dieser … Untergardisten getroffen, aber der Ton ihrer Mitteilungen war nicht gerade freundlich. Kann einer von euch den Eingang sehen? Ethel meinte, er sei leicht zu finden.«

Während sie weiterstapften, suchte Izzy nach irgendetwas, dass ihr fehl am Platz schien, aber die Gartenparzellen wirkten alle ziemlich gewöhnlich.

»Ich muss von diesem Eingang gewusst haben, als ich noch jünger war«, sagte Grandma Sylvie. »Ethel kommt es sicher komisch vor, dass sie mir all das jetzt noch einmal erklären muss. Ich kann mich glücklich schätzen, dass ich sie habe.«

»Wir müssen auch noch viel lernen«, erinnerte Izzy sie und schenkte ihr ein verständnisvolles Lächeln.

Grandma Sylvie strich Izzy zärtlich durch ihr wirres Haar. »Ich weiß. Aber es wäre weniger frustrierend, wenn meine Erinnerungen einfach mit einem Mal zurückkehren würden. Stattdessen kommen mir bloß einzelne Momente aus meinem alten Leben wieder ins Gedächtnis, ganz ohne Vorwarnung.«

Izzy sah sie aufmerksam an. »Hast du dich an irgendwas Neues erinnert?«

Grandma Sylvies Gesicht verfinsterte sich. Einen Moment lang dachte Izzy, sie würde nicht darauf antworten, aber schließlich seufzte sie und gab zu: »Vor ein paar Tagen ist mir plötzlich etwas eingefallen … Es ist kompliziert.«

Izzy warf Seb einen aufgeregten Blick zu. Das letzte Mal, als Grandma Sylvie sich an etwas aus ihrer Zeit in Lundinor erinnert hatte, war es so bedeutend gewesen, dass es Izzy und Seb dabei geholfen hatte, ihre Eltern zu retten.

»Die Einzelheiten sind immer noch unscharf«, fuhr Grandma Sylvie fort, »aber ich erinnere mich an eine große schwarze Tür. Ich weiß nicht genau, wo sie ist oder was sich in ihrer Nähe befindet, aber sie fühlte sich sehr vertraut an, als ob ich sie viele, viele Male gesehen hätte.«

Eine Tür … Izzy ging alle Möglichkeiten in ihrem Kopf durch. Lundinor hatte die Größe einer Stadt. Diese Tür konnte also überall sein.

»Auf die Tür war ein Symbol gemalt.« Grandma Sylvie kramte in ihrer Handtasche nach Stift und Block, kritzelte etwas aufs Papier und hielt es hoch. »Hier, so. Es sieht aus wie eine Acht, aber oben und unten abgeflacht.«

Izzy betrachtete die Zeichnung nachdenklich. »Wie eine Sanduhr.« Ihre Mum benutzte so ein Ding, um beim Eierkochen die Zeit zu messen.

»Daran hatte ich auch gedacht«, stimmte Grandma Sylvie ihr zu. »Aber da war etwas ziemlich Seltsames an diesem Symbol: Es schien zu rauchen – als ob es mit Säure aufgetragen worden wäre und sich nun durch die Tür hindurchfräße.« Ihre Stimme nahm einen härteren Klang an. »Und als die Tür sich öffnete, stand Selena Grimes dahinter.«

»Hast du eine Ahnung, was das bedeutet?«, fragte Seb. »Was hat denn Selena da zu suchen?«

Grandma Sylvie spielte nervös mit dem Papier in ihrer Hand. »Vielleicht hat das irgendwas mit den Schattenwanderern zu tun. Wir wissen, dass mein Vater einer von ihnen war. Ich schätze, wir können die Möglichkeit nicht ausschließen, dass ich selbst auch irgendwie in ihre Pläne verstrickt gewesen bin.«

Izzys Augen weiteten sich, als sie den Zweifel in Grandma Sylvies Stimme hörte. Es war doch nie im Leben möglich, dass sie in die schrecklichen Verbrechen ihres Vaters verwickelt gewesen sein konnte!

Eine schwarze Tür. Eine rauchende Sanduhr. Wenn Izzy nur herausfinden konnte, was das mit Selena Grimes zu tun hatte, dann würde sie vielleicht in der Lage sein, ihre Großmutter zu beruhigen und mehr über ihren Feind zu erfahren. Sie mussten alles versuchen, um zu verhindern, dass Selena das Glas der Schatten fand.

»Warum hast du dich wohl gerade jetzt wieder daran erinnert?«, fragte Seb.

»Am Abend, bevor mir diese Erinnerung gekommen ist, habe ich eine Federleichtpost von der Untergarde erhalten, in der sie mich nach Lundinor bestellt haben«, antwortete Grandma Sylvie. »Als ich am nächsten Morgen aufgewacht bin, war das Bild dieser schwarzen Tür in meinem Kopf.«

Seb nahm ihr das Stück Papier aus der Hand, um das Sanduhrensymbol genauer zu betrachten. »Meint ihr, Valian wird es wiedererkennen?«

»Ich habe eine bessere Idee.« Izzy öffnete ihre Umhängetasche und holte eine Fahrradklingel aus Edelstahl hervor. Sie hatte eine tiefe Kerbe auf der Oberseite, als ob sie bei einem schweren Fahrradunfall beschädigt worden wäre. Izzy lächelte, als sie den Hebel an ihrer Seite betätigte.

»Izzy, Morgen guten!«, verkündete eine Stimme, begleitet von einem lauten Klingeling. Sie klang schrill und atemlos wie ein aufgeregtes Kind.

»Scratch!« Izzy drückte ihn an sich. Manchmal konnte sie glatt vergessen, dass Scratch eine ungewöhnliche Klingel war. Sie hatte ihn gern wie ihren besten Freund. »Weißt du etwas über eine schwarze Tür, auf die eine rauchende Sanduhr gemalt ist?« Nach dem Glas der Schatten fragte sie nicht. Scratch war mit ihr auf der MS Outlander gewesen – wenn er darüber etwas gewusst hätte, dann hätte er es schon gesagt.

Scratch klingelte. »Nichts mir sagen Sanduhr rauchende und Tür schwarze. Herausfinden es ihr könnt Lundinor in aber. Happentanz beim danach fragt.«

Seb hob beschwichtigend beide Hände. »Okay, Yoda. Immer langsam. Was denn für ein Happentanz?«

Izzy tätschelte Scratch mitfühlend. Wie alle anderen ungewöhnlichen Glocken konnte er sprechen, aber die Kerbe in seiner Oberfläche führte dazu, dass ihm die Wörter stets durcheinandergerieten – er selbst nannte es ein »Reihenfolgeproblem«.

»Mir zu Yoda immer er sagt warum?«, fragte Scratch frustriert.

Seb grinste und schüttelte den Kopf. »Scratch, wenn wir aus Lundinor zurückkommen, erzähl ich dir alles über Yoda, versprochen.«

Grandma Sylvie legte sich nachdenklich einen Finger an den Mund. »Wisst ihr was, Ethel hat diesen Happentanz erwähnt. Das ist so eine traditionelle Feier zur Eröffnung des Frühjahrsmarktes. Alle Ungewöhnlichen müssen sich irgendwann am Tag dort blicken lassen.«

Alle Ungewöhnlichen …

Izzy dachte an Selena Grimes. Wenn wirklich jeder am Happentanz teilnahm, bot sich ihnen womöglich die Gelegenheit, ihr nachzuspionieren. Vielleicht konnte Selena sie zum Glas der Schatten führen oder zu der schwarzen Tür. Sie flüsterte Scratch ein »Danke schön« zu, verstaute ihn wieder in ihrer Umhängetasche und schnallte sie fest zu. »Hast du mit Ethel darüber gesprochen, was diese neue Erinnerung bedeuten könnte?«

Grandma Sylvie seufzte und steckte die Zeichnung der Sanduhr in ihre Jackentasche. »Noch nicht. Wir lernen uns gerade erst wieder kennen, da will ich sie nicht beunruhigen.«

Izzy bohrte nicht weiter nach. Es musste wohl für beide eine schwierige Situation sein: Ethels beste Freundin war nach über vierzig Jahren wieder aufgetaucht, aber sie hatte keinerlei Erinnerung mehr an ihre Freundschaft.

Grandma Sylvie blieb vor einem Gitter stehen, an dem sich Platterbsenpflanzen emporrankten. Izzy blickte dahinter und sah einen kleinen orangen Gartenschuppen. Der Schuppen selbst wirkte ganz normal, aber die lange Warteschlange davor war es nicht. Da stand ein muskulöser Mann, der mit Rüschen besetzte Kniebundhosen unter einer Samurai-Rüstung trug, vor einem hageren Jungen mit Hawaiishorts und Krawatte. Hinter ihnen warteten ein paar Frauen in pinken Saris mit Goldrand, eng geschnittenen Hosen und leichten Sommerschlupfschuhen. Izzy zählte einen Feuerwehranzug, vier Bommelmützen, zwei Paar fein bestickte Lederhosen und mindestens drei Clownskostüme in der Schlange.

»Volltreffer«, sagte Seb trocken. »Es gibt nur eine Sorte von Leuten, die sich so anziehen.«

»Ungewöhnliche«, flüsterte Izzy.

Die Tür des Gartenschuppens schwang auf und vor den Augen der drei stolzierte eine blonde Dame mit gelber Baskenmütze, Kochjacke und Tennisrock durch sie hindurch und schloss sie dann wieder hinter sich. Aus dem Inneren des Schuppens ertönten ein paar laute Geräusche – ein Rattern, Rufe und etwas, das wie eine kleine Explosion klang – und dann öffnete sich die Tür erneut und der nächste trat ein.

Grandma Sylvie, Izzy und Seb warfen sich nervöse Blicke zu, während sie ans Ende der Schlange trotteten. Die anderen Händler, die sich ruhig miteinander unterhielten, beachteten sie gar nicht.

»Ich schätze, ich sollte die jetzt besser mal anziehen«, sagte Grandma Sylvie, als sie dem Anfang der Schlange näher kamen, und holte ein Paar langer Seidenhandschuhe aus ihrer Handtasche. »Wie alle Ungewöhnlichen müssen Sie innerhalb der Großen Tore von Lundinor Ihre ungewöhnlichen Handschuhe tragen«, zitierte sie mit angespannter Stimme. »Officer Smokehart hat mir diese Woche sechs Nachrichten per Federleichtpost geschickt, um mich auf die Vorschriften der GUH-Gesetze hinzuweisen. Entweder hält er mich für eine Kriminelle oder für eine Idiotin!«

Izzy verzog das Gesicht. Wenn ein Mitglied der Untergarde es auf ihre Familie abgesehen hatte, dann war es Smokehart. Nach kurzem Überlegen holte sie ihre kleinen weißen Baumwollhandschuhe heraus, die sie gefaltet in ihrer Umhängetasche aufbewahrte.

Während sie diese überzog, bewunderte sie die feinen Falten, die in die Knöchel gebügelt waren. Sie war sich immer noch nicht ganz sicher, was das eigentlich bedeutete, ein Ungewöhnlicher zu sein, aber mit den Handschuhen fühlte sie sich wenigstens nach außen hin schon mehr wie einer. Seb hatte noch nicht »den Handschuh übergestreift«, wie man in Lundinor sagte. Er war zwar alt genug, aber er benötigte erst noch die Genehmigung eines Quartiermeisters. Bei ihrem letzten Besuch in Lundinor hatten sie auch Kinder ohne Handschuhe gesehen. Seb war also immerhin nicht der Einzige.

»Wenn du diese Handschuhe jetzt die ganze Zeit über trägst, während wir in Lundinor sind, treibt dich dein Flüstersinn dann nicht in den Wahnsinn?«, fragte er.

Izzy krümmte ihre behandschuhten Finger und spürte, wie sich eine vertraute kribbelnde Wärme auf ihrer Haut ausbreitete. Die gleiche Reaktion hatte sie immer, wenn sie einen ungewöhnlichen Gegenstand berührte. Sie war ein Flüsterer – jemand mit der seltenen Gabe, genau das herauszufühlen, was ungewöhnliche Dinge so besonders machte: das Bruchstück einer menschlichen Seele, das darin gefangen war. »Das habe ich zuerst auch gedacht«, erklärte sie ihm, »aber das warme Gefühl lässt in einer Minute oder so wieder nach. Ich habe die Handschuhe schon getestet.«

Sie hielt sich eine Hand ans Ohr, um auf die Laute zu lauschen, die aus dem Handschuh kamen. Die Stimmen gefangener Seelen waren zu undeutlich, um einzelne Worte auszumachen, aber normalerweise konnte sie ihre Anwesenheit spüren.

»Alles in Ordnung?«, fragte Seb, der sie beobachtete.

Izzy presste die Lippen aufeinander. Ihre Fähigkeit hatte sich in letzter Zeit verändert … »Kannst du die mal kurz halten?« Sie zog die Handschuhe aus und gab sie ihm, dann schloss sie die Augen und versuchte, sich auf die Geräusche um sie herum zu konzentrieren – das Summen der Insekten, die durch die Gärten schwirrten, das Gezwitscher der Vögel in den angrenzenden Bäumen, der ferne Straßenlärm …

Aber ganz am Rand ihrer Wahrnehmung konnte sie noch etwas anderes hören: eine schrille Stimme – wie eine Murmel, die klirrend in einem Glas herumhüpfte. Izzy richtete ihre volle Aufmerksamkeit auf sie. Sie kam von dem Seelenfragment, das in den Handschuhen gefangen war.

Sie öffnete ihre Augen. »Jetzt bin ich mir ganz sicher«, entschied sie und nahm ihre Handschuhe zurück. »Da passiert eindeutig etwas Neues mit meinem Flüstern. Normalerweise muss ich einen ungewöhnlichen Gegenstand erst anfassen, um die Stimmen darin zu hören, aber seit Kurzem kann ich sie auch ohne jede Berührung wahrnehmen.«

Seb runzelte die Stirn. »Kann es sein, dass deine Fähigkeit stärker wird?«

»Keine Ahnung. Vielleicht gibt es ja in Lundinor jemanden, den ich danach fragen kann.« Es wäre ein Risiko. Flüstern war eine gefährliche Gabe, besonders jetzt, da die Schattenwanderer zurückgekehrt waren: In der Vergangenheit hatten sie Leute wie sie entführt und sie gezwungen, Berge von Müll zu durchwühlen, um ungewöhnliche Dinge darin aufzuspüren.

Mit einem lauten Knall sprang die Tür des Gartenschuppens auf. Grandma Sylvie erschrak. »Wir sind als Nächste dran.«

Ein Mann in schwarzer Uniform und polierten Stiefeln stand im Innern des Schuppens stramm. Er hatte einen lila Gesichtsschutzschirm und die Schulterstücke seiner Uniformjacke waren mit silbernen Tressen ausgestattet. In seinen Kragenaufschlag waren die Buchstaben SE eingestickt.

Sondereinheit. Das waren Mitglieder der Untergarde, deren Aufgabe es war zu verhindern, dass Gewöhnliche von der Welt der Ungewöhnlichen erfuhren.

Der Untergardist warf einen Blick auf Izzy und schnaubte. »Händler, die den Handschuh übergestreift haben, müssen mir die Hand schütteln.«

Izzy blinzelte überrascht. Sie hatte nicht damit gerechnet, ihre Handschuhe so bald einsetzen zu müssen. Seb drehte seine unbekleideten Däumchen, während Grandma Sylvie und sie gehorchten. Der Untergardist hatte einen so festen Händedruck, dass Izzy überlegte, ob er wohl einer der Toten war. Manche sahen den Lebenden verblüffend ähnlich.

»In Ordnung«, verkündete er. »Sie dürfen sich jeder einen Sack nehmen.«

Einen Sack? Izzy ließ ihren Blick durch den Schuppen schweifen. In der Ecke lag ein Haufen Plastiksäcke für Gartenabfälle, und mindestens zehn grüne Gartenschläuche hingen aufgewickelt von Haken an der Wand. Als sie auf die Säcke zusteuerte, blieb sie plötzlich wie angewurzelt stehen. An der Rückseite der Schuppentür war ein Plakat angebracht:

GESUCHT – Jack-der-Schreck – Ungewöhnlicher Attentäter (Totenart: Gobbel). Schuldig des Mordes auf sechs Kontinenten. Meister der Tarnung. Extrem gefährlich. Belohnung für Hinweise zu seinem Aufenthaltsort: Gegenstände im Wert von 1.000 Grad

Eine Zeichnung zeigte ein hochgewachsenes Wesen mit einem panzerartigen grünen Körper, riesigen gelben Augen und rasiermesserscharfen Krallenhänden.

Selenas Handlanger. Die Zeichnung stimmte nicht in allen Einzelheiten mit ihm überein – aber es war eindeutig dieselbe Person. Izzy hatte noch nie etwas von einem Gobbel gehört. Sie fröstelte.

Seb strauchelte, als er die Zeichnung erblickte. »Ah – wer ist …? Ich meine, was macht das denn hier?«

»Nur eine Vorsichtsmaßnahme.« Der Untergardist klang, als hätte er das Plakat an diesem Morgen schon mehr als einmal erklären müssen. »Jack-der-Schreck ist in letzter Zeit mehrfach auf anderen geheimen Märkten gesichtet worden. Wir sind in höchster Alarmbereitschaft, um zu verhindern, dass er sich Zugang zu Lundinor verschafft. Deshalb ist es wichtig, dass Sie gleich den Happentanz aufsuchen, sobald Sie angekommen sind. Dort müssen wir Sie auch noch mal registrieren.« Jack-der-Schreck … Das erklärte die Einreisebeschränkungen.

Grandma Sylvie fasste sich ans Herz. »Wie bitte – höchste Alarmbereitschaft?« Sie trat näher an das Plakat heran, um die Einzelheiten zu lesen.

Izzy dachte blitzschnell nach. Sie durften Grandma Sylvie keine Gelegenheit geben, sich alles noch mal anders zu überlegen – sie und Seb mussten nach Lundinor gehen, um das Glas der Schatten zu finden.

»Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit«, sagte der Untergardist und wies mit dem Kopf auf den Plastikhaufen. »Sack. Und zwar sofort.«

Izzy bückte sich hastig nach einem Sack und hob ihn auf. Sie rechnete fast damit, dass er ungewöhnlich war, aber ihre Haut blieb kühl, als sie ihn berührte.

Der Untergardist ging zu einem der Schläuche hinüber und begann, ihn herunterzuziehen. Der Schuppen bebte und ein Rattern erfüllte die Luft. Izzy verstand schon bald, warum: Da hingen gar nicht mehrere Schläuche, es war bloß ein einziger sehr, sehr langer Schlauch.

Als der Untergardist an ihm zog, wickelte das Gummi sich ab wie eine riesige Schlange, die ihren Körper über jeden Haken an der Wand schleppte.

»Treten Sie zurück«, warnte der Mann und zog seinen Geschichtsschutz herunter. Er richtete das Ende des Schlauchs auf den hölzernen Boden und beugte die Knie, um sich für den Rückstoß zu wappnen. Mit einem leisen Klick drehte er an der Düse und …

Der Schlauch schoss wie eine Pistolenkugel durch den Schuppenfußboden, ließ das Holz mit einem erschreckend lauten Krachen splittern und grub sich tief in die Erde. Izzy stützte sich gegen die Wand, während mehr und mehr von dem Schlauch im Boden verschwand. Nach ein paar Augenblicken holte der Untergardist der Spezialeinheit ein Taschenmesser heraus und stürzte sich auf den Rest des Schlauchs, rang mit ihm, bis es ihm gelang, ihn durchzuschneiden. Das abgeschnittene Ende glitt ihm aus der Hand, dehnte sich auf die Größe eines Hula-Hoop-Reifens aus und bildete auf dem Boden den Eingang eines dunklen Tunnels.

»Auf geht’s«, sagte der Untergardist, schob seinen Gesichtsschirm wieder hoch und wischte sich über die Stirn. »Zuerst legen Sie den Sack vor sich ab und dann schlüpfen Sie hinein.«

Grandma Sylvie starrte erst auf das Loch im Boden und dann zurück zu dem Fahndungsplakat. Seb wirkte verwirrt.

»Los doch, jetzt machen Sie schon«, seufzte der Untergardist, während er sein Messer wegsteckte. »Aus Sicherheitsgründen wird der Schlauch verschwinden, sobald Sie alle drei hindurch sind.«

Izzy betrachtete den dunklen Kreis im Boden. Er sah ein bisschen aus wie der Eingang zu einer Wasserrutsche.

Ich frage mich, ob …

Sie wagte sich vor, schob sich ihre Umhängetasche auf den Rücken. »Ich geh als Erste«, sagte sie. Wenn Seb sich nicht freiwillig meldete, dann war es wohl an ihr.